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@#107 von genya

Ubbs, hast du deine politische "Seite" gewechselt ???;)

Die PLO sollte vorallem erst einmal die Korruption in ihren Reihen bekämpfen.
Das Problem soll ja bei denen schlimmer sein, als bei der Kölner SPD.


H_S

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P A L Ä S T I N A


Sie haben genug von der Gewalt

Ein Straßenkämpfer, der sich nach einem Ende des Blutvergießens sehnt. Ein Rechtsgelehrter, der die Intifada als Racheorgie empfindet. Ein Arzt, der den Israelis jede Grausamkeit zutraut: Gespräche mit Palästinensern über das Leben im Krieg

Von Deborah Sontag



Die Sonne strahlte auf die Schrotthaufen in den schmutzigen Straßen des Flüchtlingslagers Rafah und tauchte den desolaten Ort in ein ungewöhnliches Licht. Im Lager herrschte absolute Stille. Die shebabs, die Jugendlichen, die die vergangenen 15 Monate meist mit Steinewerfen verbracht hatten, saßen, über Bücher gebeugt, in einer baufälligen Bibliothek. Ihr Anführer, ein Erwachsener namens Abid al-Raouf Barbakh, trug Pomade im Haar und einen Schlips. "Ich hab mich für die Feuerpause fein gemacht", erklärte er, während er durch das Lager spazierte, nach rechts und links winkte, dem einen oder anderen Jungen den Kopf tätschelte und wieder andere zischend davonjagte.

Barbakh ist ein stämmiger, vierschrötiger Straßenkämpfer und gehört zu Arafats Fatah-Organisation. Er wird nach eigenen Angaben von den Israelis gesucht, weil er die Kinder von Rafah zu Gewalt anstachele. In der blutigen Phase, die Ende September 2000 begann, leitete er einen Großteil der "Widerstandsbemühungen" im Lager.

Nachdem Arafat die Palästinenser am 16. Dezember zu einer Feuerpause aufgerufen hatte, besuchte er Barbakh in seinem Revier, um die Bewohner von Rafah zu beschwören, sich daran zu halten. Barbakh brüstete sich damit, Arafat mit dem Finger gedroht und erwidert zu haben: "Zur Hölle mit der Feuerpause! Die schießen doch auf uns. Wir denken nicht daran, ihnen dafür Blumen zu schenken." Arafat habe ihn ausreden lassen. "Dann sagte er zu mir, ich solle mich nicht so aufregen, und als das Treffen zu Ende war, ließ er mich verhaften."

Die treuen shebabs - "meine Kinder" - kamen Barbakh jedoch sofort zu Hilfe, indem sie Feuer in der benachbarten Polizeistation legten. So wurde ein Stillhalteabkommen erreicht: Die palästinensischen Polizeibeamten verzichteten darauf, Barbakh in Untersuchungshaft zu nehmen, und er akzeptierte die Feuerpause in der Praxis, wenn auch nicht im Prinzip. "Wir werden Abu Amar eine Chance geben", erklärte er, indem er Arafat bei seinem Nom de Guerre nannte. Zu diesem Zeitpunkt sprach er für die Mehrheit der Palästinenser.

Er saß im verrauchten Lager-Café mit Blick auf eine Filiale der Bank von Amman, die inmitten einer schmuddeligen, deprimierenden Gegend nahe der Grenze zu Ägypten liegt. Ein palästinensischer Polizeioffizier in blauer Uniform, ein Freund von Barbakh, setzte sich schweigend dazu. Wir schlürften heißen Tee aus Gläsern und nutzten die verhältnismäßige Ruhe, um zu reden, reden, reden. Es war eine von zahlreichen Unterhaltungen mit Palästinensern im Westjordanland und im Gaza-Streifen in dieser denkwürdigen (und herzzerreißend kurzlebigen) Zeit, die anbrach, kurz nachdem Arafat, unter enormem Druck von der internationalen Gemeinschaft, seinen eigenen Leuten die Feuerpause aufgezwungen und mit aller Macht die islamischen Fundamentalisten überzeugt hatte, ihre Selbstmordanschläge in Israel zu stoppen. Die Wie-du-mir-so-ich-dir-Gewalt war vorübergehend unterbrochen.

