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Gestern mußte ich leider eine kleine Reise unternehmen. Danach gab es einiges zu klären. Aber nun geht die Geschichte weiter:




Der Film gefiel mir ganz gut, aber nicht gut genug, um mich von der Börse abzulenken. Neuerdings dachte ich permanent über Aktien nach. Es war eine Art Besessenheit. Nur wenn ich durch meinen Job, durch Autofahren oder intensives sportliches Training wie Blitzschach voll ausgelastet wurde, konnte ich mich vom Grübeln über Börsenstrategie befreien.

Am meisten beschäftigte ich mich mit der Frage richtigen Timings. Alle Aktien schwankten. Die Marktteilnehmer waren anscheinend ohne Ausnahme voll investiert. Zwar kamen durch die euphorischen Artikel in Zeitungen und Illustrierten kontinuierlich neue Zocker hinzu, so daß die Indizizes immer wieder noch ein bischen höher stiegen, aber das durfte man vernachlässigen, weil die Einsteiger inzwischen aus immer ärmeren Bevölkerungsteilen rekrutiert wurden und nur noch „Peanuts“ hinzusteuerten.
Am lukrativsten waren die ständigen Umverteilungen innerhalb des Bullenmarktes. Die Profis lauerten ständig auf neue Erfolgsmeldungen und „Kaufsignale“, um anderswo Gewinne zu realisieren und auf den nächsten Trend aufzuspringen wie ein Floh von einem Wirtskörper zum nächsten.

Um erfolgreich mitzuschwimmen, mußte man jeweils schnell reagieren. Um schnell zu reagieren, mußte man wiederum schnell entscheiden. Und um schnell entscheiden zu können, mußte man ein möglichst einfaches System verwenden.
Um Geld zu verdienen, mußte man nicht alle Aktien kennen. Wenn man zuviele Aktien analysierte und beobachtete, wurde man nur langsam und unentschlossen. Es gab nur wenige wachstumsstarke Branchen und dort jeweils nur wenige vielversprechende Firmen. Marktführer wie SAP waren ohne Ausnahme selbst im Vergleich zum allgemeinen Umfeld total überbewertet. Das waren die Aktien, auf die sich stets die Anfänger stürzten, und wo folglich kontinuierlich Kapital nachfloß, das alle Schwankungen bzw. „Einstiegskurse“ zügig ausbügelte. Um mit solchen Aktien Geld zu verdienen, mußte man den Markt pausenlos beobachten. Ich konnte aber immer nur nach Feierabend spekulieren. Ich verfügte auch über zuwenig Kapital, um mit prozentual kleinen Gewinnen große Erträge zu erwirtschaften, sondern spekulierte mit „Peanuts“, was sich in Anbetracht der hohen Gebühren nur bei großen Kursprüngen in einem Netto-Gewinn auszahlte. Natürlich hörte ich immer wieder, daß geniale Firmen wie SAP und TELEKOM ewig wachsen und ein niemals versiegender Quell immerwährenden Wohlstands sind, aber anders als der Rest meines Bekanntenkreises war ich zu doof, mir das vorstellen zu können. Ich war auch zu doof, mir auszumalen, daß die zahllosen Klitschen am „Neuen Markt“ lauter potentielle Weltmarktführer sein konnten. Beschreibungen von Firmen des „Neuen Markt(s)“, weckten bei mir gewöhnlich Assoziationen an Pommes-Buden, und gewöhnlich verstärkte sich dieser Eindruck in demselben Maße, indem ich mich näher damit beschäftigte. Ich hatte Bekannte, die bei kleinen Computer-Firmen arbeiteten und mir versicherten, daß ihre Chefs am liebsten ihre eigenen Herren wären, und nur die weniger erfolgreichen Konkurrenzfirmen notgedrungen an die Börse gingen und sich damit jede Menge zusätzlicher Pflichten aufhalsten.
Meine erste Wahl war jeweils die Nummer zwei. Ich kaufte mit Blick auf Computer-Betriebssysteme keineswegs MICROSOFT, aber APPLE. Ich kaufte mit Blick auf Zeichentrickfilme nicht WALT DISNEY, aber PIXAR. In beiden Fällen wurde die Nummer zwei von der Nummer eins gestützt. MICROSOFT besaß selbst Anteile an APPLE und entwickelte für deren Computer Software. WALT DISNEY trug geschäftliche Risiken für PIXAR und half dort bei der Entwicklung von Drehbüchern.

