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Es gab immer Warzen am amerikanischen Körper, aber die Deutschen wollten sie nicht sehen; sie wollten den makellosen Riesen lieben. Es gab immer eine ganze Fülle von bestürzenden Fakten in der Organisationsform der Amerikaner, in der Politik, in der Wirtschaft, blanken, widerwärtigen Rassismus gab es, ein Maß an Gewaltkriminalität, das die Vereinigten Staaten bis heute daran hindert, wirklich und im Wortsinn zivilisiert zu sein, es gab ungetarnt imperialistische Auftritte und Spielereien mit einem neuen Weltfeuer, aber die Deutschen und vollends ihre politischen Führer schauten weg. Die Westdeutschen, die von dem Gießener Mediziner Horst Eberhard Richter so genannten »geistigen Halbamerikaner«, haben aus ihrer frühen und treu gepflegten Dankbarkeit den Amerikanern gegenüber, die Richter mit sehr guten Gründen für eine »nach dem Krieg umgepolte Hörigkeit« hält, weitgehende Kritikunfähigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten werden lassen. Sie erblindeten, ganz so, wie das die Väter des »Marshall-Planes« beabsichtigt hatten, einseitig: »Der Russe« blieb lange der Halunke, der er schon zu Stalins Zeiten war, »der Ami« dagegen so seelengütig wie nach dem Zweiten Weltrieg, auch wenn er in Nicaragua durch die CIA Gebrauchsanweisungen für die Ermordung der in dem kleinen mittelamerikanischen Land regierenden Roten verteilte. Der »Gulag« war ein widerwärtiger Verstoß gegen die Menschenrechte, die seit Jahrhunderten institutionalisierte Zweitklassigkeit der amerikanischen Bürger mit dunkler Haut, die nach amerikanischem Sprachgebrauch im Getto leben, war es nicht. Brotknappheit in der Sowjetunion war ein verläßliches Indiz für die menschenverachtende Niedertracht eines Regimes, Hunger und Armut in den Vereinigten Staaten war dagegen eine von den Armen selbst verschuldete Bagatelle. »Der Russe« rüstete immer auf, um kaltblütig zu erobern und seine Weltrevolution voranzutreiben, so glaubten die Deutschen jahrzehntelang - bis Gorbatschow kam und einen Glauben ins Wanken brachte -, »der Ami« dagegen immer nur, um die freie Welt zu beschützen und über die gerechte Sache zu wachen. Der verklärte Glaube an die Vertrauenswürdig- und die Führungsfähigkeit der Vereinigten Staaten war zur Lebenslüge der Bundesrepublik Deutschland geworden.

Daß nach dem Zweiten Weltkrieg kein anderes Land - die Sowjetunion ausdrücklich eingeschlossen - so häufig, so eklatant und so souverän ignorant gegen das Völkerrecht verstieß wie die Vereinigten Staaten, daß sie mit fremden Ländern umsprangen, als wäre dies noch das 19. Jahrhundert, daß sie - und zwar gleich achtmal Fidel Castro umzubringen versuchten, Ministerpräsidenten und Staatspräsidenten von Teheran über Bagdad und Kinshasa bis Santiago stürzten oder töten ließen - und andererseits ein paar Staatspräsidenten aushielten, als wären die amerikanische Ladenschwengel -, daß die Vereinigten Staaten in Afrika unterminierten und in Europa intrigierten und selbst noch auf Mauritius destabilisierten, daß sie mit verheerenden Folgen in Libanon zündelten, daß die Vereinigten Staaten, mit einem Wort, völkerrechtliche Normen en gros verhöhnten und selber bestimmten, was internationales Recht war - nichts von alledem hat die Westdeutschen daran hindern können, ihren »amerikanischen Freunden« zu huldigen und in ihnen die Garanten für die Überlebensfähigkeit des Guten auf der Erde zu sehen.

Daß sich die Vereinigten Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges - Barbie war in glänzender Gesellschaft - stets mit Kleptokraten und mit faschistoiden Despoten verbanden, mit Marcos auf den Philippinen und Duvalier auf Haiti, mit Rhee und seinen schrecklichen Nachfolgern in Korea und Diemh in Vietnam, mit den Somozas in Nicaragua, mit Pinochet in Chile und Joseph Mobutu in Zaire und Salazar in Portugal, mit mittelamerikanischen Korrupten, griechischen Obristen, türkischen Generälen und einer mörderischen junta in Argentinien, daß sie, indem sie politisches Geschmeiß stützten und alimentierten, mitschuldig an den zahllosen Opfern dieser Machthaber waren - das alles konnte das schöne Amerikabild der Deutschen nicht trüben, und wenn es doch einmal getrübt wurde, logen sie sich selber so an, wie sie sich ein paar Jahrzehnte früher selber angelogen und »alles nicht so schlimm« gefunden hatten. Sie glauben immer noch, daß, wer nach dem Zweiten Weltkrieg so freundlich zu den Deutschen war, schlechterdings nicht übel sein kann, sondern höchstens gelegentlich und in der Absicht, Schlimmes - nämlich Rotes - zu verhüten, um ein Geringes vom Pfad der politischen Tugend abweichen muß.

