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    Katharinas Leben - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 02.10.05 11:21:57 von
    neuester Beitrag 03.01.12 11:44:08 von
    Beiträge: 60
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      schrieb am 02.10.05 11:21:57
      Beitrag Nr. 1 ()
      Niedergang einer Welt

      Katharinas Leben

      60 Jahre ohne Strom, Telefon und Wasserleitung: Auf dem niederbayerischen Bergsodler-Hof starb die letzte Bäuerin und mit ihr eine archaische Welt.
      Von Hans Kratzer


      Es war eine unruhige Winternacht, Schneewolken jagten über das Landshuter Unterland, ein Sturmwind fuhr feindselig in den morschen Dachstuhl des Bergsodler-Anwesens. Katharina Walker träumte unruhig, wachte auf, betete und schlief wieder ein.

      Kurz darauf drang im Halbdämmer ein fremdes Geräusch zu ihr, das nicht in die Tonart des pfeifenden Windes passte. Jemand schabte und rüttelte an der Haustür. Kathl erschrak. Wer um Himmels Willen trieb sich nach Mitternacht in dieser gottverlassenen Gegend herum, wer begehrte so spät noch Einlass?

      Bis sie sich aus ihrem Schlaf-Sessel erhoben hatte, rissen die Männer bereits die Stubentür auf. Die gute Frau war wie gelähmt: die fremden Stimmen, die polternden Stiefel, das gleißende Licht der Taschenlampen.
      Der alte Hof hatte Räuber angelockt.


      Auch wenn hier außer einem wurmstichigen Schrank kaum etwas zu holen war, so wussten sie doch, dass sie leichtes Spiel hatten: Die alte Bäuerin lebte allein in großer Weltabgeschiedenheit. Weit und breit gab es keine Zeugen, und die 86-jährige Greisin bedeutete keine Gefahr. Wenigstens ließen die Eindringlinge die Kathl am Leben. Den Hof verließ sie aber trotz dieses Schreckens nicht.

      Fast 60 Jahre lang hat Katharina Walker auf dem Bergsodler-Anwesen gehaust, das auf einem Höhenzug von schrundigen Obstbäumen beschirmt wird. Nach ihrer Hochzeit anno 1948 war sie auf den Hof gekommen, den sie bis zu ihrem Tod vor wenigen Tagen nicht mehr verlassen sollte.

      Ihr Leben war von radikaler Kargheit und Zurückgezogenheit geprägt. Der Bergsodler-Hof war so etwas wie eine Enklave des 19. Jahrhunderts im modernen Turbo-Bayern. Die Hilfsmittel der industriellen Landwirtschaft drangen bis zuletzt nicht bis hierher vor.

      Die Bergsodler-Leute bewirtschafteten einen kleinen Grund von "sechs Tagwerk und 25 Dezimai", wie die Kathl immer voller Stolz betonte. Sie rangen dem Boden die Kartoffeln und das Getreide noch mit schweißnasser Stirn, schwieligen Händen und krummem Buckel ab.

      Im Stall, der direkt an die Bauernstube angrenzte, war Platz für zwei Kühe und sieben Hühner. Im Streuobstgarten standen der Backofen und das Aborthäusl. Als der Ochse, der zum Pflügen eingespannt wurde, tot umfiel, war das ganze Vermögen der Eheleute Walker dahin. Jetzt mussten sie die Kühe einspannen, um das Getreide zu ernten.

      Am äußersten Rand der Gesellschaft lebend, blieben Kathi Walker und ihr vor zehn Jahren verstorbener Mann Josef bis zuletzt vom Fortschritt und vom Strukturwandel in Bayern gänzlich unberührt. Die beiden hatten nie in einen Fernseher geschaut, nie Musik aus dem Radio gehört, nie telefoniert, sie kannten weder Elektroherd noch Waschmaschine, ja nicht einmal fließendes Wasser und elektrisches Licht. Auf dem Bergsodlerhof gab es bis zuletzt keinen Strom.

      Wenn der Nordwind in kräftigen Stößen ins Dach fuhr, dann rußte der Ofen wie eine Dampflok. Wenn das Tageslicht verloschen war, spendete nur noch eine Petroleumfunzel etwas Licht in der finsteren Stube. Das Wasser holten die beiden in mühsamer Schufterei mit Kübeln aus dem 15 Meter tiefen Hausbrunnen. Das Geld war rar.

      Zwar stand der Kathl, weil sie 30 Jahre als Dienstmagd gearbeitet hatte, eine kleine Rente zu, aber weit ist sie damit nicht gekommen. Auf den Tisch kamen Milch und Kräutertee, mittags Kartoffelbrei und Zwiebeln mit Salz. Hin und wieder Eier.



      "Bockiger Sonderling"
      Josef und Katharina Walker hatten kurz nach dem Krieg geheiratet. Als Soldat war er in Frankreich am Kopf verwundet worden. Nachdem ihn die Amerikaner 1945 entlassen hatten, währte die Freude nur kurz.

      Walkers Papiere waren unter dubiosen Umständen verschlampt worden. Die Folgen bekam der Kriegsheimkehrer bitter zu spüren, denn er konnte seine Rentenansprüche nicht durchsetzen. Die Hintergründe liegen im Dunkeln. Möglicherweise wurden alte Rechnungen beglichen. Eine dürre Zeile in einem Protokollbuch lässt Platz für Spekulationen: "Ein bockiger Sonderling", notierte der Gemeindeschreiber im Dritten Reich.

      Der hagere Bauersmann reagierte verbittert und vollzog einen radikalen Protest. Zwar war Katharina nach stundenlangen Fußmärschen noch mehrmals in den Ämtern vorstellig geworden, doch vergeblich. Fortan nahmen die Eheleute Walker die Behörden nicht mehr zur Kenntnis.

      Mit stummer Widerspenstigkeit verhinderten sie, dass ihr Anwesen an Strom- und Wasserleitung angeschlossen wurde. Während der Fortschritt über die Nachbardörfer schwappte, waren die Bergsodler-Leute wieder im 19. Jahrhundert angekommen. Wie verloren stand der Hof in der Gegenwart und fesselte die beiden Verlierer unerbittlich an sich.

      Mit dem Sonnenuntergang begann die Nachtruhe, die aber um 3 Uhr früh schon zu Ende war. Die Viecher mussten gefüttert werden. In 50 Jahren wurde dieser Rhythmus nicht ein einziges Mal unterbrochen. "Krank war ich nie", sagte die Kathl immer, vielleicht auch deshalb, weil ihr der erste Arztbesuch in schlechter Erinnerung geblieben war.

      Als Mädchen war sie todkrank 25 Kilometer weit zu Fuß nach Landshut gelaufen. Der Doktor stellte eine Lungenentzündung fest. Tatsächlich aber hatte sie unreife Zwetschgen gegessen. "Wenn der des net gspannt, dann brauch i koan Doktor nimmer", sagte sie und zeigte sich seitdem gegen jeden medizinischen Rat resistent.

      Trotz der vielen Entbehrungen hat sich die Kathl stets eine bewundernswerte Fröhlichkeit bewahrt. Schon an den kleinsten Dingen erfreute sie sich wie ein Kind. Sie holte sich ihre Informationen nicht aus den Medien, sondern aus der Natur. Sie kannte die Blumen und die Vögel, wusste die beste Pflanzzeit und sagte exakt das Wetter voraus. Sie hatte keinerlei Bedürfnisse.

      Von ihrem Hof aus öffnet sich ein fantastischer Blick über verspieltes niederbayerisches Hügelland. Das Auge trifft auf stolze Vierseithöfe, barocke Zwiebeltürme und offene Wälder. Wenn die Bergsodlerin aufs Feld hinaus schlurfte, dann hat sie oft den Blick nach Süden gerichtet, Sehnsucht getankt in den mühsamen Stunden der Feldarbeit.

      Manchmal rückte der Föhn die Berge ganz nah heran. Für die Kathi blieben sie freilich unerreichbar. Aber diesen einen Wunsch hatte sie: "Wenn i nur einmal die Berge aus der Nähe sehen derfat . . ."

      Unter der strengen Fuchtel der Mutter hatte sie schon als Kind schwer arbeiten müssen. Gerne wäre sie ins Kloster gegangen, aber als "Bangert" (uneheliches Kind) blieb ihr dieser Weg verschlossen. So musste sie schon ganz jung als Bauernmagd verdingen. Sie kannte nichts anderes, und so verwundert es nicht, das sie sich nach dem Tod ihre Mannes beharrlich weigerte, den Hof zu verlassen.

      In den frühen 80er Jahren hatte die Fotografin Heidi Sendler das Leben auf dem Bergsodler-Hof in einem wunderbaren, aber längst vergriffenen Bildband dokumentiert. Sie war die einzige Chronistin dieser alten Welt, deren Untergang sich in den 80er Jahren bereits deutlich abzeichnete. "Josef und Katharina Walker leben mitten unter uns ein Stück Menschheitsgeschichte zu Ende", schrieb damals die schwer beeindruckte Schriftstellerin Ruth Rehmann im Begleittext.

      Noch zwei Jahrzehnte lang setzte Katharina dieses Leben mit großem Gottvertrauen fort. Auch wenn sie von den Weltläuften nicht viel mitbekam, so ahnte sie doch den Schrecken, der überall herrschte. Vor allem die Flieger, die seit einigen Jahren über ihren Hof düsten, zeigten ihr, dass sich die Welt abrupt veränderte. "Woanders will ich gar nicht hin", sagte sie. In den letzten Jahren besaß sie ein Radio. "In München is ja oiwei Stau", hörte sie dort. Das schreckte sie am meisten.

      Als Katharina Walkers Sarg im Baierbacher Dorffriedhof ins Grab gesenkt wurde, mischte sich unter die Gebete der Trauergemeinde das Gekreische eines Düsenjets. Wenn die Maschinen im Minutentakt auf den nahen Münchner Flughafen zuhalten, überfliegen sie den Friedhof und etwas später auch den Bergsodler-Hof.

      Den aber nehmen die Nomaden der Freizeit- und Business-Welt, die aus Mallorca, China und Australien zurückkehren, durch ihre Guckfenster in der Regel kaum wahr. Eher schon die Berge am Horizont, nach denen sich Katharina Walker ihr Leben lang gesehnt hatte.

      Am offenen Grabe streiften sich ein letztes Mal die archaische Welt der Bergsodler-Leute und das globalisierte Superbayern, in dem die schlichte alte Bauernheimat keinen Platz mehr findet. Katharina Walker und ihre Welt werden bald vergessen sein.

      (SZ vom 11.6.2005)
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      schrieb am 02.10.05 11:32:53
      Beitrag Nr. 2 ()
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      schrieb am 02.10.05 12:01:46
      Beitrag Nr. 3 ()
      so ist es,wenn die Stürme feindselig fegen :laugh:
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      schrieb am 02.10.05 12:22:18
      Beitrag Nr. 4 ()
      Ich finde diese Geschichte ist sehr feinsinnig geschrieben. Hans Kratzer hat wohl einen weiteren Preis verdient mit der Umschreibung von "Katarinas Leben".
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      schrieb am 03.10.05 11:15:03
      Beitrag Nr. 5 ()
      Der Orts-Versteher
      Ganz Icking lauschte den Geschichten des Schuhmachers Matthias Steiger. Seit er tot ist, hat der zerrissene Münchner Prominentenvorort seine Seele verloren
      Von Stephan LebertBei der Rückkehr in meine alte Straße sind mir zwei Menschen begegnet, der eine ist tot, der andere bin ich. Matthias Steiger hieß er. Er war der Schuhmacher des Ortes und noch eine Menge mehr. Er hatte einen kleinen Kiosk mit Zeitungen, Zeitschriften und Süßigkeiten. Hinten war die kleine Werkstätte, in der er auf durchaus zweifelhafte Art Schuhe reparierte, vorn verkaufte er. Man klopfte an eine Glasscheibe, dann kam er von hinten nach vorn und zog das Schiebefenster auf. Man konnte Süßigkeiten einzeln kaufen, eine Gummischlange für zwei Pfennige, drei kleine Colaflaschen für einen Pfennig und Negerküsse, so hießen die damals noch, kosteten je nach Wetterlage. Manchmal kostete ein Negerkuss beim Herrn Steiger fünf Pfennige, manchmal bekam man fürs gleiche Geld vier. Wenn man reinbiss, wusste man, warum: Sie waren steinhart gefroren.In einem Bücherregal in meiner Berliner Wohnung liegt sein Sterbebildchen. Ein altes Gesicht: höckrige Nase, Brille immer etwas heruntergerutscht, meistens schlecht rasiert. Seit ich denken kann, war Matthias Steiger alt, damals, Ende der sechziger Jahre und die gesamten Siebziger. Meine Erinnerung an ihn hat sich gewissermaßen in eine Materie verwandelt, die aus Geschichten besteht, aus unendlich vielen Geschichten und seiner Lebensphilosophie, die deshalb so eindrucksvoll war, weil er sie gelebt hat. In einem Bücherregal in meiner Berliner Wohnung liegt sein Sterbebildchen. Ein altes Gesicht: höckrige Nase, Brille immer etwas heruntergerutscht, meistens schlecht rasiert. Seit ich denken kann, war Matthias Steiger alt, damals, Ende der sechziger Jahre und die gesamten Siebziger. Meine Erinnerung an ihn hat sich gewissermaßen in eine Materie verwandelt, die aus Geschichten besteht, aus unendlich vielen Geschichten und seiner Lebensphilosophie, die deshalb so eindrucksvoll war, weil er sie gelebt hat. Sein Sohn, ein hoher Finanzbeamter, sagte einmal: Mein Vater ist einer, der hat sein ganzes Leben von einem Tag auf den anderen gelebt. Da schaute ihn der schon hochbetagte Vater an und sagte: Du auch, du weißt es nur nicht.Matthias Steiger vertrat die Ansicht, das gesellschaftliche Leben sei ganz falsch organisiert: Als junger Mensch müsste man eine Rente bekommen, weil man da ja vom Leben noch was habe, als Alter könne man dann ruhig arbeiten, was solle man schon sonst tun? Er hielt sich an dieses Prinzip: Als Junger ging er vor allem fischen, spielte Karten und ging auf die Rennbahn, kannte Frauen und traf Freunde. Als Alter war er fleißig, noch mit weit über 80 fuhr er morgens um fünf bei jedem Wetter Zeitungen aus und stand in seinem Kiosk. Matthias Steiger vertrat die Ansicht, das gesellschaftliche Leben sei ganz falsch organisiert: Als junger Mensch müsste man eine Rente bekommen, weil man da ja vom Leben noch was habe, als Alter könne man dann ruhig arbeiten, was solle man schon sonst tun? Er hielt sich an dieses Prinzip: Als Junger ging er vor allem fischen, spielte Karten und ging auf die Rennbahn, kannte Frauen und traf Freunde. Als Alter war er fleißig, noch mit weit über 80 fuhr er morgens um fünf bei jedem Wetter Zeitungen aus und stand in seinem Kiosk. Vielleicht sollte man sich dieses Modell ganz schnell patentieren lassen und der Bundesregierung anbieten: Die Alten müssen ran, die Jungen bekommen Rente. So kann man der Vergreisung der Gesellschaft gelassen entgegenblicken.Icking heißt mein Ort, 25 Kilometer südlich von München, knapp viertausend Einwohner, heute wie damals. Als ich im Rathaus die Sekretärin des Bürgermeister frage, ob ihr der Name Matthias Steiger etwas sage, ruft sie: »Na klar, der Hias, das war noch ein richtiges Orginal!« Um dann hinzuzufügen: Nein, persönlich habe sie ihn nicht gekannt, sie sei erst in den Neunzigern nach Icking gezogen, aber alle würden immer von ihm erzählen, von seinen Geschichten. Dass die Ickinger sich zwanzig Jahre nach seinem Tod immer noch an ihn erinnern, hat viel mit dem zerrissenen Charakter des Ortes zu tun. Seit den Sechzigern trägt Icking das Etikett »Münchner Prominentenvorort«. Golo Mann lebte hier, Klaus Doldinger, Gert Fröbe (Goldfinger), Industrielle, Ärzte, Anwälte, schnell Emporgekommene. Icking profitierte davon, es gibt eine Grundschule und ein eigenes Gymnasium, einen S-Bahnhof, zwei Bankfilialen. Große, schöne Häuser wurden gebaut, mit großen Gärten.Dass die Ickinger sich zwanzig Jahre nach seinem Tod immer noch an ihn erinnern, hat viel mit dem zerrissenen Charakter des Ortes zu tun. Seit den Sechzigern trägt Icking das Etikett »Münchner Prominentenvorort«. Golo Mann lebte hier, Klaus Doldinger, Gert Fröbe (Goldfinger), Industrielle, Ärzte, Anwälte, schnell Emporgekommene. Icking profitierte davon, es gibt eine Grundschule und ein eigenes Gymnasium, einen S-Bahnhof, zwei Bankfilialen. Große, schöne Häuser wurden gebaut, mit großen Gärten.In ziemlich rascher Zeit kamen viele wohlhabende Fremde in diesen Ort, sie wollten aus ihrem Geld Leben und Lebensstil machen. Icking wurde Zeuge davon, dass es manchmal gar nicht einfach ist, so auf Knopfdruck leben zu wollen. Selbstmorde und psychische Erkrankungen gehörten fast schon zum Alltag in unserem kleinen Dorf, betroffen waren besonders Jugendliche. Ich erinnere mich beispielsweise an den Sohn eines Apothekers, der bei uns öfter an der Tür stand und fragte, ob wir ihm eine Flasche Whisky oder Ähnliches borgen könnten, weil ihnen auf einer Party die Getränke ausgegangen seien. Bis eines Tages sein Vater bei uns läutete und darum bat, ihm nie wieder etwas zu geben, sein Sohn sei nämlich Alkoholiker. Also gaben wir ihm nichts mehr, obwohl er, ein dürrer junger Mann mit langen schwarzen Haaren, noch ein paar Mal flehenlich darum bat. Später hörten wir, dass er sich irgendwann das Leben genommen hat.Ich erinnere mich beispielsweise an den Sohn eines Apothekers, der bei uns öfter an der Tür stand und fragte, ob wir ihm eine Flasche Whisky oder Ähnliches borgen könnten, weil ihnen auf einer Party die Getränke ausgegangen seien. Bis eines Tages sein Vater bei uns läutete und darum bat, ihm nie wieder etwas zu geben, sein Sohn sei nämlich Alkoholiker. Also gaben wir ihm nichts mehr, obwohl er, ein dürrer junger Mann mit langen schwarzen Haaren, noch ein paar Mal flehenlich darum bat. Später hörten wir, dass er sich irgendwann das Leben genommen hat.Steigers Kiosk war lange Jahre auf gewisse Weise das Zentrum dieses schwierigen Ortes. Bei ihm saßen regelmäßig Gert Fröbe und verschiedene Autoren, die ihm von ihren Schwierigkeiten beim Schreiben berichteten. Oder der sympathische, aber dubiose Immobilienmakler, der extra vor seinem Gefängnisaufenthalt noch mal bei ihm vorbeikam, um sich zu verabschieden. Als Steiger 1983 starb, kam der halbe Ort weinend zur BeerdigungIn erster Linie aber kamen all diese Leute, um ihm zuzuhören. Steiger erzählte, dass die allererste Zeitung, die er austrug, im Jahr 1939 den Kriegsbeginn als Schlagzeile hatte. Er schilderte, wie sich bei ihm eine Schulklasse 1944 gut gelaunt abmeldete, um an die Front zu ziehen. Lauter junge, 18-Jährige. Kein einziger kam zurück. Steiger selbst entkam dem Soldatsein, weil er einen Beamten bestochen hatte, damit dieser seine Personalakte vernichtete.Am liebsten aber erzählte Steiger Geschichten von Schwindlern, Lebenskünstlern, von Gescheiterten, die sich das Scheitern aber nie eingestanden. Steiger war so etwas wie »Best of Icking«. Und damit gab er den Leuten, den Neuankömmlingen wie den Alteingesessenen, das Gefühl, dass vielleicht hier ja doch alles irgendwie zusammengehöre. Wir hatten eine Vorzugsbehandlung, denn Matthias Steiger kam zu uns jeden Tag zum Frühstück, beinahe zwanzig Jahre lang. Er brachte Semmeln, Brez’n, Zeitungen und Zeitschriften (mir steckte er den Playboy zu, als ich erst 13 war) und trank ein, zwei Tassen Kaffee. Und erzählte. Wir hatten eine Vorzugsbehandlung, denn Matthias Steiger kam zu uns jeden Tag zum Frühstück, beinahe zwanzig Jahre lang. Er brachte Semmeln, Brez’n, Zeitungen und Zeitschriften (mir steckte er den Playboy zu, als ich erst 13 war) und trank ein, zwei Tassen Kaffee. Und erzählte. Zum Beispiel, dass ihm ein Eimer Leim aus Versehen auf den Schuhen seiner Kunden ausgelaufen war und er es nicht bemerkte, sodass daraus ein einziger Klumpen wurde. Als die Kunden ihre Schuhe abholen wollten, sagte er nur: »Die oiden Krampen hab i weggschmissn.« Bei einem anderen hätte man wohl die Polizei gerufen, aber was sollte man schon gegen den Steiger machen? Als er 1983 starb, kam der halbe Ort weinend zur Beerdigung. Er hatte uns Ickinger mit unseren Widersprüchen allein gelassen.Ich stehe vor unserem früheren Haus am Ichoring, in dem schon längst ein anderer wohnt. Von draußen schaue ich in unseren Garten und versuche mich zu erinnern, wer ich damals war. Ich war sechs, als wir einzogen, und 21, als wir wegzogen. Aber merkwürdig, mein Erinnern an mich funktioniert nicht, da ist erst mal nichts. »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd«, schreibt Christa Wolf in Kindheitsmuster, es sind die ersten Zeilen dieses Romans. Ich stehe vor unserem früheren Haus am Ichoring, in dem schon längst ein anderer wohnt. Von draußen schaue ich in unseren Garten und versuche mich zu erinnern, wer ich damals war. Ich war sechs, als wir einzogen, und 21, als wir wegzogen. Aber merkwürdig, mein Erinnern an mich funktioniert nicht, da ist erst mal nichts. »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd«, schreibt Christa Wolf in Kindheitsmuster, es sind die ersten Zeilen dieses Romans. Ich gehe meinen alten Schulweg, den ich 14 Jahre lang jeden Tag gegangen bin. Der Weg kommt mir fremd vor, ich kann kein anderes Gefühl herstellen. Ich gehe an schönen Häusern vorbei, an hohen Bäumen und bin mir nur ganz sicher, dass ich auf diesem Weg niemals dachte, dass es hier, rein kulissenmäßig, schön ist. Kann es sein, dass Schönheit keine Kategorie für ein Kind ist? Wäre ja nett sozialdemokratisch, wenn das so stimmen würde: Das Urvertrauen eines Kindes hängt nicht davon ab, ob es in eher reichen oder armen Verhältnissen auf die Welt kommt.Wäre ja nett sozialdemokratisch, wenn das so stimmen würde: Das Urvertrauen eines Kindes hängt nicht davon ab, ob es in eher reichen oder armen Verhältnissen auf die Welt kommt.Ich versuche Bilder herzuholen. Schöne Familientage, sie waren es meistens. Die hübschen Zwillingsmädchen von schräg gegenüber. Die vielen Autos, die am Wochenende vor unserem Haus standen, weil es in der Nachbarschaft ein Ausflugshotel gab, die Forelle. Es hieß, es sei gelegentlich auch so eine Art Stundenhotel gewesen für Münchner Chefs und deren Angestelltinnen. Heute existiert die Forelle nicht mehr, es sind Wohnhäuser draus geworden. Auch die beiden Lebensmittelläden in dieser Gegend sind längst geschlossen, nur zwei Bankfilialen sind noch da. Ich erinnere mich an den Schalterbeamten in der Post, damals wirkte er eher langsam und behäbig, heute ist der Mann Bürgermeister. Als ich ihn in seinem Büro besuche, nennt er sofort unsere alte Adresse. »Ein Postbeamter«, sagt er, »vergisst nie eine Adresse, das ist sein Schicksal.« Der Mann hat sich verändert, er wirkt schnell, witzig, klug. Manche Menschen stellen das Richtige mit ihrem Leben an.Auch die beiden Lebensmittelläden in dieser Gegend sind längst geschlossen, nur zwei Bankfilialen sind noch da. Ich erinnere mich an den Schalterbeamten in der Post, damals wirkte er eher langsam und behäbig, heute ist der Mann Bürgermeister. Als ich ihn in seinem Büro besuche, nennt er sofort unsere alte Adresse. »Ein Postbeamter«, sagt er, »vergisst nie eine Adresse, das ist sein Schicksal.« Der Mann hat sich verändert, er wirkt schnell, witzig, klug. Manche Menschen stellen das Richtige mit ihrem Leben an.Ich erinnere mich an meine Abiturfeier, das Ende einer für mich quälenden Schulzeit. Irgendwann stand ich draußen an diesem Festabend und bat den lieben Gott, dass er nicht wahr werden ließe, was ein paar Redner auf dieser Feier prophezeit hatten: Wir Schüler würden später mal zu der Überzeugung kommen, dass die Schulzeit unsere schönste Zeit im Leben gewesen sei.Aus seinem Kiosk ist eine Art Ökoladen gewordenIch gehe ein paar Stunden durch meinen Ort. Und denke, vielleicht sollte man mal zwei Menschen miteinander reden lassen über ihre Erinnerungen, den einen, der immer geblieben ist, mit dem anderen, der irgendwann gegangen ist. Ich stehe vor dem alten Steiger-Kiosk, nur drei Minuten von unserem alten Haus entfernt. Es ist kein Kiosk mehr, sondern eine Art Ökoladen. Es gibt Gemüse zu kaufen, Körner, viele gesunde Sachen. Früher hatte er so ’ne rotbraune Farbe, jetzt sieht es dunkler aus, kräftiger. Für einen Moment stelle ich mir Steiger vor, wie er vor der Tür steht und einen seiner Lieblingssätze sagt: »Früher war es so, heute ist es anders.« Er hatte die besondere Begabung, seinem eigenen Leben wie einem Theaterstück zuzuschauen, sich daran zu freuen, auch oft zu ärgern, weiß Gott, aber nie zu überlegen, ob man es nicht besser umgeschrieben hätte oder es anders hätte inszenieren sollen. Dabei hätte er allen Grund gehabt zu klagen.Matthias Steiger wäre gerne Schauspieler oder Rechtsanwalt geworden, doch sein Vater war ein lange Zeit sehr wohlhabender Schuster, der seinen Sohn zwang, auch mit körperlicher Züchtigung, ebenfalls diesen Beruf zu ergreifen. Mit der Übernahme des väterlichen Geschäftes wurde es nichts, weil der Vater, ein großer Lebemann, am Ende bitter pleite war und seine letzten Tage im Armenspital fristete. Steiger erzählte manchmal, wie es war, den schwer kranken Vater dort zu besuchen. Der Kehlkopfkrebs hatte ihm die Stimme genommen, er kommunizierte nur noch mit zwei Tafeln, auf der einen stand »Ja«, auf der anderen »Leck mich am Arsch«.Matthias Steiger wäre gerne Schauspieler oder Rechtsanwalt geworden, doch sein Vater war ein lange Zeit sehr wohlhabender Schuster, der seinen Sohn zwang, auch mit körperlicher Züchtigung, ebenfalls diesen Beruf zu ergreifen. Mit der Übernahme des väterlichen Geschäftes wurde es nichts, weil der Vater, ein großer Lebemann, am Ende bitter pleite war und seine letzten Tage im Armenspital fristete. Steiger erzählte manchmal, wie es war, den schwer kranken Vater dort zu besuchen. Der Kehlkopfkrebs hatte ihm die Stimme genommen, er kommunizierte nur noch mit zwei Tafeln, auf der einen stand »Ja«, auf der anderen »Leck mich am Arsch«.Er durfte nicht Schauspieler werden – dafür aber seine EnkelinSteigers Frau wurde früh psychisch krank und starb später an Krebs. Sein Leben hätte anders laufen können, auch glücklicher. Aber das hat ihn nie beschäftigt. Er war der Beobachter. Der Erzähler. Das war seine Lebensposition, und sie hatte eine große Anziehungskraft auf andere. Er strahlte Freiheit aus, Unabhängigkeit. Er war stolz. Vielleicht war das auch sein Schutzwall. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal klagen gehört, auch nicht, als es ihm gesundheitlich schon sehr schlecht ging.Steigers Frau wurde früh psychisch krank und starb später an Krebs. Sein Leben hätte anders laufen können, auch glücklicher. Aber das hat ihn nie beschäftigt. Er war der Beobachter. Der Erzähler. Das war seine Lebensposition, und sie hatte eine große Anziehungskraft auf andere. Er strahlte Freiheit aus, Unabhängigkeit. Er war stolz. Vielleicht war das auch sein Schutzwall. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal klagen gehört, auch nicht, als es ihm gesundheitlich schon sehr schlecht ging.Ich erinnere mich, dass er frühzeitig anfing, von einem kleinen Mädchen zu schwärmen, seiner Enkelin. Aus der werde mal was Besonderes, die werde Schauspielerin, sagte er. Da war sie noch keine zehn. Dafür habe er einen Blick, sagte er, Menschen, die sich selbst verlassen können, seien nicht so häufig, aber seine kleine Enkelin könne das.Heute ist Michaela Steiger vierzig Jahre alt. Ich treffe sie in einem Cafè in Berlin, am Prenzlauer Berg, sie kommt mit dem Fahrrad. Wenn man sehr genau hinschaut und vermutlich ein bisschen hinzufantasiert, kann man eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm feststellen. Sie ist tatsächlich Schauspielerin geworden, eine sehr gute und sehr erfolgreiche. Sie gehörte bis vor kurzem dem Ensemble der Berliner Schaubühne an, spielt jetzt vor allem in Zürich, arbeitet mit den großen Regisseuren dieser Branche zusammen. Es ist seltsam, in Berlin in einem Cafè zu sitzen und sich über den alten, toten Matthias Steiger zu unterhalten.Sie ist tatsächlich Schauspielerin geworden, eine sehr gute und sehr erfolgreiche. Sie gehörte bis vor kurzem dem Ensemble der Berliner Schaubühne an, spielt jetzt vor allem in Zürich, arbeitet mit den großen Regisseuren dieser Branche zusammen. Es ist seltsam, in Berlin in einem Cafè zu sitzen und sich über den alten, toten Matthias Steiger zu unterhalten.Sie sagt, sie habe ihren Großvater sehr geliebt. Und sie sagt, es sei nicht immer ganz einfach gewesen, weil sie ihren erst unlängst verstorbenen Vater auch sehr geliebt habe, und der wiederum mit dem eigenen Vater oft Probleme hatte. Der Opa verkörperte das Prinzip Freiheit, der Vater das Prinzip Sicherheit. Und wahrscheinlich, sagte sie, stecke sie irgendwo dazwischen. Und wahrscheinlich muss man genau deswegen eine gute Schauspielerin werden.Schade, dass er ihren Aufstieg nicht mehr erlebt hat. Für sie wäre er wahrscheinlich sogar mal nach Berlin gekommen, für eine Vorstellung. Er, der sein Icking nicht ein einziges Mal länger als für acht Stunden verlassen hat.Er, der sein Icking nicht ein einziges Mal länger als für acht Stunden verlassen hat.

