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Ein Diskussionspunkt, der in der letzten Zeit ganz aus den Augen verloren wurde. Deutschland als selbstdenkendes Mitglied der Völkergemeinschaft und nicht als Appendix der USA.

Peter Sloterdijk, 09.02
profil: In den letzten Wochen des Wahlkampfs brachte Gerhard Schröder das Schlagwort vom „deutschen Weg“ ins Spiel, wofür er doppelt kritisiert wurde: von den Linken, weil sie nationalistische Tendenzen witterten; von den Rechten, weil sie die westliche Bündnistreue infrage gestellt sahen. Was hat die Formel vom „deutschen Weg“ bei Ihnen zum Klingen gebracht?
Sloterdijk: Deutschland ist nach dem Krieg groß geworden in einer Rhetorik der Leugnung deutscher Sonderwege. Wir haben uns quasi selbsttherapeutisch europäisiert und eine Art Quarantäne über die deutsche Mentalität verhängt, wenn es darum ging, nationale Interessen auszusprechen.

profil: Um damit auch krampfhaft Normalität zu simulieren?
Sloterdijk: Bis tief in die Ära Kohl hinein war deutsche Außenpolitik von dem Bewusst- sein geprägt, dass wir uns auf einer Sonderschule der Demokratie den Abschluss erst mühsam erarbeiten mussten. Schröder war, wenn man so will, der erste Kanzler der Normalität. Mit seiner Wahlkampfwendung vom deutschen Weg wurde sozusagen die Heimkehr der deutschen Demokratie in die Familie der nicht neurotischen Gesellschaften gefeiert. Darüber sind die ideologischen Sozialarbeiter und politischen Psychotherapeuten der Deutschen naturgemäß unglücklich, weil sie einen Patienten verlieren, an dem ihnen sehr viel lag und der sich so leicht nicht durch einen anderen ersetzen lässt. Schröders „deutscher Weg“ besticht vor allem auch durch die Selbstverständlichkeit seines Klangs, weil man weiß, dass hier kein Chauvinist oder Anti-Europäer spricht, sondern einer, der ganz deutlich signalisiert, dass im Bereich der deutsch-amerikanischen Beziehungen ein neues Kapitel aufgeblättert werden muss. Die Fähigkeit, zwischen den USA als kulturell verbündetem Projekt und der Bush-Administration zu unterscheiden, halte ich für eine elementare Tugend der deutschen Demokratie von heute.

profil: Eine spezifische Ausprägung dieses deutschen Weges war Schröders Weigerung, sich der amerikanischen Kriegsrhetorik gegen den Irak anzuschließen.
Sloterdijk: Das deutsche Nein in dieser Angelegenheit ist vor allem eine symbolisch-moralische Position, eine spezifische Form der Auseinandersetzung mit dem Sonderweg der USA. Der Begriff „rogue state“, mit „Schurkenstaat“ übrigens eher unglücklich ins Deutsche übersetzt, hat in der westlichen Politik seit einigen Jahren Hochkonjunktur. In der Biologie steht „rogue“ für das wieder ausgewilderte Einzelgängertier, das abseits von der Herde durch den Busch streift. Die beiden „rogue states“ der gegenwärtigen Weltpolitik sind, so gesehen, die USA und Israel, die jede Art von Alignment mit der internationalen Staatengemeinschaft aus dem Grundansatz ihres Selbstverständnisses heraus ablehnen, weil sie beide davon ausgehen, dass Nicht-Israelis beziehungsweise Nicht-Amerikaner sich in die besondere Situation dieser beiden Länder nicht einfühlen können. Das bestärkt sie auch in ihrer Neigung, die Fähigkeit zum Selbstmandat in einem überdurchschnittlichen Ausmaß auszuüben.

profil: Im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde gern der pathetische Satz bemüht, nichts werde mehr so sein wie vorher. Hat „Nine-Eleven“ die Welt tatsächlich nachhaltig verändert?
Sloterdijk: Es gibt nicht nur sich selbst erfüllende Prophezeiungen, sondern auch sich selbst erfüllende Hysterisierungen. Sowohl die Sozial- als auch die Individualpsyche hat in weiten Teilen ihres Funktionslebens eine autohypnotische Struktur: Der Mensch wird, was er hört, und die Öffentlichkeit wird, was sie liest. Die Psychologisierung des öffentlichen Raums durch Massenmedien ist eine der Primärrealitäten einer Zeit, in der es Massenmedien gibt. Seit dem 11. September 2001 hat sich die westliche Welt in ein großes Labor autoplastischer Suggestion verwandelt, in dem das Modellieren mit pathetischem Material zu einer Massenbeschäftigung geworden ist. Gegen diese Hysteriezumutungen hilft meiner Meinung nach nur ein Stück nachgereichter Kaltblütigkeit.

profil: Mit anderen Worten: Der 11. September lässt Sie heute so kalt wie vor einem Jahr?
Sloterdijk: Ich bin so betroffen wie irgendwer. Ich gehöre aber Gott sei Dank einer Gruppe von Menschen an, die mit dem 11. September seit jeher den Geburtstag Theodor W. Adornos verbunden haben, und halte an der Einschätzung fest, dass diese Assoziation unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten weiterhin die wichtigere bleibt. Im Übrigen gibt es nach dem 11. September immer auch einen 12., an dem das autohypnotische Schaumwerk wieder in sich zusammenfällt.

Interview: Sven Gächter

Das ganze Interview:

http://www.profil.at/export/profil/p_content.php3?&xmlval_ID…

Diskussion mit Richard von Weizecker und Peter Schneider:"Über die zukunft von Krieg und Frieden"
http://www.zdf.de/ZDFde/mediathek/ZDFde_video_cont/0,1912,VI…
 
aus der Diskussion: Guten Morgen Mr. Bush
Autor (Datum des Eintrages): Joerver  (23.02.03 19:32:00)
Beitrag: 68 von 35,423 (ID:8702829)
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