Das »Care«-Paket der Nachkriegszeit wurde den Deutschen zum bleibenden Sinnbild amerikanischer Mentalität, nicht die groteske Invasion Grenadas, die den Riesen vor Stolz zittern machte. Die Berliner Luftbrücke - die soviel mit Humanität zu tun hatte wie der »Marshall-Plan« - gilt ihnen aus Ausweis amerikanischer Menschlichkeit, nicht das Napalm und die My Lais in Vietnam und die Perfidien in Nicaragua.

Daß sich kompromittierte, wer dem imperialen Auftritt der Vereinigten Staaten in der Welt so kritiklos oder gar beifällig zusah, daß, zum Beispiel, an Vietnam mitschuldig war, wer fortgesetzt »Verständnis« äußerte - den meisten Westdeutschen kam das nie in den Sinn, und ihren jeweils Regierenden schon gar nicht. Sie gebärdeten sich, als wären sie Trabanten. Die »Schutzmacht«, die »Führungsmacht der freien Welt«, die »Ermutigung der Menschheit« war von Kritik prinzipiell und ständig ausgenommen, und zwar selbst dann, wenn sie mit ihrer, so der rechte amerikanische Publizist Charles Krauthammer, »sowjetisierten Außenpolitik« - nämlich der Außenpolitik per CIA und geheimer Destabilisierung und »covert action« - den Kreml in dessen schlimmster Zeit kopierte. Keiner der westdeutschen Bundeskanzler seit 1949 fand zu den Vereinigten Staaten ein nur einfach unbefangenes Verhältnis; jeder mied sorgfältig den Eindruck, nicht im Gleichschritt mit »unseren amerikanischen Freunden« zu marschieren, wohin die ihre forschen Schritte auch immer lenkten. Noch allen deutschen Kanzlern galt in ihrem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, was Konrad Adenauer seinem Wahlvolk mit überwältigendem Erfolg empfahl, obwohl seine Empfehlung nur das Bekenntnis zum politischen Immobilismus war: »Keine Experimente.«

Freilich wäre es ungerecht, den Eindruck zu erwecken, als hätten stets nur die westdeutschen Konservativen die Blindgläubigkeit alles Amerikanischen gepredigt. Auch Sozialdemokraten haben sich sehr darum bemüht, in ihren rhetorischen Bekundungen zur deutschen Treue und Dankbarkeit den Vereinigten Staaten gegenüber von niemandem übertroffen zu werden, und zwar nicht nur Herr Schmidt, der dem amerikanischen Prokonsul für Westdeutschland, john McCloy, ein Denkmal zu setzen wünscht.

Zum Beispiel Willy Brandt im Juni 1963, als Präsident john F. Kennedy den Westteil Berlins besuchte und von der Bevölkerung so enthusiastisch umjubelt wurde wie ein zweiter Erlöser nach 1945. »In dieser Stadt, Herr Präsident«, sagte der regierende Bürgermeister damals mit bewegter Stimme, »in diesem Berlin wurde nach dem schrecklichen Krieg die deutsch-amerikanische Freundschaft geboren. In diesem Berlin sind die Vereinigten Staaten das sichtbarste, das entschiedenste Engagement in Deutschland eingegangen. Hier wird sichtbar, was uns vereint: gleiche Interessen, gleiche Ideale und gleiche Entschlossenheit . . . Ich möchte, daß Sie spüren: In dieser Stadt schlägt das Herz des deutschen Volkes - auch für Sie.«

Mr. Kennedy war von dem Bekenntnis fast kindlich-verehrender Anhänglichkeit überwältigt. Nie war ihm, eigenem Bekunden zufolge, soviel frenetischer jubel entgegengeschlagen wie aus der Menschenmenge vor dem Schöneberger Rathaus, schon gar nicht im eigenen Land. Es ging zu, wie es zwei Jahrzehnte früher gelegentlich im Berliner Sportpalast gewesen war. Mr. Kennedy beschloß gerührt, an diesen Besuch in Berlin zu denken, wenn ihn daheim in Washington einmal Depressionen überkommen würden.

Ganz ähnlich war es dem Präsidenten Dwight D. Eisenhower ergangen, dem ersten amerikanischen Präsidenten, der der Bundesrepublik einen offiziellen Besuch abstattete und von den Besiegten wie ein verehrter Imperator gefeiert wurde, ganz ähnlich auch dem Außenminister Dean Acheson, der nie mehr aufhörte, sich darüber zu wundern, daß ihn Deutsche bei einem Besuch auf dem Bonner Marktplatz buchstäblich auf Händen getragen hatten.

Es war etwas peinlich Serviles in diesen Szenen - die haargenau jenen glichen, über die man sich im Westen mokierte, wenn die Herren des Kreml Staatsbesuche bei ihren Satelliten machten -, etwas evident Unpolitisches, etwas, das den Huldigungen von Kolonialherren aus vergangenen Zeiten ähnelte. Ausländer, selbst Amerikaner, spürten - und schrieben darüber in ihren Zeitungen -, daß es mit dem fast hysterischen Jubel der Deutschen etwas Sonderbares auf sich hatte, etwas, das sich den Bereichen der Vernunft entzog. Nur die Deutschen merkten es nicht und feierten amerikanischen Besuch mit der ungezügelten Dankbarkeit amnestierter Sünder, die Identität mit dem Gnadenherrn suchten und infolgedessen sehr mit Herrn Brandt einverstanden waren, als er von den »gleichen Interessen« und »gleichen Idealen« sprach.