      Quelle: Die Zeit

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      schrieb am 21.10.05 14:53:47
      Beitrag Nr. 6 ()
      Quelle: Die Zeit
      Zeitläufte

      Eine Liebe unter dem Vesuv

      Emma Lyon, das Mädchen aus der Erotik-Praxis des Doktor Graham in London, bezauberte als Lady Hamilton in Neapel ganz Europa – vor allem Englands größten Seehelden, Lord Nelson

      Von Doris Maurer

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      Dem Sarg folgen ein Arzt und ein junges Mädchen. Dazu ein paar englische Landsleute und einige Kapitäne, deren Schiffe zufällig am Ort des Geschehens, in Calais, vor Anker liegen. Es ist der 21. Januar 1815. Die Fremde, die man dort so still zu Grabe trägt, ist keine Unbekannte. Sie gehörte zu den berühmtesten, begehrtesten Menschen der Epoche. Nicht nur Lord Nelson, der Held von Trafalgar, der fast auf die Woche genau neun Jahre zuvor in Londons St. Pauls-Kathedrale feierlich bestattet worden war, hatte sie angebetet. Maler aus ganz Europa porträtierten sie, Dichter besangen ihre Schönheit.

      Und doch war das ärmliche Begräbnis der Emma Hamilton in Calais auch so etwas wie eine späte Heimkehr in jene Sphäre, in der ihre beispiellose Karriere einst begonnen hatte. Denn Lady Hamilton entstammte keineswegs der Klasse, in der sie den größten, glanzvollen Teil ihres Lebens verbrachte.

      Als Tochter des Dorfschmieds Henry Lyon wurde sie geboren, am 26. April 1765 in Chester, in der Grafschaft Cheshire. Der Vater starb kurz nach ihrer Geburt, die Mutter zog mit dem Kind zu ihren Eltern nach Hawarden. Als ambulante Kohlenhändlerin verdiente sie sich den Unterhalt.

      Das Leben der Emma Lyon scheint vorgezeichnet. 14Jahre alt, tritt sie ihre erste Stelle als Kindermädchen in einer Arztfamilie an. Dort lernt sie lesen und schreiben. Gemeinsam mit der Mutter geht sie bald darauf nach London, wo beide als Dienstmädchen arbeiten. Um 1780 ist Emma angestellt im Haushalt des Besitzers des Drury Lane Theatre – natürlich will sie jetzt Schauspielerin werden.

      Doch die nächste Station ist trist. Sie wird Zofe in einem Edelbordell; dort soll sie auch ihrem ersten Liebhaber begegnet sein, einem Marineoffizier. Dann finden wir sie in einem merkwürdigen Etablissement wieder, im »Tempel des Äskulap« oder »Tempel des Hymen« des selbst ernannten Sex-Therapeuten James Graham. Der Schotte verspricht, Impotenz heilen zu können, und bietet in seinem luxuriösen Haus neben harmlosen Moorbädern allerlei hypnotische und »elektrische« Behandlungen an. Zudem gibt es für unfruchtbare Ehepaare ein besonders anregendes »himmlisches Bett«, aphrodisisch parfümiert und auf Kristallfüßen ruhend, 50 Guineen die Nacht.


      Die Attraktion des Hauses aber sind die »Göttin Hygieia«, die Göttin der Gesundheit, und ihre Gehilfinnen. Eine davon ist Emma. Bekleidet nur mit einem Gazeschleier, zeigt die junge Schönheit ihren Körper in antikischen Posen, die ihre therapeutische Wirkung auf Doktor Grahams männliche Patienten nicht verfehlen.

      Emma findet Gefallen an diesen Auftritten, an diesen »Attitüden«, wie sie genannt werden. Im Laufe ihres Lebens entwickelt sie die pantomimische Kunst des »lebenden Bildes« zur Vollkommenheit. So bezaubert sie später in Neapel ihre Gäste als Medea, Iphigenie, als Ariadne und Niobe. Auch Goethe ist hingerissen: »Man schaut, was so viele tausend Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz fertig in Bewegung und überraschender Abwechslung. Stehend, kniend, sitzend, liegend, ernst, traurig, neckisch, ausschweifend, bußfertig, lockend, drohend, ängstlich etc., eins folgt aufs andere und aus dem andern. Sie weiß zu jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu wechseln, und macht sich hundert Arten von Kopfputz mit denselben Tüchern.«

      Früh schon zieht Emma die Künstler an. In jenem Londoner Tempel des Erotologen Graham lernt der Maler George Romney sie kennen und glaubt, in ihr sein ideales Modell gefunden zu haben. Von 1782 an entsteht Porträt um Porträt, ein wahrer Schaffensrausch überwältigt den 50-jährigen Meister: Emma als Circe, Kassandra, Kalypso, als Heilige Cäcilie, Maria Magdalena und Johanna von Orléans. Romney schmachtet sie an, sie ist seine »divine lady«, die Beziehung bleibt platonisch.


      Wesentlich irdischer gestaltet sich die Leidenschaft von Sir Harry Fetherstonehaugh. 1781 nimmt er die 16-Jährige mit auf seinen Landsitz nach Sussex. Emma führt dort ein buntes Leben. Mit frühem Selbstbewusstsein und voller Lebenslust entfaltet sie all ihre Kunst und all ihren Charme, zeigt, bei prachtvollen Diners, ihre »Attitüden«, singt und tanzt nackt auf dem Tisch. Sir Harry führt sie vor – er ist stolz, alle beneiden ihn um diese temperamentvolle Schönheit. Doch dann hat er genug. Das hübsche Spielzeug beginnt ihn zu langweilen, und als Emma ihm gesteht, schwanger zu sein, speist er sie mit einem Almosen ab und weist sie aus dem Haus.

      Die junge Frau flüchtet zu ihren Großeltern nach Hawarden. Dort erinnert sie sich an einen hartnäckigen Verehrer, an Sir Charles Greville. Sie schreibt ihm einen verzweifelten Brief: »Was soll ich tun? Großer Gott! Was soll ich nur tun?«

      Unterschrieben hat sie mit dem Namen Hart. Es ist viel darüber spekuliert worden, ob sie in der Zwischenzeit geheiratet hatte, oder ob sie Greville wegen ihrer Schwangerschaft eine (missglückte) Ehe vorspiegeln wollte. Später, als sie schon in Neapel lebt, empfängt sie einmal den Besuch eines Musikers namens Hart. Aber welche Rolle er in ihrem Leben spielt oder zuvor gespielt hat, bleibt unklar.

      Sir Charles jedenfalls sieht seine Chance, gibt den edlen Retter und nimmt die junge Frau auf. Emmas Mutter (auch sie hat einen anderen Namen angenommen) steht persönlich vor der Tür, um ihrer Tochter beizustehen und als Haushälterin für Greville zu arbeiten. Das Mädchen, Fetherstonehaughs Töchterchen, das im März 1782 zur Welt kommt, wird von Emmas Großeltern aufgezogen.

      Das Leben mit Greville ist nicht so lustig und verrückt wie das mit Sir Harry. Ihr neuer Liebhaber ist knapp bei Kasse, und er verpflichtet seine Mätresse zu Gehorsam und Zurückhaltung in der Öffentlichkeit. Sie fügt sich.

      Doch schon ein gutes Jahr später, im Sommer 1783, kommt es zu einer Begegnung, die ihr Leben völlig verändern wird. Greville erwartet den Besuch seines verwitweten Onkels Sir William Hamilton, dessen Universalerbe er zu werden hofft.

      Hamilton, Botschafter Englands beim König von Neapel, bekannt als exzellenter Kunstkenner und manischer Sammler, ist hingerissen von der Geliebten seines Neffen. Sie scheint ihm geradewegs einem antiken Vasenbild, geradewegs dem griechischen Götterhimmel entsprungen zu sein. Bevor er nach Neapel zurückkehrt, lässt er Emma malen und nimmt das Bildnis als teures Andenken mit.


      Als er im Jahr darauf wieder zu Gast bei seinem Neffen ist, hat sich die Lage im Hause Greville verdüstert. Der junge Lord ist pleite, hoch verschuldet und sucht händeringend nach einer reichen Braut. Doch er ist anständiger als Sir Harry, er will für die Zukunft seiner Geliebten sorgen.

      Warum Emma nicht seinem verwitweten Onkel überlassen? Nur heiraten darf der sie natürlich nicht, denn dann wäre ja das spätere Erbe für Greville verloren. Bei einer kurzen Trennung – Greville ist in Wales auf dem Gut der verstorbenen Frau Hamiltons, das er als Verwalter betreuen soll, Emma besucht ihre Tochter – geht die junge Frau in sich, zeigt sich einsichts- und entsagungsvoll und schreibt schließlich an den von ihr leidenschaftlich Geliebten, dass sie seinen Onkel Sir William »auch ein bisschen gern« hat.

      Greville preist unterdessen dem Onkel seine Mätresse schamlos an: »Emma ist bei voller Gesundheit, und ich muss hinzufügen, dass sie die einzige Frau ist, mit der ich geschlafen habe, ohne dass einer meiner Sinne beleidigt wurde. Es gibt keine zärtlichere und kultiviertere Bettgefährtin.«

      Eigentlich überflüssig. Denn Onkel William ist ohnehin von Emma bezaubert. Greville schlägt ihm vor, sie nach Neapel einzuladen. Der Botschafter, 35 Jahre älter als die junge Schöne, überlegt nicht lange – gibt es ein strahlenderes Schmuckstück für seine Kunstsammlung? Emma hingegen, die mehr ahnt, als sie zugibt, tut es allein Greville zu Gefallen und reist ab, Richtung Mittelmeer.

      An ihrem 21. Geburtstag, am 26. April 1786, trifft sie zusammen mit ihrer Mutter in Neapel ein, herzlich empfangen von Hamilton in seiner Residenz, dem Palazzo Sessa. Der Botschafter zeigt den Damen die prachtvolle Stadt und bekennt seine große Liebe zum Vesuv (den er in seinem Leben zweiundzwanzigmal besteigen wird).

      Emma genießt das touristische Programm, die Freundlichkeit Hamiltons, schreibt aber täglich leidenschaftliche, bald klagende Briefe an Greville, denn sein Onkel wünsche mehr als ihre amüsante Gesellschaft. Greville antwortet seiner ehemaligen Mätresse unumwunden, er denke nicht daran, sie nach England zu holen, sie solle sich Hamilton nicht länger verweigern. Gut sieben Monate nach ihrer Ankunft in Neapel gibt Emma nach. Sie ist realistisch genug, die Chance Hamilton zu ergreifen.

      Der erfahrene Diplomat seinerseits erkennt rasch ihre Besonderheit, ihr Persönlichkeit. Er will sie ausbilden. Schon wimmelt es im Palazzo von Lehrern für Italienisch, Französisch, Gesang, Tanz, Cembalo. Die junge Frau spricht bald ein besseres Italienisch als der Botschafter. Sie zeigt vollendete Anmut, der Tanzlehrer ist entzückt, der Gesangslehrer begeistert. Opernhäuser machen ihr Angebote. Sie glänzt auf den Gesellschaften Hamiltons. Neapel – mit Ausnahme der englischen Kolonie – ist betört, selbst der etwas einfältige König Ferdinand macht ihr Avancen.

      Ihr Ruf verbreitet sich über ganz Europa, Zar Alexander I. bestellt ein Porträt von ihr. Sir Williams Briefe an seinen Neffen Greville bersten vor Stolz. Nur ein Gedanke trübt die Glückseligkeit. Emma scheint seine Ehefrau werden zu wollen: »Aber ich fürchte, dass die Verwirklichung ihres Wunsches nicht in meiner Macht liegt […]. Stellen Sie sich nur den Altersunterschied vor: sie, vierundzwanzig, ich, neunundfünfzig! Diese Spanne könnte ungeahnte Folgen haben. Dennoch muss ich sagen, dass ihr Verhalten in jeder Hinsicht einwandfrei ist.« Als es Emma aber gelingt, dank einiger einflussreicher Freunde noch die letzten Mitglieder der englischen Gesellschaft Neapels zu erobern, als selbst Königin Maria Carolina – eine Tochter Maria Theresias und Schwester Marie Antoinettes von Frankreich – sich innig mit der jungen Frau befreundet, da kann auch Sir William der Vorstellung nicht mehr widerstehen: Warum soll sie nicht Lady Hamilton werden?


      Er gedenke, schreibt der Botschafter im Januar 1791 an eine Freundin in England, seine Geliebte zu einer »ehrbaren Dame« zu machen. Und so heiratet trotz des Entsetzens seiner Verwandten Sir William Hamilton Miss Emma Lyon-Hart am 6.September 1791 während eines Urlaubs in London. Bei der Trauung ist auch Greville anwesend – was wird nun aus seinem Erbe?

      Auf der Rückreise macht das Ehepaar Station im revolutionären Paris. Die seit ihrem gescheiterten Fluchtversuch internierte Königin Marie Antoinette vertraut Emma einen Brief an ihre königliche Schwester an. Als Emma ihn in Neapel übergibt, ist die Freundschaft zwischen Maria Carolina und der Botschaftergattin nicht mehr zu erschüttern.

      Natürlich steht das bourbonisch-habsburgische Königspaar, das Neapel und Sizilien regiert, auf der Seite Englands. Beeinflusst von Lady Hamilton, hat Maria Carolina erlaubt, dass englische Segelschiffe hier ankern und die Mannschaften sich proviantieren können. Admiral Horatio Nelson weiß das Entgegenkommen zu schätzen. 1793 gewinnt er in Sir Hamilton einen Freund – und lernt in diesen Tagen auch dessen Ehefrau kennen.

      Fünf Jahre später. Neapel ist im Taumel. Nach der Schlacht am Nildelta bei Abukir, in der Nelson der französischen Flotte am 1. August 1798 eine erste schwere Niederlage zugefügt hat, bereitet die Stadt dem Helden einen triumphalen Empfang. Noch an Bord seines Schiffs sinkt Lady Hamilton Nelson halb ohnmächtig an die Brust – sie versteht sich auf Szenen! Der Admiral wohnt selbstverständlich in der Residenz des britischen Botschafters, und Emma übernimmt gemeinsam mit ihrer Mutter die Pflege des Seehelden, nach den Anstrengungen der Schlacht.

      Fünf Jahre ist es her, dass Lady Hamilton und Nelson sich kennen gelernt haben; seither sind sie getrennt gewesen. Sie ist sehr dick geworden, er hat im Verlauf etlicher Gefechte ein Auge und einen Arm verloren. Sie verlieben sich leidenschaftlich ineinander. In einem Brief an seine Frau bezeichnet der Admiral Lady Hamilton als »eine der erstaunlichsten Frauen auf dieser Welt«.

      Emma huldigt öffentlich dem großen Seemann: Zu seinem 40. Geburtstag am 28. September organisiert sie ein gigantisches Fest, 1800 Gäste feiern und tanzen.


      Es soll das vorerst letzte Fest bleiben. Bereits 1796/97 hat Frankreichs Italienarmee unter dem Oberbefehl eines sehr begabten jungen Generals namens Napoleon Bonaparte weite Teile der Halbinsel erobert. Jetzt rücken französische Truppen vom Kirchenstaat her, der gerade zur Römischen Republik erklärt worden ist, gegen Neapel vor. Auf Nelsons Schiffen flieht die königliche Familie nach Palermo; Ende Januar 1799 wird auch in Neapel die Republik ausgerufen.

      Emma Hamilton begleitet den Hof. An Bord kümmert sie sich um die seekranken Mitreisenden; Nelson kann sie nicht genug dafür loben. Trotz anderslautender Befehle der Admiralität bleibt er noch einige Wochen bei den Hamiltons in Palermo. Wie viel der Botschafter von der Liebesbeziehung seiner Frau zu Nelson weiß, ob überhaupt, das alles muss offen bleiben.

      Als der Held, gezwungen von seinem Oberbefehlshaber, wieder auf See ist, leidet er an Heimweh und schreibt Emma sehnsüchtige Briefe: »Ich bete Sie an, und wären Sie allein und ich hätte Sie unter einer Hecke gefunden, ich hätte Sie auf der Stelle geheiratet.«

      Zwar können die Royalisten Neapel im Sommer 1799 zurückerobern (und Ferdinand nimmt schreckliche Rache an allen Republikanern), doch schon ein Jahr später verlassen Hamilton und seine Frau das sizilianische Königreich für immer. Napoleon ist wieder in Italien, im Juni 1800 schlägt er bei Marengo Habsburgs Heer.

      Über Triest, Wien und Eisenstadt, wo sie Haydn empfängt, über Dresden und Hamburg, wo Emma dem greisen Klopstock die Ehre erweist, reisen die Hamiltons zusammen mit Nelson in die Heimat zurück. Als sie Ende des Jahres 1800 in London eintreffen, ist Emma hochschwanger. In den letzten Januartagen 1801 kommt sie mit einem Mädchen nieder; ihr Mann scheint den kleinen Zwischenfall stoisch ignoriert zu haben. Das Geburtsdatum wird gefälscht, die Identität der Eltern verschleiert. Doch Horatio Nelson bestimmt den Vornamen seiner Tochter: »Sie soll Horatia heißen.«

      Im April 1803 stirbt Lord Hamilton in London. Charles Greville ist Alleinerbe, Emma erhält lediglich eine großzügige Rente, mit der sie, die nie wirtschaften gelernt hat, nicht auskommen wird.

      Nelson hingegen, der sich inzwischen von seiner Frau getrennt hat, schenkt ihr ein Gut und gibt ihr Geld. Sie beginnt mit reichen Männern auszugehen, hofft aber auf eine Heirat mit Nelson, von dem sie wieder ein Kind erwartet. Das Mädchen kommt 1804 zur Welt; es stirbt kurz nach der Geburt.

      Obwohl sie von der englischen Regierung 1805 wegen der Verdienste Hamiltons eine zusätzliche Rente erhält, ertrinkt Emma in Schulden. Zu viel Luxus. Zu viele Feste, zu viele Kleider.

      Ein letztes Mal, von August bis September 1805, leben Emma Hamilton und Nelson auf ihrem Landgut zusammen und holen ihre Tochter Horatia für ein paar Tage zu sich; er ist ganz vernarrt in das Kind. Dann folgt der Abschied.

      Am 21. Oktober fällt der Admiral in der Seeschlacht bei Trafalgar. Anfang Januar 1806 wird er in London feierlich zu Grabe getragen. Lady Hamilton ist nicht dabei; Nelsons Familie hat sich ihr Erscheinen verbeten. Der Außenminister ignoriert alle testamentarischen Verfügungen, die der Admiral zugunsten Emmas getroffen hat. Noch einmal helfen gute Freunde, aber sie sinkt immer tiefer. Nachdem sie zweimal ins Schuldgefängnis musste, aus dem sie wiederum nur mit Hilfe von Freunden ausgelöst werden kann, entschließt sie sich, gemeinsam mit Horatia England zu verlassen.

      Als sie im Juli 1814 in Calais ankommt, lebt sie zunächst im besten Hotel, dann auf einem Bauernhof; die Verwandten Hamiltons zahlen ihr die Rente nicht mehr. Zum Schluss haust sie in einem elenden, feuchten Zimmer.

      Sie ist schwer krank, hat nur Horatia als Hilfe. Die letzten Wochen erleichtert ihr, auch finanziell, ein Arzt mit Namen Cadogan.

      Am 15. Januar 1815 stirbt Emma Hamilton, in ihrem 50. Jahr. Ihr Leichnam wird zweimal umgebettet, heute ist das Grab nicht mehr aufzufinden.

      1918 stifteten britische Marineoffiziere, in Erinnerung an Lord Nelsons große Liebe, eine Gedenktafel für ihr Sterbehaus in Calais. Doch auch dieses ist längst verschwunden; im Zweiten Weltkrieg wurde es völlig zerstört.
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      schrieb am 30.10.05 10:55:00
      Beitrag Nr. 7 ()
      Porträt der Playboys

      Der Mann, den die Frauen liebten

      Playboys gibt es nicht mehr. Schade. Denn ihr Stil ist heute noch vorbildlich. Wir haben Hinweise von einem, der es wirklich wissen muss: Ein Besuch bei Gunter Sachs.
      Von Holger Liebs

      Auf dem Medienboulevard war weiterhin vom „Playboy“ Gunter Sachs die Rede, und tatsächlich fingen seine glamourösesten Abenteuer damals erst an. Doch der „Playboy“ an sich war längst im Begriff, zu einer historischen Figur zu werden.

      Zum Beispiel Harry Shell, Formel-1-Pilot. Er lag beim Grand Prix von Monaco schon aussichtslos zurück, „da ließ er“, erzählt Gunter Sachs, „mitten im Rennen vor dem Hotel de Paris die Bremsen quietschen, sprang unter Applaus aus seinem Boliden, setzte über das Geländer, bestellte noch in der Luft einen Gin Tonic und ließ sich auf einen Terrassenstuhl fallen“.

      Shell starb 1964 auf dem Nürburgring in einem Ferrari.

      Oder Prinz Ali Khan, Sohn des Aga Khan II., der mit Rita Hayworth verheiratet war. Sein Chauffeur saß meistens im Fond, während der Sprössling der Ismailiten den Wagen lenkte. Sachs: „Ali Khans letzte Worte, mit gedrehtem Kopf an den Bediensteten gerichtet, waren: ,Julien, vergessen Sie nicht, morgen essen wir bei Baron Guy de Rothschil ...‘“

      Ali Khan starb 1961 im Bois de Boulogne in einem Ferrari.

      Genauso wie vier Jahre später an Ort und Stelle, auch in einem Gefährt aus Maranello, Porfirio Rubirosa, den viele für den wichtigsten und letzten echten Playboy halten. Gunnar Nelson und der Marquis Alfonso de Portago kamen gemeinsam 1957 auf der Mille Miglia ums Leben. In einem ... genau.

      Fünf aus einem knappen Dutzend. Von ihnen lebt heute, 92-jährig, nur noch der Modeschöpfer Oleg Cassini, der einmal in seinem Leben zu spät kam: Als er Grace Kelly am Set des Films „Über den Dächern von Nizza“ einen Heiratsantrag machen wollte. Sie war, wie ihm Cary Grant mitteilte, 15 Minuten zuvor von einem Rolls Royce mit monegassischem Staatswappen abgeholt worden.

      Geschwindigkeit war ihr Lebenselixier, Raserei ihre Schwäche, aber sie brannten lieber lichterloh, statt sanft auszuglühen. Denn, wie es Teddy Stauffer, ebenfalls einer des Gentlemen’s Club, in seinen Memoiren „Forever ... is a hell of long time“ im Jahr 1967 formuliert hat, es gibt nur ein Erfolgsrezept für den Playboy: „Nichts halb tun!“ Das galt beim Geld wie bei Liebe. Stauffer widmete das Buch „Alberta, Alice, Amparo, Antoinette, Barbara, Bella“ und so weiter, bis zum Namen hundertdrei: „Zita“. Der Entertainer betonte, dass er nie mit zwei Damen gleichzeitig liiert war.

      Playboy, in diesem Begriff schwingt heute etwas von angegammelten Bars mit, in denen die Verschlüsse der Scotchflaschen verkrustet sind. Oder man assoziiert Miss August aus Lüdenscheid. Oder Rolf Eden. Tja. Gunter Sachs seufzt. „Ja, das waren noch Gentlemen damals. Heute darf sich jeder Wäschereibesitzer ‚Playboy‘ nennen. Da lief diese Fernsehsendung, und ein Mann sagte in die Kamera, ,Ich knack’ jede Nacht ’ne andere‘. Und der TV-Schirm zeigt den Untertitel: ,Playboy Heinz Muckemann‘. So etwas trifft mich schon.“

      Das ist nett gesagt und im Übrigen nicht böse gemeint, liebe Wäschereibesitzer. Aber Sachs äußert sich nicht als Clubmitglied. Überhaupt betont er: „Das war kein eingetragener Verein. Die Playboys lebten nicht eng zusammen. Doch wenn sie sich trafen, war es ein Fest.“ Er muss es wissen. Er hat bis auf einen alle gekannt: Bei Shells spontanem Boxenstopp saß er unter den Zuschauern im Hotel de Paris. Mit Rubirosa verband ihn eine enge Freundschaft. Nelson und der Marquis de Portago, die ihre Rennen bis zum Ende immer gemeinsam bestritten, waren die Trauzeugen von Sachs’ erster Ehe. Stauffer schließlich hat Sachs, unter anderem mit Brigitte Bardot, oft in dessen Nachtclub in Acapulco besucht.

      War er am Ende vielleicht doch einer von ihnen? Die Presse ist sich da seit Jahrzehnten einig. Im Lebenslauf des Industriellen und Fotografen tauchen einfach die richtigen Namen auf. Warhol, die Kennedys, Soraya – und natürlich Brigitte Bardot. Die Rosen-Story. Wie Sachs erst tausend Rosen besorgte, sie aus dem Helikopter über BBs Anwesen abwarf und dann selbst ins Meer sprang, die Louis-Vuitton-Holzkoffer in den Händen. „Der französische Pilot war cool, wie man heute sagen würde. Er machte mit. Aber eins müssen Sie sich merken: Der Held hält nie lange bei Frauen. Die Bardot war zwar erst einmal entzückt. Aber dann beschwerte sie sich, dass in ihrem Garten überall Rosen herumlagen.“

      Eine amerikanische Zeitung hat Sachs mal „German society figure“ genannt. Das trifft es ganz gut: Er war für die wohlstandssüchtige deutsche Nachkriegsgesellschaft eine Projektionsfigur. Weil sie in ihm, neidvoll, ihre Sehnsüchte verkörpert fand. Doch wahrscheinlich war er ein besserer Botschafter seines Landes als mancher Politiker. Eine Karikatur seiner Hochzeit mit BB, die 1966 in Las Vegas stattfand, besitzt Sachs noch heute. Sie zeigt das Brautpaar von den Trauzeugen de Gaulle und Erhard gerahmt. Die Herren lächeln selig.

      Sachs, der sich 1969 von der Bardot trennte und seit langem wieder glücklich verheiratet ist, fotografiert, wie seit Jahrzehnten, meistens unbekleidete Damen in zauberhaften Landschaften. Er sitzt mit schlohweißem Haar in seinem Studio „mm14“ vor den Toren Münchens, verborgen zwischen kargen Gewerbekisten. Die Halle ist ein veritables Museum, Wendeltreppen führen auf die Dächer silberner Bürocontainer, im Zentrum steht natürlich das Fotostudio, mit großen Metallkränen für die Scheinwerfer, auf dem Dach einer improvisierten Bar hockt eine Armada Plüschtiere in Reizwäsche, Repliken von Andy Warhols Porträt der Bardot lehnen neben Sachs’ eigenen Fotografien von Claudia Schiffer an der Wand. Sachs erwarb Warhols „Superman“ Anfang der Siebziger für wenige tausend Mark. Kürzlich hat er das Bild verkauft, für einen zweistelligen Millionenbetrag.

      Sachs, der Kunstsammler: In der Mitte des Raumes finden sich auch die erotischen Pop-Art-Möbel von Allen Jones, die Sachs’ einstiges Apartment im Turm des Palace-Hotel zierten – halbnackte Modepuppen, die auf dem Boden knieend einen Glastisch stützen und auf deren Schenkeln man Platz nehmen kann. Am Eingang eine Wand, auf der gemalte Fledermäuse flattern. Blickt man genauer hin, entdeckt man: Die Tiere formieren sich zu einem Porträt von Sachs, der immer noch Präsident des Dracula-Clubs St. Moritz ist.

      Sachs sagt, er sei später als die meisten dieser Playboys geboren. Er benennt genau zehn „Ritter der verlorenen Zeit“: Shell, Ali Khan, Rubirosa, Stauffer, Nelson, Marquis de Portago und Cassini, außerdem Freddy McEvoy, einen australischen Boxer, Rennfahrer und Filmschwimmer, der bei einem Sturm vor der Küste von Tanger starb, weil er seine Frau aus einer sinkenden Yacht retten wollte, Prinz Alfonso zu Hohenlohe, ein Sportler-Ass, das Ira von Fürstenberg und Ava Gardner geliebt hat, sowie seinen Freund Gianni Agnelli, den er den „geistreichsten und elegantesten“ aller Playboys nennt.

      Vielleicht sieht er sich ja doch als Nachgeborenen, als den Benjamin des Clubs, den es eigentlich gar nicht gab. Wie auch immer, dies ist seine Liste. Man könnte sie um andere Frühverstorbene erweitern, etwa um den Prinzen Alexis M’Divani, der 1935 bei dem Versuch, den Schnellzug Paris-Madrid mit seinem Rolls Royce zu überholen, an einem Alleebaum sein Leben ließ. Sachs hat indes ein anderes Kriterium für die Auswahl der Playboys: Wenn Igor Cassini, der Bruder von Oleg, in seiner Kolumne „Cholly Knickerbocker“ jemanden zum Playboy ernannt hatte, dann war er einer. Solche Autorität ging von einem aus, der den Begriff „Jet Set“ erfunden haben soll – und im Übrigen seine Kolumne an 150 Zeitungen verkaufte.

      Geist, Gewitztheit, Übermut, auch Geld musste man besitzen – und Ausstrahlung. „Wenn Rubirosa den Raum betrat, ging die Sonne auf“, sagt Sachs. „Und wenn die Bardot das Gleiche tat, aber schlechtgelaunt, dann erfror alles. Woran liegt das? Man weiß es nicht.“ Fest steht: Das süße Leben der Playboys, das war vor allem eine beliebte Kolportage-Story der sechziger Jahre, verbunden mit Orten wie Marrakesch, Biarritz, St. Moritz und St. Tropez, mit schönen Frauen und ausschweifendem Lebensstil.

      Doch was Magazine wie Quick damals atemlos erregten Bundesrepublikanern zu apportieren pflegten, hat nicht viel mit den Typen zu tun, um die es hier geht. Sie waren nicht nur die „Riviera-Nichtstuer“, wie ein Buch über sie betitelt ist, sondern hartgesottene Überlebenskünstler und ästhetische Existenzen, die meist schon vor dem Zweiten Weltkrieg ins Licht der Casinos und Baccara-Tische traten. Sie waren nicht wirklich für das Berufsleben geschaffen, aber beherzigten noch die Sitte, dass man einer Dame die Tür aufhält. Und sie waren schlau genug, sich andere Wege zu suchen, um an das für ihre Abenteuer dringend benötigte Geld zu kommen. Reiche Ehegattinnen waren dabei mitunter hilfreich. Aber sie mussten erst einmal erobert werden, und zwar so, dass sie ihren Eroberern komplett verfielen – und dabei vollkommenes Glück verspürten. Berühmt wurde Rubirosas Ausspruch „Arbeit? Ich habe keine Zeit für Arbeit.“ Fünf Ehefrauen und Zsa Zsa Gabor dankten „Monsieur toujours prêt“ seinen unermüdlichen Liebeseifer mit wahren Lobesarien.

      Die Playboys waren meist keine Nabobs und Berufserben, die sich an den Paradiesstränden dieser Welt herumlümmelten. Sie arbeiteten, wie Agnelli und Sachs selbst, bisweilen unermüdlich, tauchten ab, doch in den Sommermonaten fand, sagt Sachs, regelmäßig „das Wunder von Loch Ness“ statt: Sie tauchten wieder auf, sahen und siegten und wurden gesehen.

      Einige Playboys durchlebten die Kriegswirren und manches andere, auch pekuniäre Tiefs, denn sie wuchsen oft nicht in gemachten Betten auf. Oder sie hatten wieder mal alles für eine Geliebte ausgegeben, aber das merkte man ihnen nicht an. Sie beherzigten und beherrschten, was schon Baldassare Castiglione in seinem Buch „Il Libro del Cortigiano“ im Jahre 1528 als Leitbild des Renaissance-Hofmannes beschrieb: die Sprezzatura, das heißt das Ausüben einer Tätigkeit ohne ersichtliche Anstrengung, außerdem schlagfertige Konversation, Eleganz, Bildung und, das vor allem, gewandten Umgang mit Frauen.

