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Alte und neue Nazis in Chile
Chile galt wegen seiner bedeutenden deutschstämmigen Bevölkerung als natürlicher Verbündeter des Nationalsozialismus und hatte während der Zeit Hitlers und Mussolinis eine eigenständige faschistische Bewegung. Deshalb flohen nach 1945 Nationalsozialisten in dieses Land. Der bekannteste ist Walter Rauff, der Erfinder der Gaswagen, in denen Juden ermordet wurden. Nach dem zweiten Weltkrieg und nach dem Militärputsch 1973 haben sich um die "Nazis in Chile" Mythen gebildet. Die Bedeutung des Nationalsozialismus in Chile wurde häufig überschätzt. Wir möchten hier drei Bücher erwähnen, die sich mit dem Thema befassen.

Jürgen Müller liefert mit Nationalsozialismus in Lateinamerika : die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko : 1931-1945 eine umfassende Studie zur "AO" (Auslandsorganisation der NSDAP, nicht zu verwechseln mit der NSDAP/OA, die heute in den USA besteht). Argentinien wird in diesem Buch am ausführlichsten behandelt, da dort die größte lateinamerikanische Landesgruppe der AO bestand. Müller widerlegt mit vielen Fakten die Überschätzung der AO durch die Alliierten als "fünfte Kolonne" (d.h. als feindliche Kolonne im eigenen Land). Die AO hat sich in internen Querelen und in Kämpfen mit den parallelen Machtstrukturen des NS-Staates (Auswärtiges Amt u.a.) zerrieben und keine ins Gewicht fallende politische Wirkung erzielt..

Die NSDAP verstand sich als Organisation aller Deutschen in der Welt. Deshalb hat sie den einzelnen Gauen einen überregionalen Gau, eben die AO, angegliedert, der für "Volksdeutsche" (Menschen deutscher Abstammung) und "Reichsdeutschen" (deutsche Staatsbürger im Ausland) zuständig war. Auch im Ausland wollte die NSDAP alle Vereine mit der Partei "gleichschalten" und übte Druck auf deutsche Kultur- und Sportvereine aus. Die deutschen evangelischen Gemeinden in Lateinamerika bekannten sich in ihrer Mehrheit zum Nationalsozialismus. Die Katholiken waren zurückhaltender. Insgesamt kam der Nationalsozialismus bei den in Lateinamerika lebenden Deutschen gut an. Dennoch hatte die AO Mühe, dieses Potential zu organisieren. In ganz Lateinamerika hatte die AO weniger als 6.000 Mitglieder, von denen viele nicht aktiv waren. In Chile waren es weniger als 1.000.

Die jeweiligen Staaten betrachteten das Wirken der AO als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Mit der Vorstellung einer alldeutschen "Volksgemeinschaft", für die die AO zuständig sei, gaben sie sich nicht zufrieden. Nachbeginn des zweiten Weltkrieges waren die einzelnen Landesgruppen auch in neutralen Ländern von der Parteizentrale in Berlin abgeschnitten und fristeten ein Schattendasein.

Simone Schwarz vergleicht in Chile im Schatten faschistischer Bewegungen die eigenständige chilenische faschistische Bewegung MNS mit der AO und mit der 1970 gegründeten Bewegung "Patria y Liberdad" (Vaterland und Freiheit). Das Buch zeigt, wie bürokratisch die AO handelte und wie dynamisch der MNS war. Patria y Libertad war eine rechte Terrororganisation, die zum Militärputsch 1973 beitrug.

Über die heutigen Nazis in Chile schreiben Friedrich Paul Heller und Anton Maegerle in Die Sprache des Hasses. Das Buch enthält ein Kapitel zu dem chilenischen Esoteriker und Hitleranhänger Miguel Serrano und zu der deutschen Siedlung Colonia Dignidad (verg. F.P. Heller: Colonia Dignidad: von der Psychosekte zum Folterlager. Schmetterlingverlag: Stuttgart 1993). Heller und Maegerle berichten ausführlich vom "Ersten ideologischen internationalen Treffen zu Nationalität und Sozialismus" in Chile im Jahre 2000. Dieses Treffen fand vom 17. bis 21. April, also zum ersten Geburtstag Hitlers im neuen Jahrtausend, statt, obwohl die Presse berichtete, die Polizei habe es verhindert. Das Treffen war ein Höhepunkt innerhalb eines umfassenderen Organisationsansatzes und einer auf Jahre angelegten Zeitplanung. "Die Organisationsweise deutet auf eine Strategie der Gewinnung kultureller Hegemonie in relevanten gesellschaftlichen Bereichen hin. Offenbar hat das Konzept der Metapolitik Modell gestanden. Die Aktivisten setzen auf Langzeitstrategie. Für sie ist der Kongress eine Institution mit zahlreichen Verzweigungen und ein Treffen wie das im April 2000 ein Kristallisationspunkt ihrer Daueraktivitäten. Die Organisation besteht aus Zellen und offenen Gruppen, die Sympathisanten auffangen sollen. Je höher die Hierarchieebene, desto ausgeprägter die Esoterik", schreiben die Autoren. "Ideologisch huldigen die Kongressleute einem positiv gewendeten Rassismus, wie ihn die europäische Neue Rechte vorformuliert hat: Die Verschiedenheit der Rassen wird... anerkannt, aber Rassenmischung wird abgelehnt."

Jürgen Müller: Nationalsozialismus in Lateinamerika : die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko : 1931-1945. Stuttgart 1997, 564 S.

Simone Schwarz vergleicht in Chile im Schatten faschistischer Bewegungen. VAS-Verlag Frankfurt am Main 1997, 131 S.

Friedrich Paul Heller ; Anton Maegerle: Die Sprache des Hasses : Rechtsextremismus und völkische Esoterik.... Schmetterlingsverlag : Stuttgart 2001, 211

Das umfassenste Buch zum Thema gibt es leider nur auf Spanisch: Víctor Farías: Los Nazis en Chile. Seix Barral : Barcelona 2000
 
aus der Diskussion: Schlaglicht: Der tödliche Alltag in der chilenischen Dikatur Pinochets
Autor (Datum des Eintrages): antigone  (30.07.02 19:55:32)
Beitrag: 12 von 20 (ID:7003565)
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