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@ ChartJunkie

Vielen Dank für den Hinweis auf den Spiegel-Artikel.

Es ist immer dasselbe bei einschlägigen Presseprodukten in letzter Zeit:
Schürung von Hysterie und Privatisierung als angebliche Rettung.

Allianz & Co. sind aber keine Lösung. Selbst Immobilien oder (auch wenn es mir schwerfällt, das zuzugeben :cool: ) Goldbarren sind keineswegs gegen alle Unbill des Schicksals gefeit.

Wie "krisenfest" die gepriesene Privatvorsorge ist, sehen wir in den USA. Daß der Herr Professor und Institutsleiter ausgerechnet die Vereinigten Staaten als Vorbild nennt, ist blanker Hohn gegenüber den vielen Menschen dort, die teilweise, wenn nicht sogar vollständig ihre Privatvorsorge jüngstens verloren haben.

Oder ist es einfach so gemeint, daß bei einer Privatisierung sich der Staat um diejenigen nicht weiter kümmern muß, die das Pech hatten, ihr Geld falsch anzulegen? Dann macht das alles natürlich Sinn. Warum wird diese Kehrseite verschwiegen? Aber was kümmern solch naheliegende Fragen den beamteten deutschen Professor: Er hat seine Staatspension sicher.

Für mich sind solche "Lösungen" bloße Werbesprüche von Versicherungsvertretern. Das hat mit seriöser Wissenschaft nichts mehr zu tun.

Gewiß, ein Wissenschaftler, der nicht hysterisch, sondern differenziert argumentiert, der es obendrein vermeidet, den Menschen eine vermeintlich sichere Privatlösung für ein gesellschaftliches Problem anzubieten, der bekommt heutzutage kaum eine Schlagzeile.

Aber stehen wir tatsächlich in Deutschland vor einer demographischen Katastrophe, wie in diesem Artikel und in vielen anderen behauptet wird? Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine Talkshow-Weisheit, der man nicht widersprechen darf, wenn man von den Millionen Demographie-Spezialisten in Deutschland nicht zerrissen werden will.

Entgegen dem, was man gemeinhin der Öffentlichkeit suggeriert, sind demographische Prognosen mit vielerlei Unwägbarkeiten behaftet, sogar dann, wenn es nur um wenige Jahrzehnte geht (eine in der Demographie kurze Zeitspanne). Noch unsicherer sind Prognosen über die Auswirkung unterschiedlicher Altersstrukturen auf das Wirtschafts- und Sozialsystem.

Diese Prognosen beruhen auf mathematischen Modellen. Das menschliche Verhalten ist viel zu komplex, als daß es sich damit beschreiben oder gar vorhersagen ließe.

Auf jeden Fall ist es unseriös, wie es in dem Spiegel-Artikel geschieht, bestimmte Trends als Gewißheit hinzustellen. Nur gut, daß schon in wenigen Jahren kaum jemanden das schlagzeilenträchtige Geschwätz von heute mehr kümmert.

Auffällig ist auch, daß der Herr Professor eine Erhöhung der Geburtenrate einer vermehrten Einwanderung vorzieht. Warum eigentlich diese Präferenz? Sonst heißt es immer: Wir leben im Zeitalter der Globalisierung, und wir dürfen Probleme nicht mehr im beschränkt-nationalen Rahmen sehen. Besteht auf globaler Ebene Bevölkerungsmangel?

In den meisten einschlägigen aktuellen Diskussionen, auch in dem Spiegel-Artikel, ist die Fehlannahme impliziert, es gebe so etwas wie eine biologische Homogenität der Nation. Demgegenüber seien Veränderungen der demographischen Struktur durch (Zu- oder Ab-) Wanderung die historische Ausnahme. Dabei ist alle Geschichte die Geschichte von Wanderungen. Und für kaum ein Land Europas gilt das mehr als für das große Land in der Mitte des Kontinents - und in kaum einem anderen Land ist man diesem historischen Faktum gegenüber so blind und verfällt in Panik, wenn vermehrte Wanderungsströme auftreten. Nur die Objekte der Angst wechseln: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts die polnischen Einwanderer, heute eben andere Gruppen.

Wenn man nun aber, wie der Herr Professor, auf Dauer eine erhöhte Geburtenrate in Deutschland vermehrter Einwanderung vorzieht: Wie soll dies geschehen? Das ist ein kaum verdeckter Aufruf an die Regierung, doch bittesehr regulierend einzugreifen. Es sollte bekannt sein, wohin derlei Planungsversuche in der Ökonomie und erst recht im Bereich der menschlichen Reproduktion führen: Das ist zum Scheitern verurteilt und darüber hinaus mit einer freiheitlichen politischen Ordnung unvereinbar. - Und es kontrastiert merkwürdig mit dem neoliberalen Plädoyer des Herrn Professors und Institutsleiters für eine entstaatlichte, rein private Altersvorsorge.

Eines wird in dem Artikel und in den einschlägigen Diskussionen in Deutschland übergangen: Die derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme sind nicht demographisch bedingt, sondern gründen in der Krise der Weltwirtschaft und des Weltfinanzsystems sowie in der Wiedervereinigung. Das zu verschweigen und statt dessen über möglicherweise eintretende demographische Probleme zu reden, ist eine Flucht vor den Fragen, die hier und heute zu lösen wären. Typisch ist doch das Verfahren von Agenda 2010: Schwadronieren über Erhöhung des Renteneintrittsalters für das Jahr 2011 - und dann die traurige Wahrheit, daß infolge der Wirtschaftskrise aktuell Ebbe in der Rentenkasse ist. Es werden Prognossen über die nächsten 50 Jahre als Gewißheiten hingestellt und oftmals sind genau dieselben Leute, die damit herumrennen, unfähig, auch nur die Kassenlage des nächsten Quartals richtig einzuschätzen. Das ist einfach lachhaft.

Bemerkenswert ist allemal, daß man in Deutschland über Generationen hinweg immer wieder denselben Obsessionen verfällt - nur die Vorzeichen haben sich geändert:

Vom `Volk ohne Raum` zum `Raum ohne Volk`
 
aus der Diskussion: Märkte (4. Teil) - und die Zukunft der Weltwirtschaft
Autor (Datum des Eintrages): Leghorn  (01.06.03 11:57:16)
Beitrag: 2,519 von 2,651 (ID:9617855)
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