      Es ging um die Haltung. Sachs erzählt, dass sein peruanischer Freund Enrico Miro Quesada in den Vierzigern wegen einer Dame in Lima zum Duell gefordert wurde. Die Duellanten schritten aufeinander zu, Quesada verfehlte sein Ziel, sein Gegner setzte ihm die Waffe auf die Brust und forderte, auf Französisch: „Nun entschuldigen Sie sich“. Quesada antwortete: „Mais tirez donc, vieux con!“ („Nun schießen Sie schon, Sie altes A...!“) So geschah es. Quesada überlebte immerhin knapp.

      Der Begriff „Playboy“ taucht erstmals 1828 im Oxford English Dictionary auf. In der Definition dort heißt es: „ein Mensch, besonders ein wohlhabender, der darauf aus ist, sich zu erfreuen“; „ein selbstsüchtiger Genusssucher“. Der Erste, auf den der Begriff in den Vierzigern des 20. Jahrhunderts gemünzt wurde, war natürlich Rubirosa. Eines der hartnäckigsten Vorurteile über die Playboys ist immer noch, dass sie versnobte Dandys gewesen seien. Doch der Dandy verachtete das Leben, er war eine überzüchtete Figur aus den schwülen Salons des 19. Jahrhunderts, der Walter Benjamins Wort beherzigte, dass die „Langeweile ein warmes graues Tuch“ sei, das „innen mit dem glühendsten farbigen Seidenfutter ausgeschlagen“ sei. Der Playboy war kein gleichgültiger Ironiker, er war ein Feind der Langeweile, er verkörperte das Gesetz des Handelns. Er war kein ins Leben vernarrter Esel und doch für jeden herrlichen Unsinn zu haben. Ein Glücksritter eben, ein Kavalier und Hasardeur.

      So wie Teddy Stauffer, der als Swing-Kapellmeister europaweit erfolgreich war und selbst während der Olympischen Spiele 1936 noch in der Reichshauptstadt Berlin die verbotene „Judenmusik“ aus Amerika spielen durfte – bis der Schweizer Stauffer, wie so viele, bald darauf das Land verlassen musste. Stauffer versuchte sich in Amerika erfolglos als Hotelier, freundete sich mit Errol Flynn an, heiratete Hedy Lamarr und erbaute in Acapulco mit gepumptem Geld aus den angeschwemmten Trümmern des „Meuterei auf der Bounty“-Filmschiffes an der Steilküste von Quebrada den Nachtclub „La Perla“, der in einer Vollmondnacht im Dezember 1949 eröffnet wurde und erst den Mythos Acapulco und danach den modernen Tourismus in Mexiko begründete. „Stauffer führte auch das Hotel ,Villa Vera‘, das war gleich nebenan“, so Sachs. „Dort übernachteten vor allem Stewardessen der Linien PanAm und Lufthansa. Es wurde viel geheiratet damals.“

      Shell, Rubirosa, Ali Khan und die anderen mögen ihrer eigenen Geschwindigkeitssucht zum Opfer gefallen sein, aber ihre Zeit war in den Sechzigern ohnehin vorbei. Die sexuelle Befreiung, der Tourismus und die Popkultur machten massenhaft verfügbar, was vordem das Privileg von wenigen gewesen war. Auf dem Medienboulevard war weiterhin vom „Playboy“ Gunter Sachs die Rede, und tatsächlich fingen seine glamourösesten Abenteuer damals erst an. Doch der „Playboy“ an sich war längst im Begriff, zu einer historischen Figur zu werden.

      Sicher, glamouröse Grenzüberschreitungen finden immer noch statt. Aber irgendwie ist es nicht dasselbe, wenn heute ein Künstler mit Prostituierten und Kokain in einem Hotelzimmer erwischt wird. Sachs fällt dazu eine Losung ein: „Gouverner, c’est prévoir“ – Regieren heißt vorausschauen. Denn auch das kann man von den Playboys, diesen Herrschern einer fernen Zeit, lernen: Sie konnten ihre Geheimnisse für sich behalten.

      Man darf nur eben so viel sagen, dass das Rätsel gewahrt bleibt, die Sprezzatura weiter wirkt. „Was machen Sie“, fragte ein Reporter einmal Rubirosa, „wenn Sie eine schöne Frau kennen lernen?“ „Ich bitte sie um eine Verabredung. Wenn sie möchte, sagt sie zu.“ „Hat schon einmal eine ,nein‘ gesagt?“ – „Seien Sie kein Idiot, junger Mann.“

      Quelle: Sueddeutsche Zeitung

      Gunter Sachs, „Mein Leben“, 424 Seiten, 24,90 Euro, erscheint am 2. November 2005 im Piper Verlag, München
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      schrieb am 15.11.05 16:25:58
      Beitrag Nr. 8 ()
      EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE

      Vom Donald zum Dagobert

      Von Barbara Hardinghaus

      Wie ein Finanzbeamter säckchenweise zum Millionär wurde

      Angefangen, sagt er, habe es mit einer Mark, die ihm fehlte für ein Päckchen Zigaretten. Und Herr L. war sich sicher, er würde sie zurücklegen am nächsten Tag.

      Am nächsten Tag aber hat Herr L. gesagt "Scheiß drauf", das erste Mal. Da war Herr L. schon 14 Jahre lang Finanzbeamter der Stadt Aachen, ein rechtschaffener Mann aus einem rechtschaffenen Elternhaus, der Vater war Polizist, ein Kommissar.



      Beamter L.
      Herr L. wollte eigentlich auch Polizist werden. Aber er schaffte die Aufnahmeprüfung nicht. Also wurde er Kommunalbeamter und bekam drei Aufgaben: alle Rechnungen in den Computer eingeben, die Kasse der Stadtbücherei entleeren und das Geld aus 330 Parkscheinautomaten zählen. Dabei trank er gern Kaffee und rauchte viel.

      Eigentlich zählten sie das Geld zu zweit. Es galt das "Vier-Augen-Prinzip". Und trotzdem kam es vor, dass jemand krank war oder im Urlaub oder ohne rechte Lust. Dann stand Herr L. allein unten im Tresorraum und schaufelte die Münzen aus den gelben und grauen Schwingen mit einer rostigen Tabakdose in die Zählmaschine, von dort in die Säckchen. Wie viele Säckchen es waren, mit wie viel Geld drin, das schrieb Herr L. auf einen Schein für die Bank.

      Von seinem Fenster aus konnte er auf das Haus des Bischofs sehen.

      "Scheiß drauf", hat Herr L. gesagt, ein weiteres Mal. Und irgendwann im Winter 2000, als Münzen noch Pfennige hießen und Mark, versenkte er zwei der Säcke mit jeweils 1000 Mark darin in einen leeren Karton, von dort in den Rucksack, und in der Mittagspause legte er sie ins Auto. Tür auf, Rucksack auf die Rückbank, Decke drüber, Tür zu. Danach ging Herr L. zu McDonald`s und aß einen Salat und trank eine Apfelsaftschorle. Das machte er nun jedes Mal so. Säcke in den Rucksack, Rucksack ins Auto, dann Salat und Apfelschorle.



      Aus der "Süddeutschen Zeitung"
      Er sammelte die Münzen in seiner Wohnung. Er legte die Säckchen, und es wurden mehr, unter sein Bett. Es ging ihm nicht darum, etwas Schönes zu kaufen. Er hatte doch alles. Herr L., groß und dunkelhaarig, mit Rundbart, ein eitler Mann, wollte das Geld einfach besitzen.

      Irgendwann waren zu viele Säcke unter seinem Bett, und er fing an, die Münzen in Scheine zu wechseln an Tankstellen, an Kiosken, in Blumengeschäften.

      Das funktionierte auch lange. Bis es zu viele Säcke wurden mit zu vielen Münzen für zu wenig Tankstellen, Kioske und Blumengeschäfte in Aachen. Er wollte nicht auffallen.

      Was konnte er tun? Er erinnerte sich an etwas, das er gesehen hatte, als er mal in Heerlen gewesen war, einem niederländischen Städtchen gleich hinter der Grenze. Wechselstuben. Die wechselten alles gegen ein kleines Trinkgeld. Herr L. sagt heute, es sei nicht schwer gewesen, die Mitarbeiter zu überreden.

      Doch nach der Euro-Umstellung machte eine Wechselstube nach der anderen dicht. Herr L. fuhr nicht mehr zum Shoppen nach Holland.

      Er blieb zu Hause und überlegte, was er tun könne.

      Er begann, die Säcke in seinem Keller zu schichten. Daran, aufzuhören, dachte Herr L. nicht. Dafür liebte er jeden einzelnen Taler zu sehr. Er war vom Donald zum Dagobert geworden.

      Also: Karton, Rucksack, Auto, Keller. Und abends zum Sport, ins Fitnessstudio.

      Denn ein Sack mit über tausend 20-Cent-Stücken wiegt 5,8 Kilo. Und Herr L. brauchte mehr Kraft, nachdem ihm die Idee gekommen war, das Geld in einer belgischen Bank einzuzahlen. Er musste die Säcke zurück aus dem Keller ins Auto schleppen und fuhr wieder über die Grenze. Das tat er häufig.

      So häufig, dass die belgische Bank einen Sondertransport einrichtete, der die Münzen zur Hauptstelle nach Antwerpen brachte. Herr L. zahlte das Geld auch auf andere Konten ein, auf das seiner Schwester, der Freundin und der Mutter.

      Es war April 2003, als die Stadtkasse Aachen ihr System änderte. Da hatte Herr L. schon mehrere hunderttausend Euro weggeschafft. Er war im Rausch, im Geldrausch.

      Die Stadtkasse änderte ihr System nicht, weil sie etwas bemerkt hätte. Sie wollte, der allgemeinen Lage im Land angepasst, Kosten sparen und ließ das Geld direkt an die Bank gehen, ungezählt. Es war billiger für die Stadt, der Bank nur mitzuteilen, wie viel Geld in den Parkuhren sein müsste, statt es zu zählen. Und so kam es, dass die Stadt die Bons addierte, die der Parkscheinautomat ausspuckt. Auf den Bons steht, wie viel Geld im Apparat sein muss. Man hätte das früher tun können.

      Herr L. wusste von dem neuen System. Er hat sich gesagt "Scheiß drauf", das letzte Mal.

      Die Bank wunderte sich über die Beträge, die tatsächlich bei ihr eingingen, sie waren zu niedrig. Es fehlten mal 2000, mal 4000 Euro. Auch Herr L. wurde zur Rede gestellt. Er machte weiter, um nicht aufzufallen.

      Herr L. fiel auf, als er krank wurde. Da stimmte plötzlich alles überein.

      An einem sonnigen Oktober-Tag wurde Herr L. verhaftet. Er war gerade aufgestanden, er wollte sich anziehen, sie nahmen ihn mit, er sitzt jetzt in Untersuchungshaft seit einem Jahr, der Prozess läuft. Herr L. will alles zurückzahlen. Er hat das Geld ja nicht ausgegeben.

      Er hat Buch darüber geführt, wo er sein Geld überall liegen hat, säuberlich und gewissenhaft. Was sollte Herr L. tun? Er ist Beamter.
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      schrieb am 15.11.05 17:07:38
      Beitrag Nr. 9 ()
      :D Geil.
      Avatar
      schrieb am 21.12.05 16:50:56
      Beitrag Nr. 10 ()
      Die Hauserin
      Eine scheltende Männerstimme klang aus dem Hausflur. Unter dem Werkstatt-Tor, das durch zwei Fenster von der Haustür getrennt war, erschienen die beiden Wagnergesellen, im Schurzfell, der eine mit dem Hammer, der andere mit dem zweihändigen Schnitzer unter dem Arm; und während der jüngere aufmerksam der scheltenden Stimme lauschte, brummte der ältere: "Es scheint, die Alte hat wieder ebbes angstellt! "

      Die Stimme im Hausflur klang immer zorniger und wurde verständlich: "So was! Dös wär doch aus der Weis! Wann d` meinst, mein Haus wär a Herberg für so a Bagasch, da hast mit`m Falschen grechnet! Und daß wir der Gschicht gleich an End machen - marsch da!"

      Man vernahm einen kreischenden Schrei. über die Türschwelle stolperte ein altes Weib, fuchtelte mit den Armen und plumpste der Länge nach in den voreiligen Oktoberschnee, daß Rock und Unterrock emporflogen bis über die blaubestrumpften Kniekehlen.

      Während die Haustür zugeschlagen wurde, verschwanden die Gesellen lachend in der Werkstätte, und zwei Buben, die auf der Straße schlitterten, rannten so erschrocken davon, daß die Schlipsenden flatterten und ihr Bockschlitten hohe Sprünge machte. In sicherer Entfernung hielten sie an, guckten nach der kostenfrei über die Schwelle beförderten Alten, machten lange Nasen und spotteten: "Ätsch! Ätsch! Aussigschmissen! Aussigschrnissen!"

      Unter Verwünschungen erhob sich die Alte, schüttelte den Schnee vom Rock und streifte mit scheuem Blick die Fenster und Türen der Nachbarhäuser; außer den Buben und den beiden Gesellen, deren lachende Gesichter aus dem Werkstattfenster grinsten, schien niemand ihre Luftreise beobachtet zu haben.

      Sie humpelte auf die Haustür zu, merkte, daß drinnen der Riegel vorgeschoben war, und verzog das breite, zahnlose Maul. Ein paar Augenblicke stand sie unentschlossen auf der Schwelle; dann trat sie auf ein Fenster zu und schielte in die Stube.

      Drinnen sah sie den jungen, seit einem Jahr verwitweten Wagnermeister Jörg Hohrmiller, ihren Vetter und Spediteur, sehr mißmutig auf und nieder schreiten. In Sorge streifte sein Blick die neben dem Ofen postierte Wiege, in der sein pausbäckiges Büberl lag. Den Schnuller im Munde, guckte das Kind mit großen Augen hinauf zur weißgetünchten Stubendecke.

      Der Wagner oder, wie man im Dorfe sagt, der Wanger blieb vor dem Tische stehen und durchstöberte die Röcke, Mieder, Strümpfe und Halstücher, die da lagen. Das alles hatte der Wangerin gehört, die nach kurzer und nicht sehr glücklicher Ehe eines raschen Todes verstorben war, Und die Alte, die der Wanger nach dem Tod seines Weibes als Hauserin und Kindsfrau zu sich genommen, hatte diese Erbstücke in unbelauschten Stunden so sicher in ihrer Truhe versteckt, daß es ihr wie ein schreiendes Unrecht erschien, als der Wanger sie vor einer halben Stunde bei einer Vermehrung ihrer schön angewachsenen Sammlung ertappte und ihre Truhe umstülpte - ein Vorgang, der in der kostenfreien Beförderung über die Hausschwelle einen dramatischen Abschluß fand.

      Die Alte vor dem Fenster begann zu frieren. Sie stand mit den Strümpfen im kalten Schnee, weil sie bei dem Widerstand, den sie der kräftigen Faust des Wangers entgegengesetzt, im Hausflur ihre beiden Pantoffeln verloren hatte.

      Schüchtern klopfte sie mit dem Knöchel an die Scheibe, und als sie merkte, daß der Fensterflügel nachgab, drückte sie ihn vollends auf, faßte die eisernen Stäbe und schob den grauen Kopf durch das Gitter. "Wanger, seids doch gscheid!" klagte sie weinerlich. Machts die Tür wieder auf! Der Schnee is so viel kalt. Mir gfriert schon die ganze Ruckseiten."

      Jörg schenkte ihren Worten nicht das geringste Gehör.

      Immer eindringlicher mahnte die Alte, pochte auf ihre Verwandtschaft, auf ihre Sorge für das Kind und machte geltend, daß es für den Wanger eine gesalzene Doktor- und Apothekerrechnung absetzen könnte, wenn sie sich im Schnee einen Rheumatisi holen würde. Keine Bitte, keine Drohung wollte fruchten.

      Da wurde die Alte, die bald den einen, bald den anderen Fuß unter die Röcke hinaufzog, sehr verdrießlich und kreischte: "So? Wann`s schon so sein soll, daß wir ausanand kommen, so laßts mich wenigstens den Kufer holen und zahlts mir den schuldigen Lohn aus!"

      "Ah ja!" sagte der Wanger. "Dös kann gschehen!" Gleich darauf klirrte der Riegel, und die Haustür öffnete sich.

      Die Alte trat in den Flur. Während sie ihre Pantoffeln suchte, ließ sie, um das harte Herz ihres Vetters zu rühren, die Zähne klappern und schüttelte sich ein paarmal wie eine Ente, die aus dem kalten Wasser stieg. Dann fing sie sanft und schüchtern zu reden an: "Schauts, Vetter, dös is doch net recht -"

      "Sei stad, Zenz! Mach, daß d` auffikommst, und räum deine Zwetschgen zamm!"

      Seufzend kletterte Zenz über die steile Treppe hinauf, und der Wanger folgte. Als die beiden im Stübchen der Alten anlangten, blieb Jörg unter der Türe stehen, während Zenz die auf dem Boden liegende Wäsche zusammenlas und aus dem Kasten ihre Gewandstücke herbeitrug, um Stück für Stück in die blau und weiß bemalte Truhe zu packen. "Gewiß, Vetter, ös tuts an Unrecht an mir! Was wär jetzt da dranglegen, an dem bißl Gwand von der Wangerin selig? Ös könnts es ja doch net anziehn! Und eh dös Zuig im Kasten vergrabelt, müßts doch a bißl bedenken, daß ich an arme, verlassene Wittib bin?"

      "Dein Madl is im Dienst, dein Bub hat sein schöns Auskommen als Schreinergsell, und du selbst hast `s Geld von deim verkauften Häusl am Zins liegen. Da wird`s net so weit her sein mit der verlassenen Arrnut."

      "Aber Vetter?"

      "Nix Vetter! Einpacken! Hättst a Wörtl gsagt, ich wär auf dös bißl Zuig net angstanden. Aber daß man eim `s Sach aus`m Kasten forttragt, dös geht doch net an. Freilich, du bist allweil so gwesen."

      "Ah na!"

      "Ah ja! Und was amal a Dacherl (*Dohle*) is, dös wird kein Stieglitz nimmer. Ich kann kein` Menschen im Haus haben, vor dem man Kisten und Kasten versperren muß." Der Wanger warf mit dem Fuß den Deckel der gepackten Truhe zu und rief über die Treppe hinunter: "Veit! Wastl! Tragts den Kufer in d` Werkstatt abi!"

      Die zwei Gesellen kamen, und Wastl, der jüngere, sagte lachend: "Heut kauf ich mir an Extramaß, weil dö alte Bißgurn endlich aus`m Haus kommt!"

      In der Stube drunten holte Jörg aus dem Wandschrank einen Lederbeutel hervor und zählte der Alten den Lohn in Markstücken auf den Tisch.

      "Vetter! Überlegts es enk! Denkts an dös arme Würmerl, dös kein` Menschen hat, wann ich mich net drum annimm. Bin ich amal draußen bei der Tür, so komm ich nimmer zruck!" Warnend hob sie den Zeigefinger. "Gwiß net!"

      ,Gott sei Lob und Dank. Dös Versprechen mußt halten. Da schnaufen wir auf im Haus."

      "So! Is schon gut!" Ohne Gruß und Abschied klapperte die Alte in ihren Pantoffeln der Türe zu, die sie zornig hinter sich ins Schloß warf.

      Der Krach schien das Kind erschreckt zu haben. Leise begann es zu weinen. Jörg sprang zur Wiege, suchte unter zärtlichen Worten den Schnuller, tauchte ihn in ein Schälchen mit Zuckerwasser, das neben der Wiege auf der Ofenbank stand, und schob ihn wieder in das Mäulchen, das begierig schnappte.

      Obwohl das Kind beruhigt war, blieb Jörg bei der Wiege sitzen und schaukelte.

      Das braune, von einem kurzen, gekräuselten Backenbart umrahmte Gesicht des Meisters war noch jugendlich. Jörg hatte noch nicht das dreißigste Lebensjahr überschritten; aber ein männlicher Ernst lag in den stillen Augen. Schwere, unermüdliche Arbeit hatte den jungen Wanger frühzeitig gereift.

      Wenige Wochen nach Jörgs achtzehntem Geburtstag war sein Vater einer Krankheit erlegen und hatte dem einzigen Sohn ein stattliches Haus und das einträgliche Geschäft hinterlassen. Als der Schmerz überwunden war, hatte Jörg sich mit einer Rastlosigkeit, die man von dem jungen Burschen nicht erwartet hätte, in sein Geschäft hineingearbeitet. Das war vonnöten gewesen. Kurz nach dem Tod des alten Wangers hatte ein früherer Gesell im Dorf eine zweite Wagnerei aufgetan, der viele Kunden zuliefen. Alle kehrten wieder zu Jörg zurück, der besser und billiger arbeitete. Der andere mußte seine Werkstatt wieder zusperren. Vom Morgen bis in die Nacht hatte Jörg mit seinen zwei Gesellen zu tun. So verging ihm Jahr um Jahr. Am Abend nach der Arbeit saß er mit der Mutter beisammen, rechnend oder schwatzend, und am Sonntag machte ihm ein Spaziergang im Wald und über die Acker größeres Vergnügen als der Spektakel in der dunstigen `Virtsstube. Auch zu keiner richtigen Liebschaft hatte er`s bringen können, obwohl im Dorf manches Mädel herumging, das den schmucken, fleißigen Burschen gerne genommen hätte.

      Jörg war fünfundzwanzig Jahre alt geworden, als seine Mutter zu kränkeln begann. Es wurde immer schlimmer mit ihr. So wenig diese Erkenntnis sie betrübte, so sehr war sie von Sorge um den Sohn erfüllt, den sie gerne geborgen bei einer braven Frau gesehen hätte. Als sie das erstemal davon sprach, hatte Jörg ihr mit fröhlichem Trost die Sorge auszureden gesucht. Immer wieder, erst von Woche zu Woche, dann Tag für Tag begann sie zu drängen. Schließlich sagte er ja. Und nur der Mutter zuliebe geschah es, wenn Jörg eine Wahl traf, die übereilter war als überlegt. Da diente im Dorf bei einem Bauern ein junges Mädel, Franzi mit Namen, ein Geschwisterkind der alten Zenz, deren Mann das früh verwaiste Geschöpf aus seiner Heimat ins Dorf gebracht hatte. Man wußte, daß Franzi fleißig ihre Arbeit tat. Auch hübsch war sie, gut gewachsen. Aber aus dem wohlgeformten Gesichte blickten zwei Augen heraus, die Glanz hatten und doch ohne Sprache waren.

      Rascher, als Jörg erwartete, stimmte Franzi seiner Werbung zu. Nach einem Brautstand von drei Wochen war die Hochzeit in Freude gefeiert worden, wobei den jungen Meister nur der Umstand betrübte, daß die kranke Mutter nicht an der Ehrentafel sitzen konnte.

      Franzi, wie sie ging und stand, zog in das stattliche Haus. Ein paar Wochen verflossen, wenn nicht in Glück, doch in Ruhe. Den ersten Streit setzte es, als Franzi die alte Wangerin, die ihr einen auf die Wirtschaft bezüglichen Rat mit freundlichen Worten erteilt hatte, scheltend abfertigte. Jörg verwies ihr das, und Franzi spielte die Gekränkte. Als Jörg nach ein paar Tagen die Verstimmung gutmütig auszugleichen suchte, traktierte sie ihn mit Ungezogenheiten. Das Befehlen und Schelten wurde ihre Angewohnheit, der Putz ihre einzige Sorge. Ihr Hochmut brachte sie mit allen Nachbarsfrauen in Zwist, bis schließlich die alte Zenz, die immer im Wagnerhause hockte und die junge Frau mit Schmeicheleien überschüttete, Franzis einzige Freundin blieb. Ihrem Manne ging dieses Leben hart ans Herz. Am bittersten litt darunter seine Mutter, die, was sie für das Glück ihres Sohnes gehalten, in ein unkurables Elend ausarten sah. Und als sie bei ihrer Altersschwäche den Kränkungen erlag, die sie von der jungen Meisterin täglich erdulden mußte, erkaltete in Jörg der letzte Rest von Zuneigung zu seinem Weib. Von nun an ließ er Franzi tun und treiben, was sie wollte, sah nur darauf, daß ihr Geldverbrauch seinen Verdienst nicht überschritt; und selten lächelnd, lebte er ganz in seiner Arbeit.

      Erst als sein Weib nach Ablauf des zweiten Jahres einen Buben gebar, wachte auch Jörg wieder aus seiner Schwermut auf und wandte zärtlich sein Herz dem Kinde zu. Und als die Franzi, die nach der Geburt in launenhaftem Eigensinn jede Schonung ihres Körpers außer acht ließ, in eine schwere Krankheit verfiel, von der sie nicht mehr aufstand, betrauerte er sie ehrlicher, als sie es um ihn verdient hatte.

      Diesen vergangenen Dingen sann der junge Wanger nach, während er die Wiege des Kindes schaukelte, das eingeschlafen war. Seufzend erhob er sich und räumte die Gewandstücke vom Tische fort. Der Kuckuck in der Wanduhr rief die dritte Nachmittagsstunde. Das war die Brotzeit. Nun mußte Jörg dafür sorgen, daß die Gesellen ihr Bier und später ihr warmes Abendessen bekamen.

      Er vertauschte den Hausrock gegen eine Joppe, stülpte das Filzhütl aufs Haar, entnahm der Mischlade einen Laib Brot und verließ nach einem Sorgenblick auf das schlummernde Kind die Stube. In der Werkstätte, in der noch die Truhe der verabschiedeten Alten stand, übergab er das Brot dem älteren Gesellen.

      "Grad spring ich ins Wirtshäusl, daß man enk`s Bier ummischickt. Und bis siebne laß ich enk drüben`s Essen richten. Schau mir halt derweil fleißig nach`m Kind! Wann`s aufwacht und grantig wird, bleibst a bißl sitzen dabei. Gelt ja?"

      Als Jörg die Wirtsstube betrat, fand er, dem Werktag angemessen, nur wenige Gäste. Im Herrgottswinkel sah er den Wirt bei einigen Dorffaulenzern sitzen, die sich die Zeit mit Zwicken vertrieben, einem Kartenspiel, das, wie der Volksmund sagt, gleich nach dem Stehlen kommt.

      Das war keine Gesellschaft, wie Jörg sie liebte. Er schritt einem Tische zu, an dem ein vereinsamter Gast saß, ein alter Mann, der sich durch blaue Mütze und Ledertasche als Briefbote des Dorfes kennzeichnete und dem jungen Meister mit freundlichem Gruß den Krug zum Willkommstrunke geboten hatte.

      "Vergelt`s Gott!" dankte Jörg, als er nach kräftigem Zuge den Krug auf den Tisch stellte. "Sag, Ürle (*Ulrich*), wie geht`s denn allweil bei dir?"

      "Allweil auf zwei Füß, acht Stund lang im Tag. Mir schlafen d` Waden net ein."

      Die Kellnerin brachte dem jungen Meister das Bier. Er ersuchte sie, seinen Gesellen zwei Maß hinüberzuschicken, und gab ihr den Auftrag wegen des Abendessens.

      "Seit wann schickst denn du deine Gesellen zum Essen ins Wirtshaus?" fragte der alte Ürle.

      "Seit heut. D` Hauserin is mir ausgstanden."

      "Was? Dein Basl? Warum denn?"

      Jörg zuckte die Achseln. "Sie is an alts Leut. Da wird ihr halt d` Arbeit z`viel worden sein! Und jetzt sitz ich da mit`m Kind und wär froh, wann ich wieder a verlässige Hauserin hätt."

      "Kreuzsaxen!" Der Alte schlug mit der Faust auf den Tisch. "Allweil bin ich beim Glück um an Zipfel z` kurz kommen. jetzt paßt mir amal ebbes auf der Welt! Mein Madl, d` Vroni - die kennst ja, sie is um drei, vier Jahrln jünger als du -"

      Jörg nickte. "Sie is ja mit mir in d` Feiertagsschul gangen."

      "No also! Und die Zeit her war `s Madl beim Einödbauer am Dings droben im Dienst, zwei Jahr lang. A paar Wochen nach deiner Hochzet hat sie sich eindingt. Und gestern auf d` Nacht, was sagst, kommt `s Madl daher, is droben auf und davon gangen, weil ihr der Bauernsohn kei` Ruh mehr lassen hat. So a bravs Madl! Arbeiten tut s` wie a Roß. Und zu die Kinder hat s` a damische Freud. Magst es net haben als Hauserin?" Ürle streckte die Hand über den Tisch hinüber. "Schlag ein! Mir nimmst a Sorg von der Seel. Daß `s Madl bei dir gut ghalten is, dös weiß ich. Und du hast a brauchbare Hilf im Haus."

      Einen Augenblick besann sich Jörg, dann schlug er in die Hand des Alten ein. "Meinetwegen! Sie kriegt, was ihr der Einödbauer zahlt hat. Und daß dö Sach a Sicherheit hat -" Er zog den Lederbeutel und schob dem Alten ein Talerstück zu. "Da nimm! Kannst ihr als Vater `s Drangeld geben."

      "Jessas, dö Freud, dö mei` Alte haben wird!" lachte Ürle. "Die ganz Nacht hat s` gflennt vor lauter Kümmernis. ja, Mensch, da muß ich machen, daß ich heim komm!"

      "Grüß mir d` Vroni derweil. Morgen in der Fruh kann s` einstehn."

      "Wohl! Pfüet dich, Jörg! Und Vergelt`s Gott!"

      "Braucht`s net. Ich zahl, und `s Madl schafft."

      Als Jörg nach Hause kam, fand er sein Kind noch schlafend. Während seiner Abwesenheit war die Zenz dagewesen, um ihre Truhe auf dem Schubkarren zur Schmiedin hinüberzuradeln. Sie hätte da ein Stübl gemietet, ließ sie dem Wanger sagen, und wäre jederzeit zu finden.

      "Da kann ihr`s Warten lang werden!" meinte Jörg. "Der wachst a Hühneraug auf der Geduld."

      Als es Feierabend wurde, zündete er in der Stube die von der Decke auf den Tisch herunterhängende Petroleumlampe an, schob ein paar buchene Holzklötze in den Ofen und stellte für den Fall, daß das Kind in der Nacht hungrig erwachen könnte, ein mit Milch gefülltes Blechschüsselchen in das Bratrohr. Dann setzte er sich an den Tisch und überließ sich den sanften Aufregungen des Bezirkstageblattes für die christliche Landbevölkerung.

      Nach gründlicher Beendigung der Lektüre ging er in den Flur hinaus, um nachzusehen, ob Schloß und Riegel in Ordnung wären. Aufs Kochen für sich selber verzichtete er, tauchte die Finger in das Weihwasserkesselchen und besprengte zuerst das schlummernde Kind, dann das eigene Gesicht. Achtsam trug er die Wiege in seine Schlafkammer.

      Viel Ruhe fand er nicht. Ein dutzendmal erwachte er und lauschte zur Wiege hinüber. Sooft er einduselte, hatte er einen flinken, dummen Traum. Einmal träumte er, daß er um Wagendeichseln in den Birkenwald gegangen wäre. Und da hörte er, über eine halbe Stunde weit, sein Bübl schreien, rannte heim wie verrückt und öffnete die Stubentür. Überrascht blieb er stehen, die Klinke in der Hand. Auf der Ofenbank, neben der Wege, saß die Vroni, genau so, wie er sie vor zwei Jahren gekannt hatte, mit dem schmächtigen Figürl, mit den großen Augen und den schmalen Wangen, deren Blässe durch das tiefe Braun der Haare noch gehoben wurde. Mißmutig nickte sie ihm zu, ganz wie die alte Zenz, und wollte augenscheinlich etwas sehr Feindseliges sagen, wandte sich aber zur Wiege zurück, weil das Bübl zu Weinen anfing.

