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Eine knappe Woche hier nicht reingeschaut - und eine muntere Diskussion verpaßt.

Nun denn, einige Bemerkungen von mir zu Punkten, über die ich glaube, mich äußern zu können:

1. Argentinien:

Wirtschaftshistorisch ein erhellendes Beispiel für die Gründe, wie eine Volkswirtschaft abrutscht. Und es ist m.E. ein schlagendes Argument gegen Grundrezepte des heute allüberall propagierten Neoliberalismus.

Was @konradi dazu schreibt, kann ich nur unterstreichen und ergänzen.

Man vergleiche die Entwicklung Argentiniens mit derjenigen Australiens seit dem 19. Jahrhundert: Bei sehr ähnlicher wirtschaftlicher Ausgangslage, der Struktur der Binnenwirtschaft und des Außenhandels fällt Argentinien im Laufe des 20. Jahrhunderts immer weiter zurück. Warum?

Es ist die politische Entwicklung: in Australien die Herausbildung einer die breiten Massen einbindenden Demokratie, einschließlich starker gewerkschaftlicher Interessenvertretungen, die eine sukzessive Erhöhung des Lohnniveaus erzwingen; in Argentinien dagegen verschiedene Ausprägungen oligarchischer Herrschaftsformen, die allenfalls (wie im Peronismus) eine symbolische Teilhabe der Bevölkerungsmehrheit zulassen, tatsächlich eine wirkliche politische Partizipation verhindern, was wirtschaftlich zur Folge hat, daß das Lohnniveau signifikant hinter dem australischen zurückbleibt. Die Verteilung des volkswirtschaftlichen Reichtums erfolgt einseitig zugunsten der Oligarchie.

Ergebnis in Argentinien: Keine Entfaltung des Binnenmarktes, übermäßige Abhängigkeit vom Export, für die Oligarchie lohnt es sich nicht, in die eigene Wirtschaft zu reinvestieren, Investitionen in den USA oder Europa sind lukrativer (sofern überhaupt investiert und nicht einfach Luxuskonsum betrieben wird). Es kommen hinzu Klientelismus und Hypertrophie des Staatsapparates. Potentiellen Unruhestiftern wird eine nette Staatssinekure gewährt - was die ohnehin schwache Wirtschaft weiter belastet. Politisch aber ist dieser Klientelismus erfolgreich, weil die so mit einem Pöstchen versehenen Menschen die Oligarchie unterstützen.

Aufschlußreich ist, daß Argentinien gerade in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, während der Großen Depression, eine relative Blütephase seiner Wirtschaft erlebte: die Investitionsmöglichkeiten in der übrigen Welt verringerten sich, also investierte die Oligarchie vermehrt im eigenen Land. Von daher ist es nicht der II. Weltkrieg allein gewesen, der dazu führte, daß Argentinien in den ersten Jahren nach 1945 Entwicklungshilfe für Europa leistete - eine heute kaum mehr bekannte Tatsache.

Da, über die verschiedenen politischen Regimes hinweg, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die skizzierte oligarchische Struktur bestehenblieb, fiel Argentinien wirtschaftlich wieder zurück, sobald in der übrigen Welt die Oligarchie erneut lohnendere Investitionsmöglichkeiten fand.

Die Beispiele Australien und Argentinien sind auch deshalb wichtig, weil die bei ihnen zu beobachtende Abhängigkeit der volkswirtschaftlichen von der politischen Entwicklung allgemein gilt - und damit ein zweites Thema berührt ist, daß in diesem Thread diskutiert wurde.

2. Kapitalismus nur Raub und Gewalt?

Wenn @ChartJunkie den Raub- und Gewaltcharakter des Kapitalismus betont, so ist das historisch nicht zu bestreiten. Aber es ist eben nicht die ganze Geschichte des Kapitalismus. Raub und Gewalt als Mittel zur Ansammlung von Reichtum sind nicht nur für den Kapitalismus kennzeichnend, sondern in allen uns bekannten Zivilisationen zu beobachten.

Was den Kapitalismus auszeichnet, ist gerade, daß er im Laufe seiner Entwicklung zugleich Methoden entwickelt hat, diese Phänomene einzuhegen, zu begrenzen - und gerade dadurch so historisch einmalig erfolgreich zu sein.

Wer hat Gold und Silber in der Neuen Welt aus dem Boden geholt, indem die "Eingeborenen" gnadenlos dabei verheizt wurden? Spanien. Wer hat von dem daraus entspringenden Goldzufluß des 16. Jahrhunderts schließlich profitiert? Die beiden damaligen Erzfeinde Spaniens: Holland und England. Auch letztere haben sich als (See-)Räuber betätigt. Aber ihre historische Bedeutung als die ersten im eigentlichen Sinn kapitalistischen Nationen gründet nicht in Raub und Plünderung, sondern darin, daß sie, im Unterschied zu Spanien, eine Form rationalen Wirtschaftens einführten, die bewirkte, daß der (zum Teil auch durch Raub gewonnene) Reichtum nicht einfach von der herrschenden Elite verprasst wird, sondern sich "vermehrt".

