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Astrid Lindgren ist tot

Schutzpatronin des kindlichen Gemüts

Von Andreas Borcholte

Beliebteste und berühmteste Jugendbuchautorin der Welt, Mutter von Pippi Langstrumpf, Kalle Blomquist und Ronja Räubertochter -
Astrid Lindgrens Name ist untrennbar mit ihren ebenso erfolgreichen wie naseweisen Phantasiegeschöpfen verknüpft. Doch der nun im
Alter von 94 Jahren verstorbenen Schriftstellerin ging es stets um mehr als nur um die Unterhaltung der Kinder.

Die Kindheit Astrid Lindgrens nahm ein abruptes Ende, als sie mit 19 Jahren ihr erstes eigenes Kind, ihren Sohn Lars, gebar.
Unverheiratet und mittellos begann die junge Schwedin eine Ausbildung zur Stenotypistin in Stockholm, um ihre Kleinfamilie
ernähren zu können. Den kleinen Lars musste sie bei Pflegeeltern in Kopenhagen unterbringen, wo sie den unter Heimweh
leidenden Knirps in seinen ersten drei Lebensjahren nur selten besuchen konnte.

Dabei war ihre eigene Kindheit recht glücklich verlaufen. Am 14. November 1907 als Tochter eines Bauernehepaars im idyllischen
Nås (Bezirk Småland) geboren, aufgewachsen im benachbarten Vimmerby, kostete sie das behütete Landleben in vollen Zügen
aus, ihre Erlebnisse bildeten den Grundstock für die späteren Bucherfolge wie "Pippi Langstrumpf", "Kalle Blomquist", "Mio, mein
Mio" oder "Ronja Räubertochter". "Es ist überhaupt nicht nötig, eigene Kinder zu haben, um Kinderbücher schreiben zu können.
Man muss nur selbst einmal Kind gewesen sein", sagte Lindgren einmal.

Doch Einsamkeit, das Auf-sich-allein-gestellt-Sein und der daraus resultierende Zwang, sich mit den eigenen, naseweisen,
unerwachsenen und unorthodoxen - eben kindlichen Mitteln durchs Leben zu schlagen, steht bei jeder der weltweit über die
Maßen erfolgreichen Figuren Lindgrens stets hinter der nostalgischen Kindheits-Idylle und der heilen Welt der schwedischen
Provinz. Die Vorstellung, wie Sohn Lars die Abwesenheit seiner Mutter im dänischen Pflege-Exil erleben musste, inspirierte
Lindgren noch lange danach: Als ihr zweites Kind, Tochter Karin, mit einer Lungenentzündung im Bett lag, erfand sie die ebenso
altkluge wie (über-)lebenskompetente Pippi Langstrumpf, deren Eltern (die Mutter im Himmel, der Vater zur See) nie zur Stelle
sind. Mit diesem, ihrem zweiten Buch nach "Britt-Mari erleichtert ihr Herz", das sie erst drei Jahre (1944) nach der Bettkantenerzählung aufschrieb,
gewann sie auf Anhieb den zweiten Preis eines Wettbewerbs für Kinderliteratur.

"Selma Lagerlöf von Vimmerby"

Dabei wollte Astrid Lindgren eigentlich nie Bücher schreiben. Zwar wurde sie wegen ihrer glanzvollen Aufsätze bereits in der Schule die "Selma
Lagerlöf von Vimmerby" genannt und arbeitete später bei der Lokalzeitung, doch verfolgte sie die schriftstellerischen Ambitionen nach ihrem Umzug
nach Stockholm nicht weiter. 1931 heiratete die geborene Astrid Anna Emilia Ericsson ihren Ehemann Sture Lindgren (gestorben 1951) und jobbte
nach ihrer Ausbildung als Sekretärin für einen Automobilclub. Erst im Alter von 37 Jahren beschloss Lindgren, ihre humorvollen Kindergeschichten
niederzuschreiben. "Britt-Mari erleichtert ihr Herz" und "Pippi Langstrumpf" erschienen kurz hintereinander und begründeten eine wundervolle Karriere.

Astrid Lindgrens Erfolge sind längst Legende: Über 120 Millionen Exemplare (allein 25 Millionen im deutschsprachigen Raum) ihrer Jugendbücher
fanden in den vergangenen 50 Jahren ihren Weg in die Kinderzimmer dieser Welt, in 85 Sprachen wurden die Abenteuer von Pippi, Ronja, Kalle,
Michel aus Lönneberga, Karlsson vom Dach oder der "Kinder aus Bullerbü" übersetzt. Auf der Liste des Nobelpreiskomitees zur Verleihung des
Literaturpreises stand sie des öfteren, doch die größte Ehrung der Literaturwelt wurde ihr zu Lebzeiten nicht mehr zuteil. Erst im vergangenen Jahr
hatten die Schweden eine neue Initiative gestartet, um ihrer Nationalheldin zum Nobelpreis zu verhelfen. Immerhin erhielt sie 1994 den Alternativen
Nobelpreis. Hier zu Lande wurde sie bereits 1978 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.

Sie selbst hatte jedoch immer wieder auf ihre unverwechselbar humorige Art verbreitet, man möge ihr doch bitte unter
allen Umständen den Nobelpreis ersparen. Die ganze Aufregung habe Preisträgern schon das Leben gekostet.

Neben ihren lebenslangen Bemühungen um die Rechte, Belange und Bedürfnisse der Kinder galt Astrid Lindgren als eifrige
Kämpferin gegen staatliche und gesellschaftliche Bevormundung. Mitte der siebziger Jahre lieferte sie sich einen
erbitterten, aber siegreichen Streit mit der schwedischen Regierung um die Höhe ihrer Einkommensteuer, der die
gesellschaftliche Landschaft des skandinavischen Staats nachhaltig erschütterte. In den achtziger Jahren engagierte
sich die einflussreiche Schriftstellerin gegen Atomenergie und Massentierhaltung. Anerkennung erhielt sie für ihre
Bemühungen 1992, als der damalige schwedische Ministerpräsident Ingvar Carlsson ihr zum 85. Geburtstag ein neues
Tierschutzgesetz "schenkte".

Als Letztes ihrer stets mit Seitenhieben auf Spießbürgertum und Konformismus gespickten Schriften erschien 1992 eine
autobiografische Weihnachtsgeschichte. Ihren geistreichen Witz, ihre Scharfzüngigkeit und ihre grenzenlose Güte soll
sich die in ihren letzten Lebensjahren erblindete und fast ertaubte Astrid Lindgren bis zum Schluss bewahrt haben. Nun
ist sie in ihrer Stockholmer Wohnung "still und sanft" und hoffentlich zufrieden mit ihrem bewegten und bewegendem Leben nach einer langwierigen
Virusinfektion entschlafen. Erhalten bleibt sie uns durch ihre wundersam weisen Geschöpfe, deren Treiben den Kindern oft Mut und
Selbstbewusstsein schenkt und uns "Großen" oft Erhellung in unsere düsteren Erwachsenenwelt bringt.
 
aus der Diskussion: Von mir hätte sie den Nobelpreis bekommen - Alles Gute!
Autor (Datum des Eintrages): Neemann  (29.01.02 08:46:24)
Beitrag: 16 von 16 (ID:5452081)
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