      Das letztere war nimmer Traum, schon Wirklichkeit. Jörg sprang aus dem Bett, fuhr in die Hose und machte Licht. Tröstend hob er den Kleinen aus der Wiege und suchte ihn durch Schaukeln auf den Armen zu beruhigen. Als dieses Mittel nicht fruchten wollte, nahm er den Leuchter und ging in die Stube hinaus, die besser durchwärmt war als die Schlafkammer. Eben verkündete der Kuckuck die sechste Morgenstunde. Der etwas hilflose Vater holte das Milchschüsselchen aus dem Bratrohr, versuchte den kleinen Schreihals durch ein ausgiebiges Frühstück zu besänftigen und war herzlich froh, als er die schwierige Arbeit vom besten Erfolge belohnt sah. Dabei überhörte er, daß jemand ans Fenster pochte. Erst als er die Wiege aus der Schlafkammer herausgezogen und seinen friedlich gewordenen Sprößling zu neuem Schlafe gebettet hatte, hörte er das Klopfen. Er trat ans Fenster und öffnete. "Wis is denn?"

      "Ich bin`s, der Ürle!"

      "Was willst denn schon in aller Fruh?"

      "Bei der Hausmutterei hab ich dir a bißl zugschaut. A sorgsamers Kindsmadl, als d` selber bist, kannst net kriegen!"

      Jörg lachte. "Wann d` Wiegen pumpert, lernt einer viel. Aber was willst denn?"

      "Sagen hab ich dir wollen, daß d` Vroni kommt, wie`s Tag wird. Und was ich fragen will - hast du `s Madl amal betrübt? "

      "Ich? Na! Warum denn?" fragte Jörg erstaunt.

      "Sie hat mir`s schier verübelt, daß ich `s Drangeld gnommen hab. Und es is mir fürkommen, als ob s` dir wegen ebbes bös wär."

      "Ich kunnt mir net denken, warum. Wir waren allweil gut Freund mitanand. Aber halt, ja - in der Feiertagsschul, da hab ich ihr amal im Spaß a Bussel geben. Da hat s` a bißl trutzt mit mir."

      "No, dös wär noch lang net`s Gfahrlichste!" lachte Orle. "Und ich hab mir schon fürgstellt, Gott weiß was! Daß aber d` Weibsbilder allweil übertreiben müssen mit söllene Sachen. A bißl Spaß muß der Mensch verstehn. Sonst lauft der allweil umanand wie `s wehleidige Katzl." Der Alte wanderte durch die weiße Morgenfrühe davon.

      Jörg schloß das Fenster, heizte den Ofen, trat in den Flur hinaus und rief über die Treppe: "Veit! Wastl! Siebne hat`s gschlagen! Heut müssen wir uns selber d` Suppen kochen!" Er machte Feuer auf dem offenen Küchenherd, setzte in einer Pfanne das Wasser für die Suppe zu und kam dabei zu der Einsicht, wieviel schwierige Arbeit eine Hauserin zu leisten hatte. Er schätzte deshalb die alte Zenz nicht höher ein, beschloß aber in gerechter Erwägung, die neue Hauserin gut und freundlich zu behandeln.

      Wastl bot sich als Koch an, und während er auf einem kleinen Brett eine dicke Zwiebel in dünne Scheiben schnitt, standen Jörg und Veit daneben und guckten zu. Auf den Gesichtern der drei Männer lag der rote Schein der Herdflamme, und durch das kleine Fenster stahl sich schon das Zwielicht des werdenden Tages.

      Als Wastls Kochkunst ihr Meisterstück zur Vollendung brachte, gingen die zwei andern in die Stube, wo Veit den Tisch zu decken begann und die Weisheit aussprach: "Es ist schon wahr, ohne Weiberleut schaut `s Leben a bißl zahnlucket aus."

      Jörg verschwand in seiner Schlafkammer, um sich vollends anzukleiden. Als er wieder in die Stube trat, trug Wastl die Schüssel mit der dampfenden Suppe auf, und Veit holte den Knecht, der in der Scheune für die drei Milchkühe und die zwei Rosse das Frühfutter schnitt. Als die beiden kamen, sprachen alle vier zusammen den Morgensegen und rutschten in die Bänke.

      Wastl teilte die Suppe aus und begann unter Zeichen höchster Befriedigung zu essen. Die andern, als sie den ersten Löffel gekostet hatten, schoben schleunigst den Teller fort. Die Suppe war bis zur Ungenießbarkeit verpfeffert. Wastl wollte das nicht glauben und aß immer zu, bis auch ihm ein Hustenreiz das Wasser aus den Augen trieb, daß er ärgerlich den Löffel in die Schüssel werfen mußte.

      Während er von seinen Tischgenossen ausgelacht wurde, öffnete sich die Tür, und in die Stube trat ein hochgewachsenes Mädel mit einem von Gesundheit blühenden Gesicht. "Grüß Gott, Wanger. Da bin ich!"

      Jörg erhob sich und betrachtete mit zweifelndem Verwundern das Mädel, das in dem braunen Rock, in dem knappen Mieder mit dem Seidentuch und in dem grünen, mit einem kleinen Buchszweig gezierten Hütl eine so wohlgefällige wie stattliche Erscheinung bildete.

      "Kennst mich am End gar nimmer?" fragte das Mädel in einem Ton, dem man eine leichte Verstimmung anmerkte.

      "Wann ich net wüßt, du mußt d` Vroni sein, möcht ich fast denken, du bist es net."

      Sie zuckte die Achseln. "D` Leut wachsen sich aus mit die Jahr."

      Jörg, ein bißchen befangen, trat auf Vroni zu, um ihr die Hand zu reichen. "Sag ich dir halt Grüßgott im Haus. Unser Herrgott soll dein` Einstand segnen. Mich kennst. Dö zwei sind meine Gesellen, der Veit und der Wastl. Und dös is der Knecht. Da hast alle beinand, mit denen du hausen mußt."

      "Alle? Da hast dich verrechnet, Wanger!" Vroni ging zur Wiege und strich mit sanfter Hand über das Köpfl des schlafenden Kindes.

      Ein Strahl der Freude leuchtete in Jörgs Augen. Madl, jetzt hast es gwonnen bei mir. Daß wir gut auskommen mitanand, an mir soll`s net fehlen."

      Vroni hob das Gesicht. "Mußt mich halt einweisen ins Haus und in d` Arbeit." Lächelnd sah sie die Suppenschüssel an. "Mir scheint, es pressiert a bißl."

      "Magst net a Schlückl kosten?" fragte Veit und hielt dem Mädel den gefüllten Löffel hin.

      "Na, ich dank schön, ich hab schon vom Anschaun gnug."

      "Mußt mich halt bei der Kocherei in d` Schul nehmen", lachte Wastl; "du schaust so aus, als ob einer ebbes lernen kunnt bei dir."

      Der junge Meister mahnte etwas ärgerlich. "Es is Zeit in d` Werkstatt!" Er wandte sich an Vroni. "Komm! Ich zeig dir dein Stüberl." Er öffnete die Tür und ließ das Mädel in den Flur treten. "Was is denn mit deim Sach?"

      "Draußen im Hof steht schon der Kufer. Ich hab ihn selber herzogen auf`m Schlitten."

      Jörg führte die Hauserin über die Treppe hinauf und zeigte ihr die Kammer der alten Zenz. Es war ihm leid, daß der kleine Raum so unfreundlich aussah. "Mußt dir halt alls a bißl zammrichten. Wann ebbes haben willst dazu, brauchst es nur zu sagen."

      Er öffnete die Türen zu den Gesindekammern, die Vroni in Ordnung zu halten hatte. Über den dichtgefüllten Heuboden führte er sie zu der Leiter, die in die Scheune hinunterging, zeigte ihr das Holzrohr, durch das man Heu und Häcksel in den Stall befördern konnte, und den kleinen Bretterverschlag, in dem die Sensen, Rechen, Sicheln, Heugabeln und Grabscheite verwahrt wurden. Dabei redeten die beiden immer von der Arbeit, ernst und ruhig.

      Nun stiegen sie wieder über den Flur hinunter, besichtigten die Küche und den Milchkeller, gingen durch die Wohnstube in Jörgs Schlafkammer und traten ins Freie, um das ganze Haus zu umwandern. Eine Zeitlang standen sie im Gemüsegarten, der vor der Giebelwand gelegen war. Jörg zeigte der Hauserin die mit Schnee bedeckten Beete und nannte die Gemüsesorten, die er anzubauen pflegte. Dann betraten sie durch ein Türchen des Staketenzaunes den Wiesengrund. Einige Tagwerke umfassend, zog er sich eben gegen die sanft ansteigenden Vorberge hin und war mit zahlreichen Obstbäumen durchsetzt, die ihre schneeumfrorenen Aste still emporstreckten gegen den grauen Himmel.

      "Da kann`s Äpfel geben!" sagte Vroni.

      "Gelt, ja! Wo guter Boden is, wachst allweil ebbes." Und wieder betrachtete der Wanger die Gestalt des Mädels, als wäre das eine ganz unbegreifliche Sache, wie in der kurzen Zeit von zwei Jahren aus solch einem schmalwangigen, schmächtigen Ding eine so kernfeste Person sich herauswachsen konnte.

      Sie bemerkte diesen Blick, wurde ein bißchen rot und fragte: "Was schaust mich denn allweil so an?"

      "Net gnug verwundern kann ich mich." Er dachte an seinen Traum. "Erst heut in der Nacht -" Nun war es an Jörg, verlegen zu werden, während er sich verbesserte: "will sagen, gestern am Nachmittag, wie ich mit deim Vater gredt hab von dir, ja, da hab ich mir allweil fürgstellt, wie d` amal ausgschaut hast-" Er sprach nicht weiter.

      Sie waren an der anderen Glebelseite des Hauses angelangt, und der Wanger musterte aufmerksam die schlanken, in Spiralen geschälten Birkenstämme, die zu Dutzenden an der Wand lehnten, um zu Wagendeichseln und Leiterbäumen verarbeitet zu werden. "Ja, Madl, arg hast dich vermodelt. Net bloß auswendig. Früher amal bist allweil kameradschäftlich gwesen zu mir. jetzt aber-"

      "Was?" fragte sie und sah ihn ruhig an.

      "Dös muß sich doch a bißl umdraht haben?" entgegnete Jörg, während er mit dem Fuß den Schnee vom Boden scharrte wie ein Dackl, der sich niederlegen möchte. "Sonst kunnt ich mir riet denken, warum dich so gwehrt hast dagegen, wie dir dein Vater gsagt hat, du sollst zu mir als Hauserin kommen?"

      Dem Mädel stieg das Blut in die Stirne. "Wer sagt denn dös?"

      "Dein Vater selber hat mir`s gsagt, heut in der Fruh."

      "Mein Vater kunnt dein Basl sein, weil er gar so gern tratscht!" platzte Vroni heraus.

      ,Wär`s ebba riet wahr?"

      "Lügen tut der Vater net."

      "No also!"

      "Dös brauchst mir net verübeln. So einfach is dös net: über Nacht an Dienst kriegen, wo man net weiß, wie man sich stellen muß, was für Arbeit verlangt wird und ob man die richtigen Händ dafür hat. Gwissenhäftigkeit is kein Unrecht net. Dös därfst mir net nachtragen."

      "Ah, na, na, na, na, Madl!" Jörg reichte ihr lächelnd die Hand. Von nachtragen is kei` Red net. Ich hab mir halt denkt, es is besser bei so was, wenn man`s beredt."

      "Freilich, ja!" nickte Vroni aufatmend und folgte dem Meister durch die Wagenremise in den Stall.

      Hier schirrte eben der Knecht die beiden Rosse an, um in den Wald zu fahren. Während Jörg mit Vroni am gemauerten Futterbarren entlang ging, lobte sie die Sauberkeit und Ordnung im Stall, was der Knecht unter vergnügtem Schmunzeln mit anhörte; auch dem schönen Schlag seiner drei Milchkühe machte sie ein wohlverdientes Kompliment und faßte eine Blässin bei der Schnauze, um ihr sanft die Nüstern zu reiben. Als die beiden andern Tiere das sahen, drängten sie brüllend ihre dicken Köpfe gegen Vronis Hand.

      "Da schau", sagte Jörg, "was dös für a paar eifersüchtige Trutscheln sind."

      "Da hab ich droben beim Einödbauer mein Kreuz ghabt!" antwortete sie lachend. "Ihrer neune waren im Stall. Wann ich futtern kommen bin, hab ich grad Arbeit ghabt, daß ich jeder gschwind Grüßgott sag. Sonst hätten s` anand umbracht. Is schon wahr."

      "Ja, ja", meinte Jörg, "die Behandlung macht`s aus, beim Viech net anders als wie beim Menschen. Aber komm, jetzt schaffen wir dein` Kufer ins Stübl auffi. Bis alles in Ordnung hast, dauert`s allweil a Stündl, und nacher mußt dich ums Bier für die Gsellen sorgen."

      Sie traten ins Freie und gingen zur Haustür, wo Vronis Koffer stand. Da blieb der Meister horchend stehen.

      "Sauber, ja, und gut gwachsen", klang die Stimme des älteren Gesellen durch das Fenster der Werkstatt, "da hat er den richtigen Griff gmacht."

      "Ja, ganz mein` Gusto hat er troffen!" lachte Wastl.

      "Da wird dir der Schnabel trucken bleiben! Dös Madl scheint mir so stolz wie sauber."

      "Die Stolzen sind net allwell die Brävsten."

      Wastl hatte noch nicht ausgesprochen, als Jörg das Tor aufstieß. "Du! Laß dir ebbes sagen! Noch an einzigs solches Wörtl, und du warst am längsten in meim Haus!" Er wandte sich von dem Verdutzten ab und verließ die Werkstätte.

      Die Hauserin hatte ein bißchen von ihrer gesunden Farbe verloren. "Vergelt`s Gott, Wanger! Aber du mußt dich net alterieren!" sagte sie ruhig. "D` Welt hat allweil den gleichen Buckel. So reden s` überall. Man gwöhnt`s. Und geht`s eim über d` Schnur, so kann man Schluß machen und marschieren." Sie bückte sich, um den Henkel des Koffers zu fassen.

      "Laß gut sein, Madl! Den lupf ich schon allein."

      Als der Koffer droben im Stübchen stand und Vroni aus ihrer Tasche den Schlüssel hervorsuchte, sagte Jörg: "Drunt in der Stuben leg ich dir`s Biergeld auf`n Tisch. Wir müssen heut a bißl früher Brotzeit halten. Vom Wastl seiner Pfeffersuppen hat keiner an Löffel voll essen können. Schaust halt nacher bald dazu!" Er nickte einen stummen Gruß.

      Die Tage vergingen. Bald war es allen merklich, welch ein frischer Lebensgeist mit Vroni in das Haus des Wangers eingezogen war. In allem und überall zeigte sich ihre Hand. Und dieser Umschlag zum Freundlichen, der das ganze Hauswesen umfaßte, spiegelte sich im kleinen in der Umgestaltung, die Vronis Stübchen erfahren hatte. Als Jörg acht Tage nach ihrer Ankunft den kleinen Raum betrat, blieb er überrascht auf der Schwelle stehen. Wie nett und schmuck und wohnlich sah es hier aus! Die Fenster hatten weiße Vorhänge; die Wände waren geziert mit Photographien in gepreßten Papierrähmchen, mit Heiligenbildern und mit verholzten Schwämmen, auf denen hübsche Holzfiguren standen: die Heiligen Drei Könige und die schwarze Muttergottes von Altötting; aus der Ecke über dem Bett neigte sich ein kleines Kruzifix mit Palmzweigen und Schilfkolben; auf dem Kleiderschranke standen drei Scherben mit künstlichen Rosen, und über der Kommode erhob sich ein Hausaltar, auf dem ein wächsernes Jesuskind zwischen Spitzen und bunten Bändern schlummerte, geschützt durch einen blanken Glassturz.

      Velt und Wastl, besonders der letztere, predigten im Dorf das Lob der neuen Hauserin. Wenn Vroni bei der Arbeit einer Hilfeleistung bedurfte, brauchte sie nur zu winken. Da sprangen die Gesellen und der Knecht mit langen Beinen. jeder wollte es dem andern zuvortun, und wieder war es Wastl, der sich bemühte, durch Aufmerksamkeiten aller Art seine leichtfertigen Worte bei Vroni vergessen zu machen. Bald kam es so weit, daß den dreien Vronis Wort im Hause höher galt als die Stimme des Meisters. Und fast schien es, als fände Jörg das selbstverständlich. Auch er gewöhnte sich daran, bei allem, was er begann, den Rat der Hauserin einzuholen. "Vroni, was meinst?" Oder: "Vroni, wie glaubst?" So pflegte er seine Fragen einzuleiten. Sie sagte: "Ich glaub halt -" Oder: "Ich mein` halt -" Und gab dann ihre kurze, klare Antwort.

      Am meisten gewann durch Vronis Eintritt in des Wangers Haus das kleine Bürschl in der Wiege. Jörg hatte sich bei seiner vielen Arbeit wenig mit dem Kinde beschäftigen können, und die alte Zenz hatte es mit ihrer Sorge nie sehr genau genommen. Schrie das Kind, so hatte sie ihm mit einem dicken Schnuller das Mäulchen gestopft oder hatte es durch heftiges Wiegen eingeschläfert. Das Kind lag die längste Zeit des Tages in seiner Schaukelkiste und hatte sich dabei an überlanges Schlafen gewöhnt.

      Nun war in kurzer Zeit aus ihm ein lustiges, munteres Kerlchen geworden. Vroni widmete ihm jede freie Minute, verrichtete jede kleinere Arbeit in der Nähe des Kindes und nahm es bei jedem Ausgang mit ins Freie. Als der voreiligen Oktoberhälfte gegen Ende des Monats eine Reihe linder Tage folgte, konnte Vroni die Wiege des Kindes während der Nacht in ihrem Stübchen haben. Keine Mutter hätte aufmerksamer und fürsorglicher sein können.

      Mit Freude sah Jörg diesen freundlichen Wandel an und ärgerte sich dabei ein bißchen, weil es ihm vorkam, als würde er selbst am spärlichsten bedacht. Vroni verhielt sich ihm gegenüber wunderlich still und zurückhaltend, fast scheu. In den ersten Tagen, als sie noch nicht Bescheid wußte im ganzen Haus und sich mit häufigen Fragen an den Meister wenden mußte, war`s nicht so fühlbar gewesen. Später trat es immer deutlicher hervor. Und manchmal wollte es dem jungen Meister scheinen, als möchte Vroni geflissentlich ein Alleinsein mit ihm vermeiden.

      Wenn sie mit einem der Gesellen im Gespräche stand und Jörg trat unerwartet hinzu, mußte er mit Erstaunen gewahren, daß Vroni leicht erschrak, in der Rede stockte oder sich rasch entfernte. Wie es der Zufall wollte, merkte Jörg das mehrmals hintereinander, wenn die Hauserin mit dem Wastl sprach. Es stieg der Verdacht in ihm auf, daß zwischen den beiden sich was anzuspinnen begänne, und darüber erwachte in ihm eine Art von Eifersucht, die er nicht begriff. ihm konnte es doch völlig gleichgültig sein, mit wem und was seine Hauserin schwatzte. Trotzdem fing er an, die zwei jungen Leute schärfer zu beobachten. Daß Wastl bis über die Ohren in das Mädel verliebt war, schien ihm begreiflich. Aber er konnte bei aller Aufmerksamkeit keinen Beweis dafür finden, daß Vroni gegen den Burschen freundlicher wäre als gegen sonst jemanden - freilich noch immer freundlicher als gegen ihn selbst.

      Nun ging es seit Vronis Ankunft in die dritte Woche, auf deren Donnerstag das Fest Allerheiligen fiel. Am Vorabend war Jörg zum Friedhof gegangen, um die Erdhügel auf den Gräbern seiner Eltern und seines Weibes zu lockern und mit schwarzem, feingesiebtem Sand zu überstreuen. Bis spät in die Nacht saß er mit Vroni und den Gesellen in der Werkstatt, um für den Allerseelentag die Trauerkränze aus Immergrün zu winden, da es nach dem frühgefallenen Schnee mit den Blumen mager aussah.

      Als er unter Beihilfe seiner Gesellen am Allerseelenmorgen diese Kränze zum Friedhof trug, war er nicht wenig überrascht, die Gräber schon geschmückt zu finden; auf jedem Hügel lag ein dicker Kranz von Buchszweigen, in deren dunkles Grün zierliche Papierrosen eingebunden waren, und ein kleines Kränzl hing an jedem der drei schmiedeeisernen Grabkreuze. Der Meister glaubte zu wissen, von wem diese Kränze wären - hatte er doch am vergangenen Abend die Buchsbäumchen in Ürles Garten bis zur Kahlheit geplündert gesehen.

      Jörg wäre am liebsten gleich nach Hause gelaufen, um der Vroni ein Vergelt`s Gott zu sagen; doch bis zum Beginn der Trauermesse wäre er nicht mehr zurückgekommen.

      Eine Stunde später, als der Gottesdienst zu Ende war und die Leute durch den Friedhof wanderten, wollte auch Jörg noch für ein Gebet seine Gottseligen aufsuchen und fand da die alte Zenz. Sie kniete vor dem Grab der Franzi, zwischen den spinnigen Fingern den Rosenkranz, dessen braune Perlen sie unter Gemurmel gleiten ließ.

      Jörg nickte in Mißbehagen einen Gruß, nahm den Hut herunter und sprach ein stilles Vaterunser. Als er aus dem Friedhof auf die Straße trat, haschte ihn die Alte beim Ärmel.

      "Vetter! Schauts! Heut wär der richtige Tag, wo wir uns aussöhnen kunnten? Oder net?"

      "Wegen was denn aussöhnen? Ich bin dir net feind. Du bist mein Basl, ich bin dein Vetter wie von eh. Und somit pfüet dich Gott!"

      Die Alte humpelte ihm nach. "Wir haben ja den gleichen Weg mitanand."

      "Von mir aus, geh halt mit."

      Nun ging`s los bei der Alten, klipper und klapper. Jörg hörte das eine Weile stumm mit an, bis es ihm zu dick wurde. "Jetzt hör amal auf mit deim gottssträflichen Gschnader. Du bist ja zum Fürchten! Dem gnad unser Herrgott, der bei dir zwischen die Beißzang kommt."

      "Aber Vetter! So was! Ich red doch kein Wörtl, dös ich net beeidigen kann. Ich bin überhaupts kei` Freundin vom vielen Reden. Es is bloß, daß der Vetter weiß, vor wem er sich hüten muß."

      "Fahr ab, du scheinheilige Ratschen! Meinst, ich weiß net, daß d` mich in deiner bösen Gosch umanand tragst im ganzen Ort und bei alle Leut?"

      "Ah! Ah! Mar` und Josef!" klagte die Alte. "Ich? So an Ungerechtigkeit! Wo ich allweil rumlauf bei die Leut und gut red und beschwichtig, weil `s Tratschen über`n Vetter kein End nimmer nimmt!"

      "Wer tratscht?" fuhr der Meister zornig auf. "Raus mit der Sprach! Wer redt was über mich?"

      "Jöises, Jöises, wie kann man dann sagen: Der hat ebbes gredt oder der und der! Wo alles redt und a jeder."

      "So? Und was denn? Kann einer von mir ebbes Schlechts behaupten?"

      Die Alte zwinkerte mit dem linken Auge und zeigte ein schmalziges Lächeln. "Ebbes Schlechts? Mei`, wie man`s halt nimmt. A bißl was Guts kunnt schon dabei sein. Jaaa, d` Leut reden halt so - wann ich`s schon sagen muß: wegen der Vroni!"

      Jetzt lachte der Jörg. Verdutzt blinzelte Zenz zu ihm auf und fand den Warnungsklang einer Wahrsagerin: "Vetter, Vetter! Net lachen! So ebbes zahlt sich aus. Dös hätt der Vetter bedenken sollen, daß d` Leut sich a Verslein drauf machen müssen, wann a junger Wittiber so a bildsaubers Madl ins Haus nimmt. Wer is denn da? Wer paßt denn auf, ob alls in der Ordnung bleibt? No ja, es gibt Leut, dö sagen: `s Madl is brav und rechtschaffen, aber -"

      "Alte!" Jörg wurde heiter. "Jetzt hast a wahrs Wörtl derwischt. `s erstmal im Leben. Und ich dank dir schön. Recht hast! Da muß ich bald dazuschaun, daß dös Gred an End nimmt."

      "Ja, Vetter, ja!" nickte die Alte glückselig. "Brauchst net weit suchen um an andre -"

      "So mein` ich`s net! Ich denk mir, daß d` Leut mit`m Tratsch von selber aufhören, wann s` erfahren, daß d` Vroni mein Weib wird."

      Zenz erblaßte und schob die Augäpfel heraus, als möchten sie Schneckenhörner werden. " So, so?" Ihre Hände begannen zu zittern. "Hat s` dich schon am Zuckerstangerl? Und so eine därf schnaufen im Haus von meiner gottseligen Franzi! So eine! Dö man droben im Einödhof mit Schand und Spott davonjagen hat müssen, weil sie`s mit alle Knecht ghalten hat und den Bauernsohn hätt einfädeln mögen -"

      "Zenz! Die Red nimm z`ruck! Auf der Stell!"

      "Ah na! Ah na!" keifte die Alte. "Da beiß ich mir lieber `s Züngl ab. Jetzt freut`s mich erst, daß ich alle Nachbarsleut schon lang hab wissen lassen, was für a sündhafte Natter umanandkriecht in dem Haus, wo nach Verwandtschaft und Gottsrecht ich und meine Kinder am Tisch sitzen müßten. Ganz recht so! Nur zu! Ich wünsch dir guten Appetit zu dem, was andre überlassen haben. Pfui Teufel!" Sie spuckte aus und wollte hurtig davonzappeln.

      "Wie, halt a bißl!" sagte Jörg und umklammerte ihren Arm, daß Zenz unter dem Schmerz dieses Druckes wimmernd einen Fuß unter den Rock hinaufzog. "Gwußt hab ich schon lang, was ich an dir für a Verwandtschaft hab. Aber mit deine eigenen Wort hab ich`s hören wollen. Drum hab ich dir fürplantscht, was mir bis heutigentags noch nie net eingfallen is, net amal im Traum! Du bist a Saubere! Jesus Maria! Unser Herrgott muß an Widersacher haben, der ihm beim Menschenmachen allweil ins Haferl greift. Aber Vergelt`s Gott sag ich dir noch allweil. Heut hast mich auf an guten Einfall bracht. jetzt will ich mir d` Vroni erst richtig anschaun. Eine, dö dir net gfallt, dö muß a Freud für alle zehntausend Jungfern im Himmel sein! Wer weiß, ob aus`m Spaß net bald a richtiger Ernst wird! Zu deiner Erbauung, weißt!"

      Schritt um Schritt hatte Jörg die Alte neben sich hergezogen; nun ließ er ihren Arm fahren, und Zenz, die in sprachloser Erstarrung immer am jungen Wanger hinaufgeguckt hatte, stolperte über eine Wegschrunde und plumpste in die dicke Weißdornhecke, die den Fußweg begleitete.

      Als Jörg, ein bißchen erhitzt von dem flinken Heimweg, sein Haus erreichte und in die Stube trat, deckte Vroni gerade den Tisch. "Grüß Gott, Madl! Gelt, ja? Die schönen Buchskränz auf meine Gräber sind von dir?"

      Sie nickte. "Ich hab mir denkt, es is schon noch a Platzl neben die deinigen."

      Jörg faßte ihre Hand. "Ich dank dir schön. Dös hat mich gfreut."

      Vroni befreite die Hand, und während sie die Bestecke aus der Tischlade nahm, fragte sie: "Waren viel Leut am Gottsacker?"

      "Grad gwimmelt hat`s!" Er vertauschte den langenKittel gegen die Hausjoppe. Dann ging er zu seinem Buben, der in der Wiege saß.

      "Datti! Tau! Tau!" rief der Kleine, während er dem Vater ein abenteuerlich geformtes Spielzeug entgegenhielt.

      "Schauen soll ich? Was denn schauen?" lachte Jörg und zog einen Stuhl zur Wiege. "Aaaah, aber dös is ebbes Schöns!" Den Verwunderten spielend, bestaunte er das kleine hölzerne Roß, dessen Mähne durch lange Schweinsborsten versinnbildlicht wurde und dem an Stelle des Schweifes eine Pfeife eingesetzt war. "Görgele, wo hast denn dös her?"

      "Oni, Oni!" jubelte das Kind.

      "So? Von der Vroni hast es?"

      "Ah na!" fiel das Mädel ein. "Mei` Mutter hat`s ihm bracht."

      "So, so?" Da laß ich halt Vergelt`s Gott sagen." Forschend betrachtete er Vronis Gesicht, das sich klar vom hellen Fenster abzeichnete. Und ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, während sein Blick die wohlgeformte, schmiegsame Gestalt überflog. "Du, was ich sagen will - weißt, wen ich troffen hab nach der Kirchen?"

      "Wie soll ich dös wissen?"

      "Den Sohn vom Einödbauern."

      Verwundert hob sie das Gesicht. "Wie kommt denn der heut da runter? Der Einödhof ghört doch net in unser Pfarrei."

      Der Meister wurde ein bißchen hilflos. "Ja, ja, dös hab ich mir auch gleich denkt. Kann auch sein, daß ich mich verschaut hab. Z`reden bin ich net kommen mit ihm. Was is denn da Wahres dran? D` Leut verzählen, er hätt dich heiraten mögen?"

      Vroni zuckte die Achseln. "Gsagt hat er`s."

      "Und du hast riet mögen?"

      "Na!"

      "Warum denn net?"

      "Weil zum Heiraten noch ebbes anders ghört als a Bursch und a Bauernhof."

      "Aber sag -"

      "Jetzt muß ich nach der Suppen schauen." Vroni verließ die Stube. Draußen in der Küche trat sie ans Fenster und preßte die Stirn an die sonnige Scheibe. Da hörte sie einen Schritt, wandte sich erschrocken und sah den Wastl auf der Schwelle stehen. "Du?"

      Es war ein Ton willkommener Enttäuschung.

      Er trat in die Küche und drückte hinter sich die Tür ins Schloß.

      "Wastl? Was willst?"

      "Reden mit dir!" Er stieß die leisen Worte zwischen den Zähnen hervor. "Ich halt`s nimmer aus und muß an End machen, so oder so."

      Schweigend wich sie vor ihm zurück.

      "Madl!" Er ging ihr nach. "Ich bin bei lebendigem Leib a gstorbener Mensch, wann mir net sagst, daß d` mir a bißl gut bist. Viel müßt`s net sein. Bloß daß man denken kunnt, es wird mit der Zeit." Mühsam atmend schwieg er und hing mit dürstendem Blick an Vronis Gesicht, dessen Blässe sich verschleierte unter dem Glanz des Herdfeuers.

      "Wastl!" Vroni vermochte kaum zu reden. "Sei gscheid! Ich bin dir gut als Kamerad. Mehr därfst net verlangen von mir. Dös hat sein` Grund."

      "Versteh schon, ja!" Das Gesicht des Burschen verzerrte sich. "Und wie heißt er denn mit`m Für- und Zunam - der Grund?"

      "Dös geht kein` andem was an."

      "Wahr is`s! Es hat a jeder dös Seinige." Er preßte die Faust an den Hinterkopf. "Muß ich dir halt wünschen, daß d` mit`m Glückshaferl net auch wo hinrumpelst, wo dir d` Haustür versperrt is. Wie mir. So ebbes is hart. Und Leut soll`s geben, die`s net vertragen." Er wandte sich und verschwand mit schwerem Schritt im Dunkel des Flurs.

