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Schon wenige Minuten später hörte ich die neue weibliche Stimme ungedämpft, denn die Tür, die bisher dazwischen gewesen war, wurde aufgerissen, ohne daß die beiden Frauen deshalb ihr Gespräch ins Stocken kommen ließen.
Ich starrte auf das Schachbrett. Der erste Eindruck war immer der wichtigste, also durfte ich bei Judith nichts überstürzen.
Endlich machten die beiden Damen eine Schnatterpause. Jetzt wußte ich, daß sie uns beobachteten. Ich blickte beim Spiel beiläufig Kalle an, der zu den beiden hochsah. Daraus, daß er sich rasch wieder abwandte und erst anschließend leicht frustriert „Hallo Judith“ murmelte, schloß ich, daß zumindest die Angesprochene nicht ihn, sondern mich für den interessanteren der beiden Schaukämpfer hielt. Ich hütete, mich, sie zu beachten. Wenn ich jetzt aufsah, würde sie meinen, ich müßte ihr nachlaufen und in einer späteren Ehe ihretwegen womöglich alle meine Hobbies aufgeben. So leicht durfte ich es ihr nicht machen.
„Warum hauen die immer auf die arme Uhr?“, fragte Judith.

Ich grinste. Sie begann tatsächlich, offen Beachtung zu verlangen. Melanie schwieg.
Ich schwieg auch. Ich konzentrierte mich lieber auf die Partie, denn ich durfte diesmal auf keinen Fall verlieren, auch nicht ihretwegen. Sie durfte mich nicht für einen „Loser“ halten, und sie durfte erst recht nicht denken, daß die Sympathie für sie mich verlieren ließ, denn der Erfahrung nach witterten Frauen dann einen stummen Vorwurf, und reagierten mit einer Taktik, die beim Militär „vorweggenommener Gegenschlag“ hieß und sich bei ihnen schlimmstenfalls als Zickigkeit manifestierte. Ich starrte auf das Brett und gab ihr noch mehr Zeit, meinen Anblick zu bewerten. Wenn ich Blickkontakt suchte, mußte sie sich sofort entscheiden, ob sie lächeln sollte, und wenn ich eine noch unsichere Frau diesbezüglich überrumpelte und ein „Ich weiß zwar überhaupt noch nicht, was ich von dem Kerl halten soll, aber ich ziehe sicherheitshalber mal eine gute Miene, um mir solange alles offen zu halten“-Lächeln ergaunerte, würde ich später dafür bezahlen müssen.
Endlich antwortete Kalle auf die Frage von Melanie.
„In dem Gehäuse sind zwei Uhren“, erklärte er. „Eine läuft, wenn er dran ist, und die andere läuft, wenn ich dran bin. Die laufen nie zur gleichen Zeit, sondern immer nur abwechselnd, je nachdem, wer gerade dran ist.“
„Und woher weiß die jeweilige Uhr, wann sie dran ist?“, fragte Judith.
„Wenn ich fertig bin, drücke ich auf meiner Seite den Nippel nach unten und stoppe meine Uhr“, sagte Kalle. „Dann fängt automatisch dafür seine Uhr zu laufen an.“
„Darum hauen die da immer drauf“, sagte Melanie.

„Matt“, sagte ich.
Kalle schob ärgerlich knurrend die Figuren zusammen und baute die Grundstellung neu auf. Ich warf einen flüchtigen Blick auf Judith, die beeindruckt schien und ansonsten recht knuffig wirkte.
„Das kommt nur vom vielen Quatschen“, murmelte er wütend.
„Jungs brauchen beim Spielen immer was zum Draufhauen“, sagte Judith etwas hochnäsig. Das gefiel mir. Erstens attestierte sie uns ein gewisses Maß an echter Männlichkeit, und zweitens wußte ich, daß es gerade die hochnäsigsten Frauen waren, die, wenn man ihre Abwehr endlich vollständig überwunden hatte, am lautesten „Mehr!“ oder „Tiefer!“ oder „Fester!“ riefen.
„Das stimmt total“, sagte Melanie.
Wie zum Beweis haute Kalle, der soeben mit dem Königsbauern eröffnet hatte, schon wieder auf die Uhr.
„Als ich ihn kennengelernt habe, hat er das auch gemacht“, fügte Melanie dann hinzu.
Kalle drehte sich verdattert um und fragte „Was?“
„Nein, nicht du!“
Melanie winkte ab und wies dann auf mich.
„Er ist diesmal gemeint“, sagte sie. „Bei der ersten Begegnung hielt ich ihn für einen Specht. Ich war gerade im Feld hinter unserem Haus unterwegs, als ich so ein regelmäßiges Klopfen hörte, ohne daß ich sehen konnte, wer das verursachte. Wie ich dann neugierig aus dem Feld rausgucke, sehe ich da diesen Heini, der gerade wie bekloppt immer wieder seinen Fußball gegen die Hauswand tritt.“
Verwundert sah ich auf.
„Ich dachte, du hättest damals eine Freundin besuchen wollen!“, sagte ich.
„Ich dachte, du erinnerst dich garnicht mehr an den Quatsch!“, sagte Kalle.

