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SPIEGEL ONLINE - 19. Februar 2003, 12:24
URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,236450,00.html

Anatomie einer Krise

Die Pipeline-Karte und die Politik

Von Jochen Bölsche

Europäische und amerikanische Nato-Partner sind einander so fremd wie nie zuvor in der Bündnisgeschichte. Auch konservative deutsche Wehrpolitiker kritisieren mittlerweile die Bereitschaft der USA, völkerrechtliche Prinzipien aufzugeben. "Wo internationales Recht im Wege steht," klagt ein CDU-Politiker, "wird es beseitigt."

Bald nach der Jahrtausendwende war es unübersehbar geworden: Die Nato-Verbündeten beiderseits des Atlantik hatten sich politisch so weit auseinander entwickelt, dass der US-Autor Robert Kagan den Eindruck gewann, sie seien nicht von dieser Welt: "Amerikaner kommen vom Mars und Europäer von der Venus."

Martialisch die einen, vom Liebesplaneten die anderen? Die transatlantischen Verbündeten, schrieb Kagan voriges Jahr in einem fulminanten Essay für die "Policy Review", verstünden einander "weniger und weniger" - und der Grund dafür seien keineswegs, wie oft vermutet, unterschiedliche Nationalcharaktere.

Vielmehr sieht Kagan zwischen den Partnern eine "Psychologie von Macht und Ohnmacht" am Werk. Amerika verhalte sich heute nicht anders als die europäischen Völker zu jener Zeit, als sie noch Großmächte waren und selber auf "Stärke und Kriegsruhm" setzten. Nun aber sähen die Nationen des alten Kontinents halt "die Welt mit den Augen der Schwächeren" - das Stark-Sein bestimmt das Bewusstsein.

Die schwächlichen Europäer, argumentiert Kagan, verträumten ihre Zeit in einem "posthistorischen Paradies" des Friedens und des Wohlstands. Und weil sie sich weigerten, ihren Sozialkonsum zugunsten ihrer Militärbudgets zu kürzen, seien sie nicht einmal fähig, regionale Kleinstkrisen ohne die militärische Hilfe der USA zu lösen.

Draußen herrschen die Gesetze des Dschungels

[US-Kfor-Soldaten im Kosovo-Einsatz]
AP
[Großbildansicht] US-Kfor-Soldaten im Kosovo-Einsatz
Die Amerikaner dagegen hätten nach dem Ende des Kalten Krieges nicht einfach die Friedensdividende eingestrichen, sondern sich in der großen weiten Welt - Panama, Irak, Somalia, Haiti, Bosnien, Kosovo - behaupten müssen. Dort draußen aber herrschten nun einmal die "Gesetze des Dschungels" statt der "Gesetze der Vernunft". Und genau daher sei es "sehr naiv", anzunehmen, "mit Saddam Hussein könne man genauso umgehen wie mit anderen Europäern".

Mittlerweile, erklärte Kagan diese Woche in der "Süddeutschen Zeitung", seien die Missverständnisse so groß, dass die Nato-Partner selbst unter "multilateral" zweierlei verstünden: "Für Europäer bedeutet das eine Form von rechtlicher Ordnung, mit der man Amerikas Macht eingrenzt. Für Amerikaner bedeutet es, Verbündete zu haben, die Amerikas Macht helfen, eine Krise gemeinsam zu bewältigen."

Wie lässt sich die immer größere Kluft überbrücken? Zu Zeiten des Ost-West-Konflikts hatten Nato-Politiker stets gern die Begriffe "Humanität" und "Menschenrechte" bemüht, um die gemeinsame Basis des Bündnisses zu verdeutlichen. Doch auch diese hehren Werte scheinen heute kaum mehr geeignet, die auseinander strebenden Partner zusammenzutackern.

Wie viele Menschenleben sind Menschenrechte wert?

Zwar taugten derlei Argumente noch, um die Deutschen 1999 zum Engagement auf dem Balkan zu bewegen, als weder die Uno noch das überkommene Völkerrecht einen Angriffskrieg zur Abwendung der "humanitären Katastrophe" legitimierte. Inzwischen aber sind Vokabeln wie Menschlichkeit und Menschenrechte aus der offiziellen Argumentation der Nato-Führungsmacht weitgehend verschwunden.

[Guantanamo Bay: Ist der Begriff der Menschenrechte politisch unbrauchbar geworden?]
AP
[Großbildansicht] Guantanamo Bay: Ist der Begriff der Menschenrechte politisch unbrauchbar geworden?
Spätestens seit dem 11. September 2001 sei, kommentierte die "FAZ", "der Begriff der Menschenrechte politisch unbrauchbar geworden" als Kampfruf im Konflikt mit Terroristen und Schurkenstaaten. Allzu zweifelhaft mutet der Umgang der US-Armee mit den in kubanische Käfige gesperrten Taliban-Verdächtigen an, zu groß ist die Zahl jener zur Terrorbekämpfung angeheuerten US-Partner geworden, die ihrerseits fundamentale Menschenrechte missachten - wie etwa die Moskauer, die tschetschenische Zivilisten mit Terrorangriffen in die Steinzeit zu bomben trachten.

