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Von der alten Sehnsucht nach einer «New Economy»

Die Behauptung, dass die Wirtschaft in eine neue Ära eingetreten und nun alles anders sei, ist selber alles andere als neu. Die Sehnsucht nach einer «New Economy» prägte die meisten Spekulationsblasen des 20. Jahrhunderts.
Tz. New York, 19. April
Am letzten Wochenende, nach dem haarsträubenden Einbruch des Nasdaq-Composite-Indexes machte das grosse New Yorker Brokerhaus Paine Webber in einem grossen Zeitungsinserat geltend, dass es bereits Mitte März in einem Bericht an die Kundschaft unter dem Titel «New Economy: yes. New Metrics: no.» vor der Manie im Bereich der «neuen» «New Economy»-Aktien gewarnt habe. Bei der Bewertung dieser «new new industrials», die noch überhaupt keine Gewinne erzielen, seien sträflicherweise alle herkömmlichen Kriterien über Bord geworfen worden. Als weiterhin sehr vorteilhafte Aktienanlage identifizierte Paine Webber demgegenüber «alte neue Industriewerte» und betonte dabei, dass die neuste Korrektur weder das Ende der Börsenhausse noch der digitalen Revolution angekündigt habe.
«Ein Durcheinander menschlicher Reaktionen»
Dieses Inserat ist ein typisches Beispiel dafür, wie die Analytiker und Auguren an der Wall Street jeweils mit magisch klingenden Worten das Interesse der Kundschaft zu wecken versuchen und immer wieder behaupten, dass sie nicht nur die allgemeine Kursentwicklung voraussagen, sondern gar den Markt schlagen können. Die von Paine Webber wie auch noch von einer Reihe anderer Wertpapierhäuser am Wochenende angeschlagene Rhetorik schien ihre Wirkung in den ersten zwei Handelstagen dieser Woche vorerst nicht zu verfehlen. Der Nasdaq Composite schnellte bereits wieder um atemberaubende 14,2% in die Höhe, angeführt von Titeln der «old new industrials» wie Cisco Systems oder Oracle, obwohl diese Unternehmen schwindelerregende Kurs-Gewinn-Verhältnisse von über 150:1 aufweisen.
Benjamin Graham (1894-1976), der als Vater der modernen Wertschriftenanalyse gilt und oft als der «Dean of Wall Street» verehrt wird, warnte oft davor, dass Aktienpreise «nicht vorsichtig berechnete Werte, sondern die Ergebnisse eines Durcheinanders menschlicher Reaktionen» seien. Kurzum: Der Bewertungsprozess bietet einigen Raum für Psychologie, Hoffnungen, Ängste und Moden der Marktteilnehmer. Bemerkenswert ist dabei, wie sich die Anleger immer wieder von einer Sehnsucht nach einer «New Economy» leiten liessen und unter diesem Vorzeichen Anlagetyps folgten, die sich letztlich als reine Luftschlösser entpuppten. In seinem neuen Buch, «Irrational Exuberance», dokumentiert der Finance-Professor Robert J. Shiller (Yale University), dass bereits an der Schwelle zum 20. Jahrhundert Hoffnungen auf eine neue Ära zu grossen Spekulationsblasen an der Börse führten und die Menschen in diesem sogenannten «Age of Optimism» bzw. in der «Cocksure Era» von einer glorreichen technischen Zukunft träumten.
Vom «Tronics»-Boom zur Biotech-Manie
Nach dem Börsenkrach von 1907 folgte dann in den zwanziger Jahren ein Börsenboom, der von einem Glauben an eine «new world of industry» und an eine «new world of distribution» getragen wurde. John Moody, der Gründer der nach ihm benannten Rating-Agentur, identifizierte 1928 ein «neues Zeitalter, . . . in dem sich die mechanistische Zivilisation . . . perfektionieren kann». Und nur zwei Wochen vor dem Börsenkrach von 1929 hielt dann der Ökonom Irving Fisher in New York seine berühmte Rede, in der er feststellte, dass «die Aktienpreise ein Niveau erreicht haben, das wie ein permanent hohes Plateau aussieht». Auch das Spekulationsfieber der fünfziger Jahre und der sechziger Jahre wurde erneut von Hoffnungen auf eine neue Ära geprägt. Bereits 1955 glaubte der damalige Schatzsekretär George Humphrey auch noch verkünden zu können, dass die Inflation vollständig besiegt worden sei. In der Kennedy-Ära wurde die «New Economy» gefeiert, in welcher «Geschäftsleute vernünftig die unbegrenzt fortlaufende Prosperität geniessen» können.
