Fenster schließen  |  Fenster drucken

Amerikas Macht wird gebrochen"
16.03.2003

"Sie spüren, sie sehen die Anzeichen des Niedergangs, aber sie wollen sie nicht wahrhaben. Das treibt sie paradoxerweise zu einer Politik, die Amerikas Vorherrschaft zerstören wird. Der Irak wird dafür die erste große Etappe sein. Das 21. Jahrhundert wird, anders als das 20., nicht amerikanisch sein."

Der französische Historiker und Demograf Emmanuel Todd über die Auswirkungen eines Irak-Kriegs, den Niedergang der USA als alleiniger Supermacht und die Emanzipation Europas


SPIEGEL: Monsieur Todd, die USA scheinen fest entschlossen, sich notfalls über den Sicherheitsrat der Uno hinwegzusetzen. Zeigt das nicht, dass die Supermacht Amerika tun kann, was sie will?

Todd: Für mich beweist eine solche Rücksichtslosigkeit eher, dass die USA am Verzweifeln sind, weil sie ihren Willen eben nicht mehr ohne weiteres durchsetzen können. Es ist keine Heldentat, wenn ein hochgerüstetes Land mit 290 Millionen Einwohnern einen 23-Millionen-Staat angreift, der total ausgezehrt ist, kaum noch über schlagkräftige Streitkräfte verfügt und dessen Bevölkerung zur Hälfte aus Kindern und Jugendlichen besteht.

SPIEGEL: Warum können Chirac, Schröder und Putin den Mann im Weißen Haus dann nicht aufhalten?

Todd: Die amerikanische Diplomatie hat eine verheerende Niederlage erlitten. Bush fürchtet die Lächerlichkeit, wenn er zurückweicht. Aber die Welt ist dabei, sich neu zu organisieren, an den USA vorbei. Ein Krieg gegen den Irak wird diesen Prozess nur noch schneller vorantreiben - für mich eine ziemlich atemberaubende Entwicklung, eine ungeheure Beschleunigung der Geschichte.

SPIEGEL: Läutet die Irak-Krise das Ende der unipolaren Welt ein?

Todd: Die uneingeschränkte Vorherrschaft Amerikas ist schon zerbrochen, und Bush kann sie nicht wiederherstellen, auch wenn er in Bagdad einen Pyrrhussieg erringt. Ich muss Ihnen übrigens ein Kompliment machen. Deutschland hat daran einen ganz beachtlichen Anteil.

SPIEGEL: Wie bitte? Bundeskanzler Schröder wurde im Wahlkampf wohl kaum von einer geostrategischen Vision getrieben.

Todd: Aber von der öffentlichen Meinung, und das Ergebnis ist eine strategische Veränderung. Wer hätte gedacht, dass Deutschland - ein halbes Jahrhundert lang ein Verbündeter ohne eigenen Willen - jetzt Nein zu Amerika sagen könnte? Washington hat es am wenigsten geglaubt. Das deutsche Nein hat auch Frankreich in seinem Verhältnis zu Amerika befreit. Chiracs Veto wäre ohne Schröders frühzeitige Festlegung nicht möglich gewesen. Für sich allein sind Frankreich und Deutschland mittlere europäische Mächte, zusammengenommen bilden sie eine Weltmacht.

SPIEGEL: Übertreiben Sie da nicht gewaltig? Neben der Uno ist doch die Europäische Union das Hauptopfer der Krise. Beide präsentieren sich gelähmt und gespalten.

Todd: Das geht vorüber. Viel entscheidender ist, dass Bushs außenpolitische Brutalität das müde deutsch-französische Paar richtig auf Trab gebracht hat. Hier entsteht ein neuer Pol in der Welt, der schon genug Dynamik entfaltet hat, um auch Russland an sich zu binden.

SPIEGEL: Handelt es sich nicht vielmehr um eine Zweckallianz, in der jeder der drei aus unterschiedlichen Motiven handelt und eigene Interessen verfolgt?