In politischer Hinsicht entscheidend war in beiden Fällen die frühe Herausbildung von Institutionen, in denen die besitzenden Schichten ihre Angelegenheiten selbst regelten. Damit war der vorher gegebenen dynastischen Willkür ein Riegel vorgeschoben - und überhaupt erst die Voraussetzung für eine geregelte Finanzierung staatlicher Aufgaben geschaffen. So war 1789 die englische Staatsverschuldung pro Kopf der Bevölkerung höher als die französische. Trotzdem kam es in Frankreich zu einer Staatsfinanzkrise, die schließlich in einen vollständigen Umsturz mündete. Weshalb nicht in England? Hier haftete, durch die Institution des Unterhauses, die gesamte besitzende Schicht für die Schulden. Das schuf ein Maß an Vertrauen, das in Frankreich fehlte, weil der Schuldner, die französische Krone, dieses Vertrauen im Laufe einer über 100jährigen Mißwirtschaft verspielt hatte. (Nebenbei gesagt: Frankreich versuchte während des ganzen 18. Jahrhunderts, dieser Schuldenfalle durch Privatisierung von Staatsaufgaben im großen Stil zu entrinnen - vergeblich. Die Geschichte dieser Privatisierung wäre von großem Interesse für die heutigen Politiker - aber wir haben ja, so heißt es, ganz andere Verhältnisse, weshalb sich alle diese Vergleiche verbieten ...)

Im 19. Jahrhundert kommt hinzu die Verbreiterung der politischen Basis durch Ausweitung des Wahlrechts auf nicht-besitzende Schichten und (damit verbunden) die Verabschiedung von Sozialgesetzen zum Schutz dieser Bevölkerungsschichten. Das alles nicht freiwillig, sondern aus Sorge vor revolutionären Tendenzen bei den Benachteiligten. Ein (nicht geringer) Teil der Elite warnte, politische Partizipation und Sozialgesetze würden zum Untergang führen usw. Es ist aufschlußreich, diese Warnungen vor wirtschaftlichem Verderben mit den heutigen Warnungen vor einem angeblich ausufernden Sozialstaat zu vergleichen: nichts Neues.

Was aber geschah? Entgegen den Unkenrufen führte gerade die Ausweitung der politischen Basis und die Einführung von staatlich garantierten Schutzmechanismen für die Unterschichten (über periodische Konjunktureinbrüche und verheerende Kriege hinweg) zu einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung.

Es gab freilich Alternativen, und nicht nur in Ländern der sog. Dritten Welt wie Argentinien kann man erkennen, wohin solche Alternativen wirtschaftlich und politisch führen. In der deutschen Geschichte ist zu besichtigen, wie man auf die Große Depression mit einer Beseitigung der Partizipation der Bevölkerung mit der Errichtung einer Diktatur reagierte und die Bevölkerungsmassen nurmehr symbolisch (via Massenaufmärsche, KdF usw.) "befriedigte". Entgegen einem bis heute unausrottbaren Mythos sank der Lebensstandard des deutschen Arbeiters zwischen 1933 und 1939. Haben Reallohnsenkung samt Ausschaltung der politischen Partizipation der Unterschichten und Vernichtung ihrer gewerkschaftlichen Interessenvertretungen wirtschaftlich irgendetwas gelöst? Immerhin war die Operation propagandistisch erfolgreich. Der Ausgang des Ganzen ist bekannt.

Ich bestreite nicht, daß zum Kapitalismus auch gehört der Raub am Menschen und der Raub an der Natur. Der große deutsche Soziologe Max Weber (kein Gegner des Kapitalismus) hat schon vor 100 Jahren hellsichtig geschrieben, daß dieses System solange bestehen werde, bis das letzte Stück Kohle verglüht sei.

Das ist eine ernstzunehmende Gefahr. Aber es ist keinesfalls ein Naturgesetz. Was geschieht, entscheidet sich durch menschliches Handeln, durch die Politik. Es gibt immer Alternativen, wie man mit Problemen umgeht. Wo steht denn geschrieben, daß wir Krieg führen müssen wegen Öl, statt daß wir massiv alternative Energien fördern? Wo steht geschrieben, daß auf die Krise mit der Einschränkung demokratischer Rechte und einem Abbau der Schutzmechanismen für die Bevölkerungsmehrheit reagiert werden muß? Ich war und bin kein Bewunderer von Al Gore. Aber es ist wohl kaum zu bestreiten, daß mit ihm als Präsidenten ein anderer Weg eingeschlagen worden wäre als der, den die Bush-Administration betreten hat.

mfg
Leghorn
 
aus der Diskussion: Märkte (4. Teil) - und die Zukunft der Weltwirtschaft
Autor (Datum des Eintrages): Leghorn  (07.06.03 18:54:15)
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