„Jaja“, sagte Melanie mürrisch, „ich wollte damals eine Freundin besuchen, aber wegen dem Geballer wäre fast wieder umgekehrt. Das ist mir auch nur wieder eingefallen, als ich hier schon wieder so einen Lärm hörte. Es ist eben genau wie meine Schwester sagt. Jungs brauchen beim Spielen immer was zum Draufhauen!“
„Wir sind keine Jungs, sondern Männer“, verbesserte Kalle.
„Jau“, sagte ich.
Judith kicherte albern.
„Soll ich es dir beweisen?“, fragte ich ärgerlich.
„Das möchtest du wohl gern“, höhnte sie.
„Im Moment möchte ich nur ungestört Schach spielen“, sagte ich.
„Soso“, sagte Melanie.
„Sagmal“, begann Judith, „Du siehst ein bischen indianisch aus. War deine Mama mal in Amerika?“
„Schach“, sagte Kalle.
„Mist“, sagte ich.
„Schachmatt!“, rief Kalle.
„Großer Mist!“, rief ich.
„Und? War deine Mama mal in Amerika?“, fragte Judith erneut.
„Nein“, antwortete ich, „aber im Moment fände ich es schön, wenn du gerade in Amerika wärst.“
Sie schnappte nach Luft. Schließlich sah sie aus dem Fenster.
„Im Moment weiß ich nicht einmal, wie ich nach Hause kommen soll“, sagte sie dann. „Ich bin zu Fuß, es regnet wie verrückt, und es ist auch noch so stürmisch, daß einem jeder Schirm sofort umgeknickt wird.“

„Man soll sich nie schämen, feucht zu werden“, sagte Kalle, der seine Figuren endlich neu aufgestellt hatte und die Uhr in Gang setzte.
Melanie haute ihm auf die Schulter.
„Protest!“, rief ich. „Sie gibt dir Ratschläge! Wenn sie dich auf die linke Schulter haut, mußt du am Damenflügel angreifen, und wenn sie dich auf die rechte Schulter schlägt, mußt du am Königsflügel angreifen- stimmt´s?“
„Und was heißt das hier?“, fragte sie, als sie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gab.
„Aua“, sagte er.
„Das heißt, er soll in der Mitte, also im Zentrum, angreifen“, sagte ich spekulativ.

„Zieh“, sagte er.
„Nein, du bist wegen unerlaubter Mithilfe disqualifiziert. Darum fahre ich jetzt als Sieger nach Hause. Mal gucken, ob ich bei Judith vorbeikomme.“
Ich stellte die Uhr komplett ab und erhob mich.
„Oh ja“, sagte Judith.
„Blödsinn“, sagte Kalle.
„Doch“, sagte Melanie und gab ihm einen weiteren Klaps. Plötzlich wurde mir klar, daß ich mir mal gewünscht hatte, an seiner Stelle zu sein. Jetzt erkannte ich, welcher Gefahr ich entronnen war. Noch im Nachhinein brach mir Angstschweiß aus. Ich wischte mir über die Stirn.
„Wir brauchen hier in der Küche einen Abzug“, meckerte Melanie und gab Kalle schon wieder einen Klaps. Ich nahm es mit Schrecken zur Kenntnis und wollte unbedingt weg.
„Nicht so schnell“, mahnte Judith, als ich an ihr vorbei aus der Küche ging, obwohl sie meinen Arm festhielt.


(Fortsetzung folgt)
 
aus der Diskussion: Meine Frauen und meine Aktien
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (09.10.02 11:53:39)
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