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Aus der SZ von heute:

Außenansicht

Seit der Einheit schwächelt die Wirtschaft

Von Klaus von Dohnanyi



Woher kommt es, dass die Bundesrepublik Deutschland, über so viele Jahrzehnte Vorbild sozialer Marktwirtschaft, innerhalb nur eines Jahrzehnts zum „Schlusslicht“ der Euro- Zone, zum angeblich „kranken Mann“ Europas wurde?

Bis in die frühen neunziger Jahre wies die alte Bundesrepublik, im Vergleich mit den großen europäischen Nachbarn und auch mit den USA, einen positiven Datenkranz auf. Exportstärke, gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten, Geldwertstabilität und Arbeitslosenquote bestätigten das Modell Deutschland. Was ist geschehen? Lag es am Ausbleiben der Reformen des Sozialstaates? Gab es zu wenig Impulse für unternehmerisches Handeln? Zu hohe Unternehmenssteuern oder zu hohe Löhne und zu niedrige Gewinne?

Sozialstaatsreformen sind auch für Deutschland lebenswichtig. Und doch gingen wir fehl, wenn wir meinten, das Ausbleiben von ausreichenden Arbeitsmarktderegulierungen, Rentenreform, Gesundheitsreform und Steuerreform seien die entscheidende Ursache unserer heutigen Wachstumsschwäche. Nicht die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute, sondern die Europäische Kommission hatte im Mai dieses Jahres zum ersten Mal einen Bericht über die Wirtschaft Deutschlands veröffentlicht, der den gesamtdeutschen Folgen der Vereinigung wirklich auf den Grund geht. Und dieser Bericht kommt zu einem Ergebnis, das wenig in die deutsche Debatte passt:

Zwei Drittel der deutschen Wachstumsschwäche gehen auf die Folgen der Vereinigung zurück – und es könnte sogar sein, dass damit deren Folgen noch immer unterschätzt werden.

Eine wesentliche Rolle spielt der konsumorientierte Transfer von jährlich etwa vier Prozent des westdeutschen Sozialproduktes in die neuen Länder – seit 1990 unverändert netto rund 70 Milliarden Euro pro Jahr.

Zu hohe Transferleistungen, die zunächst zu der hohen Staatsverschuldung, dann den hohen Zinsenlasten und schließlich zu den hohen Steuern, Abgaben und heutigen Defiziten geführt haben.

Im Vergleich zu diesen Fakten spielen nach Auffassung der Kommission die

Rigiditäten der Arbeitsmärkte für die deutsche Wachstumsschwäche eine eher nachrangige Rolle. Dafür spreche auch, dass Westdeutschlands Wirtschaft seit den achtziger Jahren nichts von ihrer ehemaligen, hohen Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt habe. Die offenkundigen Probleme Deutschlands seien also sehr langfristiger Natur und ließen sich nur lösen, indem die Probleme des Aufbau- Ost gelöst würden; dies jedoch sei eben kurzfristig nicht möglich.

US-amerikanische Forschungsinstitute haben diese Blickweise bestätigt. In einem Bericht von Goldmann Sachs vom Oktober heißt es: „Deutschlands unterdurchschnittliche Wachstumsleistung ist kein neues Phänomen; sie kann zurückverfolgt werden auf die deutsche Vereinigung im Juli 1990.“ Auch hier folgt dann die Feststellung: Diese Probleme Deutschlands könnten noch zehn bis 15 Jahre anhalten.

Seit Mitte der neunziger Jahre vermeiden die Bundesregierungen getrennte Statistiken für die neuen Länder und die alte Bundesrepublik. Getrennte Statistiken zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beider ehemaliger Teile Deutschlands werden wegen der Unternehmensverflechtung Ost/ West abgelehnt. Deutschland sei nun ein Land, Transferdaten und Teilstatistiken erweckten nur Unmut in Ostdeutschland. Politische Rücksichtnahmen klammern das zentrale Thema Deutschlands aus: die Folgen der Vereinigung nicht nur für den Osten, sondern für ganz Deutschland. Man erfährt zwar, wie es um Industrie und Arbeitslosigkeit im Osten steht, aber die neuen Länder wurden und werden behandelt, als gehe es allein um die Probleme einer Teilregion, nicht um die Folgen dieser Teilregion für das ganze Deutschland. Schließlich umfasst der Osten ein Drittel der Fläche, ein Fünftel der Bevölkerung, aber nur ein Zehntel des Sozialproduktes und nur gut ein Zwanzigstel des Exports Deutschlands.