Todd: Diese Allianz mutet nur dann unwahrscheinlich an, wenn man noch in den ideologischen Kategorien des Kalten Kriegs denkt. Aber Russland ist kein gefährlicher Staat mehr, trotz seiner Gräuel in Tschetschenien. Es schreitet unverkennbar auf dem Weg der Demokratisierung fort. Hält man den alten Ost-West-Gegensatz für überwunden, erscheint es als völlig natürlich und normal, dass Frankreich, Deutschland und Russland sich zusammenfinden, um die hegemonialen USA im Nahen Osten einzudämmen.

SPIEGEL: Geht also der Streit um Krieg oder Frieden weit über den Irak hinaus? Steht Amerikas Macht in der Welt auf dem Spiel?

Todd: Saddam Hussein ist in dieser Kraftprobe kein autonomer Gegenspieler, sondern nur eine Bauernfigur, ein idealtypischer Finsterling. Er soll in einem symbolischen Kriegsakt weggeräumt werden, damit das verunsicherte Amerika sich seiner Macht vergewissern kann. Das macht diesen Krieg zu einer Ersatzhandlung. Sie soll das wahre Ereignis, den 11. September 2001 und die Erfahrung der amerikanischen Verletzlichkeit, mit einem Schlag auslöschen. Nur kann dieser Exorzismus nicht funktionieren.

SPIEGEL: Will Bush Amerikas verwundete Seele heilen?

Todd: Am Tag, an dem der Krieg beginnt, wird Amerikas Macht gebrochen sein. Die USA erfinden sich unbedeutende Feinde wie den Irak, weil sie mit aller Gewalt den Eindruck erhalten wollen, das Zentrum der Welt zu sein. Das weckt Angst, und die Angst schafft diplomatische und politische Gegengewichte. Insofern ist es ganz bezeichnend, dass im Uno-Sicherheitsrat nicht alle einfach gekuscht haben Die Uno hat sich behauptet, keinesfalls selbst lahm gelegt.

SPIEGEL: Bricht Ihre ganze Theorie nicht in sich zusammen, wenn der Feldzug schnell und glatt verläuft und die Iraker die US-Soldaten wie Befreier bejubeln?

Todd: Oh, ich halte ein solches Szenario durchaus für vorstellbar. Aber es ändert nichts an meiner Analyse. Ein Befreier kann nach einer gewissen Zeit sehr wohl als Besatzer empfunden werden, gegen den sich Widerstand regt. Die USA können den Irak besiegen, aber nicht auf Dauer unter Kontrolle bringen.

SPIEGEL: Weil eine Neuauflage des Kolonialismus heute nicht mehr möglich ist?

Todd: Auch die Kolonialherren glaubten an ihre zivilisatorische Mission, so wie Bush die Verbreitung der Demokratie predigt. Er verkennt dabei den inneren Widerspruch seiner Politik, die vorgibt, Demokratie und Freiheit in die arabische Welt zu bringen, im selben Atemzug sich aber bedenkenlos die Freiheit nimmt, notfalls gegen die Charta der Vereinten Nationen und gegen den Willen der internationalen Gemeinschaft zu verstoßen. Ich glaube, dass diese US-Regierung ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie hat.

SPIEGEL: Im Umgang mit ihren Partnern vielleicht, da sie nach der unglückseligen Maxime handelt, wer nicht für sie sei, sei gegen sie. Aber im Innern ist doch die amerikanische Demokratie nicht ernsthaft gefährdet.

Todd: Da wäre ich mir nicht so sicher. Die US-Gesellschaft ist von vielfältigen sozialen und kulturellen Brüchen durchzogen. Der Zusammenhalt schwindet. Ein großer Teil der Bevölkerung geht nicht mehr zur Wahl. Die Elite befindet sich in einer Krise. Neben die alten demokratischen Prinzipien ist etwas Neues getreten - ein oligarchisches, plutokratisches, militaristisches System, das um sich schlägt, wenn es sich in Bedrängnis wähnt.

