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Johannes Heinrichs:




SPRUNG AUS DEM TEUFELSKREIS

Kapitel:
DIE LIEBE UND DAS LIEBE GELD




"Der Kostenpunkt scheidet uns voneinander."
(Ingeborg Bachmann, Die Zikaden, München 1962, 110)
Liebe kann unter den Bedingungen des heutigen Geldwesens in vielfacher Hinsicht schlecht gedeihen. Das scheinbar Private hängt von der öffentlichen Institution des Geldwesens ab. Erst recht Liebe in ihren nicht so privaten, die Menschheit umfassenden Formen, wie die Fernstenliebe zu den täglich Verhungernden, Hoffnungslosen und Unterdrückten.

6.0.1. Einleitendes


6.0.1.1. Tausch und Freundschaft
"Beim Geld hört die Freundschaft auf", heißt es oft. Was wir hier leider manchmal erfahren müssen, läßt sich philosophisch beschreiben. Der auf der wirtschaftlichen Ebene berechtigte Eigennutz schlägt in die Sphäre der höheren (kommunikativen) Gegenseitigkeit der Freundschaft durch, weil die derartige Gegenseitigkeit zu schwach ausgeprägt ist.[42] Das Strukturgesetz von Freundschaft kann das ihm vor- oder untergeordnete Gesetz des (strategischen) Eigennutzes nur in sich "aufheben" (bewahren und in die höhere Stufe integrieren), wenn die eigentliche Freundschaft stark genug ausgeprägt ist. Wo die scheinbare Freundschaft nur ein strategisches Zweckbündnis ist, zerbricht sie, sobald finanzielle Konflikte auftreten, die nicht mehr überwindbar zu sein scheinen.
Kennzeichnend für Freundschaft sind nicht der wohlberechnete Gütertausch oder die jeweilige Interessenverfolgung, sondern das freigebige Schenken. Wo dieses nicht funktioniert, selbst wenn es eine Zeit lang einseitig bleiben kann, wo die Gefühle des Ausgenutztwerdens oder die Absicht der Ausnutzung sich einschleichen und tonangebend werden, hält die Freundschaft nicht stand. Leider ist ein Großteil unseres heutigen Schenkens insgeheim zu Gütertausch oder Zweckbündnis verkommen. Wer kann noch schenken und ein Geschenk annehmen, ohne gleich an Ausgleich zu denken? Das vertrauensvolle, liebevolle Umsonst wird erdrückt vom allgemeinen Tauschdenken.
Es scheint: Gerade weil Tausch da, wo er zurecht maßgebend und in Ordnung ist (im wirtschaftlichen Gütertausch zu beiderseitigem Überleben und Vorteil), er aber vom Geld als Kapital überfremdet und in seinem richtigen Funktionieren völlig verdunkelt wird, schleicht sich als "Ersatz" ein verkürzendes Tauschdenken dort ein, wo die höhere Gegenseitigkeit des nicht berechnenden Schenkens am Platze ist.