Sechzehn Monate hatte sich die Gewaltspirale unablässig weitergedreht. Seit dem Scheitern der Camp-David-Verhandlungen im Sommer 2000 war eine Provokation auf die nächste gefolgt. Ariel Scharon war, schwer bewacht von seinen Leibwächtern, über den Platz vor der Al-Aksa-Moschee spaziert, um den Herrschaftsanspruch der Juden auf den Tempelberg zu demonstrieren; die Palästinenser waren in Scharen auf die Straße gegangen, die Israelis hatten die Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen, die Palästinenser wiederum hatten sich vom Steinewerfen aufs Schießen und dann aufs Bombenwerfen verlegt. Daraufhin begannen die Israelis, verdächtige Kämpfer zu ermorden, und das Prinzip von Anschlag und Gegenschlag hatte eine blutige Eigendynamik bekommen.

Im Gespräch machte Barbakh keinen Hehl aus seinen Intifada-Überzeugungen - während des ersten palästinensischen Aufstands hatte er elf Schussverletzungen erlitten, während des zweiten wurde er von den Israelis verfolgt. Doch er äußerte auch ein paar pazifistische Gedanken. So erzählte er von Koexistenz-Programmen, an denen er früher mitgewirkt hatte. Und ob er ehrlich war oder nicht - er spürte wohl, dass es politisch angebracht sei, der Welt eine Botschaft zu übermitteln: dass selbst er, ein Kämpfer, sich eigentlich nach Ruhe sehnte.

"Wir sind müde und haben genug vom Kämpfen", sagte er. "Wir möchten, dass das Blutvergießen endlich aufhört. Gebt uns unser kleines Land, unser Westjordland und Gaza, und dann wird alles vorbei sein. Israel kann Israel behalten und soll uns, verdammt noch mal, in Ruhe lassen."

Der Choury-Clan lebt in Taybeh, einem hübschen Dorf nahe Ramallah, dem Zentrum des kulturellen und kommerziellen Lebens im Westjordanland. Im Haus der Familie bot sich ein beinahe surreales Bild. In der Garage zog Davids 12-jähriger Sohn Konstantin Kreise auf seinen Rollerblades. Er trug eine schlabbrige Weihnachtsmannmütze und war vertieft in einen Gameboy. "Unsere Kinder werden schier wahnsinnig wegen der Abriegelung", erklärte David. "Sie haben schon seit drei Wochen schulfrei."

Die Chourys sind keine typischen Palästinenser. Sie sind Christen, und sie sind wohlhabend. In einem Land mit wenig Trinkern brauen sie das, was man das Nationalbier Palästinas nennt, das Taybeh. Dennoch stehen sie für eine wichtige palästinensische Bevölkerungsgruppe: jene, die nach dem Friedensabkommen von Oslo 1993 aus dem Ausland zurückkehrten, um auf eine neue Zukunft zu setzen. In Oslo hatte man ein Rahmenwerk geschaffen, demzufolge Israel Gebiete im Westjordanland und im Gaza-Streifen an eine neu geschaffene palästinensische Autonomiebehörde abtreten sollte, die Israels Sicherheit garantieren würde. Während einer fünfjährigen Interimsphase würden Israel und Palästina die restlichen strittigen Fragen lösen - unter anderem die des Status von Jerusalem und der palästinensischen Flüchtlinge -, mit dem Ziel eines dauerhaften Friedensabkommens. In Oslo war eine Zweistaatenlösung vorgesehen, also die Koexistenz von Israel und Palästina.

Wie viele Palästinenser begrüßten die Chourys das, was sie als den Kompromiss von Oslo ansahen - dass die Palästinenser Israel anerkennen, ihren Anspruch auf das gesamte historische Palästina aufgeben und sich mit 22 Prozent begnügen würden, sprich mit dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen. Sie akzeptierten den Kompromiss so begeistert, dass David und sein jüngerer Bruder Nadim von den Vereinigten Staaten nach Tunis flogen, noch bevor Arafat aus dem Exil zurückkehrte, um sich die Zulassung für eine Brauerei im Westjordanland zu sichern. Ein Foto, das sie mit Arafat in Tunis zeigt, hängt zwischen Kesseln und Fermentern.

Wir saßen unter diesen so gegensätzlichen Bildern in der schummrigen, unbeheizten Mikrobrauerei gleich neben dem Haus und plauderten. David trug ein kurzärmeliges Poloshirt, sein silberhaariger Vater Kanaan war dick eingemummelt in einen Wollmantel und einen Kaschmirschal. Seine Frau Maria sah in ihrem schicken Hosenanzug gar nicht aus wie eine typische Dorfbewohnerin. Obwohl sie Griechischamerikanerin ist, setzt sie sich ganz besonders für die palästinensische Sache ein.

