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Grüne Vernunft, rote Irrlehren

Von Christoph Keese

Angesichts der dramatische Schieflage der deutschen Wirtschaft versagt die SPD beim Aussprechen ökonomischer Wahrheiten. Nur die Grünen haben
verstanden.

Von Woche zu Woche wird klarer, wer die wahre Reformkraft im Lande ist. Es sind die Grünen. Sie haben die richtigen Lektionen aus der Niederlage
gelernt, die sie beim Streit mit Kanzler Gerhard Schröder um die Rentenerhöhung erlitten haben. Lektion Nummer ein: Der politische Instinkt des Kanzlers
ist nicht untrüglich. Schröder hatte prognostiziert, die Rentner würden keinen Verzicht leisten und der Koalition bei den nächsten Landtagswahlen eine
Niederlage zufügen, wenn die Rentenerhöhung nicht sofort beschlossen wird. Eine Fehleinschätzung: Laut jüngstem "ZDF-Politbarometer" der
Forschungsgruppe Wahlen sind 50 Prozent der Rentner für eine Verschiebung der Erhöhung.
Lektion Nummer zwei: Die Grünen sind nicht nur eine Ökopax-Partei, sondern auch eine Partei der ökonomischen Vernunft. Seit Beginn der Friedens-
und Umweltbewegung haben Grüne Firmen gegründet, um Alternativen am praktischen Beispiel vorzuleben. Diese Betriebe mussten meist ohne
Subventionen auskommen. Wenn sie nicht scharf kalkulierten, gingen sie unter. Projekte wie die "tageszeitung" überlebten jahrelang durch Kreativität
und fast ohne Kapital; zahlreiche Alternativ-Betriebe sind heute profitabel. In dieser Gründerkultur haben die Grünen ihre Wurzeln. Sie wissen: Geld,
das man nicht verdient, kann man nicht ausgeben.

Lektion Nummer drei: Mit dem Aussprechen ökonomischer Wahrheiten können die Grünen Punkte bei vielen Bürgern machen, die das Schönreden und
Gesundbeten anderer Politiker nicht mehr ertragen. Der Reformhunger ist groß geworden, die Opferbereitschaft wächst. Derzeit greifen nur die Grünen
diese Stimmung auf. Nachdem Schröders Instinkte so erkennbar versagt haben, gewinnen sie neues Selbstbewusstsein und räumen offen ein, dass
es ein Fehler war, dem Kanzler nachzugeben. Parteichef Fritz Kuhn hat das am Wochenende deutlich gesagt.

Wahrheiten aus der Fraktion


AP

Vorschläge ohne Rücksicht auf die Lobbys: Grünen-Fraktionsvorsitzende Göring-Eckhardt


Erstaunlich viel Statur hat die neue Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckhardt gewonnen. Sie fordert jetzt völlig zu Recht, dass künftig auch Beamte
in die Rentenkasse einzahlen sollten. Sie bezweifelt, dass Staatsdiener beamtet werden müssen, wenn sie keine hoheitlichen Aufgaben ausüben.
Einen späteren Eintritt in die Rente will sie überdenken. Und für Minister und Staatssekretäre verlangt sie ein Ende der Doppelversorgung durch
Parlament und Regierung. All das sind neue Töne - unpopulär bei den Betroffenen, aber vernünftig in den Ohren aller anderen. Wer etwas ändern will,
darf die Reform nicht vom Beifall der Reformierten abhängig machen. Die Grünen haben das verstanden, werfen alte Konzepte über Bord und riskieren
einen Konflikt mit Interessengruppen.

Ganz anders die SPD. Wenn Sozialdemokraten eine Reform angehen, berufen sie gerne Experten wie den Wirtschaftsprofessor Bert Rürup und
übertragen ihm ein komplexes Problem - wie die Sanierung des Renten- und Gesundheitssystems. Der Experte referiert dann den Stand der
Wissenschaft, und die Sozialdemokraten prüfen, ob das zu ihrem Dogma passt. Falls nicht, schneiden sie ihm das Wort ab und verordnen Denkverbote.


Bestreiten der Forschungsergebnisse

Genau das musste Rürup vergangene Woche erleben. Er trug die ökonomische Binsenweisheit vor, dass die Rente nur zu retten ist, wenn künftig alle
länger arbeiten und die heutigen Pensionäre etwas Verzicht üben. Prompt bezweifelten führende Mitglieder der SPD-Fraktion Rürups Eignung als Chef
der Reformkommission. Traditionelle Sozialdemokraten haben ein Problem mit der empirischen Wissenschaft. Oftmals bestreiten sie das Ergebnis der
Forschung und pochen auf ihr Dogma.

Besonders von einem Glaubenssatz möchten die linke SPD und große Teile der Gewerkschaften nicht lassen: dass die Summe der Arbeit in einer
Volkswirtschaft feststehe und nur fair auf alle Arbeitswilligen verteilt werden müsse. Kein anderer Irrglaube richtet so großen Schaden an wie dieser.
Beschäftigung ist das Ergebnis einer makroökonomischen Funktion und damit flexibel. Wenn man die Parameter richtig einstellt, ist Vollbeschäftigung
auch in Deutschland jederzeit möglich. Diese Erkenntnis blendet die traditionelle Sozialdemokratie so hartnäckig aus wie fundamentalistische Christen
die Evolution.

Jüngstes Beispiel: SPD-Fraktionschef Franz Müntefering, Sozialministerin Ulla Schmidt und Familienministerin Renate Schmidt lehnen eine Erhöhung des
Rentenalters kategorisch ab. "Jetzt, bei hoher Arbeitslosigkeit, ist dafür der falsche Zeitpunkt", sagen sie zur Begründung. Nach ihrem Verständnis
nehmen alte Leute den jungen die wenigen Jobs weg, wenn das Rentenalter steigt. Auch darin steckt die Annahme einer fixen Beschäftigungsmenge.
Das Weltbild dieser Politiker ist nicht dynamisch. Sie verstehen nicht, dass eine Volkswirtschaft auf einen Wachstumspfad geraten kann, wenn mehr
Menschen arbeiten. Beschäftigung kann Wachstum bringen, nicht nur umgekehrt.

Ein Aufschwung kann sich selbst tragen und die Gesellschaft wie von Zauberhand wohlhabender machen. Solange die linke SPD und Gewerkschaften
ihre ökonomischen Irrlehren in der Praxis ausprobieren dürfen und sich von keiner Falsifizierung belehren lassen, wird die SPD das Land nicht aus der
Krise führen. Die Grünen sind damit die Kraft, auf die es ankommt. Sie müssen Kontra geben und für die Vernunft kämpfen. Ohne sie ist Rot-Grün
verloren.

Christoph Keese ist Chefredakteur der "Financial Times Deutschland"
 
aus der Diskussion: WIR WOLLEN DEN TOTALEN BEAMTENSTAAT!
Autor (Datum des Eintrages): Schinderluder  (18.11.02 11:45:33)
Beitrag: 25 von 57 (ID:7873468)
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