6.0.1.2. Käufliche Liebe
Hört nicht auch die Liebe leicht auf, wo Geld ins Spiel kommt? Statt Ausdruck zu sein von Liebe als Freiheit mitsamt ihrer wunderbaren paradoxen Fähigkeit, sich selbst wegzugeben, wird im Extremfall die völlig losgelöste Sexualität zum Ausdruck der Ausbeutung eines gesellschaftlichen Liebes-Notstandes, als käufliche Liebe; ganz zu schweigen vom ökonomischen Notstand der Prostituierten, wird hier der Versuch gemacht, mit Geld etwas grundsätzlich nicht Käufliches zu erlangen.
Prostitution ist die zur öffentlichen Unkultur der Liebe notwendige Subkultur. Sobald und solange es diese Subkultur in größerem Umfang gibt, ist sie ein untrügliches Anzeichen dafür, daß in einer Kultur die Liebe Schaden nimmt. Insofern stellt das Naserümpfen anständiger Bürger über die unanständigen Individuen ein Beispiel für die individuelle Moralisierung eines gesellschaftlichen Problems dar. Prostitution beinhaltet weniger ein individuelles Fehlverhalten als vielmehr einen öffentlichen Notstand.
In einer Gesellschaft stimmt Grundlegendes nicht, in der Menschen den wahnwitzigen Versuch machen müssen, sich Liebe zu erkaufen. Nicht einmal das sexuelle Begehren als solches kann ohne Gegenseitigkeit und ohne Begehrtwerden der/des anderen zur Befriedigung gelangen. Was weiters nicht stimmt, ist unter anderem die noch fortwirkende traditionelle Sexual- und Ehemoral, welche die Prostitution notwendig machen, indem sie die Ehe zum Besitzverhältnis abstempeln, indem sie auch inhalts- und lustlos gewordene Ehen zum einzig legitimen Ort sexueller Begegnungen erklären und indem sie die unverklemmte Begegnung der Geschlechter mit echten Verantwortungsmaßstäben blockieren.
Die gewerbliche und quasi-gewerbliche Ausübung käuflicher "Liebe" bildet aber nur einen Ausschnitt aus dem größeren Bereich der verdeckten, informellen Prostitution: Erpressung wirtschaftlich und sozial abhängiger Menschen zu sexuellen oder anderen Handlungen. Das Wirtschaftliche dringt auf breiter Front ins Spiel der Liebe ein.

6.1. Ehe als Wirtschafts- oder Liebesgemeinschaft?
Nicht fern liegt die These, die Institution der Prostitution sei die logische Ergänzung zum traditionellen Eheverständnis: Ehe als Vertrag, der zum mindesten dem Mann das ausschließliche Recht auf den Körper der Frau gibt, sowie die Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft.
Historiker belehren uns, daß die eigentliche Liebesehe kulturgeschichtlich neu sei. Manche kirchlich orientierte Soziologen erblicken in der Verbindung von Ehe und Liebe gar die eigentliche sexuelle Revolution (Andrew Greely in "Erotische Kultur"). Doch diese Version ist eher ein Manöver, die durch die sexuelle Revolution unseres Jahrhunderts längst in Gang gekommene Loslösung von Liebe und Ehe zu überdecken. Die enorm gestiegenen Scheidungsziffern bestätigen: Wo Liebe in der Ehe nicht mehr erlebt wird, hält man sie nicht mehr für sinnvoll fortsetzbar. Der Ausstieg wird oft unter erheblichen materiellen Opfern gesucht, mit oder auch ohne schon vorhandene Aussicht auf eine neue, dauerhafte Liebe.
Es sind zwei Strömungen zu unterscheiden: Zum einen die Entflechtung der Wirtschaftsgemeinschaft Ehe von der Liebe. Vor allem die Frauen sind in großer Zahl nicht mehr bereit, aus wirtschaftlichen Rücksichten die Ehe fortzuführen. Sie finden den Mut zum Ausstieg, auch wenn er mit großen wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheiten (der alleinerziehenden Mütter beispielsweise) verbunden ist. Daß die Ehe in hohem Maße Wirtschaftsgemeinschaft war und immer noch ist, läßt sich bei aller Beschwörung der Heiligkeit der Ehe nicht leugnen. Gerade deshalb läßt sich die These, Prostitution sei die allzu logische Ergänzung zur Ehe als wirtschaftlicher Zwangsgemeinschaft, nicht von der Hand weisen: Der gemeinsame Nenner ist wirtschaftliche Nötigung!
Zum anderen geht es in der Diskussion um die Ausschließlichkeit des sexuellen "Besitzes", also um sexuelle "Treue" und freie Liebe. "Liebe kann nicht eingezäunt werden", schreibt Sabine Lichtenfels in einem mutigen Buch dazu:
"Liebe ist keine Privatsache. Das weiß die neue Frau. Du kannst nur treu sein, wenn du auch andere lieben darfst. Treue bewährt sich nicht durch die Ausschließung, sondern durch die Einbeziehung anderer. Das ist ein selbstverständlichen Prinzip einer neuen weiblichen Ethik. Eifersucht gehört nicht zur Liebe, sondern zu einem krankhaften System von Verlustangst und Mißtrauen. Für die Verwirklichung freier Liebe und dauerhafter Treue brauchen wir Gemeinschaften, in denen Wahrheit, Transparenz und Vertrauen entstehen können. Die Befreiung der Liebe von Angst, Einengung, Anklammerung und falschen Treueschwüren geschieht durch Vertrauen. Treue entsteht dort, wo wir selbst uns entscheiden, dem, was wir lieben, treu zu werden und dafür öffentlich einzutreten. Wenn eine Frau im Zustand der Liebe ist, kann sie niemals verlassen werden."[43]
Diese prekäre Diskussion kann hier nicht zu Ende geführt werden. Zu bejahen ist jedenfalls - hierin liegt die Verbindung der beiden Strömungen wirtschaftliche Emanzipation der Ehe und "freie Liebe" - die radikale Entflechtung von Liebe und wirtschaftlichem Besitzdenken.
Erst wenn die Ehe von finanziellen Zwängen befreit ist, die von den jetzigen Steuervorteilen für Verheiratete geradezu staatlich gefördert werden, wird deutlicher werden, wie sich die falschen Besitzansprüche auf Seele und Körper des anderen Menschen auswirken und der positive Sinn von freier Treue als der zeitlichen Dimension der Liebe klarer erlebbar werden.
Der im vorigen Kapitel besprochenen überrationalen Wertung und zwischenmenschlichen Wertekommunikation ist gerade in Sachen Liebe und menschliche Verantwortung mehr Kompetenz beizumessen als kirchlich-staatlichen Gesetzesvorschriften. Verantwortungsbewußtsein und soziale Kommunikation in Werten funktionieren nur unter Bedingungen der Freiheit und der zugetrauten Entscheidungsfähigkeit.