Welche Rolle die USA humanitären Beweggründen in der Politik des Nordatlantikpaktes beimessen, hat - fein verklausuliert - vor einigen Jahren der frühere Pentagon-Abteilungsleiter Joseph S. Nye in einem Papier zur Neubestimmung der Nato-Ziele niedergelegt: Die Bündnispartner sollten "die Anwendung von Gewalt vermeiden, wenn es sich nicht um Fälle handelt, in denen unsere humanitären Interessen durch zusätzliche wichtige strategische Interessen verstärkt werden".

Der Notstand wird Normalität

Vor allem im Mittleren Osten sind die strategischen Interessen der USA derart massiv, dass bei den Washingtoner Falken die Bereitschaft rapide geschwunden ist, die offiziell noch immer geltenden Grundsätze des Völkerrechts zu respektieren.

Offenbar weil aus US-Sicht "die Pipeline-Karte und die Politik zusammenpassen" müssen, wie Ex-Energieminister Bill Richardson einmal postuliert hat, wollen die Hardliner im Pentagon zur Regel machen, was die Bundesrepublik im Falle des Kosovo nur unter größten Bedenken und als extreme Ausnahme in einem Notstandsfall gelten lassen wollte: eine militärische Intervention auch ohne Zustimmung des Uno-Sicherheitsrates.

Hohe Nato-Militärs wie der damalige Generalinspekteur und jetzige "Bild"-Kolumnist Klaus Naumann preisen den Nato-Angriffskrieg auf dem Balkan schon seit längerem "als Geburtshelfer in der Weiterentwicklung des Völkerrechts". Naumann beifällig: "Was im Westfälischen Frieden von 1648 Grundlage der internationalen Politik wurde, ist durch das Handeln der Nato im Fall Kosovo außer Kraft gesetzt worden. Das Beispiel wird vermutlich in der weiteren Entwicklung eine wichtige Rolle spielen."

Tatsächlich ist der Trend zum Interventionskrieg auch ohne völkerrechtliche Legitimation in den USA mittlerweile so stark geworden, dass es selbst konservative deutsche Militärpolitiker graust.

[Warnt vor dem Faustrecht: Willy Wimmer]
DDP
[Großbildansicht] Warnt vor dem Faustrecht: Willy Wimmer
Nach einer US-Wehrtagung in Mai 2000 in Bratislava, auf der die Abkehr Washingtons von den bisherigen Usancen überdeutlich wurde, notierte der CDU-Politiker Willy Wimmer, ehemals Staatssekretär im Verteidigungsministerium, verstört: "Auf dieser Konferenz spielte im Prinzip all das, was uns zwischen 1992 und 1999 berührt hat, keine Rolle mehr. Da wurde in aller Klarheit gesagt: Der Grund, warum wir auf den Balkan gegangen sind, liegt in den Versäumnissen des Zweiten Weltkrieges, als Eisenhower es unterließ, dort Bodentruppen zu stationieren."

"Wo das Recht im Wege steht, wird es beseitigt"

Öffentlich warnte der CDU-Politiker daraufhin vor der zunehmenden Entschlossenheit der US-Regierung, uneingeschränkte militärische Handlungsfähigkeit höher zu bewerten als die völkerrechtliche Legitimation ihrer Aktionen.

Wimmer: "Wenn wir nicht zu der globalen Rechtsordnung zurückkehren, bekommen wir das Faustrecht."

In einem Brief an Bundeskanzler Gerhard Schröder wies der Christdemokrat vorletztes Jahr auf die massiven Gefahren für den Weltfrieden hin, die er schon damals heraufziehen sah: "Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von zwei Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt."

Adressat Schröder ignorierte Wimmers Warnungen; seinem transatlantischen Partner sagte er nach den Terrorangriffen auf die Twin Towers die "uneingeschränkte Solidarität" der Bundesrepublik zu. Eine deutlich skeptischere Sicht der Washingtoner Politik machte sich Schröder erst im Wahlkampfjahr 2002 zu eigen - nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen.

Zur selben Zeit allerdings wurde zunehmend deutlich, dass die USA bemüht waren, ihr Recht auf Selbstverteidigung - das die Uno ihr nach dem 11. September 2001 zugebilligt hatte und das auch aus Berliner Sicht den Afghanistan-Einsatz abdeckte - in ein höchst zweifelhaftes Recht zur Präventivkriegsführung umzudeuten.

