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Huhu, noch jemand dabei? :D


Die Zukunft der Demokratie


«We are the world»

Michael Jackson



«Es ist illusorisch zu glauben, wir könnten mit aufklärerischen Mitteln auf demokratischem Wege Mehrheitsverhältnisse schaffen, die das Schlimmste verhüten»[15], schreibt der Autor Dirk C. Fleck.

«Sicherlich, der Umweltschutzgedanke hat in den vergangenen 20 Jahren erheblich an Terrain gewonnen», führt er weiter aus. «Daß wir in der gleichen Zeit eine Auto-Mobilmachung um das Doppelte erleben mußten, (...) daß Böden und Meere nahezu gesättigt sind von Giften, daß durch die Bautätigkeit das vernetzte Ökosystem weltweit am seidenen Faden hängt», seien jedoch Anzeichen dafür, daß die Probleme der Umweltzerstörung von demokratischen Gesellschaften nicht zu lösen seien.



Diese Einschätzung ist durchaus nachvollziehbar. Sie stellt jedoch den demokratischen Grundkonsens unserer Gesellschaft in Frage. Dennoch befindet sich der Autor damit in guter Gesellschaft.

«Ich bleibe dabei, daß die Wachstumsmaschine verwerflich ist; sie setzt die dynamischen Systeme in Gang, die in die Katastrophe führen. Wir müssen Wege finden, das materielle Wachstum, den Energieverbrauch, den Müllanfall, die steigenden Koeffizienten zu bremsen»[16], erläutert der Bürgerrechtler Jens Reich die zentralen Probleme unserer Gesellschaft. «Weil die Parteien sich nicht auf einen Konsens einigen können, weil irgendwelche Lobbys blockierende Stöcke in die Räder stecken», fordert er eine Institution, die «so laut befehlen kann, daß die Politik endlich aufwacht». Reichs Einschätzung gipfelt in der Äußerung: «Wirkliche Veränderung ist nicht möglich, wenn ständige Wahlkämpfe alles blockieren».

Reich unterstellt dabei, daß Politiker, Wirtschaftsbosse und Verbraucher ihre Entscheidungen wider besseren Wissens und ohne Rücksicht auf die Umwelt treffen. Tatsächlich fehlt es ihnen jedoch an der Erkenntnis, wie Ökonomie (vor allem der Wachstumszwang der Wirtschaft) und Ökologie miteinander vereinbar sind.



Festzuhalten ist, daß die Demokratie nur dann ihre Existenzberechtigung behält, wenn es gelingt eine sozial und ökologisch verträgliche Wirtschaftsweise durchzusetzen.



Die demokratische Idee hat viel von ihrer Anziehungskraft verloren. In vielen Ländern bedarf es immer mehr Show und Werbung, um eine angemessene Wahlbeteiligung zu gewährleisten. Der amerikanische Präsident wird von kaum mehr als einem Viertel der wahlberechtigten Menschen gewählt. Und selbst in den jungen Demokratien Osteuropas oder Afrikas hat sich bald nach dem Erlangen der neuen Freiheiten Ernüchterung und Resignation breitgemacht.



Untersuchungen zufolge sind es insbesondere junge Menschen und in dieser Gruppe vor allem Frauen, die glauben, sie können keine Änderungen bewirken.[17] Das wundert nicht, da Politik und Wirtschaft nach wie vor von Männern zwischen 40 und 70 beherrscht werden. Es sind ihre Regeln und die von ihnen geschaffenen Sachzwänge, die unser aller Leben bestimmen. Sie sind es, die zum Beispiel mit Spekulationsgeschäften Millionen verdienen; sie sind es, die mit dem Fuß auf dem Gaspedal freie Fahrt für freie Bürger fordern; sie sind es, die auf lukrativen Posten oft mehr Schaden anrichten als nützliche Arbeit zu verrichten.



Handlungsspielräume für politische Entscheidungen werden immer geringer. Alternativen für anstehende Entscheidungen sind nicht selten bedeutungslos. Das Diktat der Sachzwänge - oder vermeintlicher Sachzwänge - begrenzt die zu führenden Diskussionen, bis sie nahezu überflüssig sind.


Politiker und Wirtschaftsforscher beschwören sich gegenseitig und die Öffentlichkeit, alles zu tun, um Wirtschaftswachstum und Produktivitätssteigerungen zu garantieren. So zitiert der ‹Spiegel› den amerikanischen Präsidenten Clinton mit den Worten: «Das ist das Geheimnis. Wir müssen unserem Volk beweisen, daß der Wandel für unsere Bürger von Vorteil ist und Produktivitätssteigerung immer noch den Schlüssel zu Beschäftigung und Wachstum darstellt.»[18]



Die Sachzwänge Wachstum und Standortsicherung bestimmen die politische Diskussion. Für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft bleibt wenig Spielraum. Die Teilnahme an Meinungs- und Willensbildungsprozessen wird in allen Lebensbereichen immer uninteressanter, ob in den Betrieben oder den Parlamenten. Daß sich unter diesen Bedingungen Staats- und Parteiverdrossenheit breitmachen, verwundert nicht.



Engagement ist zunehmend notwendig, um Erreichtes zu sichern und Schützenswertes vor Schaden zu bewahren. Neues zu entwerfen und zu gestalten ist in den politischen Gremien immer seltener gefragt. Auf dieser Grundlage ist die Teilnahme an gesellschaftlichen Aufgaben in den meisten Fällen durch negative Gefühle wie Angst und Verzweiflung geprägt. Bürgerbewegungen und parlamentarische Initiativen versuchen in der Regel Entwicklungen, die uns von der Wirtschaft aufgezwungen werden, zu verhindern oder ihre negativen Auswirkungen zu begrenzen. Ein Großteil der Umweltschutzaktivitäten, Anstrengungen gegen Nikotin- und Alkoholkonsum, Kampagnen gegen Aufrüstung und Rüstungsexport, die Verhinderung von Sozialabbau und der Kampf um angemessene Lohnanpassungen sind einige dieser Kämpfe, in denen die Vernunft gegen die Wirtschaftsinteressen aufbegehrt.



