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THEMA: ARMES DEUTSCHLAND
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Ausblick: Auf die USA verlassen

Wir sind wieder wer – hieß es früher. Heute müssten wir stattdessen sagen: Wir waren mal wer. Dass heute ein Bundeskanzler mit dem Slogan „Modell Deutschland“ in den Wahlkampf ziehen könnte wie Helmut Schmidt 1980, ist angesichts der aktuellen Rezession ausgeschlossen.
Wir sind wieder wer – hieß es früher. Heute müssten wir stattdessen sagen: Wir waren mal wer. Dass heute ein Bundeskanzler mit dem Slogan „Modell Deutschland“ in den Wahlkampf ziehen könnte wie Helmut Schmidt 1980, ist angesichts der aktuellen Rezession ausgeschlossen.

Außerdem sind wir heute UNDERPERFORMER.
Bis zum Beginn der Neunzigerjahre lag Deutschland im europäischen Vergleich beim Wirtschaftswachstum im oberen Bereich. In den achtziger Jahre erzielten wir im Schnitt noch ein höheres Wachstum als die USA. Heute haben wir EU-weit 2001 das geringste Wachstum und das höchste Haushaltsdefizit.

Und daran wird sich auch 2002 wenig ändern. Und was die Stabilität unseres Geldes angeht, auf die wir früher so stolz waren, haben uns andere überholt: Frankreich und eine ganze Reihe anderer Länder haben eine geringere Inflation. Und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit konnten andere Länder schnellere Fortschritte erzielen.

Ironie historischen Ausmaßes

Früher konnten wir auch stolz auf unser Geld sein. Die D-Mark war stärkste Währung, Ankerwährung im Europäischen Währungssystem. Wenn jemand abwerten musste, waren es immer die anderen. Zum Glück für uns gibt es heute den Euro, denn vermutlich hätte die D-Mark derzeit keinen sonderlichen Glanz. Denn nicht selten kam es im vergangenen Jahr vor, dass die Schwächeanfälle des Euro an den Devisenbörsen mit Nachrichten aus Deutschland begründet wurden.

Es ist schon eine Ironie historischen Ausmaßes, dass wir es sind, die im nächsten Jahr gefährlich nahe an die Maastricht-Defizit-Grenze von drei Prozent rücken. Wir, die wir den anderen Ländern der Eurozone einen Stabilitätspakt verordnet haben aus Angst, sie würden ihre Schuldenprobleme auf Kosten des gemeinsamen Geldes und zu unseren Lasten lösen. Das fällt nun auf uns zurück.

Warum gehört Deutschland zu den Underperformern?

Wer über Deutschlands Konjunkturperspektiven an der Schwelle zum Jahr 2002 nachdenkt, kommt nicht darum herum, zurückzublicken, um die Frage zu beantworten: Warum sind die Aussichten für das nächste Jahr nicht sonderlich berauschend? Warum gehört Deutschland auf einmal zu den Underperformern? In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurden wir wegen des Wirtschaftswunders beneidet. Warum schaffen wir das nicht wieder? Warum müssen wir uns, vor allem in der angelsächsischen Presse, als „kranker Mann von Europa“ verspotten lassen? In Frankreich machte Finanzminister Fabius jüngst sogar die deutsche Wachstumsschwäche verantwortlich für Frankreichs Konjunktureinbruch.

Ein Grund liegt meiner Meinung nach darin, dass nationale Stärken, an denen wir uns in der Vergangenheit berauscht haben, sich heute als Schwächen erweisen oder sie verdecken. Bei der Wiedervereinigung hat nicht nur Franz Beckenbauer die Wirkung falsch eingeschätzt, als er die deutschen Fußballnationalmannschaft künftig für unschlagbar erklärte.

Ähnliches gilt auch für die Wirtschaft. Beflügelt vom Einheitsboom, entstanden bei uns ebenfalls überzogene Erwartungen – und auch im Ausland, das in uns schon die neue Hegemonialmacht sah.

Wiedervereinigung ökonomisch nicht bewältigt

Doch in Wirklichkeit hat Deutschland die Wiedervereinigung ökonomisch nicht bewältigt. Seit 1997 ist das Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland geringer als im Westen, und das dürfte auch 2002 so sein. Dass bis 1997 Ostdeutschland besser abschnitt, war allein Folge des hochsubventionierten Baubooms.