Zwischen Selbstverteidigung und Intervention bestehe ein entscheidender Unterschied, gibt der Hamburger Friedensforscher Reinhard Mutz zu bedenken: "Verteidigung bedeutet Abwehr eines Angriffs auf ein eigenes Rechtsgut. Intervention bedeutet Eingriff und Einmischung in Rechtsgüter anderer. Das ist das Gegenteil von Verteidigung - die Ablösung des Völkerrechts durch das Faustrecht."

Die Lizenz zum Töten von Terroristen

Zunehmend auf Distanz zur Nato-Führungsmacht ging die Berliner Regierung, als sich die Regierung Bush unverkennbar daran machte, die zum Zweck der Selbstverteidigung erteilte Uno-Lizenz zum Terroristentöten zu überdehnen - in vierfacher Hinsicht :

durch eine Gleichsetzung des islamistischen Terrorismus, der die USA tödlich bedroht, mit einer Reihe sowohl geopolitisch bedeutsamer als auch missliebiger Staaten ("Achse des Bösen") wie etwa dem Irak - obgleich Islamisten in Bagdad nicht im Kabinett, sondern im Kerker sitzen;

* durch den Ersatz von völkerrechtlich relevanten Beweisen für den Besitz von Massenvernichtungswaffen durch eine Beweislastumkehr à la Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ("Das Fehlen von Beweisen ist kein Beweis für das Fehlen von Massenvernichtungswaffen");

* durch die Ausweitung des ursprünglichen Kriegsziels einer "Entwaffnung" des Irak auf eine "Entmachtung" Saddam Husseins - auch mit Hilfe von Städtebombardierungen, die das Leben Hunderttausender von Zivilisten bedrohen;

* durch die Ankündigung, die USA würden notfalls auch ohne ein klares Uno-Votum - also ohne völkerrechtliche Legitimation - zum Sturm auf Bagdad aufbrechen, sei es im Alleingang oder mit Hilfswilligen.

Ein Mann bekommt eine Gänsehaut

Im Nato-Konflikt ging es mithin letztlich darum, ob der fromme Mann im Weißen Haus, der sich als gottgewollter Herrscher seines "imperium americanum" versteht, künftig ganz allein bestimmen darf, was ein "bellum iustum" ist, ein gerechter Krieg - und ob ihm auch bei den per Selbstlegitimation beschlossenen Abenteuern die Verbündeten blinde Gefolgschaft leisten sollen.

Während Oppositionsführerin Angela Merkel auf der jüngsten Wehrkundetagung den USA ihre Unterstützung beim allfälligen Wüstenkrieg zusagte und einen Zwischenrufer im Bundestag mahnte, mit dem Wort "Vasallentum" doch bitte "verdammt vorsichtig" zu sein, sahen die Regierungsfraktionen sich vor eine historische Entscheidung gestellt.

Zwar vermied Kanzler Schröder in seiner Regierungserklärung vorige Woche vor dem Bundestag US-kritische Töne, die ihm als Antiamerikanismus hätten angelastet werden können; er betonte statt dessen das "gemeinsame Wertefundament" der transatlantischen Partner.

Allerdings definierte der Sozialdemokrat die Basis des Bündnisses listig auf eine Weise, die eher deutlich machte, was ihn von George W. Bush unterscheidet. Aufgabe der Nato sei es, postulierte Schröder, "die Stärke des Rechts an die Stelle des Rechts des Stärkeren" zu setzen.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, in einer Klausursitzung der SPD-Fraktion, war der Kanzler zuvor deutlich geworden: Die USA wollten im Irak nicht einfach ein Regime ablösen. Es gehe vielmehr darum, ob die Welt "multipolar" bleibe.

Im Bundestag überließ Schröder diese Argumentation dem SPD-Fraktionsvize Gernot Erler. Und der sprach, anders als der Kanzler vorm Parlament, Klartext.

Ihn überlaufe eine "Gänsehaut", bekannte Erler, wenn er daran denke, "an welcher Weggabelung wir stehen": Die USA wollten durchsetzen, dass "nicht die Weltorganisation, sondern die stärkste und einzige Weltmacht" künftig über Krieg und Frieden entscheidet.

Damit aber werde das "Tor aufgestoßen in eine Weltordnung, die nicht auf Vertrag oder Konsens beruht". Und das, wehrte sich der Sprecher der größten deutschen Regierungsfraktion, sei "keine Weltordnung, in der wir leben wollen".

Lesen Sie morgen in Teil 4 der "Anatomie einer Krise", warum sich George W. Bush zum globalen Peacemaker berufen fühlt und warum er zwischen der Supermacht auf Erden und der Supermacht im Himmel kein höheres Gremium akzeptieren will - auch nicht die Uno.
 
aus der Diskussion: Demokratie ist eine schöne Sache, und dass die Menschen ihre Meinung sagen dürfen
Autor (Datum des Eintrages): JoeUp  (19.02.03 14:00:21)
Beitrag: 81 von 156 (ID:8658416)
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