Bei Menschen führt diese Negativ- Motivation früher oder später zur Distanzierung und zum Rückzug in die Häuslichkeit. Die Privatsphäre soll zur Festung gegen Frust und Bedrohungen von außen werden. Die Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen bedroht das eigene Wohlgefühl. Angst und Hilflosigkeit führen zu einer allgemeinen Politikverdrossenheit. Daß sich dieses Verhalten zwangsläufig gegen das Individuum wenden muß, wird so lange wie möglich verdrängt.

Das nachlassende Interesse der Bürger an politischen Entwicklungen unterstützt die Tendenz, daß Politik in großem Maße von fest verankerten Interessengruppen bestimmt wird. Grundlegende Weichenstellungen können und werden so zum Vorteil kurzfristiger Gruppeninteressen verhindert.



Soll die Idee der Demokratie Basis einer zukunftsorientierten Gesellschaft sein, muß sie weiterentwickelt werden.


Die demokratischen Gremien müssen gestalterische Funktionen erlangen, die nicht durch wirtschaftliche Vorgaben auf Nischen reduziert sind.

Die auswuchernde Staatsbürokratie, die mehr und mehr Handlanger des Kapitals ist, muß verändert werden. Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einen Rückbau des Staates ermöglichen, um den Bürgern mehr Freiraum für eigene Entfaltung einzuräumen. Gesellschaftliche Prozesse sind so zu gestalten, daß staatliche Leistungen überflüssig werden, ohne daß dadurch Mangel oder Not entstehen. Nur so kann einer allgemeinen Staatsverdrossenheit entgegengewirkt werden.





Wirtschaftsleben
contra Gesellschaft


«Wir haben ein sogenanntes Haushaltsdefizit.
Das ist, als würde diese Farm buchstäblich auf Schulden laufen. Ihr werdet von den Schulden angetrieben und arbeitet, um die Schulden abzubezahlen, und deswegen kommt ihr nie von der Stelle. So funktioniert meine Regierung. Sie hat kein Geld, tut aber so, als hätte sie welches.»

Rita Mae Brown[19]



Unsere Gesellschaft fußt auf zwei maßgeblichen Pfeilern, der Wirtschaft und dem demokratischen System. Von ihrem funktionieren hängt das Wohl von Millionen Menschen ab. Obschon beide Bereiche von außen betrachtet voneinander getrennt sind, sind sie doch personell wie auch strukturell eng miteinander verwoben. Unsere Wirtschaft kann nur effektiv funktionieren, wenn ihr durch die parlamentarischen Organe die richtigen Rahmenbedingungen vorgegeben werden. Ebenso gilt, das zeigt uns die Entwicklung in vielen Teilen der Welt, daß eine demokratische Kultur gefährdet und anfällig ist, wenn die wirtschaftliche Entwicklung instabil wird. Die Demokratie braucht eine solide Wirtschaft, um sich im humanistischen Sinne bewähren zu können.







A. Welche Aufgaben hat die Wirtschaft?


Wer unser Wirtschaftsgeschehen beobachtet, erlangt leicht den Eindruck, das ganze Treiben diene einzig dazu, möglichst viel zu verkaufen und den Menschen möglichst viel Arbeitsleistung zu denkbar günstigen Konditionen abzuverlangen. Dies sind aber Symptome einer falsch strukturierten Gesellschaft. Tatsächlich sollte der Bereich des Wirtschaftens einen anderen Sinn verfolgen.

Das Wirtschaftsgeschehen dient dazu Bedürfnisse und Ressourcen zusammenzubringen. Es stimmt Angebot und Nachfrage aufeinander ab und bringt die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Individuen zueinander. Aufgabe des Wirtschaftslebens ist es, Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, so daß materielle Not überwunden werden kann. Das Wirtschaftsgeschehen sollte die existentiellen[20] Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft abdecken, um so die Basis für ein angstfreies und gleichberechtigtes Miteinander zu schaffen. Die Bewahrung der Umwelt, der sparsame und verantwortungsvolle Umgang mit Rohstoffen, Reinhaltung von Boden, Luft und Wasser sollten grundlegender Rahmen allen Wirtschaftens sein.



Ein ordentlich funktionierendes Wirtschaftsleben führt Angebot und Nachfrage zueinander und gleicht so Überfluß und Mangel aus. Es minimiert dadurch soziale Spannungen und schafft eine Atmosphäre friedlichen und partnerschaftlichen Miteinanders. Die Wirtschaft, als Sphäre von Produktion, Dienstleistung und Tausch, bildet so verstanden, die Basis für eine gerechte, soziale und humane Gesellschaft. Auf der Grundlage eines regen und gerechten Wirtschaftssystems können sich Kunst, Kultur und Ethik optimal entfalten und so das Gesellschaftsgeschehen zur Blüte bringen.





Anspruch und Realität klaffen auseinander


Selbstverständlich entspricht diese Vorstellung nicht unserer gegenwärtigen Realität. Sie ist sogar so weit von ihr entfernt, daß wir kaum in der Lage sind, uns diesen wünschenswerten Zustand als Wirklichkeit vorzustellen. Die Kluft zwischen Armut und Reichtum, Not und Wohlstand, Wunsch und Wirklichkeit ist so groß, daß eine Annäherung nicht möglich erscheint. Überall auf der Welt plagen sich Millionen Menschen, die vom Wirtschaftsgeschehen verursachten Schäden zumindest stückweise zu beheben. Engagierte Menschen und Gruppen bemühen sich permanent, die Natur vor einer sinnentleerten und zügellos wütenden Wirtschaft zu beschützen.



Entgegen dem eigentlichen Sinn ihrer Existenz, ist es in aller Regel die Wirtschaft, die Angst auslöst, obwohl sie Sicherheit schaffen sollte. Sie ist es, die unter anderem mit immer neuen Rüstungsgütern ein blutiges und unmenschliches Austragen von Konflikten schürt. Anstatt Bedürfnisse zu befriedigen, zwingt sie uns immer mehr Umsatz und größeren Konsum auf und fördert zudem die Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen. Anstatt das Miteinander von Mensch und Natur zu ermöglichen, wurden die Lebensgrundlagen des Menschen im rasanten Tempo vernichtet. Statt sich tendenziell überflüssig zu machen, schiebt sich die Industrie als Keil zwischen den Menschen und seine ursprüngliche Umwelt.