6.1.1. Exkurs über Geld und Liebe bei Marx
Wieviel am Menschen ist käuflich und verkäuflich im bestehenden Geldsystem? Karl Marx hat die geheimnisvolle Macht des Geldes, alle natürlichen Werte zu verkehren, treffend zur Sprache gebracht:
"Das Geld verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn.(...) Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluß auf andere Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen - und zu der Natur - muß eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, das heißt wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch eine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück."[44]
Das Geld aber bringt diese natürlichen Verhältnisse völlig durcheinander und macht sie unkenntlich. Es entsteht eine allgemeine Käuflichkeit, für den, der über diesen Joker ausreichend verfügt: Liebe, Wissen, Wahrheit, Bildung, Kunstverstand, Schönheitssinn, Geltung und Ehre, politische Macht, selbst das Recht, werden allesamt käuflich. Wer meint, hier handle es sich (zumindest im Hinblick auf heute) um Übertreibungen eines Prinzipienreiters, hat bisher nur einen kindlich naiven Einblick in unsere sogenannte demokratische, an den kommunikativen, "menschlichen" Werten orientiert sein wollende Gesellschaft gewonnen.
Heute wird der Zusammenbruch des sogenannten Sozialismus[45] zum Vorwand genommen, Marx für schlechthin widerlegt und unsere Demokratie für "in Ordnung" zu halten: eine gewaltige Täuschung der Gedankenlosigkeit.
Gerade am Beispiel Liebe will Marx verdeutlichen, daß alles am Menschen und in der Gesellschaft zum Tauschwert gegen das heutige "Äquivalenzmaß" Geld verfälscht werden kann, während die echten Qualitäten des Menschen ebenso wie die echten Gebrauchswerte der Güter auf einmal eine untergeordnete Rolle zu spielen beginnen. Marx hat allerdings nicht gesondert hervorgehoben, was genau am Geld es ist, was ihm eine derart "entfremdende" Rolle für das zwischenmenschliche Leben gibt.
So kann der Eindruck entstehen, daß er das Geld als solches, zusammen mit dem Verhältnis zwischen Geldbesitzer und Arbeiter, für dieses gesellschaftliche Unheil verantwortlich machte. Silvio Gesell gewann die zugespitzte Einsicht, daß speziell die Zinswirtschaft das Geld vom Tausch zum sich selbst vermehrenden Akkumulationsmittel und somit zum Unheil macht, indem es selbst von seiner primären Funktion entfremdet wird, allgemeines Tauschmittel, also gesteigerte Ermöglichung und Erleichterung des Gütertausches zu sein. Es sollte, von der Liebe als Hauptbeispiel ausgehend, auf die alle menschlichen und gesellschaftlichen Werte verfremdende, den Menschen also sich selbst und seinesgleichen wie seinem Arbeitsprodukt entfremdende Wirkung allgemeiner hingewiesen werden.