Ende der siebziger Jahre waren die Choury-Brüder nach Massachusetts ausgewandert, um aufs College zu gehen. Nach der Schule jobbten sie in einem Spirituosenladen. Schließlich kauften sie Foley`s Liquors in Bookline, behielten den guten irischen Namen, heirateten, zeugten amerikanische Kinder und wurden eingebürgert. Doch irgendetwas fehlte ihnen in ihrem Leben. Deshalb konnten sie es nach dem Oslo-Abkommen kaum erwarten, ihre Kinder dem amerikanischen Lebensstil zu entreißen und sie heimzuführen. "Wir fanden, dass sie eine gute, unbeschwerte Kindheit hatten. Bis der Palästinenseraufstand losbrach, Sie wissen schon, mit all den Schießereien und den Bomben", sagte Maria.

Vor Ausbruch der Intifada hatten die Choury-Brüder bereits ein ungutes Gefühl angesichts der vielen Stolpersteine auf dem, wie sie gehofft hatten, geradlinigen Weg zum Frieden. Sie sahen, wie Offra, die Siedlung nebenan, mit jedem Jahr wuchs und wie immer mehr Siedlungen auf dem Gebiet, das eigentlich Palästina werden sollte, dazukamen. Sie sahen, wie der Mai 1999 unheilvoll verstrich, ohne dass es zu der in Oslo vorgesehenen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts kam.

Doch sie lebten von der Hoffnung und beschlossen, einfach zu glauben, dass sich das israelische und das palästinensische Volk auf den Frieden zubewegten. Sie knüpften Geschäftskontakte mit israelischen Winzern und spielten den Gastgeber für israelische Reisegruppen. Ein Rabbi bescheinigte, dass ihr erfrischendes, helles Bier, das in Israel Kunden fand, koscher sei. So optimistisch waren sie, dass sie ein Fundament für ihr neues Leben aushoben und sich darauf eine weiße Villa bauten.

Dann geriet alles aus den Fugen, und die Tabey Brewing Company wurde, so wie das gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben der Palästinenser, vernichtet. Die Firma, die noch im Sommer 2000 monatlich 6000 Kisten verkauft hatte, büßte im darauffolgenden Jahr 75 Prozent ihres Umsatzes ein. Aufgrund von Reisebeschränkungen war es nicht möglich, Rohstoffe zu importieren und die Produkte fristgemäß zu transportieren. Schließlich verlor die Firma ihre Märkte in Jordanien, Israel und Bethlehem. Die Chourys stellten die Produktion fast ganz ein.

David erzählte, er habe kürzlich mit einem israelischen Beamten telefoniert. Dieser habe versucht herauszufinden, wie viel Steuern er David abknüpfen müsse. Doch David habe erklärt, dass er kaum noch Bier produziere. Daraufhin habe der Beamte erwidert: "Sie sind doch Amerikaner. Das beste für Sie, Ihren Vater und Ihren Bruder wäre doch, nach Amerika zurückzugehen." Davids Antwort sei gewesen: "Und Ihnen das Land hier überlassen? Sie träumen wohl!"

Während der Sommerferien in den Staaten schlug Maria vor zu bleiben, statt sich einem weiteren Jahr mit Straßensperren auf dem Weg zur Schule auszusetzen. Doch die 16-jährige Elena hatte eine atemberaubende Antwort für ihre Mutter parat: "Das ist mein Vermächtnis als Palästinenserin - ich muss leiden."

David, dessen kantiges Gesicht wenig Gefühl verrät, erklärte: "Ich bin für diesen Aufstand." Er beschrieb sich selbst als einen Mann des Friedens, doch er sagte: "Wenn wir stillhalten, wird uns Palästina nie wieder gehören. Algerien hatte eine Million Märtyrer, bevor es unabhängig wurde."

Eine Ende Dezember veröffentlichte palästinensische Umfrage schien Choury Recht zu geben. Sie zeigte, dass die große Mehrheit der Palästinenser für eine sofortige Waffenruhe und für eine Rückkehr zu Friedensverhandlungen plädierte. Doch die Umfrage zeigte noch etwas: 9 von 10 Palästinensern unterstützten hypothetisch - sollte die Waffenruhe gebrochen werden, wovon sie ausgingen - bewaffnete Angriffe auf israelische Soldaten und Siedler in den besetzten Gebieten als eine Form von Selbstverteidigung und taktisches Druckmittel, die Israelis zum Rückzug zu bewegen. "Es ist unser Recht, der Besatzung zu widerstehen", erklärte David. "Die Israelis verteidigen sich, und wir verteidigen uns."