Wirtschaftsentscheidungen sind im allgemeinen nicht davon bestimmt, wie man mit Investitionen Menschen und Umwelt am sinnvollsten nützt. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Marktwirtschaft dominiert eine andere Frage: Wie hoch ist die Rendite für eine Investition?

Diese Frage ist für wirtschaftliches Handeln so bestimmend, daß andere Motivationen kaum wahrnehmbar sind. Die Höhe der Rendite[21] entscheidet tagtäglich über den Kapitalfluß von Milliarden Mark. Fällt diese Rendite deutlich unter zehn Prozent ab, oder bleibt sie dauerhaft auf einem niedrigem Niveau, verweigert sich das Kapital, das heißt, es schiebt einen Riegel zwischen Produzenten und Konsumenten. Auch dann, wenn das Angebot wünschenswert und sinnvoll ist. Die direkte Folge davon ist: Der Arbeiter wird arbeitslos, der Bedarf bleibt unbefriedigt. Hohe Renditen dagegen fördern Entwicklungen, die gesellschaftspolitisch betrachtet ohne Sinn und Verstand sind.





Neue Prämissen


Jede Gesellschaft ist von der Art und Weise ihres Wirtschaftens und damit ihrer Produktionsweise geprägt. Sicherlich beeinflussen die Menschen über die Politik und ihr Konsumverhalten die wirtschaftliche Entwicklung. Die Macht einzelner Wirtschaftssektoren ist aber oft so groß, daß sie den maßgeblichen Einfluß auf die Rahmenbedingungen haben.



Um gesellschaftliche Prozesse lenken zu können ist es wichtig, die Bedürfnisse der Wirtschaft zu verstehen und einzubeziehen. Eine realistische Perspektive zur Durchsetzung von Reformen braucht starke Befürworter. Reformen, die den Interessen der einflußreichen Lobby-Vereinigungen zuwider laufen, sind gewöhnlich nicht durchsetzbar. Je angespannter die ökonomische Situation, umso reformfeindlicher ist das Klima. Das machen zum Beispiel die Bemühungen um die Reduzierung des CO2 Ausstoßes deutlich. Alle noch so großen Anstrengungen um den Erhalt der Lebensgrundlagen sind verschwendete Energie, solange ihnen die Bedürfnisse der Industrie und die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals entgegenstehen.



Der Grüne Punkt und das Sammeln und Sortieren von Abfall - weder die günstigste noch die ökologischste Möglichkeit - hat sich deswegen durchsetzen können, weil die Industrie dort gute Verdienstmöglichkeiten sah. Wären der Verpackungs- und Recyclingmarkt nicht als Wachstumsbereiche von Bedeutung, hätte sich sicherlich Müllvermeidungsstrategien durchsetzen können.



Eine Wirtschaft der Zukunft hat andere Prämissen. Um die vielfältigen Probleme unserer Industriezivilisation lösbar zu machen, bedarf es veränderter Bedingungen für das Wirtschaftsleben und insbesondere für die Industrieproduktion. Produzieren und Investieren einzig zum Zwecke der Kapitalvermehrung sollten und können wir uns auf Dauer nicht leisten. Das Kapital wird seine Vormachtstellung verlieren müssen. Es muß in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle spielen, um nicht länger das Marktgeschehen zu dominieren.

Das Geld, das Blut des Wirtschaftskreislaufs, muß im Dienste der Allgemeinheit zirkulieren.



Die kapitalistische Anschauung, daß einzig die Anhäufung von Macht und Besitz Leitlinien für individuelles und gesellschaftliches Handeln sind, beruht auf einer Primitivform ethischer Entwicklung. Diese Ordnung schafft Widersprüche, die nicht hingenommen werden müssen.

So werden beispielsweise Egoismus und Altruismus als zwangsläufige Gegensätze verstanden. Dabei nützt, unter vernünftigen Rahmenbedingungen, egoistisches Handeln letztlich auch der Gemeinschaft. Und ebenso gilt, daß das, was ich für alle tue, auch meinem persönlichen Wohlbefinden dient.



Die wachsende Produktivität kommt in immer größerem Maße den Kapitalbesitzern und immer weniger den arbeitenden Menschen zugute. Dies ist unsinnig und gefährlich, weil es die Gesellschaft destabilisiert. Umso mehr Maschinen die Arbeit der Menschen verringern oder überflüssig machen, desto mehr Menschen geraten in Not. Funktioniert das Verteilungssystem richtig, werden wir alle immer weniger Zeit aufwenden, um die notwendigen Arbeiten zu erledigen. Ohne die kapitalistische Verzerrung der Marktwirtschaft wird die enorme Produktivitätssteigerung zum Segen für die Gesundheit und das Privatleben aller Menschen.



Ziel des Wirtschaftens in einer post-kapitalistischen Ordnung kann es nicht länger sein, die Produktion um ihrer selbst Willen zu steigern. Das Abdecken von Nachfrage und Bedarf zu gewährleisten muß vorrangig werden.

In Zukunft wird es nicht länger Aufgabe der Industrie sein, Arbeitsplätze um jeden Preis zu erhalten oder zu schaffen. Die Grundlagen und Rahmenbedingungen werden so gestaltet sein, daß jedem Mitglied der Gemeinschaft Auskommen garantiert und die Entfaltung seiner Fähigkeiten möglich wird.



Gesellschaftliche Service-Einrichtungen und Investitionen werden sich auch ohne staatliche Subventionen rentieren. Überflüssige und schädliche Branchen wie der Kohlebergbau, der Flugverkehr und die Tabakindustrie, werden nicht länger durch nachsichtige Gesetzgebung am Leben erhalten oder sogar durch Steuervorteile subventioniert.







B. Interessen von Wirtschaftslobby
und Bevölkerung


Die Wirtschaft und ihre Verbände stellen in unserer Gesellschaft einen entscheidenden Machtfaktor dar. Diese Macht hat viele Aspekte und ist nicht grundsätzlich negativ. Ein Hauptgrund für Politiker auf Ratschläge aus der Wirtschaft zu hören ist, daß Unternehmen als Arbeitgeber auftreten und Arbeitsplätze schaffen und sichern. Zudem gehen viele Politiker noch davon aus, daß die großen Firmen ein Gros unseres Steueraufkommens erbringen.