      Vroni legte den Arm über die Stirn und flüsterte vor sich hin: "Schad, daß er schon lang z`spät kommt, der gute Wunsch!"

      Eine Viertelstunde später saßen die fünf Hauskameraden um den Mittagstisch. Das Essen verlief stiller als gewöhnlich. Vroni, die das Kind auf dem Schoße hatte, gab sich alle Mühe, ein Gespräch in Gang zu bringen. Schließlich verstummte auch sie. Sooft sie aufblickte, sah sie Jörgs forschende Augen auf sich gerichtet. Nach der Mahlzeit reichte Vroni, um abräumen zu können, dem Wanger das Kind. Während sie die Bestecke zusammenlas, fragte sie, ob sie am Nachmittag die Eltern besuchen und den Kleinen mitnehmen dürfe.

      "Gern, Madl! Warum denn net? Bei dir is `s Bübl allweil gut aufghoben."

      Als der Tisch in Ordnung war und Vroni das Geschirr in die Küche trug, zahlte Jörg dem Knecht und den zwei Gesellen den Monatslohn aus. Veit und der Knecht sackten ihr Geld ein und gingen. Wastl blieb wie ein hölzerner Stock neben dem Tische stehen.

      "Willst noch ebbes?" fragte Jörg.

      "Kündigen will ich!" stieß der Geselle heraus und starrte am Meister vorbei aufs Fenster.

      "Wis? Kündigen? Warum denn? Taugt dir die Kost net, oder is dir d` Arbeit z`viel oder der Lohn z`gring? Oder kannst dich beklagen, daß net ghalten wirst wie a richtiger Gsell?"

      Wastl schüttelte den Kopf. "Alles taugt mir. Aber fort muß ich halt."

      "Geh, mach keine Narreteien! Dös weißt, daß ich an bessern Gsellen net Zfinden weiß. Überleg dir`s! Und wann ebbes zwischen uns is, was dir net recht is -"

      "Ich selber bin mir nimmer recht!" murrte der Wastl. "Der Grund bleibt besser ungsagt. A Verlegenheit will ich enk net machen. Muß ich halt bleiben, bis der ander Gsell kommt."

      Jörg wurde ärgerlich. "Mit Gwalt kann ich dich net halten. Acht Tag is Kündigungszeit. Du kannst gehn, wann d` meinst, es muß sein." Er lehnte sich in die Fensternische, wischte die Scheiben ab und sah auf die Straße hinaus.

      "Seids mir jetzt bös?"

      "Ah na!"

      Eine Zeitlang guckte Wastl hilflos vor sich hin. Dann drehte er sich um und verließ ohne weiteres Wort die Stube.

      Am Nachmittag mußte Jörg das Haus hüten. Er saß am Tisch, um die Verrechnung des letzten Monats ins reine zu bringen. Manchmal legte er die Feder nieder. Den Kopf zwischen die Hände fassend, blickte er nachdenklich umher in der stillen Stube. Ein unbehagliches Gefühl der Verlassenheit überkam ihn. Er schrieb es auf Rechnung des Allerseelentags.

      Die folgende Nacht brachte einen starken Frost, und der Morgen kämpfte mit einem Himmel, der schwer von bleigrauen Wolken war. Auf den Bergen war schon in den Frühstunden Schnee gefallen. Nach Mittag, als Jörg das Haus verließ, um einen Geschäftsgang zu machen, wirbelten auch im Tal die weißen Flocken.

      Jörg, den Hut ins Gesicht gedrückt, die Hände in den Joppentaschen, wanderte die menschenleere Dorfstraße hinunter. Als er beim Schreiner vorüberkam, sah er am Fenster das Gesicht der alten Zenz, die hurtig zurückfuhr, als sie seiner ansichtig wurde. Jörg schmunzelte.

      Am Schreinerhaus öffnete sich die Flurtür. Vorsichtig spähte Zenz dem Wanger nach. Als er im Gewirbel der Flocken verschwand, huschte sie am Haus entlang, band ihr blaues Taschentuch über die dünnen Zöpfe und sprang in den Garten. Den Rock schürzend, tappte sie durch den Schnee, dem Haus des Wangers entgegen.

      Vor der Schwelle schüttelte sie die Kleider, trat in den Flur und öffnete die Stubentür.

      "Grüß Gott, Vronerl! Is der Vetter daheim?" fragte sie überfreundlich.

      "Na." Das Mädel saß mit einer Flickarbeit am Tisch, während das Kind in der Wiege mit Hobelspänen spielte. "Grad vor a paar Minuten is der Wanger furt."

      "Jöises, und so ebbes Wichtigs hätt ich z`reden mit ihm! Aber wann ich schon an Metzgergang gmacht hab, mußt mir halt verlauben, daß ich a bißl rasten tu. Wie Blei is er heut, der Schnee."

      "Ich hab da nix zum verlauben. Du hast mehr Recht im Haus als ich." Vroni warf über die Näharbeit einen Blick nach der Alten, die schon in die Bank gerutscht war und das Kopftüchl abgenommen hatte.

      "Mehr Recht als du?" Die Zenz schmunzelte essigsüß. "Wie man`s halt anschaut."

      Vroni schien unangenehm berührt zu sein. "Wieso?"

      "Mei`, die Jungen haben allweil mehr Recht als wie die Alten. Bsonders die Jungen, dö a bißl sauber sind. ja, der Vetter schaut arg auf dich. Erst gestern", ein Lauerblick, "ja gestern nach der Kirch haben wir gredt mitanand. Hat er nix gsagt davon? Der Vetter?"

      "Daß er dich troffen hat? Na."

      "Gwiß net? Wahrhaftiger Herrgott?"

      "Kein Sterbenswörtl."

      "Schau, schau!" Nachdenklich wiegte Zenz den Kopf zwischen den Schultern. "Wie bist denn z`frieden mit ihm?"

      "Ich bin sein Dienstbot und muß bloß schauen drauf, daß der Meister net z`kIagen hat über mich."

      "No weißt, fünf Schrittln vom Leib kann man`s gut mit ihm aushalten. In der Näh hat er seine borstigen Seiten. Dös hat d` Franzi erfahren müssen, unser Herrgott hab s` selig!"

      Vroni runzelte die Stirn. "Zenz! Da brauch ich kei` Aufklärung net. Aber was ich weiß, dös is `s grade Gegenteil von dem, was du da sagst."

      "Geh? So gnau hast dich umtan?" Die Alte kicherte, daß man einen Geißbock zu hören glaubte. "Da muß dich der Jörg arg verinteressiert haben."

      Vroni schwieg.

      "No, der Jörg hat`s auch verdient um dich!" säuselte die Alte weiter. "Ganz schauderhaft is er bsorgt um dein` guten Ruf - hat er gsagt."

      Das Mädel bekam zornfunkelnde Augen. "Erstens glaub ich gar net, daß der Wanger von so ebbes gredt hat. Und zweitens braucht sich dadrum kein Mensch net sorgen. Mei` eigene Sorg reicht aus."

      "Ui Jöises, Madl, d` Leut sind schlecht und reden, ob der Tag kurz oder lang is. Zwei junge wie der Jörg und du, beieinander unterm gleichen Dach, wo s` nix ausanand halt als d` Luft? Madl, dös is Wasser auf die Leut ihr Mühl. Der Vetter is a gscheider Mensch, der Vetter sieht`s ein. Erst gestern hat er gsagt: wann`s mit`m Gred net bald an End nimmt, kunnt er dich ja heireten. Ob er a Hauserin zahlt oder für a Weib aufkommt, dös is ghupft wie gsprungen. Net? Du kannst dir`s ja gfallen lassen. So eim Anwesen z`lieb, da schluckt man viel."

      Vroni saß mit blassem Gesicht an die Wand gelehnt und starrte ins Leere, die Augen weit geöffnet.

      "Madl, was hast denn?" fragte die Alte freundlich.

      "Nix!" Vroni sprang auf. "Jetzt muß ich `s Bier für die Gsellen holen."

      "So, so, `s Bier mußt holen? Ja, geh nur!" sagte die Alte, ohne sich zu rühren. "Ich tu dir den Gfallen und bleib derweil beim Kind. Mitnehmen kannst es net bei so eim Gstöber."

      Einen Augenblick stand Vroni unschlüssig. Dann strich sie mit der Hand über die Stirn, beugte sich zur Wiege und drückte einen Kuß auf die Wange des Kindes.

      "Na! Wie du an dem Kind hängst!" lachte Zenz. "Dös kriegt a gute Stiefmutter an dir."

      Vroni, ohne einen Blick auf die Alte zu werfen, ging zum Geschirrschrank, nahm einen Steinkrug und verließ die Stube.

      Zenz lauschte mit funkelnden Augen. Als sie die Haustür gehen hörte, zog sie einen Schlüsselbund aus der Tasche und huschte auf den kleinen Wandschrank zu. Der Schlüssel, den sie aussuchte, paßte ins Schloß, das Türchen öffnete sich. Mit beiden Händen in die Höhlung greifend, packte die Alte den Lederbeutel und Jörgs Taschenuhr mit der silbernen Kette. Hastig schob sie die Sachen in ihre Rocktasche, versperrte das Türchen wieder und sprang aus der Stube.

      Als sie nach einigen Minuten zurückkehrte, ging sie zum Ofen und warf den leeren Geldbeutel in die Glut. Da schrak sie zusammen. Draußen im Hof klangen Tritte, und knarrend öffnete sich die Haustür.

      Jörg schüttelte im Flur den Schnee von seinem Hut. Dabei fiel sein Blick auf die hölzerne Treppe.

      "Is da wieder einer von enk mit nasse Füß über d` Stiegen auffi?" rief er in die Werkstatt. "Da kunnt ja d` Vroni net gnug putzen und fegen."

      "Ah na, Meister", antwortete Veit, "von uns zwei war keiner net oben."

      No, wer denn sonst?« brummte Jörg, schlug ärgerlich die Haustür zu und trat in die Stube. "Ah, da schau!" Er sah die Zenz neben der Wiege auf den Dielen knien. "Du traust dich noch eini zu mir?" Er sah in der Stube herum, ging auf den Ofen zu und öffnete das Bratrohr. "Was stinkt denn da so mordsmiserabel? Grad wie verbrennte Haar?" Wieder wandte er sich zu der Alten: "Was willst?"

      "Net viel." Sie erhob sich und wischte den Staub von ihrer Schürze. "Ich hab gwußt, daß d` net daheim bist. Und da hab ich meim kleinen Vetterl an Bsuch gmacht, nach dem`s mich allweil bangt hat in die letzten Wochen." Die Rührung preßte ihr ein paar Tränen aus den Augen. Als sie auf den Tisch zuging, um ihr Tüchl zu holen, wischte sie mit den Fingerspitzen über die Backen.

      "So?" entgegnete Jörg trocken. "Von deiner starken Lieb zu meim Kind hab ich früher nix gmerkt. Aber wo is denn d` Vroni?"

      "Sie muß dir begegnet sein. `s Bier für die Gsellen holt s`. Und da will ich weiter net stören. Pfüet dich Gott."

      "Wart an bißl!" Jörg vertrat der Alten den Weg. "Ich muß ebbes auskarteln mit dir."

      "Da bin ich neugierig!" sagte Zenz ein bißchen unsicher.

      "Weißt, wo ich war? Beim Nagelschmied! Aha, Hast a schlechts Gwissen? Was hast denn angfangt mit die sieben Mark, die ich dir geben hab vor vier Wochen? Warum hast denn d` Rechnung beim Nagelschmied net zahlt?"

      "Jöises, jetzt fallt`s mir ein - da hab ich ganz vergessen drauf. Dö sieben Markln hab ich in der Wirtschaft braucht. Aber Vetter, ich hab`s enk verrechnet, gwiß! "

      "Da weiß ich nix davon. Aber wegen dem Bettel streit ich net lang. Ich gib dir `s Geld, dös tragst zum Nagelschmied auffi, und nacher bringst mir die quittierte Rechnung." Der Meister ging auf den Wandschrank zu.

      Zenz mußte sich an der Tischplatte festhalten, um im ersten Schreck nicht umzusinken.

      "Ja, Himmel", murrte Jörg, als er einen Blick in den Schrank geworfen, "da is ja kein Geld net da! Und d` Uhr is fort!"

      "Mar und Josef! Der Vetter wird doch net ausgraubt worden sein!" jammerte Zenz. "Wer Fremder kommt da net eini! Die Gsellen und der Knecht sind rechtschaffene Leut! Und d` Vroni - no ja, dös Madl kenn ich net so gnau, daß ich sagen möcht, sie wär zu so ebbes imstand oder net -"

      Der Meister drehte das dunkelrote Gesicht. "Na, du! In meim Haus is kein Spitzbub nimmer, seit du draußen bist."

      "Jöises! Aber Vetter!" kreischte die Alte. "So was muß ich mir sagen lassen!" Mit beiden Händen fuhr sie in den Rock und stülpte die leeren Taschen um. "Da suchts mich aus! Stellt`s mich auf`n Kopf! Wann a Zehnerl aussifallt, soll mich gleich der Teufel holen!"

      Ein paar Schritte trat Jörg zurück und maß die Gestalt der Zenz. Sein Blick huschte durch die Stube. Nun gewahrte er unter dem Tisch eine kleine Wasserlache, zu der in der Stubenwärme die Schneereste vom Schuhwerk der Alten zerschmolzen waren. Halb aufgetrocknete Trittspuren gingen vom Tisch vor den Wandschrank, von da zur Türe, von der Tür zum Ofen, von dort zur Wiege und wieder zum Tisch.

      "So, so?" sagte er langsam. "Also d` Vroni meinst? Komm, Alte! Über d` Stiegen auffi! Da suchen wir in der Hauserin ihrem Stübl."

      "Vetter, ich muß furt!" stotterte Zenz und bekam ein Gesicht, als hätte sie Galläpfel verschluckt.

      "Mit gehst!" schrie Jörg in ausbrechendem Zorn.

      Schlotterig täppelte die Alte der Türe zu und stieg vor dem Meister die Treppe hinauf.

      Der Wanger öffnete die Tür und blickte in das kleine, freundliche Stübl. Gerade noch kenntlich zeigten sich auf den Dielen die verräterischen Spuren. Vor der Kommode lag ein geschwärztes Klümpchen Schnee.

      Jörg rüttelte an den Schubfächern und fand sie verschlossen. Da gewahrte er, daß der Glassturz des Hausaltärchens schief stand, mit der einen Kante eingedrückt in die Füße des wächsernen Jesuskindes. Unter den Spitzen und Bändern zog Jörg seine Uhr und einen Schlüsselbund hervor, den er kopfschüttelnd einer genaueren Betrachtung unterzog. "Lauter Schlüssel zu meine Schränk und Kästen! Aber wie is mir denn? Den Ring da sollt ich ja kennen? No freilich! Dös is ja der Schlüsselring von der Franzi selig!"

      Wie ein Heuschreck hüpft, der die Sense klingen hört, machte Zenz erschrocken einen Sprung gegen die Schwelle hin, stolperte die Treppe hinunter - und kling kling, tönte es bei jedem ihrer flinken Schritte. Unter der Haustür holte der Wanger sie ein. Er sperrte das Schloß, zog den Schlüssel ab und führte die Alte am Arm in die Stube, wo er sie niederdrückte auf eine Bank. "Raus mit`m Geld!"

      "Vetter! Auf Ehr und Seligkeit! Ich hab kein Geld net!" winselte Zenz.

      Da holte Jörg aus der Ecke hinter dem Geschirrschrank einen Haselnußstecken hervor. "Raus mit`m Geld!"

      Aschfahl wurde das Gesicht der Alten. Seufzend, als geschähe ihr schreiendes Unrecht, bückte sie sich, und als sie die Strümpfe von den dürren Waden streifte, kollerten die Silbermünzen über die Dielen.

      "Weiter! Klaub s` alle zamm!"

      Zenz, während Jörg die Stube verließ, rutschte nach den zerstreuten Markstücken umher. "Veit!" hörte sie draußen im Flur den Wanger rufen; dann vernahm sie den Schritt des Gesellen und ein unverständliclies Flüstern.

      Als Jörg in die Stube trat, lagen die Silberstücke schön geordnet auf dem Tisch. "Stimmt!" sagte er und stellte den Haselnußstecken wieder in den Winkel. "Aber wo is denn der lederne Beutel? Richtig, ja, den hast in` Ofen geworfen. Gleich hab ich`s gschmeckt."

      Die Alte trat mit zerknirschtem Armesündergesicht auf ihn zu: "Vetter -"

      "Brauchst kei Angst net haben, es bleibt unter uns. Aber daß d` so schlecht sein kannst und an ehrenhaftes Madl in so an Verdacht einireiten - deswegen soll dich dein Gwissen a bißl beißen. Da sorg ich dafür. Und jetzt mach, daß d` weiterkommst!"

      In stummer Klage faltete Zenz die Hände und verduftete. "Vetter! D` Haustür is verschlossen!" klang draußen im Flur ihr Zitterstimmchen.

      "Mußt halt durch d` Werkstatt aussi!"

      Jörg hörte ihre Schuhe über die Flursteine klappern und eine Tür knarren. jetzt ein Aufkreischen, ein Poltern und ein jämmerliches Gewinsel, das von lautem Gelächter übertönt wurde. Als der Meister an das Fenster trat, sah er die Zenz mit puterrotem Gesicht über den Hofraum nach der Straße springen.

      Der alte Veit trat ein. "Dö spürt`s!" Er schüttelte sich vor Lachen. "Wann die Alte unter vierzehn Täg sitzen kann, will ich Hans heißen! Aber da schau!" Er streckte dem Wanger die beiden Hände hin. "Die ganzen Finger hat s` mir verkratzt."

      "Dafür hast a guts Werk tan!" Jörg nahm ein paar von den blanken Geldstücken und reichte sie dem Gesellen. "Da! Trink a paar Maß Bier auf dö Strapaz auffi!"

      Veit nahm schmunzelnd das Geschenk in Empfang. "Es wär umsonst grad so gern gschehen." Lachend verließ er die Stube.

      Als Jörg den Rest des Geldes im Wandschrank verschloß, hörte er an der Haustür die Klinke schnappen. Er sprang in den Flur und sperrte auf. "Aber Vroni", zürnte er, "schau dich nur an! über und über bist eingschneit! Hättst doch a Tuch umgschlagen!" Er nahm ihr den schweren Steinkrug aus der Hand.

      Vroni schüttelte den Schnee vom Gewand und trocknete mit der Schürze das Gesicht. "ls die Zenz schon wieder fort?" fragte sie, als sie dem Wanger voraus in die Stube trat.

      "Ja", lächelte Jörg. "Die hat `s Sitzen nimmer vertragen." jetzt erschrak er. "Madl, was is denn? Fehlt dir ebbes?"

      Sie nickte. "In der Fruh hab ich`s schon verspürt."

      "Ja um Gottes willen, laß nur gleich alles stehn und leg dich nieder. Ich schick den Wastl zum Doktor."

      "Aber Wanger! Söllene Gschichten machen! Übrigens dank ich dir schön für alle Sorg." Ein müdes Lächeln zitterte um ihren Mund, als sie die Stube verließ, um den Gesellen Brot und Bier in die Werkstätte zu tragen.

      Unruhig wanderte Jörg im Haus umher; was er auch angriff, keine Arbeit wollte ihm von der Hand gehen; immer wieder machte er sich in der Küche zu schaffen, und ein dutzendmal fragte er: "Wie geht`s dir denn?"

      "Besser, ich dank schön!" antwortete Vroni, immer im gleichen Ton.

      Als es Abend wurde, hörte es zu stöbern auf. Der frühe Mond goß sein bläuliches Zwielicht über den glitzernden Schnee.

      Essenszeit war vorüber. Veit und der Knecht hatten sich bereits schlafen gelegt; Wastl war ins Wirtshaus gegangen, was er sonst an Werktagen nie getan hatte; Vroni spülte in der Küche das Geschirr, und Jörg saß einsam in der Stube, deren Stille nur durch das Ticken der Wanduhr und durch die leisen Atemzüge des schlummernden Kindes unterbrochen wurde.

      In den Händen hielt Jörg das Zeitungsblatt. Aber es ging ihm jetzt mit der Politik, wie es am Nachmittag mit der Arbeit gegangen war. Sooft er mit einem Artikel zu Ende kam, wußte er nach dem letzten Wort keine Silbe mehr von allem, was er gelesen hatte. Das kam so, weil er beim Lesen immer auf das Klirren des Geschirrs und das Klappern der Blechgefäße lauschte, das von der Küche hereinklang.

      Eine Stunde verrann, eine zweite.

      Endlich öffnete sich die Tür, und Vroni trat in die Stube, ein Kerzenlicht in der Hand.

      "Ich bin fertig, Wanger."

      "Lang hast braucht!" sagte Jörg und rückte zur stummen Aufforderung, daß Vroni sich neben ihn setzen sollte, tiefer in die Bank.

      Das Mädel rührte sich nicht vom Platz. "Mußt net verübeln, daß ich `s Kindl heut net mit auffi nimm. Droben im Stübl macht`s a bißl kalt."

      Aber hörst, wie möcht ich denn dös verübeln? Heut mußt in der Nacht dei` Ruh haben. Is dir denn wirklich schon besser?"

      "Ah ja!" Die Stimme versagte ihr. "Und eh ich schlafen geh, muß ich dir noch ebbes sagen."

      "Was?"

      "Kündigen will ich."

      Jörg erblaßte. "Vroni!" Langsam erhob er sich. "Fort willst? Und ans Kindl denkst gar net? Und net an mich?" Da lachte er und schlug sich mit der Faust vor die Stirn. "Ah ja! Gestern er, heut du! Kannst schon gehn! Gleich morgen, wann d` willst. Gut Nacht!"

      Verwundert hatte Vroni aufgeblickt.

      "So geh doch!" schrie er das Mädel an, in dessen Hand die Kerze zitterte.

      "Gute Nacht!" sagte sie leise und verließ die Stube.

      Der Meister ging zur Ofenbank, ließ sich nieder und nahm den Kopf zwischen die Fäuste.

      Nur einen Augenblick saß er so. Weinend regte sich in der Wiege das vom überlauten Klang der gefallenen Worte erweckte Kind. Unter zärtlichem Geflüster hob Jörg den Kleinen aus den Kissen und trug ihn auf schaukelnden Armen in die Kammer. Ihn wurmte der Gedanke, Vroni könnte droben in ihrem Stübl das Weinen des Kindes vernehmen und den Schluß ziehen, daß er schon jetzt ihren Beistand vermisse.

      Erleichtert atmete er auf, als der Kleine verstummte. Sacht legte er ihn aufs Bett, streifte die Schuhe von den Füßen, holte die Wiege und huschelte das Kind in die Kissen. Als er draußen die Lampe ausgeblasen hatte, verhängte er mit seinem Radmantel das Kammerfenster, um den Mondschein auszusperren. Dann ging auch er zur Ruhe.

      Ruhe?

      Seine Augen waren heiß, und eine unerträgliche Schwüle quälte ihn. Mit Gewalt verhielt er sich unbeweglich und drückte die Lider zu. Der Schlaf wollte nicht kommen. Schließlich redete er sich ein, das Ticken der Wanduhr in der Stube wäre schuld daran, sprang aus dem Bett, verließ die Kammer und stellte den Perpendickel. Da hörte er, daß ein Schlüssel, und wie es schien, mit großer Vorsicht, in das Schloß der Haustür gesteckt wurde. "Der Wastl!" Lauschend blieb Jörg in der Stube stehen. Aus dem Geräusch, das er vernahm, konnte er schließen, daß der Gesell im Flur die Schuhe auszog. Die Stufen der hölzernen Treppe knarrten ein bißchen. "Wer kommt denn?" klang von droben, gerade noch verständlich, Vronis gedämpfte Stimme. Ein paar Worte noch, eine Tür ging, und alles war still.

      Jörg tastete nach der Klinke und riß die Stubentür auf. Die kalte Luft, die ihm entgegenwehte, erinnerte ihn an den Aufzug, in dem er sich befand. Er sprang in die Kammer zurück, fuhr in die Hose und zerrte eine Joppe über die Schultern. Als er wieder in die Stube trat, erschrak er vor seinem eigenen Schatten, den das Mondlicht schwarz an die weiße Mauer warf. Er blieb stehen und preßte den Arm vor die Stirne. "So was! Unter meinem rechtschaffenen Dach!" Sich aufraffend, strich er das Haar zurück und ging zur Tür. Als er mit nackten Füßen auf die eisigen Flursteine trat, schauerte ihn. In flinken Sätzen sprang er die dunkle Treppe hinauf und stand vor Vronis Tür. Aus den Fugen drang rnatter Lichtschimmer, und leise hörte er das Mädel wispern. Er drückte auf die Klinke. Weil er die Tür verschlossen fand, schlug er mit den Fäusten an die Bretter. "Wie, du! Mach auf!"

      "Was is denn?" klang Vronis erschrockene Stimme.

      "Mach auf!" keuchte Jörg und rüttelte wütend am Schloß.

      Er hörte das Rucken eines Stuhles, die Tür wurde aufgerissen, und vor ihm stand das Mädel, halb entkleidet, Brust und Schultern umwunden mit einem wollenen Tuch. "Was is denn passiert? Es wird doch dem Kindl nix fehlen?"

      Jörg fand keine Antwort. Verblüfft sah er an Vroni vorüber in das leere Stübl, auf das unberührte Bett, auf den Stuhl vor der Kommode und auf das Kerzenlicht, neben dem ein aufgeschlagenes Gebetbuch lag. "Vroni!" stammelte er. "Ganz verruckt war ich! Weil ich wen auffischleichen hab hören über d` Stiegen. Der Mensch is schon so, daß er allweil lieber `s Schlechte glaubt."

      Dem Mädel versagte im ersten Augenblick die Sprache. "So? Wen auffischleichen hast hören? Da is dir`s gangen wie mir. Drum hab ich aussigschaut zur Tür. Der Wistl war`s. Er hat gmeint, ich schlaf schon, und hat d` Schuh auszogen, daß er mich net wecken möcht. Und du - - No also, jetzt kannst ja wieder gehn! Gut Nacht!" Vroni schloß die Tür, der Riegel klirrte, und es war finster um den sprachlosen Meister her. So stand er im Dunkel, lange, ohne sich zu regen. Kein Gedanke, keine Empfindung wollte ihm zur Klarheit kommen. An seinen Schläfen hämmerte das Blut, und in Kopf und Herz schwirrten ihm Beschämung, Liebe, Eifersucht und Selbstvorwürfe wirr durcheinander. Als er langsam, vor Frost sich schüttelnd, die Treppe hinunterstieg, wußte er kaum, daß er es tat.

      In der Stube wanderte er immer durch den Mondschein hin und her. Ein galliger Unwille gegen sich selber peinigte ihn. Er meinte die Nacht nicht überleben zu können, ohne von Vroni ein freundliches Wort gehört zu haben, das seine ,Hornochserei` wieder ausglich. In aller Ordnung kleidete er sich an, und wenige Minuten später stand er vor der Tür des Mädels.

      "Vroni! Bist noch auf?" fragte er unter leisem Pochen. Nicht der geringste Laut im Stübl. "Vroni! Mach auf, ich muß dir was sagen!" flüsterte Jörg u
      Avatar
      schrieb am 23.01.06 15:14:22
      Beitrag Nr. 11 ()
      Der Knast als Altersheim
      Von Julia Schaaf


      16. Januar 2006 Joachim B. hat das Zeug zu dem, was man gemeinhin einen rüstigen Rentner nennt. Dicht an dicht hängen an der Wand neben seinem Bett berühmte Gemälde, die er kleinformatig nachgemalt hat. Im Regal stehen juristische Nachschlagewerke, außerdem ist da Piwi, der Nymphensittich, dem B. das Sprechen beibringt.


      „Wenn Sie ehrlich mit sich sind, daß Sie in Ihrem Leben versagt haben, dann müssen Sie doch was ändern.” Der freundliche Zweiundsechzigjährige redet so schnell und eindringlich, als habe er keine Zeit zu verlieren. Insgesamt liegen fast 25 Jahre Gefängnis wegen schweren Raubes hinter ihm. Jetzt ist er in der Sicherungsverwahrung der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Werl untergebracht. Die Aussichten? Nun ja.

      Schlaganfall hinter Gittern


      "Im Knast ist doch besser wie Hartz IV"
      An diesem Donnerstag, an dem Joachim B. seine erste Therapiestunde absolvieren wird, um seine Entlassungschancen zu verbessern, steht ein klappriges Kerlchen mit grauen Bartstoppeln am Kinn in seiner Zelle in Werl und spricht von dem Elend, mit 72 Jahren im Knast zu sitzen. „Es ist ein himmelweiter Unterschied”, sagt Wilhelm H., sich an frühere Haftstrafen erinnernd, als er noch täglich Tennis spielte.

      Jetzt hat er einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt gehabt, er ist zuckerkrank und sein Blutdruck viel zu hoch; „da ist jede Stunde hier grauenhaft”. Morgens, beim Aufstehen, wird H. schwindelig, abends, zum Einschlafen, braucht er eine Tablette. Außerdem quält ihn die Ungewißheit. Wieviel Zeit wird ihm bleiben, wenn er wieder draußen ist? Wie lange wird er dann noch leben?

      Immer mehr Insassen über 60


      "Ich möchte hier drin nicht sterben"
      Der demographische Wandel hat die Gefängnisse erreicht. Obwohl kernige junge Männer viel öfter straffällig werden als Tattergreise mit Rentenanspruch, wirkt sich der steigende Altersdurchschnitt der Gesellschaft aus: Hinter den stacheldrahtbewehrten Mauern der Haftanstalten verschieben sich die Verhältnisse, die Zahl der Senioren wächst. Wenn die Statistik für März 2003 insgesamt 1516 Gefangene ausweist, die die Sechzig überschritten hatten, sind das fast dreimal so viele wie 1994.

      Der Anteil der Altersgruppe „Sechzig Plus” hat sich in einer Dekade von 1,3 auf 2,4 Prozent erhöht. Und bei den Sicherungsverwahrten von Werl klettert jedes Jahr kommastellenweise das Durchschnittsalter nach oben - und damit die Zahl jener, die ihren Lebensabend im Knast verbringen werden. „Am Schluß”, sagt der Psychologe Werner Greve, „muß man sich die Frage der Sterbebegleitung stellen.”

      Resozialisierung


      Hinter Gittern: Das Gefängnis in Werl
      Die Krise ist noch nicht da, aber sie kündigt sich an. „Wir könnten ein einziges Mal vorher darüber nachgedacht haben”, sagt Greve hoffnungsvoll, Professor an der Universität Hildesheim. Folgerichtig hat der Entwicklungspsychologe im vergangenen Herbst eine Fachtagung zu den Herausforderungen organisiert, die sich aus der Überalterung der Gesellschaft für den Strafvollzug ergeben werden.

      Denn was bedeutet eigentlich „Resozialisierung”, Zauberwort des Vollzugsauftrags, wenn die klassischen Instrumente Ausbildung und Beruf keine Rolle mehr spielen, weil jemand längst im Rentenalter ist? Was ist mit Sträflingen, die hinter Gittern alt geworden sind?

      Ein Gefängnis nur für Ältere


      Die Wächter in Werl sperren immer mehr Alte in die Zellen
      Katharina Bennefeld-Kersten berichtet von einem Mann, der Suizid begehen wollte, als er im Alter von siebzig Jahren die Sicherungsverwahrung antreten sollte. „Es fiel ihm schwer, noch einen Sinn in seinem Leben zu finden”, sagt die langjährige Gefängnisdirektorin und ergänzt nach einer Pause: „Und mir fiel es schwer, ihm einen zu vermitteln.”