Herr Brandt mag inzwischen seine ein bißchen überbordende Amerikaphilie von damals überwunden haben. Nach Vietnam und Watergate, nach Grenada und Libyen und Libanon und Nicaragua und der grotesken Präsidentschaft Ronald Reagans mag Herr Brandt ein paar neue Einsichten in die vermeintlich »gleichen Ideale« und »gleichen Interessen« gewonnen haben und zu einer etwas realistischeren Einschätzung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses gekommen sein - genau deshalb wäre er heute als Bundeskanzler kaum mehr denkbar, der er wurde, als ihn jedermann und mit guten Gründen für einen ergebenen Verehrer der Vereinigten Staaten halten durfte, der gar, um seine Affinität zu beweisen, den ersten sozusagen »amerikanisierten« Wahlkampf führte, nämlich einen, der den Kennedy-Stil der Volksvisite im geöffneten Cabrio übernahm.

Tatsächlich ist niemand in der amerikanisiertesten Republik, die außerhalb der Vereinigten Staaten existiert, als Bundeskanzler denkbar, der deutlich macht, daß er ernste, grundsätzliche und schwerwiegende Vorbehalte gegen die imperialistischen Auftritte, die außen- und verteidigungspolitischen Methoden, die innere Befindlichkeit und die Traditionen der Vereinigten Staaten hat.

Statt dessen regierte in der Zeit, in der Distanzierung überfällig war, ein Kanzler die Republik, der ihr entsprach und den sie verdiente. Herr Dr. Kohl feierte unter dem lebhaften Beifall seines Wahlvolkes die »Wertegemeinschaft«, die er zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten sah und auszubauen und zu festigen wünschte. Einen »gemeinsamen geistigen Hintergrund« machte er aus und deutsche und amerikanische Bürger in »derselben geistigen Heimat« und überhaupt und ganz generell »gemeinsame Grundüberzeugungen«.

Daß »uns die Amerikaner nach dem Kriege halfen«, war dem Mann, der mit Rührung von der Milchspeisung in seiner Ludwigshafener Schule reden konnte, auch von seinem ersten Anzug aus einer amerikanischen Kleiderspende, politisch gestaltendes Wissen. Daß man kameradschaftlich schweigt, wenn die Leute mit »derselben geistigen Heimat« nicaraguanische Häfen verminen und dafür vom Weltgerichtshof beschuldigt werden, mehrfach das Völkerrecht gebrochen zu haben, war ihm immer Ehrenpflicht. Seine »amerikanischen Freunde« konnten nicht unrecht tun, nur die »Goebbels« in Moskau konnten das.

Herr Dr. Kohl, ganz gewiß der unbedarfteste Kanzler, den die Republik je hatte, war die Personifizierung der naiven Amerikagläubigkeit, mit der stets die ganz große und alles überwältigende Platitüde der deutschen Nachkriegspolitik verbunden war: daß nämlich notwendig für die Kommunisten sein muß, wer etwas gegen amerikanische Politik einzuwenden hat.

Es ist symptomatisch für das Selbstverständnis der Bundesrepublik, daß die Sozialdemokraten erst, sozusagen, salonfähig und in Bonn mitregierungsfähig wurden, nachdem sie sich zur Nato bekannten, also zur Militarisierung der Politik, vor allem aber zum amerikanischen Recht auf Führung in Europa. Zuvor lastete auf ihnen der in Westdeutschland disqualifizierende Verdacht, neutralistisch zu sein, mithin anti-amerikanisch, für die Finnlandisierung, also politisch unseriös nicht nur, sondern gemeingefährlich und zur Staatsführung ungefähr so geeignet wie ein hungriger Rüde zur Bewachung des Hühnerhofes.

Die Disqualifizierung jeder politischen Stimme, die grundsätzliche Bedenken gegen den amerikanischen Einfluß auf Europa anmeldet, hat sich erhalten. Wer sie gleichwohl erhebt, mag, wie die »Grünen«, zwar in den Bundestag einziehen, politisch bedeutsam wird er dadurch nicht. Am Verhältnis des einzelnen Bürgers und der politischen Gruppierung zu den Vereinigten Staaten erweist sich Staatstreue, und wem es an dieser Treue gebricht, »will eine andere Republik«, nämlich eine rote oder eine anarchistische.

Solange Herr Dr. Kohl mit dem kleinen Einmaleins seiner Staatskunst regierte, hat sich diese, von seinem Großvater, dem anderen Simplifikateur in der Nachkriegsgeschichte, erfundene Attitüde eher noch verstärkt. Anti-Amerikanismus - das gilt in dieser unserer Republik als rhetorische Keule, deren Schlag ein Politiker, dem an Reputation des republikanischen Establishments liegt, kaum überstehen kann. Wer anti-amerikanisch ist oder auch nur antiamerikanischer Gedanken verdächtig, gliedert sich aus den Reihen der »staatstragenden Kräfte« aus. Er vergißt schamlos, wie Herr Dr. Kohl gern formulierte, »was unsere amerikanischen Freunde in der Stunde der Not für uns taten«, und spielt mit der gesamteuropäischen Sicherheit, mit der Zukunft unserer Kinder, mit der Existenz, mit allem, »was wir uns gemeinsam und mühevoll nach dem Krieg aufgebaut haben«, dem Haus, dem Auto, dem bißchen Wohlstand. Anti-Amerikanismus - der Vorwurf ging, seit Herr Dr. Kohl regierte, an den Nerv der fleißig erwerbenden Deutschen, und jeder, der ihn erhebt, um einen politischen Gegner zu denunzieren, weiß das.