Jetzt stehen die Bürohäuser und Wohnungen leer. Die Situation ist symptomatisch: Während es in den USA aufgrund euphorischer Zukunftserwartungen zu einer Überinvestition im Bereich der New Economy kam, haben wir uns eine Überinvestition in einer ganz konventionellen Branche der Old Economy geleistet. Wenn Deutschland wieder Anschluss finden will an das internationale Wachstumstempo, muss das Thema „Aufbau Ost“ erneut auf die Tagesordnung der Wirtschaftspolitik. Oder der Osten entwickelt sich trotz oder gerade wegen der Dauersubventionen zu einem Mezzogiorno.

Als drittgrößte Industrienation sind wir auch dieses Jahr wieder Vizeweltmeister im Export. Es beruhigt zu wissen, dass Made in Germany weiterhin im Ausland gefragt ist. Unsere Exportstärke ist nach wie vor ein Asset. Ohne den Erfolg im Export, trotz Einbruchs der Weltkonjunktur, wäre unsere Performance in 2001 noch schlechter. Aber diese Stärke verdeckt (und hindert uns daran zu erkennen), dass es uns schon seit Jahren an Binnendynamik fehlt.

DIENSTLEISTUNGSSEKTOR UNTERENTWICKELT

Warum? Das hat etwas zu tun mit unserer Wirtschaftsstruktur: Wir sind zu industrielastig. Oder, richtiger: Unser Dienstleistungssektor ist unterentwickelt. Während bei uns 38 Prozent aller privat Beschäftigten in der Industrie arbeiten, sind es in den USA nur 24 Prozent, in Großbritannien 27 und selbst in Frankreich nur 33 Prozent. Umgekehrt arbeiten bei uns nur 59 Prozent im Servicesektor. In den USA, Großbritannien und Frankreich sind es zwischen 70 und 73 Prozent. Länder mit einem ausgeprägten, modernen Servicesektor sind weniger vom Auf und Ab der Weltkonjunktur abhängig.

Obwohl Großbritanniens Wirtschaft weitaus stärker mit den USA verflochten ist als die deutsche, haben die Briten in diesem Jahr ein höheres Wachstum. Dienstleistungen erfordern aber flexiblere Strukturen als die an der Massenproduktion orientierte Industriegesellschaft.

Dies gilt vor allem für den Arbeitsmarkt. Bisher sehen wir einseitig die Arbeitslosigkeit als Resultat zu niedrigen Wachstums. Die Frage müsste vielmehr lauten: Wie muss der Arbeitsmarkt organisiert sein, damit mehr Leistung und Wachstum möglich ist?

Weder bei der Situation des Ostens betrifft noch bei der Dynamik unserer Binnenwirtschaft können wir im ablaufenden Jahr eine strukturelle Besserung vermerken. Im Gegenteil: Der Arbeitsmarkt wurde sogar nach stärker REGULIERT. Deshalb sind wir in der fatalen Lage, dass unsere Konjunktur stark davon abhängt, ob die USA den Aufschwung schaffen. (Dass wir uns damit mit der gleichen Selbstverständlichkeit von einem Land abhängig machen, wie wir dessen Modell des Hire and Fire auf dem Arbeitsmarkt ablehnen, ist ein schönes Beispiel für unsere BEWUSSTSEINSSPALTUNG.)

Aber die USA werden es schaffen. Der doppelte Schub von expansiver Fiskalpolitik und expansiver Geldpolitik wird spätestens zur Jahresmitte die erhoffte Wirkung zeigen. Und mit gewisser Zeitverzögerung wird dann auch in Deutschland die Wende kommen. Nicht in erster Linie wegen der dann wieder besseren Exportaussichten, sondern weil es auch hier die Stimmung beflügelt, wenn es in den USA wieder aufwärts geht. Zum Glück ist auf die USA Verlass.

Klaus Methfessel


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WirtschaftsWoche.de, 19.12.01
 
aus der Diskussion: 20.12.01 + 21.12.01: Lasset die Hexen mit dem Christkind tanzen!
Autor (Datum des Eintrages): nasdaq10.000  (20.12.01 11:42:20)
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