6.2. Ungeliebte Arbeit als "Prostitution"
Im Unterschied zur Liebe scheint die Arbeitskraft des Menschen käuflich zu sein. Dabei gibt es eine ständige Nötigung durch das Geld im Bereich jenes gesellschaftlichen Handelns, das wir Arbeit nennen.
Nicht bestritten wird, daß Arbeit sowohl aus der Sicht des einzelnen wie auch der Gesellschaft notwendig und sinnvoll ist. Vergessen wurde aber, daß Arbeit trotz ihrer Mühe Freude machen kann und soll, daß sie auf jeden Fall als sinnvoller Dienst an der Gesellschaft erfahren werden muß. Nicht alle Erfahrung oder Ahnung von Sinn ist allerdings zugleich unmittelbare Lust- und Glückserfahrung.
Wo der Mensch mit seiner Liebe wie mit seinem ganzen Streben und Tun käuflich wird, indem wirtschaftliche Not, indem ein ganzes System ihn dazu zwingt, Dinge zu tun, die er aus freiem Antrieb niemals tun würde, kommt so etwas wie allgemeine Prostitution im übertragenen Sinne zustande.
Wo Menschen sich ohne Freude an der Mühe der Arbeit - und sei diese Freude "nur" die Einsicht, daß ihre Arbeit ein Dienst fürs soziale Ganze ist - "verdingen", sich demnach zum Ding herabwürdigen müssen, gleicht die Arbeit der Prostitution.
Wie Prostitution eine Karikatur von Liebe, sogar von lustvoller sexueller Liebe, darstellt, so auch die Arbeit, die nicht im Bewußtsein eines sozialen Dienstes getan werden kann. In Arbeit ohne Liebe, also in sinnloser Arbeit oder seiner persönlichen Natur widerstrebender Arbeit, prostitutiert sich der Mensch. Die Arbeit, die eigentlich mit Liebe (wenn auch nicht immer ohne Mühe) verrichtet werden müßte, wird ausschließlich um des Geldes willen geleistet. Wo dies auf Dauer und in großer Breite geschieht - und das ist in unseren reichen Ländern mit ihrer Überproduktivität ebenso der Fall wie in den sogenannten Entwicklungsländern - , handelt es sich um eine Entwürdigung des einzelnen und um einen gesellschaftlichen Mißstand: Er ist einer der vielen Folgen unseres monetären Systems.
Woran liegt es sonst, daß die Mehrzahl der Menschen ihre Arbeit nicht als Beitrag zu einem großartigen, sinnerfüllten Ganzen liebt, daß die meisten Menschen vielmehr den (ebenfalls kapitalistisch dirigierten) kurzen Jahresurlaub als ihre eigentliche Lebenszeit fixieren? Diese Überbewertung des Urlaubs entspringt der Lust- und Geistlosigkeit unseres Arbeitsbetriebes, und diese wiederum den monetären Grundlagen unseres Systems.
Die Begleiterscheinung der prostituierten Arbeit primär im Dienste des Geldsystems ist die Arbeitslosigkeit. Wenigstens durch sie sieht sich unser heutiges Wirtschaftssystem selbst in Frage gestellt, wenngleich nur deshalb, weil sie mittlerweile zu kostenaufwendig wird. Anfang der achtziger Jahre machte sich bereits eine strukturelle Arbeitslosigkeit mit über einer Million Arbeitsloser in der Bundesrepublik Deutschland deutlich bemerkbar. Der politische Zynismus, mit dem damals bereits eine Zweidrittel-Gesellschaft - demnächst ist es eine Einfünftel-Gesellschaft - der am wirtschaftlichen Leben positiv beteiligten Menschen in Kauf genommen wurde, wird heute erst durch die öffentliche Geldnot, durch die nicht mehr tragbaren Kosten und Steuerausfälle, in Frage gestellt. Wäre es nicht zu teuer, würde man die Nichtbeteiligung eines kritisch hohen Prozentsatzes der Bevölkerung am wirtschaftlichen Leben weiter in Kauf nehmen.