In einer so gesteuerten Sprachregelung wird nicht nur die Auseinandersetzung, sondern schon die bloße Information über Wahrheiten der Vereinigten Staaten erstickt. Staatstragende Zeitungen zum Beispiel, die Herrn Dr. Kohl treu begleiteten, haben kritisch-journalistische Distanz zu den Vereinigten Staaten gar nicht erst aufgenommen. Las man in der »Frankfurter Allgemeinen« über die unter dem Codewort »Veil« betriebenen völkerrechtswidrigen Geheimdienstoperationen der Reagan-Administrationen - und hätte sich dieses Blatt solche Schmankerln entgehen lassen, wären sie dem sowjetischen Geheimdienst nachzuweisen gewesen? Las man in der »Welt« darüber, daß 1981, als in Buenos Altes uniformierte Despoten den demokratischen Widerstand liquidierten, die CIA argentinische Offiziere zum Training der Contras von Nicaragua heuerte von denen dann selbst der Contra-Führer Aristides Sanchez gestand, viele der Argentinier seien Nazis gewesen? Oder las man je in der »Frankfurter Allgemeinen« von den 250 000 amerikanischen Geisteskranken, die in jenem Land obdachlos sind, bei dem der Kanzler fortgesetzt eine »Wertegemeinschaft« konstatiert? Daß in Los Angeles jährlich mehr Menschen erschossen werden als im ganzen westlichen Europa - stand das in der »Welt«? Hat sich ein Kommentator der »Frankfurter Allgemeinen« der hanebüchenen Bemerkung des damaligen Vizepräsidenten Bush zugewandt, der, nachdem ein US-Kriegsschiff einen iranischen Airbus mit 290 Zivilisten abschoß, erklärte: »Ich werde mich nie für die Vereinigten Staaten entschuldigen. Es interessiert mich nicht, wie die Fakten sind.«? War es der »Welt« eine Nachricht wert, daß 1989 in Washington D. C., der Hauptstadt der freien Welt, ein Mörder für 200 Dollar gekauft werden konnte? Und wiederum: Hätte sie auf diese Nachricht verzichtet, wäre sie aus Moskau gekommen? Und hätte das Blatt vielleicht im Zorn beschlossen, fortan die Sowjetunion nur mehr in An- und Abführungszeichen zu setzen?

Eine korrekte und kontinuierliche Schilderung der amerikanischen Wirklichkeit findet in Blättern und Sendern nicht statt, denen die Staatsräson eingetrichtert wurde. Andererseits nimmt die Amerikanisierung insbesondere des westdeutschen Fernsehens mit der Folge zu, daß allabendlich unter Boxhieben und Revolverschüssen die ur-amerikanische Nachricht verbreitet wird: »Gewalt ist normal. jeder wendet sie an. Weshalb nicht auch du?«

Die Republik, kurz, hat sich selber ein von der Obrigkeit kontrolliertes Klima geschaffen, in dem sie einer amerikanischen Kolonie gleicht: Nicht nur Kritik an den Vereinigten Staaten, sondern schon die Berichterstattung über amerikanische Mißstände ist strafwert, mindestens aber verläßlicher Ausweis subversiver Geisteshaltung. Vor dem verklärten Hintergrund des als humane Geste mißverstandenen »Marshall-Planes« und bei einer andauernden Bonner Politik der Verherrlichung der Vereinigten Staaten verfestigte sich in der Bundesrepublik ein Amerikabild, das der Wahrheit nicht entspricht. »Unsere amerikanischen Freunde« sind ganz anders, als Herr Dr. Kohl und seine publizistischen Hofsänger sie schilderten.

Die Vereinigten Staaten, die nachhaltigeren Einfluß auf die Bundesrepublik ausüben als irgendein anderes Land der Erde, sind weder die demokratisch beispielhafte Nation der Freien und Gleichen, der Frommen und Wohlhabenden, der Mildtäter und Freiheitsbewahrer, als die sie in Westdeutschland weitgehend angesehen werden, noch gehen Wirkungen von ihnen aus, die mit den überkommenen politisch-moralischen Wertvorstellungen Europas zu vereinbaren wären. Vielmehr: Die vulgär-kapitalistischen Vereinigten Staaten wurden durch Gewalt, auch und vor allem durch rassistisehe Gewalt, was sie sind. Tief davon überzeugt, das »neue jerusalern« zu sein, »God`s own country«, fühlen sie sich dazu berufen 3 den Erdkreis zu missionieren und die Wohltat des »American way of life« zu verbreiten - sie sind ein habituell friedensunfähiges, beständig auf dem Kreuzzug befindliches Land. Sie sind, ganz so, wie Sigmund Freud fand, »ein gigantischer Fehler«.

