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Schön! :)

"Die Dinge haben sich zu weit entwickelt"
Exklusiv-Interview mit Morris Berman

[Morris Berman]
© Tom Holt

Englische Version

Herr Berman, die deutschsprachige Ausgabe Ihres Buches "Twilight of American Culture" erscheint unter dem Titel "Kultur vor dem Kollaps" bei der Büchergilde Gutenberg. Worum geht es darin und mit welchem Ziel haben Sie dieses Buch geschrieben?

"Twilight" war für mich ein Versuch, meine Eindrücke von der amerikanischen Gesellschaft in einen geordneten, historischen Rahmen zu stellen. Man sieht heute überall in Amerika die Symptome des kulturellen Niedergangs und es stellt sich die Frage, wohin das alles führen wird. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass dies keine zufälligen oder episodenhaften Geschehnisse sind. Wir haben es meiner Meinung nach vielmehr mit Symptomen zu tun, die die Endphase einer Zivilisation ankündigen und ich vermute, dass Amerika nach nunmehr 225 Jahren in die Phase des Abstiegs tritt.

Welche Anzeichen sehen Sie für diesen Niedergang?

Die Anzeichen sind interessanterweise diesselben, die auftraten, als sich das Römische Reich aufzulösen begann. - das heißt etwa vom 3. Jahrhundert an - wenn auch in einer zeitgemäßen Form. Die Parallelen sind folgende:

die sich vergrößernde Kluft zwischen arm und reich.

die zunehmende Unfähigkeit für Unterstützungsmaßnahmen und Administration zu zahlen, die eine funktionierende Kultur ermöglichen.

rapide ansteigender Analphabetismus und die Abnahme intellektuellen Bewusstseins.

das, was ich und vermutlich auch Oswald Spengler, als "spirituellen Tod" bezeichnen: Die Korrumpierung der Politik, die Aushöhlung kultureller Marken ("Republik" im Fall des Römischen Reiches, "Demokratie" im Falle Amerikas), weitverbreitete Gefühle von Zynismus, Apathie etc.

Wie definieren Sie den Begriff "Kultur" in diesem Zusammenhang?

"Kultur" ist im wesentlichen die Gesamtheit der Symbole und Werte, unter denen eine Gemeinschaft (darunter verstehe ich auch im weitesten Sinne die Nationalstaaten) lebt, und die Institutionen, die sie hervorbringt.
Lassen wir jetzt das Römische Reich beseite und betrachten wir die vier Faktoren, die ich oben genannt habe:

Alle vier Faktoren sind im heutigen Amerika deutlich sichtbar - in meinem Buch habe ich das im Detail dokumentiert. Man kann das anhand von Einzelbeispielen zeigen oder anhand von Statistiken - ich tue beides.
Nehmen wir als Beispiel die Abnahme des intellektuellen Bewusstseins. Amerikanische Komiker machen sich mittlerweile über die unglaubliche Ignoranz der einfachen Mittelklasse lustig, indem sie Interviews auf der Strasse duchführen: Erst kürzlich sah ich eine Fernsehsendung mit dem Titel "Street Smarts". Der Moderator fragte einen Mann: "Welches Instrument spielt ein Cellist?" Die Antwort: "Piano". Dann fragte er eine Frau: "Wer schrieb Dantes Inferno?" Die Antwort: "John Schlesinger". (Wer in aller Welt ist John Schlesinger?) Man erlebt diese Dinge heute täglich, während es noch vor 15 Jahren relativ selten war. Welche statistischen Belege gibt es für diese Beobachtungen? Organisationen wie die "National Science Foundation", "Gallup Poll" und andere führen ständig Umfragen durch, Erhebungen, die enthüllen, dass

21% der Amerikaner glauben, die Sonne kreise um die Erde,

weitere 7% wissen nicht, was um was kreist,


40% der erwachsenen Amerikaner wissen nicht, wer der Feind im Zweiten Weltkrieg war.

42% können Japan auf einer Weltkarte nicht ausfindig machen,

15% sind noch nicht einmal in der Lage die USA zu lokalisieren.

120 Millionen Amerikaner sind Analphabeten oder zumindest funktionale Analphabeten,

50% sind nicht in der Lage einen einfachen Geschäftsbrief zu verfassen.

Sie sind nicht sehr optimistisch, was das Engagement kleiner Privatinitiativen angeht. Sehen Sie eine Chance, eine bessere Gesellschaft in unserer Lebenszeit zu schaffen?

Was die aktuelle Lage in Amerika angeht, bin ich nicht optimistisch für die nahe Zukunft, denn es gibt keine Ausnahme zur historischen Gesetzmäßigkeit: Wie Individuen gehen auch Zivilisationen durch einen Lebenszyklus: Geburt, Blütezeit und Verfall. Eine Zivilisation im Niedergang kann sich sicherlich von Zeit zu Zeit erholen wie Arnold Toynbee gezeigt hat, aber der übergeordnete Verlauf kann nicht geändert werden. Daher ist "meine" Lösung der amerikanischen Krise langfristig angelegt, eine, die ihre Parallele in der römisch-europäischen Erfahrung hat: Das Auftauchen einer Gruppe von Menschen (Mönche mit klösterlichen Bibliotheken), die sich dem Erhalt des kulturellen Erbes verpflichtet haben. In Europa waren sie es, die schließlich entscheidend für die Geburt der Renaissance wurden.