6.2.1. Opportunismus
Die menschliche Würdelosigkeit, mit der nicht allein die Arbeitskraft, sondern darüber hinaus Wahrheits- und Wertüberzeugungen, auch Werte der Liebe und Freundschaft, wegen vordergründiger Vorteile preisgegeben werden, hält jeden Vergleich mit der bloß körperlichen und aus der Not geborenen Prostitution aus!
Diese Zeitkrankheit Opportunismus, von der wir gegenwärtig in geschichtlich nie dagewesenem Ausmaß befallen sind, kann man zutreffend als geistige Prostitution bezeichnen.
Wir leben in einer Gesellschaft der unerhört florierenden Geistes- und Seelenprostitution. Das ist keine Subkultur, wie das daneben noch harmlose sexuelle Prostitutionswesen, sondern eine Krankheit der Kultur selbst.
Opportunismus bedeutet: (unnötige) Verleugnung höherer Werte um vordergründiger Vorteile willen.[46] Wird Opportunismus zur Zeitkrankheit, ist er mit einer allgemeinen Wahrheits- und Wertrelativierung verbunden. Was bedeutet diese Art sozialer "Wendigkeit" in Bezug auf Liebe?
Es bedeutet, daß jemand hohe Werte der Liebe der vordergründigen Lust oder den vordergründigen sozialen und finanziellen Vorteilen opfert.
Was unter den eigentlichen Opportunismus in Liebesdingen fällt, sind vor allem die Verleugnung oder Vernachlässigung der Freundschaft um eines anderen Vorteils willen. Es geht dabei also um das `Nichtstehen` zu einer Freundin oder einem Freund, obwohl sie oder er es gerade nötig hätte. Wie verbreitet dieses Phänomen zu allen Zeiten war, besonders aber in Epochen geringer Freundschaftskultur wie der unseren, kann jeder Leser selbst beurteilen.
Eine andere Art von Opportunismus scheint allerdings in früheren Zeiten mindestens ebenso floriert zu haben wie heute: die Partnerwahl aus Rücksichten, die der Liebe fremd sind, ja gegen den Spruch des Herzens - aus Gründen des sozialen Ansehens, Standes, Konfession, Berufes, der offiziellen Bildungsnormen - und natürlich wegen des "lieben" Geldes selbst.

6.3. Menschenliebe nicht ohne Liebe zum Einzelnen
Wie leicht wird die "Bruderliebe" von religiösen Institutionen zur salzlos-unverbindlichen, allgemeinen Menschenliebe heruntergeredet, dem der Einzelne im Grunde von Herzen gleichgültig ist! Es ist eine alte, doch in der Moderne vollends ideologisch gewordene Zumutung, prinzipiell alle Menschen (oder zumindest alle Glaubensgenossen) zu lieben - unter Verzicht auf besondere Zuneigung und Intimität mit dem einzelnen geliebten Menschen.
Im Namen solcher (für Fanatismus anfällige, bloß allgemein Menschen liebende) können Menschen dazu gebracht werden, einzelne Mitmenschen als Hexen, Ketzer oder boshafte Feinde aus der allgemeinen "Bruderschaft" auszustoßen.
Allgemeine Menschenliebe kann nur echt sein, wo der Einzelne in seiner Einzelheit ernstgenommen wird. Was auf viele Weisen geschehen kann. Was sich am klarsten manifestiert in der unbedingten Verbundenheit mit einem oder wenigen einzelnen Menschen. Ohne konkrete, und nicht allein karitative, Zuwendung zu Einzelnen bleibt die Liebe zu allen nur ein leeres Wort.