Das Wirtschaftsgeschehen ist zweifellos das Fundament der Gesellschaft. Daher kann derjenige, der im Namen der Wirtschaft spricht, für sich in Anspruch nehmen, den wichtigsten Baustein unserer Gesellschaftsordnung zu repräsentieren.



Solange die Bedürfnisse des Wirtschaftssektors mit den Interessen der Bevölkerung übereinstimmen, ist der Einfluß der Wirtschaftslobby wenig problematisch. Leider unterliegt die Wirtschaft aber einer solchen Eigendynamik, daß sie der Allgemeinheit schwere Schäden zufügt.

Für den Finanz- und Industriesektor ist es zwingend, ständig expandieren und wachsen zu können. Es liegt in der Logik der kapitalistischen Geldordnung, daß ohne Wachstum der Ruin droht. Ob das mögliche Wachstum mit den Interessen der Menschen übereinstimmt, hat unter diesem Druck keine Bedeutung. Der Zwang zur Expansion ist der Hauptgrund, warum sich Lobbyisten häufig den berechtigten Anliegen von Umweltschützern in den Weg stellen.



Auf den demokratischen Willensbildungsprozeß nimmt die Wirtschaftslobby direkt und auf Umwegen Einfluß, mit dem Ziel, Rahmenbedingungen in ihrem Sinne zu gestalten. Arbeitet sie erfolgreich, schlägt sich dies zum Beispiel in der Gesetzgebung nieder.

So verabschiedete der Bundestag 1967 das ‹Gesetz zur Sicherung von Wachstum und Stabilität›, in dem die Regierung verpflichtet wird, permanentes Wachstum zu gewährleisten. Folge dieses Gesetzes ist, daß die Steuerzahler immer höhere Steuern aufbringen müssen, um eine Entwicklung zu finanzieren, die ihre Umwelt zunehmend zerstört.

Wachstum und Investitionsförderung wurden mit diesem Gesetz über die direkten Interessen der Bürger gestellt. Würden einzelne, besonders gravierende Maßnahmen demokratisch legitimiert werden, sähe manches anders aus. Einige Beispiele dafür wie Steuermittel in absurdem Umfang zur Kapitalsubventionierung in umstrittene Investitionen fließen, werden im Kapitel ‹Der Staat als Retter des Kapitalismus› näher erörtert.



Das Grundproblem besteht demnach nicht darin, daß die Wirtschaft ihre Interessen durchsetzt. Das Dilemma sind die Interessengegensätze. Entscheidend für den notwendigen gesellschaftlichen Wandel ist es, eine weitgehende Übereinstimmung der verschiedenen Interessen zu erzielen. Eine notwendige Voraussetzung hierfür besteht darin, eine Wirtschaftsweise zu ermöglichen, die auf Expansion verzichten kann, und doch Vollbeschäftigung, Wirtschaftlichkeit und Konkurrenzfähigkeit sicherstellt.







C. Arbeit, Selbstverwirklichung
und Auskommen


Die Funktionsweise und das Selbstverständnis der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu analysieren und in Frage zu stellen, hat für die Zukunft der Demokratie eine zentrale Bedeutung. Ebenso wichtig ist es, unser Verständnis von Arbeit und Erwerbstätigkeit zu aktualisieren. Auch in diesem Bereich führt das Festhalten an unzulänglichen Konzepten in Sackgassen der gesellschaftlichen Entwicklung.

· Warum schafft der Staat eine Kluft zwischen sogenannter Lohnarbeit und einer Hobbytätigkeit?

· Warum schuften sich viele Menschen krank, während andere an Arbeitslosigkeit zu Grunde gehen?

· Was macht unsere Arbeit so teuer und zu oft unbezahlbar?



Die Erwerbsarbeit hat heute zwei wichtige Funktionen: Sie muß dem Arbeitenden den Unterhalt sichern, und sie muß ihm eine Rolle in der Gesellschaft ermöglichen, die ihm Anerkennung und Befriedigung verschafft. Die Möglichkeit für jeden Arbeitswilligen, einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden, ist grundlegend für eine friedliche und soziale Gesellschaft.

Dies soll nicht heißen, daß jeder Erwachsene einer Erwerbsarbeit nachgehen sollte. Da es in einer gesättigten Marktwirtschaft nur einen begrenzten Bedarf an Arbeitsleistung gibt, ist es durchaus positiv, wenn sich Einzelne den Pflichten der Erwerbsarbeit zeitweise entziehen und sich dem Müßiggang, der Bildung oder dem Familienleben widmen. Sofern sie ihren Ausstieg aus dem Arbeitsalltag durch zuvor geleistete eigene Arbeit finanzieren können, ist dies nicht verwerflich.





Strafen für zu harte Arbeit


In der heutigen kapitalistischen Ordnung werden der Erwerbsarbeit zwei gewaltige Lasten aufgebürdet:

Zum einen werden über die Lohnsteuer und die Lohnnebenkosten ein Großteil der öffentlichen Kassen sowie die sozialen Sicherungssysteme finanziert. Zum anderen müssen die Arbeitsleistenden - was oft übersehen wird, obschon es folgenreicher ist - jede Mark, die in diesem Land als Rendite erwirtschaftet wird, an Mehrleistung erbringen.



Für jeden Arbeitsplatz ist eine Investition nötig. In Deutschland beträgt die durchschnittliche Kapitalsumme pro Arbeitsplatz derzeit circa 250.000 Mark. Bei einem Zinssatz von sechs bis acht Prozent muß der durchschnittliche Arbeitsplatz zusätzlich zu den Lohnkosten 15.000 bis 20.000 Mark an Zinsen erwirtschaften. Kann ein Arbeitsplatz die notwendige Kapitalverzinsung nicht erbringen, findet die Investition gar nicht erst statt oder der Investor geht pleite. Durch die hohe Kapitalbelastung wird Arbeit in vielen Fällen ineffizient oder sogar unbezahlbar. Dies ist eine entscheidende Ursache für die Massenarbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft.