Kaum eine andere westliche Zivilisation ist unansehnlicher als jene, die sich die Amerikaner schufen und den Völkern der Welt dringlich zur Übernahme empfehlen. Kein anderes westliches Land wird auch nur annähernd von so ordinärem Rassismus heimgesucht wie die Vereinigten Staaten, von Gewaltkriminalität, ungezügelter Gier und Korruption. Nirgendwo anders geht es im Kampf um Profit und wirtschaftlichen Erfolg hemdsärmliger zu, unmenschlicher und kaltblütiger. Nirgendwo sonst werden Besitz, Wohlstand, Reichtum so vergöttert und als einziges Lebensziel angesehen, wird Armut andererseits so verachtet und allein gelassen. Nirgendwo sonst führt sich der ungezügelte Kapitalismus der Haie unappetitlicher ad absurdum als in dem Land, in das deutsche Unternehmen mit besonderer Vorliebe ihr Kapital tragen und mit dem Herr Dr. Kohl »Wertegemeinschaft« zu pflegen wünscht.

Und weiter: Die Vereinigten Staaten als der unbeirrbare Hort der Freiheit? Norman Mailer wurde von der Bundespolizei, dem FBI, aus politischen Gründen überwacht, auch Pearl S. Buck, Ernest Hemingway, Theodore Dreiser, john Steinbeck, john Dos Passos, Thomas Wolfe, William Faulkner, E. L. Doctorow und sogar Truman Capote. Das FBI spionierte mehr als 200 Organisationen aus die sich gegen die offzielle Nicaragua-Politik des Präsidenten ausgesprochen hatten; Telefone wurden abgehört, Wanzen gepflanzt und Agenten eingeschleust. Auch 1989 noch lag über jeden Angehörigen der gänzlich bedeutungslosen sozialistischen Parteien ein Dossier bei der Obrigkeit, der die Denunzierung der Sozialisten immer ein Anliegen war, während sich andererseits europäische Sozialisten ihrer amerikanischen Genossen stets genierten - vermutlich, weil Solidarisierung mit ihnen Rückwirkungen in Washington hätten auslösen können.

Als Präsident George Bush sein Amt antrat, hatte die Zahl der nach amtlichem Sprachgebrauch »armen« Amerikaner die Einwohnerzahl Spaniens überschritten. Es gab - unübersehbar in allen großen Städten des Landes - mehr Obdachlose als je zuvor im vergangenen halben Jahrhundert, und erstmals in der Geschichte gehörte die Mehrheit der amerikanischen Kinder der stigmatisierten Klasse der Armen an.

Immer mehr amerikanische Schwarze, von der weißen Mehrheit seit Jahrhunderten diskriminiert, verweigerten sich den Normen des Landes und flüchteten in die Gewaltkriminalität, und in ihren trostlosen Reservationen stellten die Indianer, die betrogenen und beraubten früheren Besitzer des Landes, immer deprimierendere Weltrekorde in Trunksucht und Suizid auf.

Die soziale Kälte, die der amerikanischen Gesellschaft der Individualerwerber stets eignete, erreichte in der zu ungeniertem Egoismus einladenden Zeit der Reagan-Administration tiefe Minusgrade. Es gab, während George Bush ein »gütigeres Amerika« versprach aber gleichwohl dem Kongreß widersprach, der den erbärmlichen gesetzlichen Mindestlohn heraufsetzen wollte -, in Washington D. C. ausgedehnte Wohnviertel, in denen die Kindersterblichkeit erheblich über der in bettelarmen Entwicklungsländern lag, während andererseits die Tötungsrate dieser Quartiere in der Hauptstadt der freien Welt so dramatisch anstieg, daß Washington zur Mordhauptstadt der Vereinigten Staaten wurde und die Stadtverwaltung erwog, nächtliche Ausgehverbote zu verhängen. Es gab ländliche Gegenden im »corn belt«, in denen die Selbstmordraten unter den in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenen Farmern dramatische Höhen erreichten, und in den Städten gab es von Küste zu Küste erbarmungswürdige Quartiere, in denen das von der Ratte gebissene Kleinkind ebenso ein Stück Getto-Normalität war wie die Gewalt auf den Straßen.

Und keine Sozialpolitik gab es, die diesen Namen verdiente, denn Präsident Reagan, Herrn Dr. Kohls »Dear Ron«, der »Moralist« des »Zeit«-Schreibers Helmut Schmidt, litt Sozialpolitik nicht; alle Sozialpolitik, fand er, komme vom Teufel, und sein Vizepräsident Bush verantwortete das mit und setzte diesen Politik genannten Zynismus fort, nachdem er selber ins Weiße Haus gezogen war.

Schwerlich konnte also von »Wertegemeinschaft« die Rede sein oder von »gleichen Idealen«, was das deutsche Selbstverständnis vom Staat als einer Organisationsform anlangt, die wesentlich auch soziale Verpflichtungen hat. Es war auch dem Kenner der amerikanischen Verhältnisse nicht sichtbar, daß unter den gemeinsamen transatlantischen Werten die Freiheit sein konnte, denn: Wie frei waren die schwarzen Bürger der Vereinigten Staaten, die keinen Weg aus dem Getto fanden? Wie frei von Furcht jene in den von Gewaltkriminalität terrorisierten Slums? Wie frei die von der Gesellschaft ignorierten Weißen in Armut? Welche effektiven Bürgerrechte besagen die von der Nation ausgegrenzten und ihres Selbstbestimmungsrechtes beraubten Indianer? Und andererseits: Wie frei waren die Schakale in der Industrie und vollends in der Wall Street, wo es zuging wie in einem von lauter Volltrunkenen frequentierten Casino?