      Erste einschlägige Erfahrungen zum Thema stammen aus einem Gefängnis in einem Singener Wohngebiet, das auch eine Schule oder ein Altenheim beherbergen könnte, wenn da nicht die Gitter an den Fenstern wären. Hier, in einer Außenstelle des Justizvollzugsanstalt Konstanz, sind schon seit 1970 ausschließlich ältere Häftlinge untergebracht.

      Kochkurse und Kraftsport

      Nachdem das Eintrittsalter aus Mangel an geeigneten Kandidaten vorübergehend auf fünfzig Jahre gesenkt wurde, liegt es derzeit bei 62. Die Hälfte der Insassen sind Sexualstraftäter, der Rest sitzt wegen Gewalt- und Vermögensdelinquenz. Innerhalb des Hauses stehen alle Türen offen, ein kleiner Plausch im Hof über Prostatabeschwerden ist jederzeit gestattet. Das setzt voraus, daß die Häftlinge gemeinschaftsfähig sind. Aber mit wachsender Gebrechlichkeit läßt bekanntlich auch die Gefährlichkeit nach.

      Anstelle von Anti-Gewalt-Trainings werden in Singen Kochkurse angeboten, damit die Männer sich nach der Entlassung wenigstens ein Spiegelei braten können. Und wenn die Inhaftierten anderswo von überschüssiger Energie getrieben in die Kraftsporträume drängen, werden sie hier animiert, sich trotz Übergewicht doch wenigstens zum Lauftreff aufzuraffen.

      Angepaßt und kooperativ

      „Man muß sich mehr Zeit und Geduld nehmen”, resümiert Anstaltsleiter Peter Rennhak die Erfahrungen der in Deutschland einmaligen Einrichtung. Die Insassen schätzen angeblich die größere Ruhe. Ob aber altersspezifische Einrichtungen die angemessene Antwort auf die Gefängnisdemographie der Zukunft sind, ist noch umstritten.

      Niedersachsen hat vage Pläne für einen Seniorenknast nach einer Umfrage bei Anstaltsleitern wieder auf Eis gelegt. Abgesehen von der Tatsache, daß die Fallzahlen noch zu klein sind, gelten ältere Menschen im Gefängnis als bequeme Gruppe: angepaßt und kooperativ.

      „Besser wie Harzt IV”

      Ferdinand A. sagt sogar: „Ich muß mit jungen Leuten zusammensein.” Eine Schippe, zwei Besen, ein alter Mann und ein akkurat gepflegter Hof in Werl: Für einen Moment unterbricht A. die Arbeit, um über seine Altersgenossen zu schimpfen: „Irgendwas tut einem jeden Tag weh. Das muß man überspielen.”

      A. ist mit knapp 73 Jahren der älteste Insasse der Anstalt, ein Großvatertyp mit faltigem Gesicht und fröhlichen Augen, der im Vollrausch einen Saufkumpan erschlagen hat. Eine Aussetzung seiner Reststrafe zur Bewährung hat er abgelehnt. Werl sei zwar kein Hotelbetrieb, sagt A., aber die Männerwohnheime draußen seien garantiert schlechter: „Im Knast ist doch besser wie Hartz IV.”

      Kuchen und Softpornos

      Man kann sich einrichten im Gefängnis, und wenn hinter Gittern Jahrzehnte verstreichen, ohne daß es einen Entlassungstermin gibt, schlägt die Haltung manchmal um. Dann trägt nicht mehr die Hoffnung auf Freiheit durch die Monotonie des Knastalltags, wie der Werler Anstaltsleiter Michael Skirl beobachtet hat.

      Gerade die Sicherheitsverwahrten zögen sich zunehmend auf den Kosmos innerhalb der Mauern zurück. Vollzugslockerungen? Ausflüge nach draußen? Therapien, um die eigene Gefährlichkeitsprognose günstig zu beeinflussen? Die Resignierten winken ab. Sie wollen einfach ihre Ruhe haben, ein wenig arbeiten, gelegentlich einen Kuchen backen und abends auf dem Flachbildschirm in ihrer zur Puppenstube ausstaffierten Einzelzelle einen Softporno gucken.

      Das Leben noch Leben nennen

      Die Anstalt sieht sich einem völlig neuen Auftrag gegenüber. „Wie kann das Leben hier drinnen eine Qualität kriegen, daß man es noch Leben nennen kann?” fragt der evangelische Gefängnispfarrer Rolf Stieber. Skirl überlegt, den Sicherheitsverwahrten eigene Schrebergärten zur Verfügung zu stellen oder die Kleintierzucht zu erlauben.

      Und dann passiert es plötzlich, daß jemand im Gefängnis stirbt. Die Rechtsprechung schließt solche Fälle eigentlich aus, wenigstens im Angesicht des Todes soll theoretisch eine Verlegung in Freiheit, eine Begnadigung möglich sein. Aber unter anderem wegen der besseren medizinischen Versorgung in Gefängniskrankenhäusern und -pflegestationen verschiebt sich dieser Zeitpunkt immer weiter nach hinten - bis es womöglich zu spät ist.

      Lebensende in Unfreiheit

      Vergangenen Mai ist in Werl ein Sicherungsverwahrter an Lungenkrebs gestorben. Monatelang hatte er seinen Kollegen ihren ganz persönlichen Albtraum vor Augen geführt: ein Leben, das in Unfreiheit zu Ende geht. Dabei hatte der Kranke diesen Weg zunächst bewußt gewählt.

      Wenn es nach jahrelanger Haft nirgendwo mehr Angehörige gibt, wird womöglich die Anstalt zu dem Platz, um im Kreise einer Art Familie zu sterben, quasi daheim, wie sich das jeder wünscht. Paradoxerweise, sagt Skirl, verwandele sich das Gefängnis als System totaler Fremdbestimmung in diesem Moment in einen Ort der Selbstbestimmung.

      Trauerfeier in der Anstaltskirche

      „Wir wollen, daß das kippt”, sagt Skirl, mit allen Konsequenzen: Für den Lungenkrebskranken fand erstmalig eine Trauerfeier in der Anstaltskirche statt. Die bewegten Insassen sammelten Spenden, um ihrem Kumpel ein ordentliches Grab zu finanzieren.

      Hobbymaler Joachim B. schüttelt sich bei dem bloßen Gedanken an den Tod. „Da darf ich mich gar nicht mit beschäftigen”, sagt er und redet eilig weiter davon, daß er seinem Leben eine neue Richtung geben will. Mitunter ist das Alter eine Chance: B. hat sein störrisches Rebellentum von einst hinter sich gelassen, sein Geld steckt er nicht mehr in Markenschuhe und teure Baßboxen, er spart für die Zukunft. „Ich möchte da nicht wohnen”, sagt er über seine gemäldegeschmückte Zelle. „Ich fühl` mich da nicht zu Hause. Und ich möchte da nicht sterben.”

      Wunsch nach Modellversuchen

      Die Gefängnisse werden sich trotzdem ändern müssen. Wissenschaftler Greve regt eine länderübergreifende Arbeitsgruppe an, um Modellversuche vorzubereiten. Praktikerin Bennefeld-Kersten empfiehlt Seniorenbeiräte hinter Gittern. Und Anstaltsleiter Skirl verspricht schulterzuckend, sich beizeiten ein geriatrisches Lehrbuch anzuschaffen - „wenn das gewollt ist von der Gesellschaft”. Denn die demographische Entwicklung hat auch politische Ursachen.

      Fachleute sind sich einig, daß de facto härtere und längere Strafen, der Ausbau der Sicherungsverwahrung und die stetig wachsenden Hürden auf dem Weg zur Entlassung zwar dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung Rechnung tragen mögen, angesichts der realen Kriminalitätsentwicklung aber völlig übertrieben sind. Auch der steigende Altersdurchschnitt im Knast ist letztlich Teil der ewigen alten Frage, wieviel Risiko eine Gesellschaft zu tolerieren bereit ist. Skirl sagt: „Wenn es gelänge, die künftige Kriminalpolitik wieder auf eine rationale Grundlage zu stellen, dann wäre viel gewonnen.”
      Avatar
      schrieb am 21.03.06 09:17:36
      Beitrag Nr. 12 ()
      DIE ZEIT 16.03.2006 Nr.12

      Vaters Land
      Vor über 40 Jahren kam Drago Ljubić von Jugoslawien nach Bremen. Auf einer Reise mit seinem Sohn in die alte Heimat erzählt er ihm die Geschichte seiner Immigration. Von Nicol Ljubić


      © Gerrit Hahn
      Im Mai vorigen Jahres brach der Berliner Journalist Nicol Ljubić mit seinem Vater Drago zu einer zweiwöchigen Reise durch Kroatien, Italien und Frankreich auf. Er begab sich auf den Weg seines Vaters, den dieser Ende der fünfziger Jahre gegangen war, als er Jugoslawien verließ. Darüber hat der Sohn ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel: »Heimatroman oder Wie mein Vater ein Deutscher wurde«. Es ist soeben bei DVA erschienen. Hier veröffentlichen wir einen Auszug.

      Drago Ljubić war als Jugendlicher 1958 aus dem sozialistischen Jugoslawien geflohen und über Italien und Frankreich nach Deutschland gelangt. Der Sohn kannte viele Anekdoten über diese Zeit, aber er hatte sie nie recht glauben wollen: von der nächtlichen Flucht des Vaters durch den Wald, von seinem Leben als Illegaler in Italien, als Asylant in Paris. Dort verliebte er sich in ein deutsches Au-pair-Mädchen, das er heiratete. Mit seiner ersten Frau ging er 1962 nach Bremen. Er heiratete ein zweites Mal, die Mutter des Autors; dieser wurde 1971 während eines längeren Aufenthalts in Zagreb geboren.

      In Bremen erwartete meinen Vater und seine Frau deren Großmutter. Die erste Zeit wohnten sie bei ihr, in einer Kleingartenparzelle im Dickstielweg, ein Zimmer, Küche, kein fließendes Wasser. Es war das Jahr 1962. Wir haben draußen in einen Alutopf geschissen, sagt mein Vater. Und weil ich lache, sagt er: Junge, das war so, das kannst du dir gar nicht mehr vorstellen. Er kann sich auch deshalb daran erinnern, weil es so kalt war und sie jedes Mal Jacken anziehen mussten. Elke, seine Frau, Pascale, seine Tochter, und er schliefen in der Küche. Sie blieben länger im Dickstielweg, als sie gedacht hatten: fast ein Jahr. Ich glaube nicht, dass mein Vater sich Gedanken gemacht hat darüber, dass er vier Jahre nach seiner Flucht aus der Armut Jugoslawiens wieder in einem Haus mit Plumpsklo angekommen war. Wichtiger war es, schnell Arbeit zu finden und eine Wohnung. Er ging zu Schmidt & Koch, einem Volkswagen-Händler in der Stresemannstraße, wahrscheinlich war Elke dabei, er sprach ja kein Deutsch. Sie waren nach Bremen gekommen, weil sie hofften, dort bessere Chancen zu haben als in Cäciliengroden, dem Dorf bei Wilhelmshaven, aus dem Elke kam.

      Bei Schmidt & Koch hat er wochenlang Blinker montiert. Die Käfer mussten umgerüstet werden: von Winker auf Blinker. Seine Kollegen waren sauer auf ihn, weil er in einer Stunde das geschafft hat, was sie in drei schafften. 70 Mark waren normal, er hat im Akkord 110 verdient. Später bot ihm die Firma sogar eine Baracke an, in die er mit der Familie ziehen konnte. Es war die Wohnung, in der zuvor der Hausmeister gelebt hatte. Drei Zimmer, auf einem Hof, in der Einflugschneise des Flughafens, umgeben von Werkstätten. Tagsüber war überall das Klopfen und Hämmern zu hören. Aber sie hatten Strom und Wasser. Elke musste nebenbei die Büros putzen.

      Er spielt an den Armaturen des Opel Corsa herum, macht das Radio an und aus, schiebt den Regler für die Lüftung von kalt nach warm und wieder zurück. Wir sind seit zwei Wochen unterwegs, auf der Rückfahrt durch Frankreich.

      Junge, ich war ausgelernt, ich hatte meinen Meister in der Tasche.

      Hast du dich fremd gefühlt?

      Nö, war überall zu Hause.

      Wie einfach Integration doch sein kann. Warum all die Sorgen, nur weil man in einem fremden Land lebt, die Sprache nicht spricht und sich an die Mentalität gewöhnen muss? Und wenn einem jemand blöd kommt? Dann stößt man ihn einfach in den Graben. Ein deutscher Nachbar im Kleingartengebiet, so ein kleiner Zwerg, der meinem Vater nicht mal bis zur Brust reichte, hatte Elkes Großmutter gepiesackt, weil sie die Familie aufgenommen hatte, obwohl das Wohnen in den Parzellen untersagt war. Dieser kleine Nachbar hat immer geschimpft, bis mein Vater ihn eines Tages in den Graben geworfen hat, der zwischen den Grundstücken verlief. Danach war Ruhe.

      Ich sehe ihn an, wie er neben mir sitzt. Er ist immer noch ein Koloss von Mann, bestimmt würde er die Kraftprobe immer noch gewinnen. Er dreht sich zu mir, schaut mich kurz an und lächelt. Wann sind seine Haare so grau geworden?

      Er hat mit Gebrauchtwagen gehandelt, ich wusste das nicht

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      In einer Baracke auf dem Hof einer Autowerkstatt zu leben war nicht das, was sich Elke und er erträumt hatten. Sie wollten eine Wohnung, eine richtige Wohnung. Aber die zu finden war schwieriger, als sie gedacht hatten. In ihrer Verzweiflung schrieb Elke sogar dem damaligen Bürgermeister Wilhelm Kaisen. Er antwortete, dass es viele Menschen gebe, die keine Wohnung hätten, und wünschte ihnen viel Glück bei der Suche. Fast hätten sie auch eine Wohnung bekommen, Stader Straße, drei Zimmer, über einer Bäckerei, Elke hatte telefonisch alles geklärt, sie kamen abends, um die Wohnung zu besichtigen, alles lief gut bis zu dem Moment, als mein Vater etwas zu Elke sagte. Der Eigentümer rief: Ausländer, bloß nicht!

      Da kannst du nichts machen, sagt er.
      War es das einzige Mal, dass du Schwierigkeiten hattest, weil du Ausländer warst?

      Junge, bin waschechter Deutscher.

      Er sieht mich an und sagt: War einziges Mal, sonst mit allen klargekommen, war in Autobranche bekannt wie bunter Hund. In Zulassungsstelle kannte mich jeder.

      Wie sich herausstellt, war mein Vater zu jener Zeit nebenbei Autohändler. Innerhalb von sechs Monaten hatte er hundertzwei Autos zugelassen. Peugeots, Käfer, Opel, Renaults – alles. Damals konnte man mit gebrauchten Autos noch Geschäfte machen. Er hat alte Autos gekauft, in Schuss gebracht und über die Zeitung wieder verkauft. Die guten an private Käufer, die weniger guten an Autohändler. Er erinnert sich, dass er sich mal von einem Kollegen zu einem Autohändler hat schleppen lassen, um dann die letzten Meter auf den Hof zu fahren und den Wagen in Zahlung zu geben. Das Auto hatte ein Loch im Getriebe, das er notdürftig geflickt hatte. Die Arbeit bei der Lufthansa, wo er 1965 als Flugzeugtechniker anfing, gab ihm die Möglichkeit, nebenbei an Autos zu basteln. Bis eines Tages sein Chef schimpfte, weil der ganze Parkplatz voll war mit den Autos meines Vaters. Später wird meine Mutter sagen, du glaubst gar nicht, wie viele Autos dein Vater hatte.

      Ich muss lachen. Ich wusste gar nicht, dass du im Autogeschäft warst, sage ich.

      Du weißt vieles nicht, sagt er.

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      Aber es passt zum Bild: der Südländer, der immer seine kleinen Geschäfte am Laufen hat.

      Was folgte, ist eine Geschichte, die man gern als amerikanische Geschichte bezeichnet und der Grund dafür ist, warum es bis heute Menschen aus aller Welt in die USA zieht – der Grund, warum sie bei allen Schwierigkeiten, die sie in dem Land haben, sich trotzdem so schnell dieser Gesellschaft zugehörig fühlen. Es ist die Geschichte vom selbst verdienten Glück, von einem Menschen, der eine Chance bekam und sie nutzte. Wenn mein Vater von Armut erzählt, dann schwingt darin auch immer der Stolz mit, sie überwunden zu haben – und zwar mit den eigenen Händen. Mein Vater bekam keine Einführung in deutsche Leitkultur, er hat nie Goethe gelesen, und den Text der Nationalhymne kennt er auch nicht, Deutsch lernte er im Alltag, und die größten Integrationshilfen waren die Arbeit und die Liebe zu zwei deutschen Frauen.

      Mein Vater wurde Deutscher – im formalen Sinn. Am 30. Juni 1971 bekam er seine Einbürgerungsurkunde. 750 Mark hat sie ihn gekostet.

      Glaubst du, frage ich, als wir uns der belgischen Grenze nähern, du hast etwas Deutsches an dir?

      Was mich überrascht, ist nicht die Antwort, sondern sein Zögern. Erst ist er still, dann schaut er aus dem Fenster, und danach sagt er, für seine Verhältnisse, ungewöhnlich leise: Ich denke schon.

      Als sei ihm zum ersten Mal die Kehrseite bewusst geworden, am Ende dieser Reise in die Vergangenheit, die ihm seine Herkunft in Erinnerung gerufen hat, und die Kehrseite könnte sein, dass er sich von dieser Herkunft entfernt hat. Ist es das?

      Du bist so nachdenklich, sage ich. Und er sagt: Junge, nein, wie kommst du darauf?

      Mein Vater wurde Deutscher – nicht nur im formalen Sinn. Was aber bedeutet das? Dass er sich als Teil dieser Gesellschaft empfindet? Ist das nicht eigentlich die Definition für eine gelungene Integration? Was wird von Menschen wie meinem Vater erwartet? Reicht es, sich zum Grundgesetz zu bekennen? Muss man Deutsch können? Schiller gelesen haben? In all den Debatten um die deutsche Leitkultur klingt die Erwartung durch: Sie sollen sich in diese Gesellschaft integrieren, ohne aufzufallen, sie sollen Deutsche werden, als gäbe es eine deutsche Wesensart, als gehörten zur so genannten Leitkultur auch Pünktlichkeit, Fleiß und Ordentlichkeit. Wenn es das ist, dann kann das Land stolz sein auf meinen Vater. Er schottet sich nicht ab, er geht in keine Moschee, er isst Eisbein und Schnitzel und sogar Labskaus, obwohl es ihm nicht schmeckt. Er riecht manchmal nach Knoblauch, aber das war’s schon. Sicherlich, er könnte seinen Namen eindeutschen lassen, aus Ljubić mach Lubitsch, sein Deutsch könnte besser sein, er könnte sein Temperament ein wenig zügeln und auch mal in der Küche helfen, und er müsste nicht morgens schon den Fernseher einschalten, weil das doch so typisch ist für Südländer, während in deutschen Familien lieber pädagogisch wertvoll gespielt, gelesen oder Bach gehört wird.

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      Diese ganze Debatte hat den Haken, dass sie von einer Definition des Deutschseins ausgeht, nach der man der Mehrheit der Deutschen ihre Staatsangehörigkeit aberkennen müsste. Mein Vater war auch als Jugoslawe schon pünktlich und fleißig, und auch als Deutscher denkt er bei Faust als Erstes an die Klitschkos – wie wahrscheinlich viele andere Deutsche auch. Und wie sie schimpft er über Politiker, die das Land zugrunde richten, er schimpft auf Menschen, die lieber vom Staat leben, als zu arbeiten, er schimpft auf ein System, das so etwas überhaupt möglich macht, er spricht gern von früher, als alles noch besser war, als die Menschen noch gearbeitet haben und die Bahn pünktlich fuhr. Früher war auch Bremen noch wie aus dem Ei gepellt, dass jemand bei Rot über die Straße ging, gab es nicht. Er könnte an jedem Stammtisch dieses Landes sitzen und würde nur deshalb auffallen, weil er gebrochen Deutsch spricht und seine Haut einen südländischen Teint hat.

      Mein Vater hält sich mit der rechten Hand am Griff über der Tür fest. Die Welt zieht vorbei, Wiesen, Bäume, hin und wieder Häuser, aus den Augenwinkeln sehe ich seine Finger, die sich um den Griff klammern, und ich denke, vielleicht ist es das, was sich verändert hat in seinem Leben, er braucht etwas, an dem er sich festhalten kann. Vielleicht fühlt er sich deswegen so wohl in Deutschland. Hier gibt es feste Zeiten fürs Rasenmähen; um kurz vor drei holt er das Gerät aus dem Schuppen, rollt das Verlängerungskabel von der Trommel, steckt den Stecker ein, um Punkt drei heult der Mäher auf. Hier gibt es so viele geschriebene und ungeschriebene Regeln, und vielleicht ist es eine logische Folge, dass ein Mensch, der einen Teil seines Lebens im Transit verbracht hat, Halt im Alltäglichen sucht, dass er, der keinen geordneten Lebenslauf hatte, so viel Wert auf Ordnung legt.

      »Wir haben Auto, Wohnung«, sagt er, »was willst du mehr?«

      Wir entfernen uns von der Grenze, Eindhoven, 30 Kilometer, steht auf einem Schild. Wir sind falsch abgebogen, erreichen die Grenze erst gegen drei Uhr. Im Ruhrgebiet geraten wir noch in einen Stau, sodass wir erst gegen fünf an einer Raststätte halten. Mein Vater nimmt es gelassen, er bestellt ein Wiener Schnitzel, wir setzen uns an einen Tisch mit Blick auf die Autobahn. Wir schweigen und essen. Ich fange an, Autos zu zählen, Autos, die nach Norden fahren, das haben wir früher immer gemacht, als ich noch ein Kind war. Er die aus der einen Richtung, ich die aus der anderen. Gewonnen hatte, wer mehr zählte. Mein Vater hat vor mir aufgegessen, wie immer. Er wartet und sieht aus dem Fenster. Zweiundsechzig, sagt er.

      Was? frage ich.

      Zweiundsechzig Autos. Nach Süden.

      Dreiundvierzig, sage ich.

      Er schnalzt mit der Zunge, was er oft macht, wenn er gute Laune hat.

      Es ist nicht mehr weit, als ich ihn frage: Bist du glücklich?


      Und er fragt, glücklich mit was?

      Mit allem, dem Leben.

      Haben Haus, Wohnung, Auto. Was willst du mehr? Das Einzige, sagt er und macht eine kurze Pause, das Einzige ist diese Krankheit. Er meint die Folgen einer Malaria, die er sich in Afrika holte; von einer Bauchspeicheldrüsenentzündung, einem Kleinhirninfarkt. Er musste operiert werden, sein Gleichgewichtssinn ist gestört. Das musste nicht sein, sagt er. Ich weiß auch nicht, warum mich das Schicksal so bestraft hat.

      Er ist so deutsch, liebt Pünktlichkeit und Ordnung

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      Um 18.47 Uhr, so steht es auf der digitalen Anzeige des Opel Corsa, mit dem wir durch halb Europa, von Zagreb über Italien und Frankreich zurück nach Bremen, gefahren sind, biegen wir in die Straße, in der meine Eltern wohnen. Hat sich nichts verändert, sagt mein Vater. Außer dass die Häuser irgendwann Klinker bekamen und seit einigen Jahren in manchen Gärten Neubauten entstehen, in die die Kinder mit den Enkeln ziehen. In dieser Straße hat meine Mutter gewohnt, in dieser Straße hat mein Onkel seine erste Wohnung gehabt, nachdem er von zu Hause ausgezogen war, und in dieser Straße haben meine Eltern vor achtzehn Jahren ihre Doppelhaushälfte gekauft. Manchmal denke ich, das passt nicht. Mein Vater gehört hier nicht her, und dass er den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt, ist nur ein Ausdruck dafür. Er klagt häufig über Kopfschmerzen und macht das Klima dafür verantwortlich. Diese Kälte und dieser ewige Regen. Dann aber denke ich, das passt doch. Wo könnte jemand wie er, der sich als waschechter Deutscher sieht, anders wohnen als in einer Doppelhaushälfte? Wer hierher kommt, muss sich anpassen, sagt er jedes Mal, wenn es um Ausländer geht. Er hat sich angepasst, mehr noch. Er verkörpert sein eigenes Bild vom Deutschen. So sehr, dass es genau diese Eigenschaften sind, die mich am meisten gestört haben: Korrektheit und Pünktlichkeit. Manchmal habe ich mir gewünscht, er hätte etwas südländische Gelassenheit, aber das hat ihn schon in Griechenland aufgeregt, dass er sich auf Griechen nicht verlassen konnte: So muss man sich nicht wundern, wenn man zu nichts kommt. Wenn ich manchmal sage, ich sei zumindest zur Hälfte Kroate und froh, in Zagreb geboren zu sein, weil es mir wenigstens ein bisschen Exotik verleiht, sagt er: Junge, was willst du? Du hast einen deutschen Pass.

      Meine Mutter sieht uns durchs Küchenfenster. Wir halten auf dem kleinen Hof vor der Garage. Kurz darauf geht die Haustür auf, und sie steht da, ein Geschirrtuch in der Hand. Mein Vater öffnet seine Tür. Der Alte ist da, sagt er, damit hast du wohl nicht gerechnet. Mein Vater umarmt meine Mutter, sie steht dabei auf den Fußspitzen, sie ist dreißig Zentimeter kleiner als er. Das wird aber Zeit, sagt sie. Sie hat uns früher erwartet, sich Sorgen gemacht. Und mein Vater erzählt vom Stau im Ruhrgebiet, wie wir uns im Schritttempo von Duisburg über Essen nach Recklinghausen geschoben haben. Meine Mutter sagt: Das Essen ist schon fertig, ich muss es nur noch auf den Tisch stellen. Im Garten sprudelt der kleine Springbrunnen, der Rhododendron blüht, die Hortensien, die Azaleen. Es ist Anfang Juni, allmählich wird es Sommer. Schau mal, wie schön alles blüht, sagt sie. Jeden Tag verbringt sie Stunden mit Gartenarbeit. Du solltest dich mal lieber reposieren, sagt mein Vater, in seinem Deutsch, das immer noch manchmal an die Zeit in Frankreich erinnert. Aber das kann sie nicht, sie kann nicht dasitzen und nichts tun. Mein Vater schaut sich das Wohnzimmer an, die gewaschenen Gardinen. Schön, sagt er. Wir setzen uns in die Küche. Beim Essen erzählt mein Vater von Adouche, dem alten Adouche, einem französischen Schrotthändler, der Erste, der ihm Arbeit gab. Er hat ihn wiedererkannt, als wir ihn vor ein paar Tagen besuchten. Er erzählt von Korsika und dem Hotel, das wir gefunden haben. Nur Monique, seine damalige Freundin, die Fleischerin, keine Ahnung, was aus der geworden ist. Wart ihr auch mal baden?, fragt meine Mutter. Einmal im Pool des Hotels. Und das Wetter? Gut. Die ganze Zeit hatten wir gutes Wetter, nicht einmal Regen. Aus dem kleinen Weltempfänger tönt ein deutscher Schlager. Roy Black oder so etwas Ähnliches.

      Nach dem Essen geht mein Vater hinaus, zum Auto, öffnet die Motorhaube, misst den Ölstand. Dann holt er sein Heft aus dem Handschuhfach, in dem er bei jedem Tanken den Kilometerstand, die Benzinmenge und den Preis notiert hat. Er holt einen Taschenrechner aus dem Wohnzimmerschrank, setzt sich aufs Sofa und fängt an zu rechnen. Fast fünftausend Kilometer, dreihundert Liter Benzin, dreihundertsiebzig Euro. Da kann man nicht meckern, gutes Auto. Dann räumt er alles wieder weg, verstaut Stift, Heft und Taschenrechner im Fach unter dem Couchtisch und schaltet den Fernseher ein.

      © DIE ZEIT 16.03.2006 Nr.12
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      schrieb am 14.04.06 11:28:25
      Beitrag Nr. 13 ()
      DIE ZEIT 12.04.2006 Nr.16

      Die Straßen von Moabit
      Mit einer Gruppe türkischer und palästinensischer Jugendlicher unterwegs in einer deutschen Parallelwelt Von Jana Simon


      Achmed ist 17. Er träumt davon, zur Bundeswehr zu gehen

      Foto: Michael Tewes für DIE ZEIT
      Die Polizei hat ihm das Wochenende verdorben. Amschad ist beunruhigt, er lauscht, bevor er die Tür öffnet. Vor zwei Tagen hat ein Beamter geklingelt. Bis in den Korridor der Wohnung in Berlin-Moabit drang er vor, um nach ihm zu suchen. Amschad war nicht zu Hause.

      Eine Decke liegt auf dem Sofa im Wohnzimmer, der Fernseher läuft, die Vorhänge sind zugezogen. Es ist elf Uhr morgens, Amschad ist gerade aufgewacht. Die letzten zwei Tage hat er die Wohnung gemieden, bei Nachbarn geduscht, bei Freunden abgewartet. Er setzt sich aufs Sofa, springt auf, setzt sich wieder, seine schmalen Arme schwingen hektisch hin und her. Amschad ist 22, in Berlin geboren, seine Eltern sind Palästinenser und vor 23 Jahren über den Umweg Libanon nach Deutschland gekommen. Er gehört zu den jungen Männern, die im Augenblick die Bildschirme des Landes bevölkern. Erst wird die Berliner Polizeistatistik veröffentlicht, nach der die Kriminalität bei Migrantenkindern zunimmt. Kurz darauf erklären Lehrer im Berliner Stadtteil Neukölln ihre Schule für unregierbar, die Mehrheit der Schüler ist arabischer und türkischer Herkunft. Böse Überschriften folgen, republikweit.

      Amschad zündet sich eine Zigarette an. Am Telefon hat der Beamte gesagt, er wolle nur mit ihm reden. Amschad glaubt nicht daran. Er hastet in die Küche, er braucht jetzt Kaffee, kann aber die Dose mit dem Pulver nicht finden. Im Abwasch liegen Teller, auf dem Boden liegt Wäsche, die Aschenbecher sind voll. Es sieht aus wie das Zuhause einer Familie, die den Kampf gegen den Alltag aufgegeben hat. Seine Mutter ist mit der Schwester beim Jobcenter, der Vater lebt woanders, liebt eine andere Frau. Der kleinere Bruder hat irgendwann heute Morgen die Wohnung verlassen, keiner weiß, wohin. Nur der Jüngste geht zur Schule, aufs Gymnasium. Auf ihm liegen die Hoffnungen der Familie.

      Es ist nicht das erste Mal, dass die Polizei bei ihnen vorbeischaut. Amschad saß schon in Untersuchungshaft, sein kleiner Bruder Achmed auch. Und sie warten noch immer auf Turnschuhe und Elektrogeräte, die die Beamten bei der letzten Durchsuchung mitgenommen haben. Amschad hockt sich wieder aufs Sofa, lauscht nach Geräuschen aus dem Treppenhaus. Da klappert ein Schlüssel, seine Schwester kehrt heim. Amschad fragt, wie es im Jobcenter war. Sie antwortet, die Mutter solle nun Deutsch lernen, als Maßnahme vom Amt. Er nickt kurz.

      Sie nennen sich gegenseitig »Opfer« und »Schwuchtel«

      Im Kubu, dem Jugendfreizeitheim, ist um die Mittagszeit nicht viel los. Die Jugendlichen schlafen noch. Es gibt einen Billardtisch, einen Kicker und eine Bar, wo die Cola 60 Cent kostet. Amschad geht in den Computerraum, chatten. Ein paar Jüngere sitzen vor den Bildschirmen, sie versuchen, übers Internet Mädchen kennen zu lernen. Wenn die fragen, wo sie wohnen, schreiben die Jungs Steglitz oder Charlottenburg. Moabit niemals. Sonst antworten die Mädchen nicht. Der Ruf ist zu schlecht.