Von den höher gelegenen Villen im Westjordanland bis zu den Elendsquartieren am Meer im Gaza-Streifen hat in den vergangenen Monaten fast jeder Palästinenser die wirtschaftlichen Folgen der Intifada zu spüren bekommen. Nach jüngsten Schätzungen der Vereinten Nationen verzeichnete die palästinensische Wirtschaft bis Ende September 2001, also ein Jahr nach Beginn der Intifada, Einbußen in Höhe von 3,2 Millarden Dollar. Für jemanden wie Choury bedeutete das verzögerte Einnahmen. Für jemanden wie Saida al-Randar, die Frau eines Straßenhändlers in Gaza, bedeutete das zusammengestrichene Mahlzeiten. Fast die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung muss heute mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen - damit hat sich die Armutsrate seit Beginn der Intifada verdoppelt.

Randar lebt in einer schmutzigen Gasse im Flüchtlingslager Dschabalija. Die 25-Jährige stopfte eilig Kleider in eine Plastiktüte. Sie wollte ihre vier kleinen Kinder für die Nacht in der Wohnung ihrer Schwester unterbringen. Den ganzen Tag über waren israelische Kampfhubschrauber über ihren Köpfen umhergeschwirrt, und sie befürchtete, dass am Abend wieder bombardiert würde. Da sie nicht einmal ein richtiges Dach über dem Kopf hatte, fühlte sie sich besonders gefährdet.

Im Außenraum der Familie, einem Betonwürfel ohne Dach, hing Wäsche und tanzte im Wind. Ein Baumwollvorhang verdeckte das Loch im Boden, das der Familie als Toilette dient. Das Schlafzimmer, in dem alle sechs in einem Bett schlafen, hatte ein Blechdach, das gerade so eben passte.

Randar wollte sich einige Minuten ausruhen. Sie hievte ihren schwangeren Körper auf einen Stuhl, während ihre Kinder - alle jünger als fünf - um sie herumschwirrten. Der älteste Junge, mit schmutzigen nackten Füßen und Rotznase, war ganz versunken in sein Spiel. Mit einem Lumpen auf dem Kopf bot er unsichtbare Waren feil. "Frische Fische!", rief er wie sein Vater, der Brassen auf der Straße verkauft.

"Ständig müssen wir unser Haus verlassen", sagte Randar. "Wenn ich die Flugzeuge höre, laufe ich weg. Wenn ich von einem Selbstmordattentat in Israel höre, laufe ich weg. Sie sind nicht gut, diese Angriffe der Palästinenser. Sie führen nur zu israelischen Vergeltungsschlägen. Wir waren doch so glücklich vor der Intifada. Aber diese Bomben machen uns große Angst."

War Randar vor dieser Intifada wirklich so glücklich? Damals sei ihre Familie auch arm gewesen, gab sie bereitwillig zu, doch jetzt seien sie bettelarm. Angeblich aus Sicherheitsgründen untersagen die Israelis immer wieder das Fischen vor der Küste des Gaza-Streifens. Ihr Mann hat also kaum etwas zu verkaufen. Randar erzählte, sie habe all ihren Besitz versetzt, außer einem vergoldeten Armreifen und einem Paar Ohrringen. Was sie jedoch wirklich vermisst, ist nicht ihr Schmuck und nicht einmal die Gewissheit, dass sie etwas zu essen auftischen kann. Sie vermisst die Ruhe.

Auf die Frage, ob sie sich nach mehr sehne als nach Ruhe, antwortete sie: "Na klar, nach einem palästinensischen Staat." Doch sie sagte das so, wie man sich Auslegeware fürs Wohnzimmer wünscht. Glaubte sie, Arafat sei für ihre Misere verantwortlich? "Was kann er denn noch tun als das, was er ohnehin schon tut?", erwiderte sie. "Wenn es etwas gäbe, würde er es machen. Sein ganzes Leben lang hat er doch für uns gearbeitet." Außerdem wehrte sie sich gegen die Unterstellung, sie sei in einer miserablen Lage.

"Jeder Tag meines Lebens ist schön", erklärte sie. "Wenn wir uns unterkriegen lassen, sterben wir. Gott vergisst uns nicht. Er vergisst nichts, was er geschaffen hat, nicht einmal in Gaza."

Wäre Hissam Chader doch auch so gläubig. In dem Maße, wie Randar an Gott und Arafat glaubt, ist Chader, ein schrulliger palästinensischer Rechtsgelehrter, überkritisch. Einmal kletterte er im Parlament aufs Podium, um voller Sarkasmus ein neues Gesetz vorzuschlagen: dass Jassir Arafat ein für alle Mal zum Gott von Palästina erklärt werde.