Zu den Börsenlieblingen der frühen sechziger Jahre gehörte alles, was nach Elektronik roch. Gemäss dem von Finance-Professor Burton G. Malkiel (Princeton University) verfassten Buch «A Random Walk Down Wall Street» herrschte der sogenannte «tronics boom»; die damaligen (und heute natürlich längst wieder vergessenen) Highflyer hiessen unter anderem Astron, Transitron oder Supronics. Nach dem Platzen der «Tronics»- Blase liessen sich die Anleger scharenweise für Konglomerate begeistern, denen grosse Synergien zugemessen wurden. Und nach dem Einbruch dieses Luftschlosses stürzten sich die Anleger auf Aktien von Firmen, die ein «gutes Konzept» vorweisen oder eine «gute Geschichte» erzählen konnten. Danach kamen Anfang der siebziger Jahre die sogenannten «Nifty Fifty» (die feschen Fünfzig) gross in Mode. Diese Gruppe umfasste Publikumsgesellschaften, die schon eine hohe Kapitalisierung aufwiesen, doch eine Geschichte mit einem hohen und stetigen Gewinn- und Dividendenwachstum vorweisen konnten. Und in den Achtzigern und Neunzigern gingen dann die Fieberschübe wieder verstärkt vom Technologiesektor (nicht zuletzt auch vom Bereich der Biotechnologie) aus.
Überschätzte Technologie?
Der an der Wharton School lehrende Finance- Professor Jeremy Siegel, der schon oft als Vater der heutigen Hausse gefeiert worden ist, hat nun aber in seinem Bestseller «Stocks for the Long Run» aufgezeigt, dass Aktien während der letzten 200 Jahre selbst unter Berücksichtigung der grosse Börsenkräche eine bessere Anlage als Staatsanleihen darstellten. Von dieser überlegenen Performance können indessen nur Anleger profitieren, die ein möglichst breit diversifiziertes Portefeuille mindestens 15 Jahre halten. Zudem warnt Siegel, dass «der Versuch der meisten von uns, (mit einer geschickten Aktienpickerei) den Markt zu schlagen, in einem Desaster ende». Wie schwierig und riskant selbst die Auswahl «erprobter» Wachstumstitel ist, demonstriert die Entwicklung der bereits zitierten «Nifty Fifty». Diese Gruppe brachte es zwischen 1972 und 1997 (bei einer vorübergehend starken Kurserosion bis 1980) gerade noch knapp auf eine mit dem S&P-500-Index vergleichbare Performance; und das war erst noch nicht etwa den Technologiewerten unter den «Nifty Fifty» zu danken, die auf dem Höhepunkt von 1972 weit überdurchschnittlich hohe Kurs-Gewinn-Verhältnisse von 90:1 (Polaroid), 56:1 (Digital Equipment), 46:1 (Xerox) oder von 36:1 (IBM) aufwiesen. Diese Titel waren vielmehr starke «Underperformer». Die effektiven Gewinner waren Konsumgüterkonzerne wie Philip Morris, Gillette oder Coca-Cola; zur Erzielung eines immer noch mit dem S&P 500 vergleichbaren Ertrags hätten diese Titel 1972 zwei- bis dreimal höher bewertet werden sollen und damit die Kurs-Gewinn-Verhältnisse der Technologiewerte aufweisen sollen . . .
Neue Zürcher Zeitung, 20. April 2000
 
aus der Diskussion: Börsenguru`s
Autor (Datum des Eintrages): Bischoff  (21.04.00 11:26:49)
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