      Der Ausländeranteil liegt bei 35, die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent. »Die bildungsnahen Schichten«, wie Stadtpolitiker das nennen, verlassen das Viertel, sobald ihre Kinder eingeschult werden sollen. Moabit gehört zum Bezirk Mitte, viele der Regierenden arbeiten, wohnen und feiern ganz in der Nähe. Moabit ist der Rand der Mitte, das Neukölln des Zentrums.

      Drei Wochen zuvor im Kubu: Amschad ist nicht da. Die Jüngeren sitzen am Tisch, trinken Cola. Sie nennen sich gegenseitig »Opfer« und »Schwuchtel«. Nur so, gegen die Langeweile. Asraf, einer von ihnen, muss später zum »kognitiven Training«, Einzelgespräch. »Voll eklig, bin doch kein Opfer.« Die anderen lachen. Asraf weiß nicht, worüber er dort reden soll. Schöne Geschichten kann er nicht erzählen.

      Er ist 17, und seine Familie soll in die Türkei abgeschoben werden, sie sind arabische Kurden. Jeder Tag könnte der letzte in Deutschland sein. Die Härtefallkommission hat den Fall abgewiesen, als herauskam, dass Asraf und einer seiner Brüder Intensivtäter sind. Da mochte sich niemand mehr für sie einsetzen. Er gehört zur Gruppe um die Lehrter Straße wie Amschads Bruder Achmed. Das sind etwa fünfzehn Jugendliche, Araber und wenige Türken, die sich in dieser Straße treffen. Im Augenblick sitzen vier von ihnen im Gefängnis. Eine Gang sind sie nicht, die Zeit der Gangs ist in Berlin vorüber. Heute herrscht das Handy, Verabredungen und Allianzen ändern sich ständig.

      Pepe betritt das Kubu, er humpelt. »Der ist abgestochen worden«, sagt Asraf. Pepe begrüßt die anderen mit Küssen auf die Wange. Rechts, links, rechts. Er sagt, er habe sich beim Sport verletzt. Pepe ist 25 und einer der wenigen Deutschen hier. Er spricht ausländerdeutsch, zieht die Wörter zusammen (»Eyalltah!«), und am Ende eines Satzes hebt sich seine Stimme aufgeregt, wie bei einem Nachrichtensprecher. Vor ein paar Jahren zog Pepe mit den Gangs der Gegend, den Bulldogs und den Araber Boys, herum. »Jetzt isses richtig still«, sagt er. Pepe redet ohne Pause, ein Wort verschwindet im nächsten und treibt es zu neuer Höchstgeschwindigkeit.

      Pepe ist einer, der immer lacht. Auch wenn nichts lustig ist

      Im Augenblick ist er bei der Geschichte angelangt, wie durch ein Loch in seiner Jackentasche eine Tüte Haschisch ins Innenfutter gerutscht ist, wo sie die Polizei schließlich fand. Pepe ist einer, der immer lacht, auch wenn nichts lustig ist. Einen Schulabschluss hat er nicht, wie viele im Kubu. Seine Tage sind gut gefüllt, solange das Handy funktioniert: kleine Geschäfte hier und dort.
      Die Jüngeren um Asraf halten still, wenn die Älteren wie Pepe oder Amschad reden. Laut sind sie, wenn sich die Aufmerksamkeit auf sie richtet. Diese seltenen Momente müssen sie maximal ausnutzen.

      Später am Nachmittag zeigt ein Junge auf seinem Handy eine Schlägerei, die er aufgenommen hat. Der Film kursiert, und er fürchtet, identifiziert zu werden. Ein paar von seinen Freunden wurden schon festgenommen. Wenn man Pepe, Amschad, Asraf und den anderen eine Weile zuhört, verdichten sich ihre Geschichten zu einem einzigen großen Rauschen, nur einzelne Wörter wie Gefangenensammelstelle, Schulabbruch, Abziehen, Kiffen, Jugendgerichtshilfe, Knast, Sozialarbeiter klingen hindurch und bleiben im Hirn. Es ist ihre Normalität, und sie reden darüber, als gebe es kein Entrinnen, Schicksal eben.

      Sie scheinen sich selbst nicht besonders viel zuzutrauen und ihre Umwelt ihnen auch nicht. Die Sozialarbeiter verteilen Visitenkarten, auf deren Rückseite steht: »Wichtig bei Polizeimaßnahmen. Ihr habt ein Recht auf Aussageverweigerung, einen Anruf und die Dienstnummer des Beamten…«

      Ein paar Tage später, an einem Freitagabend, ist Party im Kubu. Der Türsteher will Amschad nicht hineinlassen, sie diskutieren. Schließlich gelangt Amschad doch an den Tresen, er ist sauer und bestellt ein Bier. Jugendliche aus anderen Bezirken sind angereist, Schwarze und Asiaten. Vielleicht gibt es Ärger. Amschad trinkt das Bier in kurzen Zügen. Früher, als es die Gangs noch gab, habe er die Waffen der Großen getragen, sagt er. Ihm konnte die Polizei nichts. Eine Bank hat er auch einmal ausgeraubt, dafür kam er in Untersuchungshaft. Zu Hause mochte er nicht sein, dort war immer Stress. Aus dem Saal dringt laute Musik zur Bar, ein paar Schwarze rappen.

      Viele Mädchen sind gekommen, Amschad beobachtet sie aus den Augenwinkeln. Sie tragen ihre Jeans auf den Hüften, darüber beginnt der Bauchspeck. Amschad bestellt das nächste Bier. Zum Arbeitsamt will er nicht mehr. »Das hält nur auf«, sagt er. Die hätten sowieso nichts für ihn. Er deutet auf ein paar Jüngere, auf deren Basecaps und die weiten Baggyhosen. »Die sehen doch aus wie Amerikaner, nicht mehr wie Araber oder Afrikaner.« Zu Hause sehen die Eltern arabische Nachrichten. Die Reden des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad werden meist live übertragen. »Auf al-Dschasira zeigen sie täglich tote amerikanische Soldaten im Irak«, sagt Amschad. Im deutschen TV nicht.

      Drinnen im Saal gibt es kurz vor Mitternacht eine kleine Schlägerei. Wegen eines Mädchens. Alle rennen auf die Toilette, dort haut einer mit der Faust in den Spiegel. Nachher ist Blut auf den Stühlen. Am Ende prügeln sich draußen vor dem Kubu noch einmal welche. Dann ist die Party plötzlich vorbei. Amschad sitzt noch immer an der Bar, er fragt nach jedem Satz: »Interessiert dich das wirklich?« Dass ihm jemand zuhört, ist er nicht gewohnt. Martina Kühn, die Leiterin vom Kubu, eine blonde Frau Mitte 30, läuft vorbei. Sie ist ganz zufrieden mit ihrer Party. Es sei eigentlich ein friedlicher Abend gewesen, sagt sie. Früher sei viel mehr passiert.

      Martina Kühn ist selbst in Moabit aufgewachsen. Als ihre Tochter vergangenes Jahr eingeschult werden sollte, waren von 144 Schülern drei Deutsche. Martina Kühn arbeitet jeden Tag mit ausländischen Jugendlichen, sie mag sie. Umgezogen ist sie trotzdem, ihre Tochter geht nun in einem anderen Bezirk zur Schule. Manchmal fragt die Tochter sie auch, warum sie arbeiten gehe. Um sie herum leben fast alle Eltern von Hartz IV. Nicht immer liegt es nur an ihnen. Viele durften nicht arbeiten, haben Jahre im Duldungsirrsinn verbracht. Wenn man Amschad fragt, was er gern machen würde, fragt er zurück: »Meinste einen Traum oder so?« Dann schweigt er, nimmt einen Schluck Bier, schweigt. Es gibt keinen. Einmal hat er überlegt, nach Palästina zu gehen, ins Land der Eltern. Aber er hat gehört, dass Araber in Israel schlecht behandelt werden. Also ist es besser, nicht zu träumen. »Für sich sehen die Jugendlichen kaum Perspektiven«, sagt Martina Kühn. Erst vor kurzem hat sich einer der Jungs geweigert, ein Passfoto auf seine Bewerbung zu kleben. »Schwarzköpfe nimmt keiner«, hat er erklärt.

      Es ist zwei Uhr nachts. Die Sozialarbeiter von Gangway, dem Streetworkerverein, sitzen vorn an der Eingangstür, schauen, ob alles friedlich bleibt. »Von unseren waren nur die Obergangster da«, sagt Eva Koch. Seit acht Jahren arbeitet sie in Moabit. In ihrer Jugend sei der Beruf des Straßenfegers eine Drohung gewesen, sagt sie, heute sei es ein Traumjob. Eva Koch ist schon froh, wenn die Jungs nicht im Gefängnis landen. Ihr Kollege fragt: »Wo sollen wir die denn hinintegrieren?« Die Sozialarbeiter wundern sich, dass die Jugendlichen noch so ruhig sind und nicht randalieren wie in Frankreich. Wahrscheinlich liege es am Kiffen, sagen sie.

      Ein paar Tage später, an einem der vielen Nachmittage, sitzt Achmed mit einem Freund im Kubu und raucht. Die beiden gehören auch zur Gruppe um die Lehrter Straße. Achmed ist 17, Intensivtäter und der kleine Bruder von Amschad. Er hat drei Jahre auf Bewährung bekommen, nachdem er »alle möglichen« Straftaten begangen hat, nun geht er in Pankow zur Schule, eine Stunde von Moabit entfernt. Er lächelt. Klar, dass er den Weg dorthin nur selten findet. Achmed und sein Freund leben im »Nach-Rütli-Stadium«. Probleme wie an der bekannt gewordenen Neuköllner »Terror-Schule« haben sie längst hinter sich gelassen. Nur wenn sie gefragt werden, reden sie über Schule oder Lehrer, in ihrer Wirklichkeit spielen sie keine Rolle mehr.

      Der schmale Achmed erzählt, wie er einmal einen Zeitungskiosk überfallen hat, mit einem Elektroschocker. Früher hat er mit den anderen Laptops, Handys oder Rasierklingen geklaut und weiterverkauft. Das reichte für den Tag. Was machen sie mit den Geld? »Essen gehen, verreisen, im Hotel übernachten, Klamotten kaufen«, antwortet Achmeds Freund. Sie geben es immer sofort aus. Eigentlich wissen sie nicht, was sie damit anfangen sollen. Sie haben keine großen Ziele oder Wünsche, nur eine diffuse Sehnsucht nach einem Leben, dass sie aus dem Fernsehen kennen: geile Partys, schicke Autos, tolle Reisen. Achmed sieht seine Rettung nun in der Bundeswehr. »Da kann ich keine Scheiße machen.« Dann klingelt sein Handy. Asraf haben Achmed und sein Freund schon länger nicht mehr gesehen, wie es um dessen Abschiebung steht, wissen sie nicht. Über solche Dinge reden sie selten. Zu viele schlechte Nachrichten. Dafür kommt Amschad vorbei. Er kennt die Probleme seines kleinen Bruders. Was soll er sagen? Manchmal, wenn ihm die Worte fehlen, schlägt er ihn. Amschad bemüht sich, eine gute Figur zu machen. Aber ab und zu sieht er aus, als raste er im nächsten Augenblick aus. Dann fällt es ihm schwer, klare Sätze zu formulieren, die Worte passen nicht mehr zueinander.

      In den meisten Internet-Cafés haben sie Hausverbot

      Erst vor ein paar Stunden hat er im Computerraum Briefe vorgelesen. Der neueste Ärger. Im Jobcenter hat Amschad seinem Bearbeiter Papiere an den Kopf geworfen, weil der sie nicht entgegennehmen mochte. Amschad entschuldigte sich, eine Anzeige wegen Körperverletzung bekam er trotzdem, und dann hat er noch zu einem Polizisten »Du spinnst wohl« gesagt. Dafür muss er nun 300 Euro wegen Beleidigung zahlen. Es ist wie ein Kräftemessen, bei dem beide Seiten längst aufgegeben haben.

      Amschad verabschiedet sich von seinem Bruder. Achmed und sein Freund bleiben noch. Nachher, wenn das Kubu schließt, werden sie in eines der Internet-Cafés gehen. Mal sehen, ob sie hineindürfen, bei den meisten haben sie Hausverbot.

      An einem der darauf folgenden Tage taucht Pepe, der Deutsche, wieder auf. Schlecht gelaunt läuft er durch die Straßen Moabits. Die letzte Nacht musste er in der Gefangenensammelstelle verbringen. Die Polizei hatte ihn mit 15 Tüten Haschisch im Park erwischt. »Wie soll ich das meiner Mutter und meiner Ex erklären?«, jammert er. Zwei Jungs spazieren vorbei. »Mittagessen!«, ruft Pepe ihnen zu. Er hat schon wieder ein paar Tüten dabei. »Ich muss Geld verdienen«, sagt er. Und da ist so ein ungutes Gefühl. Fünf Jahre hatte er sich noch gegeben, dann wollte er aussteigen. Nun muss es früher kommen, das letzte große Ding.

      Ins Kubu geht Pepe an diesem Tag nicht mehr. Dort sitzen ein paar Jungs am Tresen und spielen mit ihren Handys »Happy Tree Friends«, dabei werden kleine süße Monster massakriert. Einer zeigt seine Freundin auf dem Display, sie ist nackt. Er grinst: »Sie dachte, es bleibt unter uns.«

      Amschads kleiner Bruder Achmed trainiert im Fitnessraum. In der Schule war er nicht, stattdessen hat er seinen Reisepass abgeholt. In drei Tagen fährt er mit einem Freund in die Türkei. »Zum Erholen.« Seinem großen Bruder hat er erzählt, er habe frei. Amschad fragte nicht weiter nach. Ihn hat die Polizei am Ende doch noch in der Wohnung gefasst und mitgenommen. Es ging um das Fahren ohne Führerschein und eine Körperverletzung, an die sich Amschad nicht erinnern konnte. Dann ließen sie ihn wieder gehen. Nun schaut er den Jüngeren im Kubu beim Durchdrehen zu. Asraf ist gerade angekommen. Er nimmt Schaum aus dem Spülbecken der Bar und pustet die anderen voll.

      Dann kippen sie gemeinsam einen Ständer um, boxen einander und nennen sich gegenseitig Kanaken. Leiterin Kühn wirft sie hinaus. »Aber nur für eine Stunde«, betteln sie.

      Das Kubu ist einer der wenigen Orte, wo sie willkommen sind. Manchmal.
      Avatar
      schrieb am 10.05.06 15:12:27
      Beitrag Nr. 14 ()
      Quelle: Die Gazette


      Thomas Manns Münchner Villa: Eine deutsche Immobilien-Geschichte

      Mann, Haus, Banker, Bär


      Fast zwanzig Jahre lebte der Schriftsteller Thomas Mann mit seiner großen Familie in der Poschingerstraße in München. Das Haus, von den Kindern zärtlich „Poschi“ genannt, wurde im Zweiten Weltkrieg von Bomben getroffen und später abgerissen. Jetzt, im Sommer 2005, steht es beinahe fertiggebaut wieder an der alten Stelle. Die Idee, daraus ein Museum und eine Erinnerungsstätte zu machen, scheiterte an fehlenden Geldern und wohl auch am mangelnden Willen der Stadtoberen von München. Nach einem der größten Schriftsteller Deutschlands wird in Zukunft einer der einflussreichsten Banker im Mann-Haus an der Isar wohnen. (Foto: Hans Pfitzinger)

      Von Hans Pfitzinger







      „Wer liest denn noch den Spiegel?“

      Merkwürdige Zufälle im Zaubergarten

      Mein alter Freund und Spiegel-Leser Ulli J. war entzückt, als er mich an einem Dienstag im März dieses Jahres gegen Mittag anrief: „Waaas – das hast du nicht gewusst? In der Ausgabe von gestern, ein langer Artikel, mit Fotos! Soll ich ihn dir faxen?“ Wenig später wusste ich, dass im Spiegel vom 21. März 2005 tatsächlich ein Artikel über den Wiederaufbau des früheren Wohnhauses von Thomas Mann in München stand. Dass mich das nicht sonderlich erfreuen würde, war dem Ulli schon klar. Denn an eben diesem Montag, als der Artikel im Spiegel erschien, hatte ich morgens um neun einen Artikel mit eben diesem Thema an den Herausgeber der GAZETTE geschickt. Das Fax von Freund Ulli klärte auch ein weiteres Rätsel, das ich vorher verblüfft für merkwürdigen Zufall gehalten hatte: Sämtliche Münchner Tageszeitungen hatten Montag (Abendzeitung, Bild) oder Dienstag (tz, SZ) in kurzen Beiträgen, jeweils mit Fotos, über den Wiederaufbau des Thomas-Mann-Hauses berichtet. Und eines war allen gemeinsam: nirgends ein Hinweis, dass sie ihre Informationen aus dem Spiegel abgeschrieben hatten.
      Eine alte Schreiberregel lautet: Wenn schon abschreiben, dann vom Besten. Eine neue scheint zu lauten: Ein Thema ist ein Thema, und wenn mir Der Spiegel eines auf dem Tablett serviert, tu ich einfach so, als sei das von mir entdeckt worden. „Wer liest denn noch den Spiegel?“
      Damit tröstete mich auch eine Berliner Kollegin. Und fügte hinzu: „Hey, passiert einem doch dauernd. Man bietet dem Chefredakteur ein Thema an, will er nicht. Drei Wochen später steht’s im Stern oder im Spiegel, und der Chef fragt bei der Morgenkonferenz: ‚Warum haben wir da eigentlich nichts drüber gemacht?’ Kümmer dich nicht drum, ein GAZETTE-Artikel ist doch was anderes.“
      Der Artikel im Hamburger Nachrichtenmagazin war sorgfältig recherchiert und reich an Informationen. Das konnte ich beurteilen, denn die Autorin Susanne Beyer zog zum Teil dieselben Quellen zu Rate wie ich. So beginnt sie beispielsweise im Jahr 1945 mit der Fahrt von Klaus Mann die Föhringer Allee hinunter zu seinem zerstörten Elternhaus. Ich nehme an, sie hat das an den Anfang gestellt, weil Klaus Mann es in der Bildbiographie so schön beschreibt. Ich hatte ebenfalls überlegt, damit anzufangen, entschied mich dann aber, die Passage erst später zu bringen. So fährt Klaus Mann im dritten Abschnitt zu seinem zerstörten Elternhaus, bei mir allerdings die Poschingerstraße hinunter.
      Auch eine andere Entscheidung fand ich im Spiegel im Nachhinein bestätigt: für die GAZETTE nicht den Titel Im Zaubergarten zu wählen. Ich erfuhr nämlich, dass Dirk Heißerer, der Vorsitzende des Thomas-Mann-Fördervereins, gerade im März ein Buch mit diesem Titel herausgebracht hat (Untertitel: Thomas Mann in Bayern, C. H. Beck Verlag).
      -hp





      „Es ist eine alberne und gefährliche Stadt.
      Die Mischung aus bürgerlichem Stumpfsinn,
      alias Gemütlichkeit, Leichtsinn
      und Schwabinger Literatur-Radikalismus ist ekelhaft...“.
      Thomas Mann über München

      Vom Anspruch, zu den Besten gehören zu wollen

      Was ein Schriftsteller macht, kann man sich auch als Nichtfachmann in etwa vorstellen. Er liest, sitzt am Schreibtisch, schreibt, denkt, spaziert, setzt Kinder in die Welt, spaziert, denkt, schreibt, hält Vorträge zum Geldverdienen, liest und geht in die Oper.
      Was aber macht ein Investmentbanker? Er zieht Hemd und Anzug an, bindet einen Schlips um und begibt sich, beispielsweise, in die 58. Etage des Frankfurter Messeturms mit Blick auf die nahen Bankentürme und die fernen Berge des Taunus. Folgen wir dem Reporter der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in die Welt der Global Player einer Investmentbank: „Um 9.55 Uhr läutet Peter Hollmann die Glocke. In der Aktienabteilung von Goldman Sachs beginnt der so genannte ‚Morning Huddle’, eine tägliche Stehkonferenz, auf der die aktuelle Lage auf den Finanz- und Rohstoffmärkten besprochen wird. Etwa 20 Teilnehmer hören den Ausführungen junger Krawattenträger zu, die über den Handelsverlauf an der Wall Street am Vorabend, die Tendenz an der Tokioter Börse oder die neuesten Kapriolen des Rohölpreises berichten. Währenddessen klingeln unaufhörlich Telefone.“
      Ganz sicher nicht meine Welt, die der Stehkonferenzen mit ständig klingelnden Telefonen. Dafür bin ich dem Schicksal sehr dankbar. Dem Reporter, der hier mit-huddlen durfte, fällt die Sprache der Männer auf (es sind ausschließlich Männer): „Reines Deutsch spricht hier niemand, vielmehr eine Mischung aus Deutsch und Englisch. ‚War das above expectations?’, fragt jemand, als die Rede auf das gerade veröffentlichte Quartalsergebnis eines Konkurrenten zu sprechen kommt.“
      Nun könnte es ja sein, dass Sie bis heute nicht gewusst haben, was ein „Morning Huddle“ ist. Oder was es mit Goldman Sachs auf sich hat. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die ziehen lieber im Hintergrund die Fäden. Zum Beispiel, wenn ein Großkonzern wie Daimler (Deutschland) und ein anderer wie Chrysler (USA) sich zu einem noch größeren Großkonzern vereinen. Daran waren Goldman Sachs und ihr deutscher Chef Alexander Dibelius „federführend“, wie es so schön heißt, beteiligt. Das Managermagazin gerät richtig ins Schwärmen, wenn es um die allmähliche Verfertigung von DaimlerChrysler durch Alexander Dibelius aus dem Geist der Volkswirtschaftslehre geht: „Die transatlantische Fusion (der so genannte ‚Merger of Equals’) war sein Meisterwerk.“ Drunter tun die nichts. Die „Unternehmenskultur“ von Goldman Sachs formuliert Theodor Weimer, Partner von Dibelius im Investmentbanking: „Unsere Kultur ist getrieben vom Anspruch, zu den Besten gehören zu wollen.“ Auch ohne reines Deutsch.
      Zu den Mächtigsten gehört er, der 45 Jahre alte Mergermeister Dibelius, nicht nur nach Ansicht von Wirtschaftsjournalisten. Aber auf das Wort „Macht“ reagiert er allergisch: Laut FAS will er „dieses Wort partout nicht hören. Er verfüge über gute Kontakte zu einflussreichen Leuten in der Wirtschaft, relativiert er, mit dem Begriff Macht habe dies nichts zu tun, sondern eher mit den professionellen Dienstleistungen, die sein Haus und er für Kunden leisteten. (...) Er sei ein Analytiker, der sich bemühe, die Dinge auf den Punkt zu bringen und anderen Konzernchefs dabei helfe, einen Mehrwert zu schaffen.“
      Keine Macht also, nur Hilfestellung beim Mehrwertschaffen. Professionelle Dienstleistung. Da sind die Konzernchefs ganz scharf drauf. Die Kundenliste von Alexander Dibelius liest sich wie das Who’s Who der deutschen Wirtschaft: Adtranz, Bayer, Beck & Co., Conti, Dasa, Henkel, KPMG, TUI, Rheinmetall, DaimlerChrysler. Mit dem Chef des letzteren Konzerns, Jürgen Schrempp, ist er eng befreundet. Durchaus möglich, dass Dibelius ihn bald in sein neues Haus im Herzogpark einlädt. In die Villa von Thomas Mann.
      Zur Elite dieses Landes gehört Dibelius auch, zumindest nach herkömmlichen Kriterien von Erfolg und Karriere. Aus dem Blickwinkel des Managermagazins sah das im Jahr 2002 so aus: „Der ausgebuffte Investmentbanker liebt schnelle Autos, und ebenso rasant lebt er. Im jugendlichen Alter von 24 Jahren war Dibelius bereits promovierter Chirurg, dann wechselte er – frustriert von der Krankenhaus-Bürokratie – zur Unternehmensberatung McKinsey, wo er, natürlich in Rekordzeit, zum Partner aufstieg. 1993 kam Dibelius schließlich zur Elitebank Goldman Sachs, deren Co-Chairman Deutschland er kürzlich wurde. Ein Überflieger.“ So etwas „natürlich“ zu nennen, fällt wohl nur einem Wirtschaftsjournalisten ein. Aber offenbar meint er ja „selbstverständlich“.
      2Zu den Besserverdienenden gehört Alexander Dibelius ohne Zweifel auch. Da es sich aber bei Goldmann Sachs nicht um eine Aktiengesellschaft handelt, wird sein Einkommen nirgends veröffentlicht (auch sonst geht von Goldman Sachs nicht viel an die Presse). Aber es ist anzunehmen, dass dem Co-Chairman Deutschland ein baureifes Grundstück in bester Lage im Münchener Herzogpark für fünf Millionen Mark wie ein Schnäppchen vorgekommen sein muss.
      Erworben hat er es von einem in der Öffentlichkeit etwas bekannteren Herrn, der auch einmal als „Überflieger“ bezeichnet wurde: Florian Haffa, ein früherer Medienunternehmer und gerichtlich verurteilter Aktienbetrüger, der auf der Welle der New Economy angesurft kam und auf sehr alte Art mit seiner Firma EM-TV pleite gegangen war. So it goes.
      Florian Haffa hatte das Grundstück Ende der neunziger Jahre von der Erbin des Apothekers Otto Roeder erworben. Der Erblasser war 1953 extra nach Zürich gefahren, um Thomas Mann die 20000 Mark Kaufpreis persönlich in die Hand zu drücken. Roeder, ein bekennender Verehrer des Dichters, errichtete einen bescheidenen Bungalow auf den Grundmauern des alten Hauses und setzte sich dafür ein, dass die Föhringer Allee vor seiner Haustür 1956 in Thomas-Mann-Allee umbenannt wurde. Als Florian Haffa das Grundstück kaufte, war der Bungalow nur noch eine Ruine. Für die Pläne des Thomas-Mann-Fördervereins e. V., das ursprüngliche Haus originalgetreu wieder aufzubauen und als Museum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hatte Haffa durchaus Sympathie. Aber dann brauchte er wohl dringend Geld. Als Mäzen einer Thomas-Mann-Gedächtnisstätte in die Geschichte einzugehen hätte ihm nur Ruhm eingebracht. Für fünf Millionen Mark bot er das Grundstück mit Baurecht zum Verkauf an. (Wir erinnern uns: Thomas Mann bekam 20000 Mark dafür. Das spiegelt in etwa die Entwicklung der Immobilienpreise im Herzogpark.) Der Förderverein konnte, Oberbürgermeister Christian Ude wollte die von Haffa geforderte Summe nicht aufbringen, auch wenn der frühere Münchner Kulturreferent Jürgen Kolbe in der Welt am Sonntag in gewohnt geschraubter Manier für einen Wiederaufbau als Gedächtnisstätte plädierte: „Vom Habitus war auch der zugereiste Münchner Thomas Mann ein ‚Repräsentant’, quasi ein ‚Klassiker’. Die Distanz von einem Jahrhundert seit Erscheinen der Buddenbrooks bekräftigt die zweifelsfreie Einzigartigkeit der Bedeutung.“
      Bekräftigt wurde dann aber die zweifelsfreie Einzigartigkeit der Macht des Geldes, und so ging die Adresse Poschingerstr. 1 an den „Elitebanker“ Alexander Dibelius. Der hatte nichts gegen die Vorgaben des Münchner Planungsreferats, Garten, Mauer und Gebäude nach den ursprünglichen Plänen zu restaurieren und am Zaun eine Gedächtnisplakette anzubringen. Wie’s da drinnen aussieht, geht niemand was an. Dibelius will das Thomas-Mann-Haus privat nutzen, als Wohnhaus. Der ursprüngliche Architekt wird nirgends erwähnt, auf der Bautafel prangt der Name von Thomas Dibelius, Cousin des Bauherrn und Architekturprofessors an der Universität Siegen. Bei der Gestaltung des Inneren war er an keine Auflagen gebunden. So konnte das Haus mit modernster Haustechnik und Solarmodulen auf dem Dach ausgerüstet werden.
      Unter der Überschrift „Technik ergänzt Geschichte“ teilt die Firma Korn-Fenster weitere Einzelheiten mit: „Die äußere Fassade und ihre Fenster werden nach dem Orginal von 1914 gestaltet, die innere Fensterebene entspricht der modernen Neugestaltung des Gebäudekerns. Die Fenster- und Türenelemente erhalten unterschiedliche Zusatzkomponenten: Sicherheitsgläser, Alarmspinnen, elektrische Mückenrollos und elektrischen Sonnenschutz. Für die vielen Kabelaustritte an den einzelnen Elementen (bis zu 16) erstellen wir einen exakten Kabelverlegungsplan.“
      Auch das Schwimmbad geht nicht auf Thomas Mann zurück.

      Zwischenspiel: Der Bär

      Selbst wenn das neue Haus innen nach den alten Plänen eingerichtet wird, der ausgestopfte sibirische Bär wird bestimmt fehlen. Der stand seit 1914 aufrecht auf dem zweiten Treppenabsatz, einen Teller für Visitenkarten in den Tatzen, ein Erbstück der Familie Mann aus Lübeck. Schon in den Buddenbrooks hat Thomas Mann den Bären verewigt. Er wurde 1937 mit dem Rest des Hausrats versteigert und stand dann, bis ins Jahr 2000, im Schaufenster der Lederwarenhandlung Matt. In den Tatzen hielt er einen kleinen Korb mit Fensterleder. Dort entdeckte ihn Elisabeth Mann Borgese, als sie wegen der Fernsehserie Die Manns den Regisseur Heinrich Breloer in München traf. Jetzt steht der Bär im Münchener Literaturhaus am Salvatorplatz. In einem Glaskasten, dritter Stock, mit Aufzug. Das Literaturhaus ist eine städtische Einrichtung. Oberbürgermeister Ude müsste zurücktreten, wenn er den Mann-Bären wieder verkaufen würde.