SPIEGEL: Und was soll diese Verwandlung von einer wohlwollenden zu einer repressiven Hegemonialmacht ausgelöst haben?

Todd: Das allmähliche Bewusstwerden ihrer eigenen Schwäche und ihres Niedergangs. Die USA hatten die neunziger Jahre wie in einem realitätsblinden Rausch erlebt. Der Kommunismus war besiegt, totgerüstet, wie man sich gern einredete, die neoliberale Globalisierung triumphierte. Jetzt werden die Amerikaner in einem schmerzhaften Prozess mit der Wirklichkeit konfrontiert. Das theatralische militaristische Gestikulieren dient dazu, diesen Prozess zu verdrängen und zu verschleiern. Das ist das klassische Symptom einer Großmacht im Abstieg.

SPIEGEL: Die absolute militärische Macht der USA ist doch eine Realität.

Todd: Sie werden sehen, dass sich die Welt mit militärischen Mitteln nicht mehr beherrschen lässt. Die Amerikaner werden irgendwann aus dem Persischen Golf verschwinden müssen. Der wahre, fundamentale Antagonismus, der dahinter zum Vorschein kommt, ist der heraufziehende Konflikt zwischen der Wirtschaftsmacht Europa und der Militärmacht Amerika.

SPIEGEL: Da kann es doch kaum Zweifel geben, wer daraus als Sieger hervorgehen wird. Ist der von Ihnen behauptete Niedergang Amerikas nicht höchst relativ?

Todd: Natürlich sind die USA immer noch die stärkste Macht der Welt, aber sie werden ihre Position als alleinige Supermacht verlieren. Es kann gut sein, dass schon die Expedition gegen den Irak die finanziellen Ressourcen der USA überfordert. Washington kann sich seinen gigantischen Militärapparat auf Dauer nicht mehr leisten.

SPIEGEL: Präsident Bush will den Verteidigungshaushalt für 2004 wieder erhöhen, um 4,1 Prozent ...

Todd: ... und die Defizite explodieren. Wenn dieser Krieg ohne Ermächtigung der Uno stattfindet, werden die Europäer sich nicht an den Kosten beteiligen. Der Golfkrieg 1991 wurde bezahlt, zu einem guten Teil von Deutschland und Japan. Diesmal werden die USA die Zeche allein zu tragen haben.

SPIEGEL: Den Krieg können die Amerikaner allein gewinnen. Brauchen sie für den Frieden und den Wiederaufbau Hilfe?

Todd: Sie können keine Besatzungsmacht von 200 000 Soldaten jahrelang im Irak belassen. Das US-Militär scheut die Präsenz am Boden. Das hat sich im Kosovo genauso wie in Afghanistan erwiesen. Wenn Washington aber nach seinem Sieg die Uno, die Nato und die EU zu Hilfe ruft, ist es nicht mehr alleiniger Herr im Land. Die USA brauchen die Welt, von der sie abhängig geworden sind, sie haben nicht genug Geld, sie produzieren nicht genug Güter, ihre industrielle Schwäche ist eklatant, aber sie wollen in der Illusion weiterleben, dass sie unersetzlich für die Welt sind.

SPIEGEL: Das ist doch keine Illusion. Die USA sind nach wie vor eine unverzichtbare Lokomotive der Weltwirtschaft. Ihre Wirtschaft ist robuster, wächst schneller, schafft mehr Jobs als die europäische.

Todd: Das täuscht. Das Problem der USA ist die schleichende Entindustrialisierung. Die europäische Industrieproduktion übertrifft die der USA bei weitem, auch in der Spitzentechnik. Airbus ist dabei, Boeing zu überholen. Die amerikanische Gesellschaft konsumiert mehr, als sie produzieren kann.

SPIEGEL: Das heißt, sie lebt auf Kredit?