Und »Wertegemeinschaft« mit der »Reagan-Doktrin«, der staatlich sanktionierten, geheimdienstlichen Wühlarbeit in fremden Ländern, von der man immer annahm, sie sei eine Domäne der Kommunisten? Konnte man in der Bundesrepublik allgemein akzeptierte Werte in den Motiven erkennen, die zu den mörderischen Interventionen in Nicaragua führten? Lag dem präsidialen Kommando an seine Bomberpiloten, den Libyer Ghaddafi zu töten, ein Wert zugrunde, der in der Bundesrepublik Deutschland von irgend jemandem anerkannt wird - außer von den Killern der RAF? Die Theater-Invasion auf der Zwerginsel Grenada, die Kanonade der Zivilbevölkerung von Beirut, die amerikanische Bemühung, die Ägypter zu einem Krieg gegen Libyen zu überreden, die Cowboyauftritte im Persischen Golf - erkennt man in diesen militanten Aktionen deutsche Werte?

Die »deutsch-amerikanische Wertegemeinschaft« des Herrn Dr. Kohl ist ersichtlich Unfug. Sie ist eine Wortblase, hervorgebracht von jemandem, der von den Vereinigten Staaten nichts anderes weiß, als daß sie gegen die Kommunisten und im Besitz des großen militärischen Knüppels sind. »Wertegemeinschaft« ist Satelliten-Argot.

Es gibt wenige vernünftige Argumente gegen eine deutsch-amerikanische Freundschaft, wie es wenige vernünftige Argumente gegen die Freundschaft mit der Sowjetunion, mit Belutschistan, der Äußeren Mongolei oder Burundi gibt. Nicht die Frage ist strittig, ob es eine freundlich-korrekte, also eine auch zur Zurechtweisung und Distanzierung fähige Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten geben sollte, ebenso wie vertragliche Bindungen, Abkommen zu gegenseitigem Nutzen, sondern: Darf sich ein Land wie die Bundesrepublik, das wie wenige andere moralisch verpflichtet ist, die Würde des Menschen und das Völkerrecht zu achten, so mit Auftritt, Methodik und Selbstverständnis der Vereinigten Staaten identifizieren, wie das die von allen bisherigen Bundeskanzlern repräsentierte Bundesrepublik tat? Darf die Fehlinterpretation eines amerikanischen Vertragswerkes, das 1947 Westeuropa gegen Stalin mobilisierte, dauerhaft selbstbewußte Politik ersetzen?

In einem Beitrag für die »Zeit«, in dem er sich über deutsch-amerikanische Unterschiedlichkeiten ausließ, schrieb der inzwischen von einem veritablen Geheimdienstler abgelöste amerikanische Botschafter Richard Burt: »In den ersten zwanzig Jahren unserer Nachkriegsgeschichte bestand in der Bundesrepublik Deutschland eine Tendenz, unsere Unterschiede zu unterschätzen oder zu ignorieren. Die niederschmetternde Erfahrung des Nationalsozialismus, gekoppelt mit einer aufgeklärten amerikanischen Politik und der Großzügigkeit einiger Amerikaner in den Nachkriegsjahren, führten dazu, daß viele Deutsche, besonders unter der jungen Generation, die Vereinigten Staaten als Modell ansahen. Dies galt für ein breites Spektrum der deutschen Gesellschaft, sogar für die Intellektuellen. Diese Umarmung Amerikas dürfte vielleicht doch zu unkritisch und die deutsche Sichtweise in bezug auf fast alle Facetten amerikanischen Lebens zu idealistisch gewesen sein.«

Wohl wahr. Inzwischen kann, wer will, wissen, wie sehr man sich in dem amerikanischen Heilsbringer irrte. Inzwischen weiß man, wie er seine Außenpolitik, der die Bundesrepublik verbunden ist, gelegentlich gestaltet. Man weiß, daß die Führungsmacht der westlichen Welt den CIA-Mediziner Dr. Sidney Gottlieb mit dem CodeNamen »joe from Paris« und dem Auftrag nach Zaire schickte, den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Patrice Lumumba so zu vergiften, daß seine tödliche Erkrankung wie eine Krankheit aussehen würde, die in Zaire endemisch auftrat. Man weiß, daß die Führungsmacht der freien Welt vorsichtshalber auch den CIAAgenten »WI/ROGUE«, einen überführten Betrüger und Bankräuber, an den Kongo schickte, für den der in Zaire ansässige CIA-Büroleiter Devlin in Washington ein »Gewehr ausländischer Herkunft mit Teleskop und Schalldämpfer« anforderte, mit dem »WI/ROGUE« den schwarzen Politiker erschießen sollte. Übrigens arbeitete damals in jener Botschaft in Afrika, in der ein Mordkomplott geschmiedet wurde, ein gewisser Frank Carlucci. Er brachte es bei Mr. Reagan zum Verteidigungsminister.

Von der Absicht der Weltführungsmacht weiß man, in Allianz mit Saudi-Arabien den radikalen Moslem Scheich Fadlallah umzubringen. Als die Tötungsabsicht mißglückte, zahlte man ihm zwei Millionen Dollar für sein Versprechen, in Beirut keine Bomben mehr legen zu lassen.

