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Die Hörner der Bullen sind stumpf geworden

An der Wall Street verbreiten die Analyse-Gurus nach dem Blick in die Glaskugel Langeweile


dri. NEW YORK, 14. Dezember. Drei aufeinanderfolgende Jahre mit sinkenden Aktienkursen hat es in Amerika letztmals vor 60 Jahren gegeben. Gleichwohl scheinen die Anlagestrategen der großen Wall-Street-Häuser nach zwei Jahren mit negativen Marktrenditen wenig Hoffnung zu schöpfen. Meist rechnen sie zwar damit, daß 2002 ein positives Jahr für den Aktienmarkt werden wird. Von Begeisterung oder Aufbruchsstimmung ist aber wenig zu spüren. Vielmehr üben sich die einstigen Marktgurus in neuer Bescheidenheit und mahnen ihre Klientel, sich wieder mit Renditen anzufreunden, die mit dem langjährigen Durchschnitt in Einklang stehen, also mit jährlichen Zuwächsen in der Größenordnung von 7 Prozent - einschließlich Dividenden wohlgemerkt.

Die Langeweile, die die Anlagestrategen damit verbreiten, hat gute Gründe. Die Erfahrungen der vergangenen beiden Jahre waren bitter. Kaum ein Anlageguru hatte beim Blick in die Glaskugel gesehen, was schließlich über die Märkte hereinbrach. Selbst die notorischen "Bären", wie die Marktpessimisten im Börsenjargon genannt werden, überschätzten die Widerstandsfähigkeit des Marktes. Der Leitindex von Standard & Poor`s, der S&P 500, verlor im Jahr 2000 unter dem Strich 10 Prozent. In diesem Jahr kumulieren sich die Verluste schon auf rund 15 Prozent - eine Einbuße von fast einem Viertel in nur zwei Jahren.

Keiner der Anlagestrategen, die mit ihren Prognosen einst die Märkte zu bewegen vermochten, will denn auch noch daran erinnert werden, was er vor zwölf Monaten prognostiziert hatte. Abby Joseph Cohen von Goldman Sachs, die in den neunziger Jahren zu einer Symbolfigur der Markthausse geworden war, sah den S&P 500 bis Ende dieses Jahres bei 1650 Punkten, also um gut 45 Prozent über dem derzeitigen Niveau. Edward Kerschner von UBS Warburg, nach der vielbeachteten Fondsmanagerbefragung des Magazins "Institutional Investor" seinerzeit der beste Anlagestratege an Wall Street genannt, träumte sogar von 1715 Punkten. Und selbst ein erklärter "Bär" wie Douglas Cliggott von J. P. Morgan Chase traute dem S&P 500 wenigstens 1400 Punkte zu, was einer Jahresrendite von etwas weniger als 10 Prozent entsprochen hätte.

Doch es kam eben ganz anders. Und weil die Zunft der professionellen Marktprognostiker damit schon im zweiten Jahr in Folge total danebenlag, übt sie sich jetzt in Zurückhaltung. Demonstrativ an den Tag gelegter Optimismus und Kühnheit sind an der Wall Street nicht mehr opportun. Vorsicht, Bescheidenheit und Selbstkritik sind plötzlich die gebotenen Tugenden. Und was könnte diesen wohl nur vorübergehenden Stimmungsschwenk besser zum Ausdruck bringen als die Berufung von Richard Bernstein zum amerikanischen Investmentstrategen des marktführenden Brokerhauses Merrill Lynch. Bernstein, der zu Monatsbeginn seine Kollegin Christine Callies ablöste, die in ihren gerade einmal 18 Monaten bei Merrill Lynch vergeblich einen neuen Bullenmarkt einzuläuten versuchte, gilt als einer der größten Marktskeptiker im Finanzdistrikt Manhattans.

Er gehört der Zunft der sogenannten quantitativen Analysten an, die über ihre Zahlenexegese einen etwas wissenschaftlicheren Ansatz pflegen als technische Analysten oder ebendie traditionellen Investmentstrategen. Bernstein hatte seine Klientel schon 1998 vor einer Spekulationsblase gewarnt und sah dann auch wie ein Genie aus, als die Kurse im Herbst 1998 in den Keller sausten. Doch der Markt fing sich damals dank der Liquiditätsspritzen der Notenbank wieder schnell. Bernstein behielt seinen Kurs gleichwohl bei und riet den Anlegern mit bemerkenswerter Beharrlichkeit, den digitalen Schwergewichten den Rücken zuzukehren. "Verlaßt das Silicon Valley und geht nach West Texas", überschrieb er im März 2000, als die Nasdaq ihr Rekordhoch erreicht hatte, ein Analysepapier. Und in der Tat gehörten Energiewerte in der Folgezeit zu den wenigen Aktienkategorien, die Anlegern trotz der Talfahrt des Marktes ansehnliche Kursgewinne bescherten.