Chader unterhält ein bescheidenes Büro im Flüchtlingslager Balata, einer Elendssiedlung am Rande von Nablus im Westjordanland. Hier war Chader aufgewachsen, und bei der ersten Intifada hatte er sich bereits politisch profiliert. Damals gehörte er zu den ersten Palästinensern, die von den Israelis per Hubschrauber in den Libanon deportiert wurden. Chader war durch und durch Fatah-Kämpfer - Arafats Fatah war damals wie heute die wichtigste politische Organisation -, und er verehrte Arafat, bis dieser aus dem Exil zurückkam und gemeinsam mit seinen Gesinnungsgenossen aus Tunis die palästinensische Autonomiebehörde übernahm. Chader war einer der ersten Palästinenser, die den Verdacht äußerten, dass sich die tunesischen Rückkehrer auf Kosten des Volkes bereicherten. Er warnte vor Korruption und rief die Regierung zu mehr Transparenz auf. Bei den Wahlen zum palästinensischen Legislativrat 1996, den Oslo ins Leben gerufen hatte, ließ Chader die Fatah links liegen und gewann als Unabhängiger.

Einige Tage vor dem Termin bei ihm in Nablus hatten palästinensische Polizeibeamte im Gaza-Streifen sechs Palästinenser getötet, die aus Protest gegen Arafats hartes Durchgreifen gegenüber islamistischen Gruppen auf die Straße gegangen waren. Nachdem sich Arafat zuvor dem Druck der Israelis und der Amerikaner, die militanten Islamisten festzunehmen, widersetzt hatte, hatte er schließlich nachgegeben, weil er sich international zunehmend isoliert fühlte.

Das war das Gesprächsthema in Chaders Vorzimmer. Chaders Assistent rief vehement aus: "Arafat ist ein Diktator!" Dann wurde er nervös und bat inständig, anonym bleiben zu dürfen. Chader, ein jovialer, schnauzbärtiger Typ, hatte da keine Bedenken. Er sagte, was er dachte, und bekräftigte seine Worte mit heiserem Gelächter.

Während des Gesprächs schauten einige Fatah-Mitglieder bei Chader vorbei. Schulterklopfend versuchten sie, ihn zur Teilnahme an einem Demonstrationsmarsch in Nablus zu überreden, der am folgenden Tag stattfinden sollte. Denn nach dem blutigen Zusammenstoß im Gaza-Streifen wollten sie Solidarität für Arafat demonstrieren. Sämtliche Schulkinder der Region, Regierungsangestellte und natürlich le tout Fatah würden dabei sein.

"Vergesst es", sagte Chader. "Diese Märsche werden nichts an der Tatsache ändern, dass unser Monsieur Arafat langsam, aber sicher seine Macht als Symbol für unseren nationalen Kampf verliert. Alles Viagra der Welt kann ihm seine Potenz nicht zurückgeben. Als die Israelis seinen Hubschrauber bombardiert haben, hättet ihr mich vielleicht überreden können, aus Solidarität mit Abu Amar auf die Straße zu gehen. Aber nicht am Ende einer Woche, in der palästinensische Sicherheitskräfte ihre eigenen Landsleute erschossen haben."

Chader lachte über die für den Marsch vorgesehenen Fahnen, auf denen stand, Arafat sei "der Held der legendären Standhaftigkeit bei den Verhandlungen von Camp David". Doch diese Fahnen muss man verstehen. Obwohl viele Israelis und Amerikaner glauben, dass Arafats "Standhaftigkeit" in Camp David für die Sache der Palästinenser tödlich war, wird darüber unter den Betroffenen kaum debattiert. Die meisten Palästinenser glaubten jedoch, so vermutete Chader, dass ihnen Camp David nichts weiter gebracht habe als ein unausgegorenes, überstürztes Ultimatum zu einem Abkommen. Sieben Jahre schon hatte sich der Friedensprozess nach dem Abkommen von Oslo hingezogen, und viele Palästinenser hatten den Glauben an Arafats Fähigkeit verloren, sein Versprechen einzulösen: die Gründung eines palästinensischen Staates im gesamten Westjordanland und im Gaza-Streifen mit Jerusalem als Hauptstadt. Doch als er mit leeren Händen aus Camp David zurückkam, applaudierten sie ihm. Besser, noch eine Generation abzuwarten, sagten sie sich, als nach einem halben Jahrhundert des Kampfes einen ungerechten Frieden zu akzeptieren.