Von der Absicht des Führers der freien Welt weiß man, Fidel Castro mit der Hilfe einer vergifteten Zigarre umzubringen, wahlweise auch mit einem Tauchanzug, der tödliches Gift an den Körper des kubanischen Politikers abgeben sollte. Man weiß, daß die Vereinigten Staaten einem unerwünschten Politiker und Bewerber um das Präsidentenamt der Philippinen, der für die Auflösung der amerikanischen Militärbasen eintrat, Gift in Getränke mischen ließ. Man weiß von CIA-Bubenstücken in einer solchen Fülle, daß ernsthafte Zweifel erlaubt sind, ob denn wohl GPU und KGB selbst zu ihren infamsten Zeiten in Moskau je ähnlich aktiv und perfide waren. Man weiß von Versuchen, fremdländische Politiker zu korrumpieren und für amerikanische Zwecke gefügig zu machen. »Korruption durch amerikanische Geschäftsleute«, so schreibt der Journalist Jonathan Kwitny, »wurde amtlich nicht nur toleriert, sondern, wie vielfach belegt, aktiv als ein Instrument der Außenpolitik ermutigt«, und Jonathan Kwitny war, als er das feststellte, kein linker und staatsfeindlicher Skribent, sondern angesehener Redakteur des Leib- und Magenblattes der Kapitalisten, des »Wall Street Journal«.

Man weiß von »Economic Alert Lists« der CIA, in denen die CIA-Agenten im Ausland - ja: auch in der Bundesrepublik - aufgefordert werden, bestechliche Politiker und Wirtschaftler zu ermitteln, und von Miguel Ydigoras, einem früheren guatemaltekischen General, weiß man, wie es zugeht, wenn die CIA eine Regierung zu stürzen wünscht: »Ein früherer Manager der "United Fruit Company", der jetzt im Ruhestand befindliche Mr. Walter Turnbull«, so erinnerte sich Ydigoras, »kam mit zwei Herren zu mir, die er mir als Agenten der CIA vorstellte. Sie sagten, daß sie mich für einen in Guatemala populären Mann hielten und helfen würden, die Regierung Arbenz zu stürzen ... Unter anderem sollte ich versprechen, die "United Fruit Company" zu begünstigen und auch die "International Railways of Central America" (die sich im Besitz der "United Fruit Company" befand). Ich sollte die Gewerkschaft der Eisenbahner zerschlagen und ein autokratisches Regime errichten.«

Man weiß inzwischen zu viel vom Erzeuger der Bundesrepublik. Kein Volk mit einiger Selbstachtung delegiert den Vollzug seines Schicksals einer Nation, die zu derlei Verhaltensweisen des Wilden Westens fähig ist und immer - und nicht nur zu den Zeiten des Außenministers John Foster Dulles, der sich ausdrücklich dazu bekannte - die militante Politik des »brinkmanship« betrieb, die Politik des Wandelns an jenem Abgrund, in dem die Vereinigten Staaten, anders als ihre europäischen Verbündeten, nie waren.

Der mit vielen Millionen Toten bezahlte Prozeß der Reife, der für die Völker Europas mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden war, ist an der amerikanischen Nation und an ihrer Politik nahezu spurlos vorübergegangen. Kein Amerikaner ist je aus dem Luftschutzkeller seines brennenden Hauses gestürzt, keiner sah seine Stadt als Trümmerwüste, keiner weiß, was geschieht, wenn seine Stadt umkämpft wird, keiner, was Flucht aus der Heimat bedeutet. In Europa, wo diese Erfahrungen millionenfach gemacht wurden, hat der Zweite Weltkrieg eine grenzüberschreitende Leidensgemeinschaft erzeugt, in den Vereinigten Staaten einen sieghaften »happy-golucky« - bei allem Respekt vor den Opfern, die sie brachten, um Hitler zu stürzen. Ohne das Elementarerlebnis eines Krieges auf eigenem Boden ist die amerikanische Nation auf eine gewisse Weise unerwachsen geblieben und mithin stets fähig zum Spiel mit dem Feuer. Albert Camus, als er 1946, während in Europa gleichsam die Trümmer noch rauchten, die Vereinigten Staaten besuchte, erschrak vor der unangefochtenen Heiterkeit der Amerikaner und schrieb: »Man empfindet, daß dieses Land den Krieg nicht gespürt hat. In wenigen Jahren bewegte sich Europa, das ein paar Jahrhunderte in Wissen voraus war, um ein paar Jahrhunderte in moralischem Bewußtsein voraus.« Er fühlte sich unwohl in einem Land, das gleichmütig Hiroshima und Nagasaki überstand »und alles tut, um zu beweisen, daß Leben nicht tragisch ist«.

Wahr ist, daß die Amerikaner den Zweiten Weltkrieg nie als Zäsur begriffen; ihre Politik belegt das. Präsident Truman spielte, als in Europa noch längst nicht alle Opfer gezählt waren, schon wieder mit dem Feuer, als er in der Provinz Yünnan kleine Kriege gegen Maos kommunistisches China führte. Präsident Eisenhower spielte mit dem Feuer, als er seine »U 2«-Spionageflugzeuge in den Luftraum der Sowjetunion schickte. Präsident Kennedy spielte mit dem Feuer, als er eine Invasion Kubas probierte. Präsident Nixen spielte mit dem Feuer, als er den Vietnamkrieg eskalieren und Kambodscha bombardieren ließ. Und Präsident Reagan spielte fortgesetzt mit dem Feuer, er besonders, ehe ihn seine Frau, denn solcherart war seine Präsidentschaft, ihren Mann nach eigenem Eingeständnis, und zwar, weil sie um seinen historischen Nachruhm besorgt war, zu Verhandlungen mit dem von ihm so genannten »Reich des Bösen« ermutigte, das er auf den »Abfallhaufen der Weltgeschichte« hatte werfen wollen. Alle Präsidenten der Nachkriegszeit haben neue Desaster riskiert. Daß keines ausbrach, lag gewiß nicht daran, daß sie zu selten zündelten.