Todd: Das Defizit in der Handelsbilanz ist dramatisch angestiegen - von 100 Milliarden Dollar 1990 auf fast 500 Milliarden heute. Vom Volumen her ist das ohne Beispiel in der Geschichte. Die USA sind abhängig geworden vom internationalen Finanzzustrom. Der Rest der Welt schießt ihnen Geld vor, damit sie weiter importieren und konsumieren. Aber das kann nicht ewig gut gehen. Bald platzt auch diese Blase.

SPIEGEL: Gilt Amerika den internationalen Anlegern nicht immer noch als sicherster Hafen für ihr Kapital?

Todd: Die Dollar-Schwäche ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass dieses Vertrauen schwindet. Die Bilanzskandale großer Unternehmen, eine fragwürdige Wirtschafts- und eine unverantwortliche Haushaltspolitik beginnen die Investoren zu verschrecken. Selbst US-Experten sagen der Regierung Bush eine fiskalische Krise größten Ausmaßes voraus.

SPIEGEL: Nur ist das kein Grund zur Schadenfreude, Europa und der Rest der Welt würden davon nicht unberührt bleiben.

Todd: Ja, es ist absolut beängstigend, dieses Umkippen der USA vom Ordnungs- zum Unordnungsfaktor mitansehen zu müssen. Amerika war über ein halbes Jahrhundert die Lösung für die Welt, jetzt ist es zum Problem geworden. Das 21. Jahrhundert wird, anders als das 20., nicht amerikanisch sein.

SPIEGEL: Unterschätzen Sie nicht, wie so viele Europäer, die Dynamik der USA, ihre Regenerationsfähigkeit, ihre Kraft, sich nach Rückschlägen wieder voller Optimismus aufzurichten?

Todd: Der Glaube an Amerikas innere Kraft könnte sich als einer der gefährlichsten Irrtümer der Gegenwart herausstellen. In Wahrheit sind es die europäischen Länder, die sich immer wieder aufgerichtet haben. Frankreich, diese alte Nation, hüpft seit über tausend Jahren wie ein Tennisball durch die Geschichte. Deutschland hat sich mehrere Male erholt, nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach den napoleonischen Feldzügen, nach 1945. Russland ist dabei, seinen Kurs wiederzufinden. Amerika dagegen hat in den über 200 Jahren seines Bestehens im Grunde nur eine Erfahrung gemacht: dass es immer nach oben geht.

SPIEGEL: Und jetzt zweifelt es an sich selbst?

Todd: Bush und sein Team sind gefährlich, weil sie sich der Realität widersetzen. Sie spüren, sie sehen die Anzeichen des Niedergangs, aber sie wollen sie nicht wahrhaben. Das treibt sie paradoxerweise zu einer Politik, die Amerikas Vorherrschaft zerstören wird. Der Irak wird dafür die erste große Etappe sein.

SPIEGEL: Sie haben 1976 in Ihrem ersten Buch die Auflösung des Sowjetsystems vorausgesagt. Sind Sie jetzt nicht dabei, am Beispiel Amerika einem schwarzen Geschichtsfatalismus zu erliegen?

Todd: Sie haben Recht, es gibt keine Fatalität in der Geschichte. Vielleicht beruhigen sich die Regierenden in den USA wieder, vielleicht bleibt Bush eine Episode, vielleicht findet Amerika zu sich selbst zurück, zu seiner Demokratie und seiner wirtschaftlichen Umstrukturierung ...

SPIEGEL: ... und wenn nicht?

Todd: Dann bekommen wir es mit einer Nation zu tun, die ihr Gleichgewicht verloren hat, ihre Ressourcen erschöpft hat, fundamental unproduktiv bleibt, sich deswegen immer räuberischer benimmt - und die Welt mit ins Desaster reißen kann.

SPIEGEL: Monsieur Todd, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Quelle: Spiegel


 
aus der Diskussion: Sittin Bulls elitärer Diskussionsthread für Biospohisten
Autor (Datum des Eintrages): sittin bull inv  (16.03.03 23:12:03)
Beitrag: 54 von 103 (ID:8902618)
Alle Angaben ohne Gewähr © wallstreetONLINE