Als im Jahr 2000 der Aufstand der Palästinenser begann, sah Chader wie viele andere darin eine Explosion von Frustration - über den Friedensprozess und die palästinensische Autonomiebehörde. Seiner Ansicht nach ist die Intifada militärisch erfolgreich, und das erklärt er kurzerhand so: "Für jeden dritten Palästinenser wurde ein Israeli getötet. Das ist das erste Mal, dass wir ein solches Verhältnis erreicht haben. Es hat eine Balance der Angst auf beiden Seiten geschaffen. Und Israels Angst gibt uns mehr Einfluss. Sehen Sie doch, was aus Baraks Angebot zwischen Camp David und Taba geworden ist." Noch während die Intifada tobte, trafen sich nämlich israelische und palästinensische Unterhändler im Januar 2001 im ägyptischen Taba, wo die Israelis ihr Angebot an die Palästinenser erheblich verbesserten. Doch die Verhandlungen endeten ohne Ergebnis und wurden vertagt bis nach der Wahl, die Barak im Februar 2001 verlor. Seitdem haben keine Friedensgespräche mehr stattgefunden.

Chader findet jedoch, dass die Intifada zu einer Racheorgie verkommen ist und beendet werden sollte. Arafat sollte alles in seiner Macht Stehende tun, um die Israelis zurück an den Verhandlungstisch zu bringen, was seiner Einschätzung nach dazu beitragen würde, die Regierung Scharon zu stürzen. Doch er ist tief enttäuscht, dass es die palästinensische Regierung geschafft hat, die geballte Wut der Palästinenser gegen die Israelis zu richten, und dass es keinen wirklichen Aufstand gegen die Behörde selbst gegeben hat. Er selbst hatte versucht, den Zündstoff dafür zu liefern. In aller Öffentlichkeit hatte er hohe Beamte der Autonomiebehörde kritisiert, weil sie ihre Familien nach Ausbruch der Intifada ins Ausland geschickt hatten. Doch seine Kritik verpuffte.

Im Falle einer Wiederaufnahme der Verhandlungen "werden uns also dieselben korrupten Menschen repräsentieren", sagte Chader. "Ich bete zu Gott, dass ich eines Morgens aufwache und diese Leute mit ihrem Geld und ihren Kindern nach Europa geflohen sind. Wenn ich Arafat wäre, würde ich versuchen, mein Haus in Ordnung zu bringen. Wenn er als Held sterben möchte, wird er das auch tun. Andernfalls geht er nicht in die Geschichte ein. In der Thora steht geschrieben, dass viele, die jetzt im Grab liegen, geglaubt haben, das Leben gehe ohne sie nicht weiter. Doch es geht weiter."

Es gehört schon einiges dazu, in einer Zeit, in der die palästinensische Gesellschaft nach Rache dürstet, die Bombenanschläge der Hamas als "unmoralisch" zu bezeichnen. Doch Saleh Abdel Jawad tat das fast vom ersten Moment an, als sich die Bombenattentäter der Intifada anschlossen, die seiner Meinung nach von Anfang an gewaltfrei hätte sein sollen.

Damals, als alles begann, hatte Abdel Jawad, Professor für Politische Wissenschaften an der Bir-Zeit-Universität, erfolglos versucht, das Ausufern der Gewalt auf der Straße zu verhindern. An jenem schicksalhaften Tag im Oktober 2000, als ein palästinensischer Mob über zwei israelische Soldaten in Ramallah herfiel, lief Abdel Jawad zum Ort des Geschehens in der Nähe seines Hauses und beschwor die palästinensischen Polizeibeamten, ihre Waffen gegen den Mob zu richten. "Ich wäre beinahe selbst gelyncht worden", erzählte er. Als er die Polizisten später fragte, warum sie den Mord an den Soldaten zugelassen hatten, antwortete einer von ihnen: "Was soll denn das Volk denken? Dass wir Kollaborateure sind?"

"Das war interessant", sagte Abdel Jawad. "Wegen der Schwäche der Autonomiebehörde konnten die Polizisten in Ramallah nicht durchgreifen. Sie wurden vom Mob vorgeführt."

Kurz darauf schrieb Abdel Jawad einen Aufsatz, in dem er den Gebrauch von Waffen als fruchtlos, ja selbstmörderisch bezeichnete. Es dauerte einige Zeit, bis er einen palästinensischen Verlag fand, der bereit war, das zu drucken. Durch Waffengewalt, schrieb er, würden die Palästinenser die Israelis dazu treiben, mit ihrer beträchtlichen militärischen Überlegenheit zu reagieren. Es würde zu einem Schneeballeffekt kommen, und das tägliche Leben wäre unerträglich.