6.4. Liebe zum Einzelnen nicht ohne allgemeine Humanität
Doch die Liebe zu Einzelnen kann, so wahr sie Liebe ist, auch umgekehrt die Menschheit nicht vergessen. Die allgemeine Menschenliebe folgt, wo sie echt ist, aus dem religiösen oder spirituellen Charakter der Liebe, sei es rein humanistisch-spirituell, sei es gottgläubig-religiös, wie immer man Gott versteht.
Wie wir die Menschheit und Menschenliebe heute zu sehen haben, ist eindeutig: als eine zusammengewachsene Sechsmilliarden-Einheit, in der 90 % an Mangel leiden. Jedes der großen Ballungszentren ist mit dem Flugzeug innerhalb eines Tages zu erreichen. Kaum gibt es noch Menschen, die nicht die konkrete Einheit der Menschheit spüren. Was sie allerdings auch spüren und wofür wir Westler oder Bewohner der Nordhalbkugel so unempfindlich sind, ist die unerhörte Trennung dieser einen Menschheit durch Armut und soziales Elend - immer noch durch den Hunger!
Mitleid mit den Armen ist keine Liebe, solange ich mich nicht selbst als einer von ihnen fühle und ihr Leid mein eigenes ist, das ich nicht mehr vergessen kann. Liebe geschieht nie vom hohen Roß herab.
Wer immer sich auf Liebe berufen will, darf die Zuwendung zum einzelnen nicht als Vorwand nehmen für Gedankenlosigkeit im Hinblick auf Weltzusammenhänge. Wohl mag der einzelne seinen Beruf wie seine innere Berufung zunächst im kleinen Kreis oder im Dienst an einzelnen sehen: als Handwerker(in), Lehrer(in), Arzt (Ärztin) oder Therapeut(in), oder "einfach" als Mutter (Vater). Nicht jeder muß auch im gleichen Maße politisch interessiert sein, einfach weil die Begabungen und Interessen zum Glück vielfältig sind.
Doch gerade der Geist der Liebe fordert heute, in einer zusammengewachsenen Welt, sich Gedanken über die allgemeinen, nationenübergreifenden Strukturen von Recht oder Unrecht, von Wohlfahrt oder Elend zu machen.
Die "Dritte Welt" ist in vielfacher Weise unsere eigene Welt, nicht zuletzt deshalb, weil wir deren Güter kaufen und unsere an sie verkaufen. Durch diese Tausch- und Geldgeschäfte greifen wir (kollektiv, aber auch einzeln) zutiefst in deren Sozialstrukturen ein. Wir können nicht die Unbeteiligten spielen.