Die Distanzierung von den Vereinigten Staaten und die Hinwendung nach Europa ist für die Bundesrepublik unabweisbar und überfällig, und zwar aus Gründen der Sicherheit, die gefährdet, wer sich zum Mitmarschierer einer Nation macht, deren Liebe zur Gewalt pathologische Züge trägt. Nicht nur die Bundesrepublik, Europa muß sich von den Vereinigten Staaten emanzipieren.

Der lebensgefährliche Unfug, zu dem die Präsidentschaft Ronald Reagans zu werden drohte, macht die Notwendigkeit einer Neuorientierung der deutschen Politik besonders deutlich, aber sie wäre auch ohne die Ägide des Mannes evident geworden, von dem die heitere Ankündigung stammt, in fünf Minuten werde mit der Bombardierung Moskaus begonnen. Was die Bundesrepublik, was Europa von den Vereinigten Staaten trennt, ist mehr als bloß ein Unterschied, der mit einem Präsidentennamen deutlich wird; es ist auch mehr als das offenkundig Geographische.

In Wahrheit widerspricht nahezu alles, was im amerikanischen Selbstverständnis seine Ordnung hat, den europäischen Vorstellungen einer menschlichen Ordnung. Es ist tragisch, daß ausgerechnet die westdeutschen Konservativen die Augen davor verschließen. In Wahrheit ist, was den »American way of life« ausmacht, das genaue Gegenteil dessen, was aufgeklärte, sozial empfindende und durch schreckliche Kriege gegangene europäische Völker unter der Art verstehen, in der man miteinander zu lebeti hat. Und in Wahrheit sind viele der Einflüsse unbekömmlich, die der »American way of life« in den vergangenen Jahrzehnten auf Europa genommen hat.

Die amerikanisch-westeuropäische Allianz, unter sehr besonderen Umständen geboren, ist ein fundamentales Mißverständnis, wenn man sie für eine Verbindung hält, die für die Ewigkeit gemeint ist. Sie hatte ihre Funktion, sie hat sie zunehmend weniger, sie wird zunehmend kontraproduktiv werden, wenn es darum gehen muß, das europäische Haus in Ordnung zu bringen, also daran zu denken, daß Prag und Warschau, Budapest und Moskau näher sind als New York und Los Angeles.

Auch die von den Vereinigten Staaten geführte Nato hatte zu Stalins Zeiten ihren Sinn, aber seit der Tyrann zur Hölle fuhr, war sie nur mehr die gigantischste Geldverschwendungsapparatur der Menschheitsgeschichte. Sie wird ihren Sinn in dem Maße verlieren, in dem sich erweist, daß kein Despot mehr den Gulag bauen läßt und kein Berija mehr wie die CIA auf den Philippinen verfährt. Die schreckliche Militarisierung der Politik hatte ihre Zeit, aber sie geht zu Ende, und die Bundesrepublik muß helfen, das Ende zu beschleunigen.

Tatsächlich muß deshalb die Bundesrepublik nicht auf die weitere Konsolidierung der Nato, sondern auf Verhältnisse zuarbeiten, die es gestatten, jene Militärpakte in Ost und West aufzubrechen, die sich wie Zwangsjacken über den europäischen Kontinent spannen und Annäherung und schließlich Vertrauensbildung unter jenen Völkern erschweren, die einander physisch nahe sind. Es ist grotesk, mit dem Farmer in South Dakota, in dessen Boden eine auf Europa gezielte interkontinentale Rakete ruht, verbindet zu sein, den Landarbeiter in Mecklenburg dagegen, der gemeinsam mit seinen Landsleuten in Hamburg von dieser Rakete getötet werden kann, für einen potentiellen Feind zu halten. Das transatlantische Bündnis hier, die europäische Spaltung dort - kann man im Ernst in so abstrusen Zuständen eine dauerhafte Ordnung erkennen?

Den Amerikanern wird man ihre Kreuzzugsmentalität nicht ausreden können; sie ist geschichtlich gewachsen und so amerikanisch wie Apfelkuchen. Sie haben sich, seit sie als Nation zu Kräften kamen, immer als Weltpolizist empfunden und interveniert, putschen lassen, Politik mit der Giftspritze gemacht oder - der Dollar war immer ein eminent politisches Instrument - gekauft: 15 Millionen für Louisiana, 7,2 Millionen für Alaska, ein paar Millionen für New Mexico und Kalifornien, 13 Milliarden für Europa; der angestrebte Kauf der Philippinen und Kubas scheiterte, weil sich keine Verkäufer fanden. Das Hegemoniale an den Vereinigten Staaten, die tief und unerschütterlich an eine »manifest destiny« glauben, an eine den Amerikanern von der Vorsehung übertragene globale Verpflichtung, ist so unumstößlich, wie es bedrohlich ist. Aber Europa braucht keinen bedrohenden Partner.



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aus der Diskussion: Gehört Krieg zum System?
Autor (Datum des Eintrages): sittin bull inv  (14.02.03 21:37:00)
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