Die Aktien von APPLE und PIXAR schwankten immer in einem gewissen Rahmen. Die „Widerstandslinie“ von APPLE entsprach damals etwa der „Unterstützungslinie“ von PIXAR.
Mein „System“ bestand darin, solche „Paare“ aus diversen Branchen zu finden und dann bei spektakulären Kursbewegungen hin und her zu springen.
Gerade eben hatte ich 200 APPLE-Aktien verkauft, als ich gerade für denselben Preis 200 PIXAR-Aktien hatte kriegen können, um dann nach der technischen Gegenreaktion für den Erlös von 200 PIXAR-Aktien nun 300 APPLE-Aktien zu kaufen, mit denen ich wiederum Gewinn machte.

Im Grunde handelte ich wie ein Gemüsehändler. So fühlte ich mich auch. Im Vergleich zu Schach oder auch Backgammon war es ein doofes Spiel, bei dem fast jeder gewinnen konnte. Am häufigsten und meisten gewann ich selbst zum Beispiel, solange ich die Firmen, in die ich investierte, völlig falsch einschätzte. Bei APPLE leitete ich aus dem geringen Marktanteil von etwa 5% ab, daß ihr Umsatz sich noch verzwanzigfachen könne. In Wirklichkeit hatte APPLE sich längst den Ruf erworben, mit Lieferproblemen und Preiserhöhungen selbst einen höheren Marktanteil unmöglich zu machen. Bei PIXAR hoffte ich auf hohe Einnahmen durch Merchanising und dachte dabei an die äußerst erfolgreiche Firma EM.TV, die bewiesen hatte, daß der Handel mit solchen Lizenzen eine beispiellose Goldgrube bedeutete. Tatsächlich hatte PIXAR, um die ersten drei abendfüllenden Filme finanzieren zu können, die betreffenden Merchanising-Rechte vorab an WALT DISNEY verkauft.

Als das Licht wieder anging, versuchte ich mich erfolglos an die Handlung des Films zu erinnern, aber umso besser erinnerte ich mich noch an Justine.
Bei Verlassen des Kinosaals sah ich sie im Restaurationsteil des Kinos. Sie wischte die Tische ab und stellte die Stühle gerade.
„Hallo“, sagte ich.
„Hallo.“
Sie sah mich nicht an, sondern arbeitete ruhig weiter.
„Ich wollte dich vorhin nicht nerven.“
„Schon okay“, sagte sie.
„Ich war einfach total überrascht. Sowas nennt man ein Deja-vu, nicht wahr?“
„Das kann schon sein“, antwortete sie.
„Bist du ärgerlich auf den Autor, der dich so exakt beschrieb?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Du hast anscheinend viel Verständnis für Künstler“, sagte ich.
„Geht so.“
Ich sah mich um. Immer noch kamen Zuschauer aus den Sälen. Einige von ihnen mußten sich anscheinend erst wieder an richtiges Licht und die reale Welt gewöhnen. Ich wollte nicht der letzte Gast sein, aber davon war ich noch weit entfernt.
„Bist du hier fest angestellt?“, fragte ich.
„Ich studiere Kunstgeschichte“, sagte sie.
Plötzlich fiel mir wieder ein, was Eva mir einst über mein spätes Wiedersehen mit Melanie geschrieben hatte. In der langen Pause, in der Melanie fort gewesen war, hatte ich mir eine falsche Vorstellung von ihr gebildet. Darum hatte mich die echte Melanie schließlich enttäuscht. Aber trotzdem gab es die Frau, die ich immer vor meinem inneren Auge gesehen hatte.
Justine war mir vertraut, weil ich ihr in den vergangenen zwanzig Jahren schon unendlich oft begegnet war.
In meinen Träumen.


(to be continued)
 
aus der Diskussion: Meine Frauen und meine Aktien
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (18.09.02 12:25:12)
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