Die Steuerlast auf Löhne und Gehälter ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte stetig angestiegen. Zwischen 19 und 24 Prozent ihres Bruttogehalts müssen die Arbeitenden mittlerweile an Lohnsteuer zur Finanzierung des Staatshaushalts aufbringen. 1969 zahlten sie hierfür nur 10,2 Prozent an den Fiskus.[22] Die finanzielle Belastung der Arbeitskraft ist so hoch, daß sie das Arbeiten regelrecht bestraft.

«Der Durchschnittsverdiener zahlt 1995 47,8 Prozent Steuern und Sozialabgaben. 1997 muß er bereits 48,9 Prozent abliefern. Bei 50 Prozent Abgabenlast beginnt der Kommunismus, hat Helmut Kohl einmal gesagt. Aber das war Mitte 1982. Da war er noch nicht Bundeskanzler und hatte nicht die Verantwortung für die Misere»[23], beschreibt ‹Die Woche› treffend die Situation.

Die hohen Lohnzusatzkosten sind mitverantwortlich dafür, daß sich viele Tätigkeiten nicht mehr lohnen oder nicht mehr finanzierbar sind. 84 Pfennige auf eine Mark Lohn, so rechnet der Bundesverband der Deutschen Industrie[24], müssen für die menschliche Arbeitsleistung zusätzlich zum Lohn aufgebracht werden. Diese 84 Pfennige setzen sich im wesentlichen zusammen aus den Beiträgen für die Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung sowie zur Finanzierung der Renten.



Warum aber werden Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung beinahe ausschließlich aus der Arbeit abhängig Beschäftigter finanziert? Und warum finanziert sich unser Staat zusätzlich zu über einem Drittel aus der Lohnsteuer? 1995 betrug der Anteil der Lohnsteuer am Gesamtsteueraufkommen 36,9 Prozent[25], Tendenz steigend. Für 1996 machte diese Einnahmequelle des Staates 263,4 Milliarden Mark[26] aus. Bedenkt man, daß die Tätigkeit von Menschen grundsätzlich positiv zu bewerten ist, und im allgemeinen im Interesse der Gesellschaft steht, muß die Frage erörtert werden, warum sie durch die Steuer- und Sozialgesetze bewußt überproportional belastet wird. Da die steuerliche Belastung der Arbeit eine der Ursachen für die derzeitige Massenarbeitslosigkeit ist, wird diese Praxis noch unverständlicher.

«Ein europaweiter Anstieg der Besteuerung der Arbeit in den vergangenen Jahren um 9,4 Prozentpunkte, so das Ergebnis einer Analyse der Weltbank, sei für vier der elf Prozent Arbeitslosigkeit verantwortlich.»[27] Der Anstieg der Arbeitslosigkeit verursacht zusätzliche Lohnnebenkosten, die wiederum die Situation verschärfen.



Die Besteuerung der Arbeitseinkommen mag historisch gewachsen und sinnvoll gewesen sein. Für unsere gesellschaftliche Zukunft ist sie unbrauchbar.





Gleiches Recht für jede Arbeit


Es stellt sich die Frage, welchen Sinn es macht, zwischen zu versteuernder Arbeit und steuerfreier Arbeit zu differenzieren? Wenn der Staat zukünftig auf die Besteuerung von Arbeitseinkommen verzichten würde, ergeben sich ganz neue Perspektiven.

Es würde dann die Trennung zwischen steuerpflichtiger Arbeit, Schwarzarbeit, und Hobbytätigkeiten nicht mehr geben. Ohne staatliche Einmischung wäre es jedem Menschen selbst überlassen, wo, wann und für wen er welche Tätigkeit ausübt. Der Verdienst würde individuell ausgehandelt und bliebe dem Arbeitenden in vollem Umfang erhalten. Dies hätte für die persönliche Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen erhebliche Vorteile. Die Nutzung der eigenen Talente würde damit einfacher.



Die durch den Staat aufrecht erhaltene Trennung zwischen Unternehmern und Selbständigen auf der einen Seite sowie Arbeitern und Angestellten auf der anderen Seite, ist durch die Realität längst zur Farce geworden. Es wird geschätzt, daß es mittlerweile eine halbe bis eine Million sogenannte ‹Scheinselbständige›[28] gibt. Viele von ihnen leben und arbeiten unter weit schlechteren Bedingungen als abhängig Beschäftigte, die die gleiche Arbeit verrichten.



Die Trennlinie sollte nicht länger zwischen den verschiedenen Arbeitsverhältnissen gezogen werden. Diese künstlich durch das Steuerrecht gezogenen Trennungen bedingen absurde Entwicklungen. Sinnvoll wäre, die Ungleichbehandlung der verschiedenen Arbeitseinkommen durch eine Befreiung von der Steuerlast zu beenden. Wie eine derartige Umstrukturierung tatsächlich finanzierbar ist, wird aus den folgenden Kapiteln deutlich.



In der aktuellen Diskussion wird von vielen Autoren eine weitere Trennung von Arbeitswelten aufgebaut: Demnach existieren nebeneinander ein «marktwirtschaftlicher», ein «staatlicher» und der sogenannte «Dritte Sektor».[29] Nach diesem Ansatz, dessen wohl populärster Vertreter der Wissenschaftskritiker Jeremy Rifkin ist, werden im Produktionsbereich immer weniger Menschen beschäftigt. Da aber nur in diesem «marktwirtschaftlichen Sektor» das Geld erwirtschaftet wird, soll «ein möglichst großer Anteil des Produktivitätszuwachses vom marktwirtschaftlichen Sektor in den Dritten Sektor übertragen»[30] werden. Davon soll dann gemeinnützige Arbeit bezahlt werden, die der Staat sich nicht mehr leisten kann. Rifkin und andere gehen davon aus, daß man das Herstellen eines Handys und das Pflegen einer Parkanlage grundsätzlich in produktive und nicht-produktive Arbeit aufteilen kann.