Auch zu Beginn dieses Jahres mahnte Bernstein seine Kunden, sich nicht wieder dem spekulativen Fieber hinzugeben. "The New B2B: Back to Basics" ist seither sein Motto, das er auch für 2002 vorgibt. Bernstein rechnet damit, daß der S&P 500 im neuen Jahr unter dem Strich auf der Stelle treten wird. Allerdings sieht er "ungewöhnlich attraktive Gelegenheiten" bei Aktien hoher Qualität, worunter er Werte mit einem stabilen Wachstumsprofil meint. Anleger, sagte Bernstein, sollten eigentlich Prämien für Sicherheit zahlen und für die Inkaufnahme von Risiken kompensiert werden. Indem sie aber die Kurs-Gewinn-Verhältnisse von Technologiewerten hochtrieben, würden sie de facto für Risiken bezahlen. Bernstein spricht von "Bentley-Preisen für einen Volkswagen". Es komme nicht oft vor, daß man sichere, hochqualitative Werte zu einem Discount gegenüber riskanteren Aktien schlechterer Qualität kaufen könne. Aber genau dies scheine derzeit in vielen Aktienmärkten der Welt der Fall zu sein. Bernstein räumt ein, daß er mit seinen defensiven Wetten in den vergangenen drei Monaten weniger gut aussah. Er glaubt jedoch weiterhin, daß Anleger mit qualitativ hochwertigen Aktien, darunter Versorger-, Pharmaaktien und Rüstungswerte, am Ende besser fahren werden.

Aus dem Hause Morgan Stanley, neben Merrill Lynch und der Citigroup einer der drei Marktführer im Wertpapiergeschäft mit Privatkunden, klingen ähnliche Töne an. Wall-Street-Veteran Barton Biggs, der die globale Strategie verantwortet, wird weiterhin seinem Ruf als notorischer Bär gerecht. Es sei zwar fast schon "unamerikanisch und unpatriotisch", nicht ein Bulle zu sein, sagt Biggs. Gleichwohl glaubt er, daß der Markt noch nicht über den Berg ist. Mit wenigen Ausnahmen seien Aktien rund um die Welt teuer, besonders in Amerika. Außerdem rechnet Biggs nicht mit einer V-förmigen Erholung der Konjunktur in Amerika. Und ohne dieses V bleibe der Rest der Welt krank. Nur wenn die Märkte die Tiefstände vom September wieder testeten, könne es im nächsten Jahr gute Kaufgelegenheiten geben.

Unabhängig davon, glaubt Biggs, daß es noch Jahre dauern werde, bis die populären Aktienindizes wieder neue Rekordstände erreichen. "Mein Gefühl ist, daß der S&P 500 und der Dow in den nächsten fünf Jahren durchschnittliche Renditen von rund 6 Prozent abwerfen werden, einschließlich Dividenden." Sein hausinterner Kollege Steven Galbraith, der seit kurzem als Nachfolger von Byron Wien die amerikanische Aktienstrategie verantwortet, hat einen etwas optimistischeren Ausblick. Er erwartet eine moderate Unterbewertung des Marktes und vermutet den S&P 500 binnen zwölf Monaten bei 1250 Punkten, gut 10 Prozent oberhalb des derzeitigen Niveaus. Allerdings betont Galbraith, daß der S&P 500 selbst nicht interessant sei. Die Bewertungen seien nicht billig genug, um Anlegern eine "carte blanche" für den Kauf von Aktien ausstellen zu können. Es komme vielmehr auf die richtige Wahl einzelner Werte und Industrien an. Galbraith sieht Gelegenheiten in den Bereichen Gesundheit, Rohstoffe, Konsumgüter und in ausgewählten Branchen. Mit seinem Merrill-Kollegen Bernstein teilt er dagegen die Auffassung, daß Technologieaktien stark überteuert sind.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2001, Nr. 292 / Seite 25

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man könnte fast darüber lachen, wenn nicht diese verdammt hohen Marktkapitalisierungen wären.

schaut nicht auf KGV !!!! diese sind in der baisse am höchsten.

aber nicht die MK

:laugh:
 
aus der Diskussion: Der Wahnsinn von Amerika
Autor (Datum des Eintrages): DolbyDigital5.1  (16.12.01 20:06:35)
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