Abdel Jawad kann sich nicht freuen, dass er Recht bekommen sollte. Er ist ein Nervenbündel geworden. Manchmal sieht man ihn schweißgebadet auf seinem Rad durch Ramallah fahren; er will dokumentieren, wo die Israelis ihre Panzer aufstellen. Er verurteilt die israelische Regierung und die palästinensische Autonomiebehörde so scharf, dass er sich kaum überwinden kann, aufzuschreiben, was er denkt. Am liebsten würde er einige Monate wegfahren, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Dazu müsste er allerdings das Westjordanland über eine von den Israelis kontrollierte Grenze verlassen. Doch von Checkpoints hält er sich zur Zeit fern, um nicht vor Wut den Verstand zu verlieren.

Das letzte Mal hatte er Ramallah im Juni verlassen, um nach Amman zu reisen. Bei seiner Rückkehr blieb er in einem Verkehrsstau an einem Kontrollposten nahe Jericho stecken, in der Hitze schmorend, während junge israelische Soldaten langsam und genüsslich jedes einzelne Auto durchsuchten, alle in einer Reihe. "Als ich da festsaß, mit den hupenden Autos und den Soldaten, die Leute anschnauzten, die doppelt so alt waren wie sie, hatte ich die Fantasie - wie in Zeitlupe -, auszusteigen und diese Soldaten zu töten. Dabei bin ich Humanist! Doch da habe ich sie mal am eigenen Leib erfahren: die tagtäglichen Demütigungen, die die Palästinenser zu Handlungen treiben, die unseren Interessen schaden. Israel tut sein Bestes, uns alle in die Arme der Hamas zu treiben."

Abdel Karim Eid lehnte mit dem Rücken an bestickten Kissen auf dem Wohnzimmerboden in seinem Stadthaus im Gaza-Streifen und überwachte eine Intifada-Seifenoper, die von Mitgliedern seiner großen Familie aufgeführt wurde. Der 74-jährige Patriarch, ein pensionierter Lastwagenfahrer, trug einen Nadelstreifen-Kaftan. Mit Handbewegungen, die an einen Verkehrspolizisten erinnerten, versuchte er, den Verlauf der hitzigen Diskussion zwischen der Fatah-Hälfte und der Hamas-Hälfte seiner Familie zu steuern. Fast alle Männer standen in einem Pulk zusammen, was die Spannung noch verschärfte.

Links von Karim Eid saß Ehefrau Nummer eins, zu seiner Rechten Ehefrau Nummer zwei. Ringsherum kauerten in konzentrischen Kreisen Dutzende Kinder und Kindeskinder. Wenn sich Karim Eid nicht verzählt hat, nennt er 20 Kinder und 87 Enkel sein Eigen, einige davon schwarz (wie Frau Nummer eins), andere weiß (wie Frau Nummer zwei). Fünf davon sind palästinensische Sicherheitsbeamte und Fatah-Mitglieder. Mindestens fünf weitere sind Hamas-Anhänger, und ein elfter Sohn schwärmt für Saddam Hussein.

Während eine Großmutter strickte, eine Mutter ihr Kind stillte und die Mädchen im Teenageralter kicherten, erklärte ein gestriegelter Polizeibeamten-Sohn: "Wir haben eine Behörde, eine Führung, ein Gesetzbuch, und daran müssen wir uns halten. Wenn mein Bruder das Gesetz bricht, bringe ich ihn ins Gefängnis."

Ein Hamas-Bruder, auf dem Kopf eine Wollmütze der Football-Mannschaft New York Giants, sah ihn böse an: "Maskier dich lieber, damit ich dich nicht erkenne. Warum sollte ich denn ins Gefängnis? Du hältst dich wohl für was Besseres, weil du bei der Behörde bist? Doch die Behörde ändert jeden Tag ihre Politik. Heute Feuerpause, morgen Feuer. Du gibst vor, den Rechtsstaat zu vertreten. Aber im Grunde bist du nicht anders als wir."

Ein anderer Hamas-Bruder, ebenfalls mit Giants-Mütze, fuhr dazwischen: "Du bist Muslim so wie wir. Deine Verfassung sollte der Koran sein."

Der älteste Fatah-Bruder, zu Späßen aufgelegt, zog seine Jacke aus, als bereite er sich auf einen Kampf bei der Jerry-Springer-Show vor: "Mal im Ernst", sagte er, "die Hamas glaubt, dass wir klein beigegeben haben und uns alles egal ist. Doch die kämpfen auf ihre Weise und wir auf unsere, und manchmal überlappen sich beide."

Karim Eid sagte: "Wenn die Israelis uns angreifen, sollten wir zurückschlagen. Wenn sie uns die Hand reichen, reichen wir ihnen unsere." Einer seiner Hamas-Söhne spuckte aus: "Es wird keinen Frieden geben. Entweder wir oder sie."