Auschlaggebend ist aber nur die Nachfrage nach der Dienstleistung oder dem hergestellten Produkt. Entscheidend ist demnach wie die Kaufkraft verteilt ist und wie hoch die Preise durch Steuern belastet werden. Ausschlaggebend für die Entwicklung der Kaufkraft ist unter anderem die Verteilung des Produktivitätszuwachses. Solange er in wachsendem Maße den Kapitalbesitzern zufließt, landet er in Kassen ohne Bedarf. Überschüssiges Geld wird zur Spekulation verwendet. Er fehlt dann als Nachfrage in den Sektoren des täglichen Lebens wie Gesundheitsversorgung, Bildung, Kultur und Pflege des Lebensumfelds.

Wenn die Kaufkraft aller Bürger zunimmt, werden sie die Angebote des «staatlichen Sektors» und des sogenannten «Dritten Sektors» privat nachfragen. Diese Tätigkeitsfelder werden damit ‹produktiv› und die staatliche Subventionierung überflüssig.



Der entscheidende Impuls für einen gesellschaftlichen Wandel besteht darin, daß die Arbeitsleistung einen neuen Stellenwert erhält. In der Konkurrenz zum Kapital, und damit insbesondere zur industrialisierten Produktion, sowie zum Energie- und Rohstoffeinsatz wird die menschliche Arbeit in der post-kapitalistischen Gesellschaft billiger und damit stärker nachgefragt.







D. Ist jede Leistung eine Leistung?


«Frauen leisten 65 Prozent der Arbeit, ihnen gehören zehn Prozent der Einkommen und ein Prozent des Besitzes»

Jürgen Thebrath[31]



Eine Neubewertung wird es ebenfalls bei den Begriffen Leistung und Besitz geben müssen. Die Bewertung von Leistung ist heute eine fragwürdige Angelegenheit. Was ist überhaupt eine Leistung? Genauer: Was ist aus Sicht der Gesellschaft eine Leistung?



Dazu ein konkretes Beispiel:

In weiten Teilen der Gesellschaft wird es für selbstverständlich erachtet, daß ein vermögender Spekulant an einem Grundstücksgeschäft Millionen verdient, während eine Mutter für die Erziehung von drei Kindern alles in allem kaum 150.000 Mark Kindergeld erhält? Um genau zu sein, das Geld erhält sie nicht einmal für ihre Arbeit. Es soll lediglich helfen, die Kosten für die Kinder zu decken.

Reicht der Verweis auf das Risiko des Bodenspekulanten aus, um dieses Mißverhältnis zu akzeptieren? Reicht als Rechtfertigung der Hinweis, daß die Mutter von ihren Kindern reich beschenkt wird, zunächst emotional und später vielleicht auch materiell?

Warum bewerten wir die Spekulation mit Grundstücken als Leistung, wo sie doch die Gemeinschaft nur unnötig belastet? Ist es gesellschaftlich wünschenswert, daß die Arbeit leistenden Menschen etwa ein Drittel ihres Arbeitsertrags für die Zinseinkünfte der Geldbesitzer aufbringen müssen? Warum verhindert unser System, daß diejenigen die Arbeit erbringen, auch deren vollen Ertrag erhalten?



Wohlstand und Reichtum gründen sich längst nicht immer auf Leistung.

Genau genommen ist es heute eher eine Ausnahme, wenn man mit handwerklicher oder geistiger Arbeit reich wird.
Wer jedoch erst einmal ein Vermögen erlangt hat, tut sich leicht damit, dieses weiter zu vermehren.

Reichtum und Macht können das Resultat von überdurchschnittlichen Leistungen sein. In diesem Fall haben sie eine Berechtigung als Gradmesser für Prestige und Anerkennung. Kein Mensch aber kann auf Grund seiner Arbeit ein Millionenfaches seiner Mitmenschen leisten. Das Zustandekommen entsprechend großer Besitztümer und einer entsprechend großen Machtfülle ist daher kritisch zu beleuchten. Milliardenvermögen haben selten etwas mit dem Leistungsgedanken zu tun, von dem liberale Ökonomen gerne sprechen. Wenn sich Reichtum und Macht losgelöst von gesellschaftlich relevanter Leistung anhäufen und selbständig vermehren, verdienen sie nicht in gleicher Weise unsere Wertschätzung.

Einkommen aus Besitztiteln (Bodenpacht und Zinserträge) entstehen auf Kosten anderer oder müssen von der Allgemeinheit erbracht werden. Entsprechend sind sie auch zu bewerten.



Zinserträge und Gewinne aus Grundstücksgeschäften unterscheiden sich dabei wesentlich von Lotteriegewinnen und dem Spekulieren mit Aktien. Während erstere ‹garantierte Gewinne› sind, die durch die Arbeit der Bürger zustande kommen, sind letztere ‹Poker-Erträge›. Die zweite Kategorie unterscheidet sich dadurch, daß die Mitspieler einen Einsatz riskieren. Aus dem gemeinsamen Pool wird der Gewinn verteilt. Geschädigt werden die aktiven Mitspieler, nicht aber die Allgemeinheit.



Die Verteilung von Besitztümern zu hinterfragen, ist in diesem Land eine besonders heikle Angelegenheit. Tatsächlich ist der Besitz sehr ungleich verteilt. Jenseits von Sozialneid und Enteignungsträumen ist jedoch zu unterscheiden, wie ein Besitz erworben wurde. Ist ein Vermögen angespart aus einer Arbeitsleistung oder hat es sich aus sich selbst heraus vermehrt? Ist es demnach aus der Arbeit Unbeteiligter entstanden? Besitz der ohne eigene Arbeistleistung anwächst, beraubt die Allgemeinheit und schädigt die Mitmenschen. Bereits Martin Luther hatte diesen Zusammenhang erkannt und angeprangert:

«Darum ist ein Wucherer und Geizhals wahrlich kein rechter Mensch; er sündigt auch nicht eigentlich menschlich! Er muß ein Werwolf sein, schlimmer noch als alle Tyrannen, Mörder und Räuber, schier so böse wie der Teufel selbst! Er sitzt nämlich nicht als Feind, sondern als ein Freund und Mitbürger im Schutz und Frieden der Gemeinde und raubt und mordet dennoch greulicher als jeder Feind und Mordbrenner. Wenn man daher die Straßenräuber, Mörder und Befehder rädert und köpft, um wieviel mehr noch sollte man da erst alle Wucherer rädern und foltern, alle Geizhälse verjagen, verfluchen und köpfen...».[32]



Der destabilisierende Charakter gilt insbesondere dann, wenn Geldvermögen aus dem Geldkreislauf zurückgehalten werden können oder nur gegen hohe Zinsen und bei hoher Inflation der Allgemeinheit überlassen werden. Auch wenn dieser Mechanismus auf Grund der flexiblen Geldmengenpolitik der Notenbank heute nicht mehr so offensichtlich zutage tritt wie zu Zeiten Martin Luthers, bleibt der Effekt bis heute erhalten. Die Erpressung von Zinseinkünften beraubt die Arbeitenden um einen Teil ihres Lohns und ist damit Quelle von Ungleichheit und Ungerechtigkeit.