Seit 1990 hat die Politik der Bundesregierungen nicht verstanden, dass weder Abschreibungen noch Investitionshilfen den Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes im Osten entscheidend helfen werden.

Attraktiv wird ein Standort für die Industrie nur durch besonders attraktive Ertragschancen. Diese Möglichkeit hat die Bundespolitik der ostdeutschen Region von Anbeginn verweigert – obwohl sogar der vom Westen dominierte Bundesverband der deutschen Industrie noch Mitte der neunziger Jahre bereit war, der ostdeutschen Region einen Wettbewerbsvorteil in Form substanzieller steuerlicher Wertschöpfungspräferenzen langfristig einzuräumen. In den Kalkulationen des Unternehmers für eine Standortentscheidung vergehen angesichts kurzer Lebenszyklen moderner Maschinen Abschreibungen und Zuschüsse schnell. Als Standortvorteil zählen allein dauerhaft günstige Ertragschancen. Diese werden aber durch das Versprechen einer Angleichung der Löhne und Gehälter des öffentlichen Dienstes in Ostdeutschland bis 2007 bedroht. Die These, niedrigere Löhne im Osten förderten die Abwanderung nach Westen, ist ein Märchen! Die Menschen wandern ab wegen geringerer Lebenschancen, die aber nur durch einen wirtschaftlichen Aufbau entstehen werden.

Wenn der Stadtstaat Berlin jetzt die Tarifgemeinschaft des öffentlichen Dienstes, also den Flächentarifvertrag des öffentlichen Sektors, verlassen will, dann tut die Stadt nur, was zwei Drittel der ostdeutschen Industriebetriebe längst getan haben und der Rest gerne tun würde und auch eigentlich müsste.

Ostdeutschland braucht, neben weiterhin deutlicher Lohnzurückhaltung, eine regionale Option für Flexibilisierungen aller unternehmensrelevanten Regulierungen. Damit könnten die Neuen Bundesländer zum Vorreiter des Westens werden. Ostdeutschland braucht ferner eine politisch vorgegebene Konzentration der Förderungen auf verdichtete Standorte. Und, vor allem, Ostdeutschland braucht eine ehrliche Bilanz und eine nachvollziehbare langfristige Perspektive, insbesondere angesichts von Gefährdungen durch die EU-Ost- Erweiterung.

Es ist ein fataler Denkfehler, den Aufbau Ost nur als Problem von Leipzig, Rostock oder Frankfurt/Oder zu diskutieren, wenn er doch längst auch ein finanzpolitisches Thema von Frankfurt/Main, Düsseldorf und München geworden ist. Wir müssen erkennen, dass angesichts des unabweisbaren Transferbedarfs die Senkung von Lohn- und Einkommensteuern, die zur Stärkung des Mittelstandes notwendig ist, nur durch eine konjunkturgerechte Erhöhung indirekter Steuern möglich wird. Es ist unverständlich, dass ausgerechnet bei der Mehrwertsteuer Deutschland am unteren Ende der europäischen Steuersätze liegt.

Der Aufbau Ost ist auch Westdeutschlands Schicksal. Deutschlands Weg aus der Gefahr führt nur über die Einsicht in die schwer wiegenden Folgen der Vereinigung.

Klaus von Dohnanyi, 74, regierte von 1981 bis 1988 Hamburg und war nach der Wende vorübergehend Wirtschaftsmanager in Leipzig
 
aus der Diskussion: Warum die Wirtschaft in D schwach ist
Autor (Datum des Eintrages): walwal  (05.12.02 08:10:20)
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