Auf die Frage, ob sie Giants-Fans seien, erwiderte der eine: "Ich will nur was Warmes auf dem Kopf", und wand sich vor Verlegenheit unter dem Logo der Strickmütze. Der andere platzte heraus: "Ich mag New York, wegen der Dinge, die da am 11. September passiert sind."

Ein palästinensischer Polizeioffizier-Bruder sprang auf: "Du Verdammter! Nimm das zurück! Nimm das zurück!" Der Hamas-Anhänger kicherte in sich hinein: "Und wenn nicht? Willst du mich etwa verhaften?"

Der Patriarch lachte während der ganzen Unterhaltung. "Das ist normal in Gaza", sagte er. "Du triffst auf einen Vater, der bei der Hamas ist, und sein Sohn ist bei der Fatah oder umgekehrt. Genauso kannst du auf einen Vater treffen, der Zeug auf einem Esel verkauft, und sein Sohn ist Arzt. Mögen Sie gegrilltes Fleisch? Ich mag es gekocht. Mögen Sie Falafel? Ich mag Salat."

Frau Nummer eins unterbrach ihn. "Was schwätzt du da für einen Unsinn?" Und der Patriarch erwiderte: "Du bist mein Mond." Und zu der anderen Frau: "Du bist mein Stern."

Die Lichter gingen aus, ein routinemäßiger Stromausfall. Alles, was man in der Dunkelheit sehen konnte, war ein Dutzend glühender Zigaretten. Als die Lichter wieder angingen, begaben sich der Patriarch und seine Söhne in das Schlafzimmer des alten Mannes, um etwas Besonderes zu zeigen: ein ausgestopftes weißes Kätzchen. Es war aber nicht irgendein ausgestopftes weißes Kätzchen. Die Hamas-Brüder klatschten in die Hände, und die Katze miaute. Andere Brüder, Polizeibeamte, machten mit. Alle lachten und klatschten in die Hände, und die Katze gab unentwegt ein mechanisches Miauen von sich. Der Vater sagte: "Sehen Sie, in Gaza wird es niemals einen Bürgerkrieg geben. Wir sind alle Brüder."

Die Opfer des Brudermordes, der erst wenige Tage zuvor stattgefunden hatte, als die palästinensische Polizei militante Islamisten tötete, waren nicht mehr in der Leichenhalle von Gaza-Stadt. Auch die kalten Stahltische wiesen keine Spuren des israelisch-palästinensischen Konfliktes auf. Ebenso wenig die Kühlfächer, in denen Abdel Rasik al-Masri die Leichen aufbewahrt, bevor er sie seziert.

Er nippte Kaffee aus einer kleinen Tasse in dem keimfreien Horrorhaus. In den vergangenen 15 Monaten habe er Hunderte von Leichen seziert, darunter viele Kinder, sagte Masri, an einem Keks knabbernd. Die Israelis töteten "ohne jeglichen Respekt vor dem Menschen". (Das sagen die Israelis auch über die Palästinenser. Jeder glaubt, der andere töte mit besonderer Grausamkeit.)

"Wenn es in Gaza noch andere forensische Spezialisten gäbe, hätten wir unsere Arbeit nach drei oder vier Monaten eingestellt", erzählte Masri. "Aber es gibt keine anderen. Deshalb erdulden wir, was Gott uns aufträgt zu erdulden. Wir werden nicht müde, damit auch andere nicht müde werden. Wir weinen nicht, damit andere nicht weinen."

Hat seine Arbeit seine Sichtweise auf den Konflikt beeinflusst? Er wirkte so verbittert. Doch seine Antwort beginnt überraschend mit der Huldigung einer israelischen Küstenstadt. "Ich vermisse Netanja", sagte er. "Früher machte ich dort im Sommer immer einen Intensivkurs in Hebräisch, und ich wurde immer besser. Ich würde gern mal wieder nach Netanja fahren. Und nach Tel Aviv. Früher haben wir dort ganze Abende ohne Angst verbracht. Ich würde gern wieder mit den Israelis wie mit Nachbarn zusammenleben. Wir könnten sie besuchen und sie uns. Wir könnten mit ihnen zusammenleben, mit ihnen schlafen und umgekehrt. Doch die Israelis müssen umdenken. Sie müssen unserem Präsidenten die Hand reichen, und wir werden alle ein gutes und zivilisiertes Leben führen."



(c) DIE ZEIT 11/2002





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aus der Diskussion: Das israelische Militär ist das letze......
Autor (Datum des Eintrages): Harry_Schotter  (06.04.02 00:07:51)
Beitrag: 117 von 131 (ID:6022247)
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