Wahr ist, daß die Vermögen und der Besitz der Superreichen in dem Maße wachsen, wie Not und Bedürftigkeit zunehmend mehr Menschen erfassen. Dies gilt für nationale ebenso wie für internationale Entwicklungen.


Unter der Überschrift:

«358 Superreiche besitzen mehr als die halbe Menschheit», war in der Ulmer Südwestpresse zu lesen:

«Ein paar hundert Superreiche haben mehr Geld als die halbe Menschheit. Das ist eines der Ergebnisse des Berichts der Vereinten Nationen ‹Über die menschliche Entwicklung›. Danach hat sich die Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten weltweit verdoppelt. Vom globalen Wirtschaftswachstum profitierte nur eine Minderheit der Staaten, und auch die Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Armen in den Industrieländern selbst wird immer größer.»[33]



Im Unterschied zur Arbeitsleistung des Einzelnen hat der private Besitz für die Gesellschaft keinen Nutzen. Die Arbeit eines Menschen bringt in der Regel für ihn und für die Allgemeinheit einen Vorteil. Der Besitz eines Guts stellt für die Allgemeinheit jedoch nur insofern einen Vorteil dar, als es von der Privatperson gepflegt, genutzt und verwaltet wird. Hieraus kann allerdings nicht abgeleitet werden, daß Privateigentum schlecht oder unmoralisch sei. Es entspricht dem Bedürfnis der Menschen über Eigentum zu verfügen. Der vorhandene Wohlstand sollte daher von allen Menschen gleichermaßen zu erwerben sein.



Negative Folgen für die Gesellschaft ergeben sich aus einer extremen Konzentration des Besitzes, da dies eine angemessene Verteilung verhindert und im Extremfall vielen Menschen den Erwerb von Eigentum unmöglich macht. Es stellt sich daher die Frage, warum in einer Demokratie die Akkumulation toleriert oder sogar gefördert wird.

Die Aneignung riesiger Vermögen kann durch das Steuerrecht lediglich eingeschränkt werden. Um eine ausgewogene Verteilung des Besitzes zu ermöglichen, wäre eine progressive Besteuerung angebracht. Wer viel anhäuft, zahlt viel. Was heute unsinnigerweise bei den Arbeitseinkommen praktiziert wird, macht einen gewissen Sinn, wenn es auf die leistungslosen Einkünfte und den Besitzstand angewendet wird. Wenn übergroße Vermögen so stark besteuert werden, daß sie tendenziell geringer werden, bleibt dementsprechend mehr Besitz übrig, den die Übrigen erwerben können.



Letztlich wäre es jedoch effektiver und sinnvoller die Ursachen der Vermögensakkumulation zu überwinden. Wenn dies durch eine Boden- und Geldreform geschieht, wird sich das Problem der extrem ungleichen Besitzverhältnisse weitgehend erübrigen.





E. Ist es der Mensch oder ist es das System?


Was hat das Chaos in unserer Gesellschaft mit Geld zu tun? Ist der Mensch so schlecht, daß er vor Habgier und aus Egoismus alles zerstört? Bestimmt der Mensch bewußt die gesellschaftlichen Entwicklungen, oder nimmt er sie eher in Kauf? Prägt der Mensch das System oder mehr das System die Menschen? Bestimmt «die Kraft des Guten» das menschliche Wesen oder ist der Mensch eher böse und zerstörerisch? Ist der Kapitalismus die Quelle der destruktiven Kräfte, und wenn ja, was macht diesen Kapitalismus heute aus? Müssen wir auf Privatbesitz verzichten um ‹gut› sein zu können, wie es uns der Mar-xismus nahelegt?

Die Liste der Fragen läßt sich fortsetzen. Nur wenige Menschen differenzieren exakt bei der Analyse von Ursachen und Auswirkungen. Die Verantwortlichen in allen Bereichen richten sich mit ihren Widersprüchen ein. Die Veränderer konzentrieren sich auf einzelne, oft sehr schwerwiegende Symptome.

Die Zahl derer, die für Menschenwürde, die Bewahrung der Schöpfung, Solidarität mit den Schwächeren, für Verstand, Herz und Vernunft kämpfen, ist erfreulich hoch. Und doch registrieren wir täglich, daß sich die Verhältnisse zum Nachteil der Masse der Menschen entwickeln.

Um sich dies erklären zu können, flüchten viele in die Überzeugung: Der Mensch ist dumm, faul und rücksichtslos dazu. Die Schlußfolgerung aus dieser Überzeugung ist: Nur wenn wir den Menschen ändern, können wir das System verändern.



Die Geschichte hat uns bewiesen, daß der Mensch nicht gezielt veränderbar ist. Versuche in dieser Richtung endeten in Diktatur und Despotie oder sie führten zu chaotischen Verhältnissen in Wirtschaft und Gesellschaft, die letztlich eine Restaurierung der alten Ordnung bewirkten. Diese Einschätzung bezieht sich lediglich darauf, daß den Menschen moralisch verantwortliches Verhalten nicht aufgezwungen werden kann.

Selbstverständlich entwickelt sich menschliches Verhalten im Laufe der Zeit. Das Handeln der Menschen paßt sich ihrem gesellschaftlichen Umfeld an. Ein Kind, das täglich mit Gewaltszenen konfrontiert wird, wird eher zur Gewaltanwendung neigen, als eines, das in einem Umfeld groß wird, in dem Gewalt eine Ausnahme darstellt. Dasselbe gilt für den Steuerzahler, der Jahr für Jahr ehrlich seine Steuerschuld entrichtet. Wenn er erlebt, wie Steuerhinterziehung zur Normalität wird, wird dies auch seine moralischen Maßstäbe beeinflussen.