Ihre Lösung, kulturelle Traditionen in dunklen Zeiten zu bewahren, heißt "Die monastische Option", oder "geistiges Nomadentum", eine Tradition des mittelalterlichen Europa. Sie meinen damit nicht nur technologisches oder philosphisches Wissen sondern auch Lebensweisen. Können Sie das erläutern?

Richtig, daher beschäftige ich mich in meinem Buch mit Individuen, die sich der Erhaltung von Kulturen widmen. Ich nenne diese Menschen "neue monastische Individuen", neu deshalb, weil ihre Arbeit etwas anderes ist, als die von Mönchen, die sich in Klöster zurückziehen und meditieren. Ein Beispiel ist die Arbeit von Earl Shorris, ein Mann der 1995 das "Great Book Program" (eine Art geisteswissenschaftliche Akademie für Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Anm. des Übersetzers ) für die Armen der Innenstadt in New York aufgebaut hat. Ein Programm, das großen Erfolg hatte und das sich seither in andere Städte verbreitet hat. Nun glaube ich zwar nicht, dass die Fähigkeit, sich die Ideen von Goethe und Voltaire anzueignen, die Armut lindern wird, aber ein Programm wie dieses kann helfen, die Schätze der Aufklärung für ein zukünftiges Zeitalter zu bewahren. Ray Bradbury hat vor vielen Jahren in seinem berühmten Roman Fahrenheit 451 von etwas ganz ähnlichem gesprochen.

Politische Bewegungen wie ATTAC versuchen den Einfluss von multinationalen Konzernen zurückzudrängen, versuchen die Auswirkungen der Globalisierung zu bekämpfen. Wie stehen Sie zu diesen Bewegungen? Können sie das Schicksal der Weltgemeinschaft ändern?

Man kann nicht sagen, dass diese Initiativen nichts bewirken. Diese Initiativen auf Gemeindebasis, die Demonstrationen in Seattle und anderswo, die Arbeit von amnesty international, die Wiederbelebung der Gewerkschaftsbewegung sind alle im lokalen Zusammenhang und in kurzen Zeiträumen notwendig und wertvoll. Aber ich glaube nicht, dass damit der Niedergang im Großen aufgehalten werden kann und sicherlich nicht jetzt: Die Dinge haben sich zu weit entwickelt.

Das 20. Jahrhundert wird das "amerikanische Jahrhundert" genannt. Was bedeutet das für Europa und für all die anderen Länder auf der Welt?

Was die politische und wirtschaftliche Hegemonie angeht, so scheint es angemessen, das 20. Jahrhundert das "amerikanische Jahrhundert" zu bezeichnen; seine Dominanz löste diejenige Großbritanniens nach dem Ersten Weltkrieg ab. Ich würde hinzufügen, dass was die kulturelle Hegemonie angeht, das 21. Jahrhundert das "amerikanisierte Jahrhundert" sein wird, verkörpert durch die Ausbreitung von Coca-Cola, MTV und Kentucky Fried Chicken in die entlegendsten Winkel der Welt. Keine gute Entwicklung meiner Meinung nach, vor allem weil wir auch eine "wirkliche" Kultur haben, Schriftsteller wie Don DeLillo beispielsweise oder Komponisten wie Miles Davis, aber die Flutwelle der Globalisierung (wirklich ein phantasievoller Name für Imperialismus) ist einfach zu stark.

Nehmen Sie die Handys als Beispiel: Man sieht diese Technologie im kleinsten italienischen Dorf. Mit welchem Ergebnis? Sie erweitert die Sphäre der Arbeit und des Business in jeden Bereich des menschlichen Lebens und reißt die Barrieren zwischen Öffentlichkeit und Privatleben nieder.

Seit dem 11. September hört man viel vom "Angriff auf die westliche Zivilisation". Was halten Sie von dieser Aussage?

Ich glaube nicht, dass man den Angriff auf das World Trade Center - so schrecklich er auch gewesen ist - als Angriff auf die westliche Zivilisation bezeichnen kann. Die Terroristen wählten ihre Ziele sehr sorgfältig aus. Sie steuerten ihre Maschinen schließlich nicht in die Freiheitsstatue oder beispielsweise in die Columbia University. Das wäre wirklich ein Angriff auf die westliche Zivilisation gewesen, auf die Symbole der Aufklärung.

Aber diese Symbole repräsentieren das heutige Amerika nicht mehr, die Wall Street dagegen umso mehr. Und wenn eine Kultur den Punkt erreicht, an dem Geld und Konsum die wichtigsten Werte geworden sind, dann ist die Kultur wirklich am Ende.


Das ist eine Kultur, in der die Welt der Waren mit Lebensqualität verwechselt wird. In dem Maße, in dem Europa dem verführerischen Ruf dieses Denkens widerstehen kann und darauf beharrt, dass Geld und Geschäft Mittel sind, nicht Zweck, solange wird es seinen Bürgern ein sinnerfülltes Leben bieten können. Man kann nur darauf hoffen.

Interview und Übersetzung von Jürgen Sander
www.buechergilde.de
 
aus der Diskussion: Sittin Bulls elitärer Diskussionsthread für Biospohisten
Autor (Datum des Eintrages): sittin bull inv  (19.03.03 19:16:36)
Beitrag: 81 von 103 (ID:8931786)
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