6.4.1. Menschenliebe als beständiges Sinnen auf Veränderung
Wer von Menschenliebe spricht, braucht heute nicht mehr wie ein Albert Schweitzer in die Dritte Welt zu gehen. Er muß hier bei uns auf grundlegende Änderung hin denken und handeln. Es ist nicht mit jenen Alibi-Kollekten immer noch missionierender und karitativer Institutionen getan.
Solche Maßnahmen, sofern sie nicht ereignishafte Katastrophenhilfe darstellen, sind ähnlich dazu geeignet, die strukturellen Grundprobleme der Weltwirtschaft ideologisch zu verschleiern, wie die bekannten Appelle an Liebe, Hilfsbereitschaft, Friedfertigkeit und sonstige Ethik der einzelnen.
Liebe zum Menschen allgemein kann heute nur rastloses Bedenken und Vorbereiten der Veränderung bedeuten.
Der Liebe fehlt es nicht zuerst in der Dritten Welt an durchdachter "Gesellschaftsfähigkeit", sondern vor allem bei uns selbst, solange wir uns gedankenlos einer Illusion von stets wachsendem Wohlstand und von funktionierender Demokratie, unter den gegenwärtigen monetären und verfassungsmäßigen Bedingungen, hingeben.
Demokratie kann nicht funktionieren, solange in ihr die Wirtschaft als das Basissystem alles dominiert und solange diese selbst vom Zinssystem hoffnungslos verzerrt wird. Unsere sogenannte Politikverdrossenheit braucht sich gar nicht diffamierend gegen einzelne Politiker zu richten und an ihnen abzureagieren. Wir brauchen diese wertvollen Verdrossenheits-Energien für intelligente Strukturveränderungen.
Viele Rädelsführer und unbewußt profitierende Rädchen des Systems haben alles Interesse daran, die Liebe als bloße Gefühlsseligkeit zu sentimentalisieren. Es ist das Interesse von Trägheit und Egoismus derer, die auf die Sonnenseite des Lebens geraten sind, ohne die dafür erforderliche Intelligenz und Charakterstärke mitzubringen.

6.4.2. Die ideologische Entgegensetzung von Kopf und Herz
Der intensiv Liebende denkt bekanntlich ständig an den anderen Menschen, mit Kopf und Herz. Liebe ist ein Denken mit Gefühlsresonanz. Die Gefühle selbst sind eine Art "gelebtes Denken" - im Unterschied zum Nach-denken, das sie so gern "aufklären" will, ohne jemals zu Ende zu kommen.
Deshalb ist nur der stark Erlebende zum professionellen Denken geeignet. Wir brauchen nicht den Kopf zu verleugnen, um das Herz sprechen zu lassen, wie uns heute modische Oberflächen-Psychologien weismachen wollen.
Es vergeht kaum eine Diskussion außerhalb der akademischen Tabu-Zonen, ohne daß diese unselige Entgegensetzung zugunsten des Gefühls gemacht wird, als Ventil und Rache dafür, daß die gefühlsmäßige Ganzheit des Menschen ihrerseits innerhalb der Universitäten zugunsten des angeblich reinen Denkens verleugnet wird. Lieber ein von eigenen Gefühlen geleitetes als ein von parteilichen Interessen korrumpiertes Denken!
Die Sackgassen des Abendlandes gehen nicht auf seine tatsächlich besondere Kultivierung des Denkens zurück, sondern auf falsches und oberflächliches Denken und dessen Verwirrung. Die größten denkerischen Leistungen Deutschlands (zur Zeit des deutschen Idealismus) gingen Hand in Hand mit größter künstlerischer Empfindsamkeit und Produktivität, übrigens auch mit politischer Veränderungskraft.
In vielem eilen Gefühl und Intuition dem Denken voraus. Die Einsichten Gesells waren ohne viel Intuition gar nicht möglich. Sie waren zweifellos auch von dem Gefühl getragen, das unzählige Menschen haben: daß etwas mit unserem Geldsystem von Grund auf nicht stimmt. Es ist die Hellhörigkeit des Denkens auf solche Gefühle, geleitet vom unbeirrbaren Wahrheitswillen, wodurch es gelingt, das dunkel Gefühlte klar zur Sprache zu bringen.
Auf nationaler wie menschheitlicher Ebene zeigt sich Liebe nicht als kraftloses Schwärmen und Bemitleiden, sondern als erfinderisches, klares Denken und Handeln mit Mut.
Wie las ich kürzlich auf einem Werbeplakat? "Mut tut gut." Er hat geradezu therapeutische Wirkung in der kapitalistischen Gesellschaft des Opportunismus, der billigen Käuflichkeit von Überzeugungen.


http://www.uni-ulm.de/uni/intgruppen/memosys/tkreis08.htm
 
aus der Diskussion: Sittin Bulls elitärer Diskussionsthread für Biospohisten
Autor (Datum des Eintrages): sittin bull inv  (21.03.03 00:47:57)
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