Der erwachsene Mensch ist für sein Tun verantwortlich. Die Summe des selbstverantwortlichen Handelns bildet das gesellschaftliche Bewußtsein. Sie bestimmt unsere Wertmaßstäbe. Aus dem Wechselspiel von individuellem Handeln und gesellschaftlichem Einfluß ergibt sich eine Dualität für die Ursachenanalyse.




Ein Beispiel: Aufgabe der Erziehungsberechtigten ist es, ihren Kindern einen positiven Umgang mit dem Medium Fernsehen zu vermitteln. Mißbrauchen sie den Fernseher als Babysitter oder überlassen sie ihr Kind widerstandslos den Verführungen der Fernsehmacher, kommen sie ihrer Verantwortung nicht nach. Im schlimmsten Fall wird ihnen eines Tages vorgeworfen, sie hätten bei der Erziehung ihrer Kinder versagt. Die Aufgabe dieser Eltern ist schwierig, denn ihnen stehen Menschen gegenüber, die dieses ‹Versagen› mit allen Mitteln provozieren. Wir leisten uns Programmacher, Werbefachleute und gut bezahlte Spezialisten, deren Aufgabe es ist, Kinder an den Fernseher zu binden. Diese Menschen gelten als erfolgreich, wenn die Einschaltquoten hoch sind und Kinder täglich Stunden vor der Mattscheibe verbringen! Zu den Schattenseiten ihres Jobs gehört, daß Kinder die im Programm erlebte Gewalt in der Schule umsetzen. Es wird ihnen jedoch nicht als versagen ausgelegt, wenn eine Generation heranwächst, für die Haben mehr bedeutet als Sein, denen Konsumieren wichtiger ist als Kommunizieren! Es ist die zwangsläufige Folge ihrer Arbeit. Es gehört zu ihrem gesellschaftlichen Auftrag.

Ähnlich verhält es sich mit dem Autofahrer, der dem Rausch der Geschwindigkeit oder dem Irrsinn der permanenten Mobilität erliegt. Ein Heer von Werbestrategen arbeitet schließlich darauf hin, dem Konsumenten zu suggerieren, wie toll sein schädliches Verhalten sei. Es werden Milliarden ausgegeben, damit den Konsumenten keine Zweifel an dieser Lebensweise kommen.



Die kapitalistische Produktionsweise kann den verantwortungsbewußten Bürger gar nicht verkraften. Kategorien von Moral und Vernunft stehen den Anforderungen an den Menschen als Konsumenten geradezu entgegen. Daß wir uns als Gesellschaft Strukturen leisten, die ein Versagen des Einzelnen geradezu herausfordern, ist absurd und veränderbar.



Es sind die Menschen, die diese Strukturen schaffen und akzeptieren. Kann man daraus jedoch ableiten, daß die Menschen es letztlich so wollen, wie es ist - sei es aus Bequemlichkeit, Egoismus oder Habgier motiviert? Die Menschen haben sich dieses System geschaffen und sie haben sich darin eingerichtet. Müssen wir demnach nicht doch zuerst die Menschen ändern, bevor wir die Zustände ändern können?



Die Bürger der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft haben sich mehr oder weniger gezielt für Strukturen entschieden, von denen sie annahmen, sie würden eine optimale Entwicklung der Gesellschaft ermöglichen. Zu diesen Strukturen gehört das parlamentarische[34] Wahlsystem, das die Siegermächte den Deutschen verordneten. Weitere Bestandteile sind die soziale Marktwirtschaft und die Zuordnung von Aufgaben an staatliche Einrichtungen sowie die Garantie der Menschenwürde und des Privateigentums. Bestimmte Entwicklungen im Modell ‹Soziale Marktwirtschaft› wurden dabei im Laufe der Zeit eher in Kauf genommen oder einfach nicht verhindert. Hierzu gehören die Bildung und Aufrüstung der Bundeswehr, die zunehmende Konzentration und Machtfülle großer Konzerne, die Duldung von Bodenspekulation und das gefährliche Anschwellen der großen Geldvermögen.



Zu diesen Entwicklungen zählt auch, daß unsere Wirtschaftsordnung auf grenzenloses Wachstum angewiesen ist. Es ist kaum jemandem bewußt, daß Marktwirtschaft auch ohne Kapitalismus möglich ist, daß Wohlstand auch ohne Wachstum gewährleistet werden kann. Und wer weiß schon, daß die ungerechtfertigte Verteilung des Bodens Quelle milliardenschwerer Einnahmen ist, den die Nutzer an die Besitzer entrichten müssen?



Sicherlich sind es die Menschen, die durch ihr Verhalten das politische und wirtschaftliche System prägen. Gleichzeitig gilt aber auch, daß die Verhältnisse das Verhalten der Menschen prägen. Solange unsere Wirtschaft auf unkritische und unaufgeklärte Konsumenten angewiesen ist, wird die Hoffnung auf die Einsichtsfähigkeit der Menschen enttäuscht werden. Politische und wirtschaftliche Gegebenheiten werden nicht durch moralische Appelle verändert.



Um Gesellschaft aktiv gestalten zu können, bedarf es einer genauen Analyse der Fehler und ihrer Ursachen. Darüber hinaus ist eine konkrete Vorstellung davon notwendig, welche Korrekturen zum gewünschten Erfolg führen. Fehlt aufgrund einer falschen oder fehlenden Analyse diese Perspektive, neigen Menschen leicht zu Resignation. Durch die daraus resultierende Untätigkeit entsteht der Eindruck, die Menschen akzeptierten das bestehende System. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann sich zeigen, daß die Menschheit durchaus in ihrer Gesamtheit in der Lage ist, ihrer globalen Verantwortung für den Planeten gerecht zu werden.


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aus der Diskussion: Sittin Bulls elitärer Diskussionsthread für Biospohisten
Autor (Datum des Eintrages): sittin bull inv  (18.03.03 21:09:14)
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