      Der Krieg ist vorbei

      Am 10. Mai 1945 fährt am späten Nachmittag ein offener US-Jeep die Poschingerstraße in München Richtung Isar hinunter. Fahrer und Beifahrer tragen amerikanische Militärkleidung, Ausgehuniform, Hemden mit Schulterklappen und Schlips, das Schiffchen auf dem Kopf. Die Jacken haben sie ausgezogen an diesem sonnigen Maitag und auf den Rücksitz gelegt. Der Krieg ist vorbei. Zum ersten Mal seit 1933 nähert sich Klaus Mann wieder dem Haus, das für ihn, seine Eltern und fünf Geschwister fast 20 Jahre Lebensmittelpunkt war. „Mein erster Eindruck: Da ist es noch! Es hat den Sturm überstanden! Aber das stimmte nicht. Wie so viele Gebäude in der Stadt hatte das Haus nur als leere Hülse überlebt; die einigermaßen wohlerhaltene Fassade hatte mich für einen Augenblick getäuscht. Innen war alles kaputt.“ Auf einem Foto, aufgenommen von John Tewksbury, Klaus Manns Begleiter an diesem Tag, sieht man die leeren Fensterhöhlen. Klaus Mann steht auf der Gartentreppe an der Südseite des Hauses, die Stufen sind zerstört. Er blickt zum Balkon im zweiten Stock hinauf, der den halbkreisförmigen Vorbau mit Steinsäulen krönt. Auch die sind größtenteils abgebrochen, das Dach ist durchlöchert, die meisten Ziegel sind herabgefallen. Dort oben, im zweiten Stock, war früher sein Zimmer.
      „Es gelang mir, ins Haus zu kommen, und ich stellte sofort Veränderungen fest, die nichts mit dem Bombardement zu tun hatten. Es gab Wände und Türen, die ich noch nie gesehen hatte.“ Im zweiten Stock trifft er auf eine Frau, die sich dort notdürftig eingerichtet hat. Sie arbeitet als Stenotypistin bei einer Münchner Firma. Ihre Wohnung in der Innenstadt ist von amerikanischen Bomben zerstört worden. Klaus Mann, als US-Soldat mit den Siegern in München eingezogen, schreibt an seinen Vater Thomas in Kalifornien: „Es ist alles ziemlich bedrückend. Das Haus steht völlig leer – es wurde nach einem schweren Bombenangriff geräumt.“
      Bei Gesprächen mit Nachbarn erfährt er, wie es mit dem Haus nach 1933 weiterging. Zunächst wurde es drei Jahre nicht angerührt, 1936 dann mitsamt Hab und Gut von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, Möbel und Hausrat inklusive Bär versteigert. Die Villa übernahm im nächsten Jahr der geheimnisumwobene Verein „Lebensborn e. V.“. Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, zu dessen besonderen Hobbys die Rassenlehre gehörte, hielt das Haus des Dichters für das ideale Ambiente, um einen Eliteverein für Arier zu beherbergen: Hier sollte die Jugend „im Sinne des Rasseideals gefördert“ werden. Man könnte das auch als Verneigung vor der Magie des Gegners Thomas Mann sehen. Ob das Haus wegen der Arierzucht von der US Air Force ins Visier genommen wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Vier Mal wurde es von Bomben getroffen.
      1949 übergeben die Münchner Behörden Haus und Grundstück wieder an den früheren Besitzer Thomas Mann. Er erhält 2400 Mark Entschädigung für „entgangene Mieteinnahmen“.
      Die fetten Jahre

      Wenn es um die nähere Umgebung seines Hauses in München ging, duldete Thomas Mann keinen Widerspruch: „Das ist kein Wald und kein Park, das ist ein Zaubergarten, nicht mehr und nicht weniger.“ 1919, als er die Gegend, die noch heute Herzogpark heißt, in der Novelle Herr und Hund ausführlich beschrieb, stand seine Villa mit einigen anderen Großbürgerhäusern am Rand einer unbebauten Wildnis, direkt an der Isar. Und auch die lief noch nicht im schnurgeraden Stein- und Betonplattenkorsett an seinem Haus vorbei, sondern suchte sich ihren Lauf in einem breiten, ständig veränderten Flussbett.
      Ich konnte Manns Enthusiasmus siebzig Jahre später gut nachvollziehen. 1984 fand ich durch eine Anzeige in der Süddeutschen Zeitung eine Wohnung mit zwei Zimmern, Kochecke, Bad und Tiefgarage an der Ecke Mauerkircher-/Poschingerstraße. Die Zeitschrift, für die ich sehr gern halbtags arbeitete, hatte ihre Redaktionsräume in einer alten Villa im oberen Teil von Bogenhausen. Ich stapfte immer den Zickzack-Weg zum Herkomerplatz hinauf und war zu Fuß in zehn Minuten an meinem Schreibtisch. Fenster und Loggia der neuen Wohnung gingen nach hinten raus, ich wohnte im Baumhaus. Eichhörnchen schauten mir beim Schreiben zu. An der Ecke gab es noch die „Herzogparkquelle“, deren Pächterin zwar bei der CSU war, aber eine gute Wirtschaft führen konnte. Mir ging’s richtig prima. Die Nierensteine kamen erst später.
      Von Thomas Manns Anwesenheit in früheren Jahren wusste ich nichts. Es gab keine Hinweise, keine Gedenktafel am Haus Mauerkircherstraße 13 oder Poschingerstraße 1. Von der Adresse erfuhr ich erst, als ich mir nach langem Zögern doch die rororo-Monografie besorgt hatte. Mir war Thomas Mann oft ziemlich auf den Wecker gegangen mit seiner unverschämt ausgebreiteten Bildung. Und was zum Teufel gingen mich die Probleme der Großbourgeoisie an? Aber je älter ich wurde, umso mehr lernte ich den Großbourgeois Mann als Schriftsteller schätzen. Sogar den Zauberberg hatte ich, nach vielen Startversuchen, endlich mit großem Vergnügen und einem Gefühl der Bereicherung zu Ende gelesen. Dann war ich reif für Josef und seine Brüder, und da fiel mir auf, dass Thomas Mann nicht nur ein sehr klassisch schönes Deutsch schrieb, sondern auch sorgfältig und offenbar unermüdlich recherchiert hat. Wer über Kriegsursachen auf diesem Planeten Aufklärung sucht, wird die drei Bände bestimmt schätzen. (Would you please shut up, Mr. Nabokov!)
      Ah, sieh an, dachte ich, als ich das Foto seines Hauses in der Monografie sah, mit der Adresse als Bildunterschrift: Da hat er also gewohnt, der Zauberer! Gleich bei mir um die Ecke.
      Der Herzogpark ist so fern der Wirklichkeit auf diesem Planeten, wie es eine reiche Wohngegend in einer Großstadt der so genannten ersten Welt nur sein kann. Wobei reich hier nicht ausschließlich im Sinne von „viel Geld haben“ gemeint ist: reich an Bäumen, Sträuchern und Wiesen, würziger Luft, Flussauen mit echter Wildnis, ein Paradies für Vögel, mit schönen alten Villen und halb verwilderten Gärten. Aber auch geldig reich, wenn man die Bewohner meint. Hohe Zäune. Videokameras.
      Zum alten Geld kam im Lauf der Jahre neues hinzu, Eigentumswohnanlagen der obersten Preiskategorie locken die Bestverdienenden. Die Dichte an Autos der Luxusklasse (überwiegend Daimler, BMW, Volvo, Porsche, Range Rover und Ferrari) liegt auf der Mauerkircherstraße deutlich höher als sonst wo in der Stadt, von der äußeren Grünwalder Straße vielleicht mal abgesehen. Sehr beliebt sind große Geländewagen der Marke „Mein-Auto-fährt-auch-ohne-Wald“, ganz so, als würde der Herzogpark den Bewohnern noch heute das Gefühl vermitteln, dass sie in der Wildnis leben. (Obwohl die Straßen längst asphaltiert sind.) Auf eine frühere Entwicklungsstufe des Menschen deutet auch hin, dass die Frauen sich hier zur Winterszeit auffallend zahlreich in Tierfelle einhüllen, wenn sie aus ihrer Tiefgarage dieseln und zehn Minuten später in die von Feinkost Käfer an der Prinzregentenstraße einchecken.
      Apropos Frauen im bodenlangen Pelzmantel: Der Multimilliardär Friedrich Karl Flick, Erbe der deutschen Rüstungsindustrie aus dem Dritten Reich, hat sich hier schon vor mehr als zwei Jahrzehnten eine Villa errichten lassen, Pienzenauerstr. 111, eine Hochsicherheitsburg im Stil einer chinesischen Betonpagode. Die wird aber mehr bewacht als bewohnt, denn aus steuerlichen Gründen muss sich der Besitzer der Immobilie hauptsächlich im österreichischen Kitzbühel aufhalten.

      Thomas Mann im traumhaft Wohlbekannten

      Der Name des Viertels geht auf den Wittelsbacher Herzog Max in Bayern zurück, der den ausgedehnten Park am rechten Isarufer zu Beginn des 19. Jahrhunderts erworben hatte. Die Landschaft war von Gartenarchitekt Friedrich von Sckell im englischen Stil umgestaltet worden, ganz nach den fortschrittlichsten Vorstellungen seiner Zeit. (Von Sckell, 1789 nach München gekommen, legte im Auftrag von Kurfürst Karl Theodor den Englischen Garten an. Die Jahreszahl weist auf den Grund hin: Der Park sollte dem Stadtvolk freien Auslauf in der Natur bieten, damit sie in München nicht auf so dumme Gedanken kamen wie die Revolutionäre in Paris.) Des Herzogs Nachfahren verkauften den inzwischen wieder schön verwilderten Park im Jahr 1906 an eine Bauträgergesellschaft, die ihn fürs Münchener Großbürgertum als noble Wohngegend erschließen wollte. Doch die Gesellschaft ging bald danach pleite. So it goes.
      Im Herzogpark waren zwar schon Straßen vermessen und mit Schildern versehen worden, doch weiter als bis in die unmittelbare Nachbarschaft von Thomas Manns Haus drang die Bebauung nicht vor. Der Rest des Parks, mit den drei Zonen Fluss, „Steppe“ und Hang, die in Herr und Hund so schön beschrieben werden, blieb zu des Zauberers Zeiten von Häusern verschont: „Es ist kein Zweifel, die Parkstraßen mit den poetischen Namen wuchern zu, das Dickicht verschlingt sie wieder, und ob man es nun beklagen oder begrüßen soll, in weiteren zehn Jahren werden die Opitz- und die Flemingstraße nicht mehr gangbar und wahrscheinlich so gut wie verschwunden sein.“
      Hier irrte der Dichter. 14 Jahre später waren nicht die Straßen, sondern er selbst verschwunden. Heute sind die Opitz- und die Flemingstraße dicht bebaut, und auch sonst gibt es im Herzogpark kaum noch Grundstücke ohne Häuser. In den letzten Jahren wurden viele Lücken geschlossen. Aber Kultur ist, wenn die Häuser nicht höher sind als die Bäume, und das trifft hier immer noch zu.

      Thomas Mann war von der einmaligen Lage hingerissen. Was scherte ihn „bürgerlicher Stumpfsinn, alias Gemütlichkeit, Leichtsinn und Schwabinger Literatur-Radikalismus“ und das, was er den „Niedergang Münchens als Kunststadt“ nannte. Seine Welt war die des aufgeklärten Großbürgertums, in das er, der erfolgreiche Schriftsteller, eingeheiratet hatte. Die Familie von Mathematikprofessor Alfred Pringsheim, der seine Frau Katia entstammte, gehörte in München gesellschaftlich zur öffentlich präsenten Oberschicht. Katia Mann, die als eine der ersten Frauen in Bayern Abitur gemacht und an der Ludwig-Maximilians-Universität acht Semester Mathematik und Physik studiert hatte, war die Enkelin der Berliner Pazifistin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm. Höchst kultivierte Kreise, in denen der norddeutsche Schriftsteller verkehrte.
      Schon im Frühjahr 1911 waren die Manns von Schwabing in den Herzogpark umgezogen, seit Monikas Geburt im vorigen Sommer galt es, vier Kinder unterzubringen. Sie mieteten zwei Wohnungen auf derselben Etage in der Mauerkircherstraße 13 und verbanden sie miteinander. Das dreistöckige Haus, noch heute ein schnörkelloser Bau mit nackten Reliefstatuen auf der Straßenseite, lag fünf Minuten von der Trambahnhaltestelle Richtung Innenstadt entfernt. Und hundert Meter in der anderen Richtung, flussabwärts, begann die Wildnis. Thomas Mann, zeitlebens leidenschaftlicher Spaziergänger, erkundete in den folgenden Jahren auf langen Wanderungen mit seinem Hund Bauschan beinahe täglich die unbebaute Landschaft zwischen seinem Haus und Unterföhring. Besonders fasziniert war er von dem Fährmann, der etwa an der Stelle, wo 1924 das Isarwehr errichtet werden sollte, Ausflügler vom Englischen Garten nach Bogenhausen und wieder zurück brachte. Wenn er nicht draußen in der Natur unterwegs war, zog sich der Dichter in sein Arbeitszimmer zurück, zunächst im Haus Mauerkircherstraße 13, neben den Baumkronen, und schrieb Der Tod in Venedig. Vielleicht haben ihm manchmal Eichhörnchen beim Schreiben zugesehen.
      Frau Katia, überanstrengt von Mann, Haushalt, Kinderkriegen und Kinderhüten, verbrachte immer wieder lange Wochen fern von München in einem Sanatorium in Davos. Aus den Eindrücken, die Thomas Mann bei Besuchen dort aufnahm, und aus den Briefen, die ihm seine Frau schrieb, verdichtete sich bald eine neue Romanidee.

      Wer an der Poschingerstraße links abbiegt und zur Isar hinuntergeht, kommt im Jahr 2005 vorbei an einer der großen Villen, die da schon standen, als Thomas Mann hier wohnte. Poschingerstraße 5: Das Haus hat Walter Heymel im Jahr 1910 für sich bauen lassen, ein Dichter und Verleger, Gründer der Zeitschrift Die Insel und Inhaber des gleichnamigen Verlages. Seit 1952 residiert hier das ifo-Institut. Bei ifo erstellen und verbreiten sie hauptberuflich Prognosen über den „Geschäftsklimaindex“. Im wissenschaftlichen Ansehen steht das weit unter der Meteorologie. Es geht dabei um Wirtschaftsreligion, ihr Gott heißt Wachstum. Ihr Glaubensbekenntnis: Wenn „die Wirtschaft“ wächst, sinkt die Arbeitslosigkeit. Mit monatlicher Verkündigung der Promillewerte. Am ifo-Gebäude wird deutlich, dass man mit Arbeitslosigkeit mehr Geld verdienen kann als ohne. Dem gab man vor ein paar Jahren mit einem neu eingefügten Mitteleingang zur Straße hin Ausdruck. An der schmucken Fassade haben sicher viele Steuergelder mitrenoviert. Hier wird Wachstum Wirklichkeit. Doch von dieser Welt, der Herzogpark? Um das zu belegen, sind offenbar Säulen unverzichtbar.
      Noch 80 Schritte, und wir stehen am Abhang über der Isar. Dichte Baumreihen säumen das Hochufer. Ein Stück von der Straße entfernt verläuft der Zaun um das Grundstück Poschingerstraße 1. Am 7. März 1913 wurde der „Plan zur Erbauung eines Einfamilienhauses im Anwesen des Herrn Thomas Mann, Schriftsteller, Ecke Föhringer-Allee und Poschingerstr., Maßstab 1 : 100“ bei der Stadtverwaltung eingereicht und alsbald genehmigt. Die älteren Kinder, Klaus und Erika Mann, sieben und acht Jahre alt, erkundeten den ganzen Sommer über die Fortschritte beim Bau des Hauses.
      Die Lage war einmalig, die Nachbarn ebenfalls. Zu den Spielgefährten von Klaus und Erika gehörten die Kinder des Privatgelehrten Robert Hallgarten, des Historikers Erich Marcks und des Dirigenten Bruno Walter (mit dem Erika in den vierziger Jahren eine Liebesbeziehung einging, die von Mutter Katia sehr missbilligt wurde: „Mein Gott, wie kann man nur auf den verlogenen Greis versessen sein“, schrieb sie 1943 an Sohn Klaus). Die Nachbarn pflegten ein reges Sozialleben mit gegenseitigen Einladungen, bei denen man sich beriet, wie die wilde Kinderclique zumindest gelegentlich zur Räson gebracht werden könnte.
      1914 hatte der Schriftsteller keinen Grund zur Klage. Der Krieg war fern und der Aufregung nicht wert. Thomas Mann sympathisierte mit den deutschen Kriegszielen. Er lebte standesgemäß, war kerngesund, genoss die Wanderungen mit seinem Hund im „Zaubergarten“ Herzogpark und schrieb, gegen Störungen abgeschirmt von Frau Katia, an den ersten Kapiteln seines neuen Romans Der Zauberberg. Auch die beiden ersten Bände von Josef und seine Brüder sind in den folgenden Jahren im Haus über der Isar entstanden. Im April 1918 wurde Elisabeth Mann-Borghese geboren, der mittlere Sohn, Golo, war da neun Jahre alt. Genau ein Jahr später kam der jüngste Mann-Bruder Michael zur Welt. Wieder sind kleine Kinder im Haus. Die älteren proben den Abgang. Erika macht 1924 Abitur, Klaus verlässt die Odenwald-Schule ohne Abschluss und geht nach Berlin. Er hat beschlossen, Schriftsteller zu werden. Thomas Mann reist viel, hält Vorträge, engagiert sich gegen die Nationalsozialisten, wird bedroht. 1933, nach einem Vortrag in Amsterdam zum Thema Leiden und Größe Richard Wagners, kehren Thomas Mann und seine Frau Katia nicht mehr nach Deutschland zurück. 1936 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen.

      Einmal kehrte er dann doch noch zurück in die Poschingerstraße 1. Seit dem Ende des Krieges waren sieben Jahre vergangen. Er lebte jetzt in Erlenbach bei Zürich und war zu Besuch in der Stadt. Zum letzten Mal stand er, drei Jahre vor seinem Tod, an dem Ort, der ihm in der schönsten Zeit seines Lebens fast 20 Jahre Heimat gewesen war. Im Tagebuch hielt er fest: „Auf meinen Wunsch Fahrt zum Herzogpark, Besuch bei den Fundamenten des niedergelegten Hauses. War bewegt und gedankenvoll. Dann Weiterfahrt durchs traumhaft Wohlbekannte.“
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      schrieb am 06.07.06 11:08:29
      Beitrag Nr. 15 ()
      Quelle:Spiegel-Online
      EX-ENRON-CHEF KEN LAY

      Vom Helden zum Paria

      Von Marc Pitzke, New York

      Der frühere Enron-Chef Ken Lay ist tot. Er starb an Herzversagen. Damit bleibt ihm ein Leben hinter Gittern erspart - im Mai war er wegen Milliardenbetrugs schuldig gesprochen worden, das Strafmaß sollte im September fallen. Mit Lay endet eine zwiespältige Wall-Street-Ära.


      New York - Es war, trotz allem, ein Ende in relativer Würde. In Aspen, dem Wintersportort der Society im US-Bundesstaat Colorado, brach Kenneth Lay, 64, gestern Abend in seinem Ferienhaus zusammen. "Sein Herz gab einfach auf", sagte Lays Pastor Steve Wende. Zwar wurde Lay sofort noch in die Notaufnahme des Aspen Valley Hospitals gebracht. Doch dort starb er, um exakt 3.10 Uhr. Seine Frau Linda war an seiner Seite.

      Ex-Enron-Chef Lay:
      Dabei hätte sein Schicksal, ginge es nach der Justiz, anders aussehen sollen. Schuldig in allen Anklagepunkten: Mit diesem Urteil hatten die Geschworenen Lay, den Gründer und lange auch CEO des 2001 im Bilanzbetrug gekenterten US-Energiegiganten Enron, im Mai wegen Betrugs und krimineller Verschwörung für den Rest seines Lebens ins Gefängnis zu schicken beabsichtigt. Dem einsamen Tod hinter Gittern ist er nun entronnen, welcher Trost das auch sein mag für seine Familie. Doch Ken Lay wird als Urvater der US-Wirtschaftskriminalität in die Geschichtsbücher eingehen.

      Mit Lay starb eine zwiespältige Wall-Street-Ära - die der unfehlbaren, allmächtigen Tausendsassa-Firmenbosse. Welch eine Karriere, welch ein Geschäftsgenie - welch ein Absturz vom Helden Houstons zum Posterboy für all die widerwärtigen Exzesse der Wall Street in den 90er Jahren. "Kenny Boy" nannte ihn sein Busenfreund, Präsident George W. Bush, früher, als er Lay und dessen enorme Wahlkampfspenden noch gebrauchen konnte - und bevor er so tat, als kenne er ihn kaum, damit der Ruch des Ruchbaren nicht abfärbe.

      In den Machstrudel gesogen

      Wie Bush galt auch Kenneth Lee Lay als der klassische Texaner: jovial, umgänglich, rustikal, wiewohl verschmitzt und scharfsinnig. Dabei stammt er - ebenfalls wie Bush - gar nicht aus Texas. Er kommt aus dem ländlichen US-Bundesstaat Missouri, aus einem kleinen Ort namens Tyrone, wo er als Sohn eines Baptistenpredigers und Traktor-Verkäufers im Zweiten Weltkrieg geboren wurde.

      Lay diente kurz als Offizier in der Marine, fand dann aber schnell zu seinem wahren Talent, der Wirtschaft. Er machte seinen Doktor, arbeitete als Ökonom beim Ölkonzern Exxon und lehrte Mikro- und Makroökonomie an der George Washington University, nur vier Straßenblocks vom Weißen Haus entfernt. Sein Spezialgebiet, Omen seiner späteren Karriere: die Beziehungen von Wirtschaft und Politik.

      Und so war es dann nur noch eine Frage der Zeit, dass sich Lay in den Machtstrudel der US-Hauptstadt saugen ließ. 1971 trat er in die Federal Energy Regulatory Commission ein, die US-Energiebehörde. Dort kämpfte er vehement für die Liberalisierung der Gas- und Elektrizitätsmonopole - ein Schritt, der seinen Erfolg und den von Enron zementieren würde.

      Bushs Money-Man

      Sein Weg führte von der Politik in die Wirtschaft, sein Name wurde zu einem Begriff in der Branche: Erst Abteilungsleiter für Energiefragen im Innenministerium, dann Top-Manager und später Präsident von Florida Gas, Vizepräsident der Continental Group, Präsident und CEO von Transco, CEO von Houston Natural Gas, eines kleinen, kommunalen Energieunternehmens.

      Anfang 1985 gründete er Enron - indem er Houston Natural Gas mit der Pipeline-Firma InterNorth Enron aus Nebraska verschmolz. Binnen weniger Jahre vervielfältigte sich Enron im Wert, wurde zum siebtgrößten Unternehmen der USA und zum weltgrößten Energiehändler. Lays Erfolgsrezept: Er weitete das Pipeline-Geschäft auf den Erdgashandel aus, handelte mit Gas genauso wie mit allen anderen Roh- und Bedarfsstoffen auch, auf offenen Märkten und mit "Futures"-Termingeschäften. Diese Methode, schrieb der "Economist" einmal, sei ein "Glaubenskult" und Lay dessen "Messias".

      Kein Wunder, dass Lay bald vom Größenwahn gepackt wurde. "Wir sehen uns gerne als das Microsoft der Energiewelt", prahlte er.

      Er ergatterte sich zahllose Aufsichtsratsposten, wurde vom Bush-Clan umarmt, golfte mit Bill Clinton, empfing Margaret Thatcher. Schon 1999 war er einer der höchstbezahlten Konzernchefs der Nation, mit einem damaligen "Kompensationspaket" von 42,4 Millionen Dollar - ein Pionier der gigantomanischen Saläre, die Vorstandsvorsitzende heutzutage bekommen. Über sechs Millionen Dollar spendete er privat und via Enron in die Wahlkampfkassen diverser Republikaner (und, in geringem Maße, auch der Demokraten). Am Ende war er der großzügigste Finanzier überhaupt für den politischen Aufstieg von George W. Bush vom Nobody zum Gouverneur zum Präsidenten. In all den Jahren war Lay der Money-Man Bushs.

      Gott hatte andere Pläne

      Und dann begann das, was Lay, das Abziehbild des "American Dream", schließlich seinen ganz persönlichen "amerikanischen Alptraum" nennen würde: Ende 2000 begann die US-Börsenaufsicht Ermittlungen gegen Enron; es ging um dubiose Beteiligungsgesellschaften, die Enron eingerichtet hatte, um die wahre Finanzlage des Konzerns zu verwischen. Letztendlich musste Enron zugeben, seine Gewinne um insgesamt weit über eine Milliarde Dollar übertrieben zu haben. Im Dezember 2001 meldete das Unternehmen Konkurs an.

      Im Juli 2004, zwei Jahre nach seinem Ende als Enron-Chef, wurde Lay angeklagt. Der Mammutprozess begann im Januar dieses Jahres und dauerte fünf Monate. Nach sechs Tagen Beratungen sprachen die Geschworenen Lay sowie Jeffrey Skilling, seinen Nachfolger als CEO, durch die Bank schuldig. "Wir glauben, dass Gott am Ende alles kontrolliert und für die, die den Herrn lieben, alles zum Guten richtet", sagte Lay nach der Urteilsverkündung.

      Das Strafmaß, maximal 165 Jahre Haft, sollte im Herbst verkündet werden. Gott hatte andere Pläne.
      Avatar
      schrieb am 28.08.06 11:09:54
      Beitrag Nr. 16 ()
      Reportage:
      Die Ein-Mann-Bank von Gammesfeld
      Kampf der Raffeisenkasse

      Die Essenz des Bankwesens: Einer hat Geld, der bringt es zur Bank. Einer braucht welches, der holt es sich ab. So und nicht anders operiert der einzige antikapitalistische Bankdirektor Deutschlands - sehr erfolgreich übrigens und ohne neumodischen Schnickschnack wie Fax oder Computer.

      ¸¸Gehts heut ins Heu, Monika?" - ¸¸Wie läuft der neue Traktor?"

      Hinter dem japanischen Städtchen Rothenburg liegt einer der schönsten Flecken Deutschlands. Ruhig hügelt die Landschaft vor sich hin, die Luft riecht nach heißem Heu. Ringsherum hat der liebe Gott ein paar Kirchtürme gestreut; die Menschen haben verschalte Einfamilienhäuser danebengestellt. Der Dialekt, den man im Hohenlohischen spricht, passt zu dieser freundlichen Landschaft. Es klingt, als habe man ins Deutsche ein wenig Apfelmost geschüttet. Beschwingt und gutmütig reden sie in Gammesfeld von Herrn Vogt und ihrer Bank. Der Vogt ist ¸¸es Fritzle", die Bank ¸¸es Kässle". Stolz schwingt mit, wenn sie vom Kässle erzählen: Die kleinste Bank Deutschlands, das muss man erst mal schaffen. Vogt lacht in seinem Kontor: ¸¸Nicht dass Sie meinen, hier sei alles Idylle. Bei uns gehen Ehen zu Bruch, dass es nur so pfeift." Sein ganzer Körper wackelt beim Lachen, als fahre er mit dem Traktor über einen der Äcker ringsum.





      » Berühmt ist der Josef Ackermann. Ich bin nur berüchtigt. «


      Arbeitstechnisch ist Fritz Vogt eine multiple Persönlichkeit. Und ein gelebter Synergieeffekt. Im Kässle stehen drei Schreibtische. ¸¸Hier sitzt die Sekretärin Vogt," sagt er, und zeigt auf den Tisch, auf dem eine alte schwere Schreibmaschine steht, Typ Erika. ¸¸Gegenüber arbeitet der Vorstand Fritz Vogt. Daneben wirkt unser Buchhalter Vogt. Und am Schalter können Sie beim Schalterbeamten ein Konto eröffnen." Der Schalterbeamte ist der redselige Fritz: ¸¸Ja Georg, immer rein mit dir." - ¸¸Gehts heut ins Heu, Monika?" - ¸¸Wie läuft der neue Traktor?"


      In eines der Kundengespräche hinein klingelt das Telefon, ein grauer Apparat mit Wählscheibe. Ein Bankdirektor aus der Umgebung will Vogt besuchen. Vogt lehnt sich im Schleiflackambiente seines Kontors zurück und streicht sich übers schüttere Haar: ¸¸Warum wollen jetzt Sie mich kennen lernen?" Naja, sagt der Mann, Sie sind doch berühmt in der Bankenwelt. ¸¸Berühmt?" Vogt lacht. ¸¸Berühmt ist der Josef Ackermann. Ich bin nur berüchtigt."


      Josef Ackermann kritisierte zu Beginn seines Prozesses die Anklage als grotesk und unberechtigt, um huldvoll zu schließen: ¸¸Gleichwohl stelle ich mich dem Verfahren." Gehorsam gegen das Gesetz ist eigentlich selbstverständlich. Ackermann verstand es für sich als freiwillige Leistung: Seht, ich bin aus den Frankfurter Türmen hinabgestiegen in die Ebenen eurer reformgestauten Gesetzgebung - hier stehe ich, ich könnte auch anders.


      Fritz Vogt hatte ebenfalls Scherereien mit der Bundesrepublik. Ein Wandkalender erinnert daran. Den schenkte ihm seine Frau vor 14 Jahren, zum 60. Geburtstag, damals, als es so aussah, als müsste Vogt ins Gefängnis. Frau Vogt schrieb ihm Sinnsprüche auf, von Adenauer bis Albert Schweitzer. Am besten gefiel Vogt ein Satz von Brecht, der seither wie eine Überschrift über seiner Erika hängt: ¸¸Dass du dich wehren musst, wenn du nicht untergehen willst, wirst du doch einsehen." Vogt hat sich gewehrt.






      » Er teilte postalisch mit, ob er unter seinen Gammesfelder Bauern Taliban ausfindig gemacht habe. «


      Seit 1974 gilt hierzulande das Vier-Augen-Prinzip: Jede Bank muss zwei Geschäftsführer haben, die sich gegenseitig kontrollieren. Vogt sah das nicht ein, schließlich hatten schon sein Großvater und sein Vater die Bank allein betrieben. Ein zweiter Geschäftsführer kostet Geld, das Geld seiner Kunden. Die vertrauen Vogt. Das Bundesaufsichtsamt für Kreditwesen entzog ihm 1984 die Bankerlaubnis. Vogt ging vor Gericht, es folgte der sechsjährige Rechtsstreit Gammesfeld gegen die Bundesrepublik. In der Zeit betrieb Vogt die Bank weiter. Hätte er den Prozess verloren, wäre er für mehrere Jahre ins Gefängnis gegangen. Am 23. August 1990 titelte die Lokalzeitung: ¸¸David gewinnt gegen Goliath."


      Fritz Vogt wurde auf Raten berühmt. Erst der gewonnene Prozess. Mitte der Neunziger rollte dann die Fusionswelle übers Land. In den kleinen Instituten ging das große Wehklagen los. Trotzdem fusionierten alle anderen Dorfbanken der Umgebung ohne Widerspruch. Vogt aber wehrte sich erneut. Und leitet seither die kleinste Bank Deutschlands. Nur mit einer ratternden Thales-Rechenmaschine und Geduld und Spucke. Ohne Computer; ohne Geldautomat; ohne Kontodrucker: ¸¸Ich sehe ein, dass man in der Raumfahrt einen Computer braucht. Aber was in einer Bank abgeht, ist dermaßen einfach: Einer hat Geld, der bringt es zur Bank. Der andere braucht welches und holt es sich ab."



      Und so wurde der einzige bekennende Antikapitalist unter Deutschlands Bankdirektoren zum Faktotum und Medienstar. Beckmann lud ihn ein. Wiltrud Baier und Sigrun Köhler drehten den wunderbaren Dokumentarfilm ¸¸Schotter wie Heu" über ihn (der im August im Münchner Werkstattkino zu sehen ist). Maischberger fragte in ihrer Sendung, ob sie ihn als Bankdirektor begrüßen dürfe. ¸¸Sie würden mich beleidigen. Ich bin Genossenschafter. Ein Direktor muss möglichst viel für sich und sein Unternehmen behalten. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat für seine Tätigkeit keinen Pfennig genommen." - Da ist er, der wichtigste Name im Leben von Fritz Vogt.


      1845 gab es, verursacht durch mehrere Missernten, eine Hungersnot im Westerwald. Die Bauern wurden durch Wucherkredite bei großen Geldinstituten in den Ruin getrieben. ¸¸Heute sind die kleinen Leute dem Großkapital fast wieder so ausgeliefert wie damals", sagt Vogt. Er war selbst lange nebenher Landwirt, hatte Kühe, ein paar Felder. So wird er wissen, was er sagt, wenn er behauptet, das große Bauernsterben gehe erst los. 50 Kilometer weiter finden die Landwirte keine Pächter mehr, immer mehr Felder liegen brach. ¸¸Das kommt hier auch bald."


      Raiffeisen gründete 1845 einen ¸¸Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte". Daraus entstanden die genossenschaftlichen Darlehenskassen. Statt weiterhin grausame Kredite bei Wucherern aufzunehmen, taten sich die Bauern zusammen und organisierten ihren eigenen Kassen nach den Grundsätzen von Selbsthilfe und Selbstverantwortung. Vogts 600 Kunden bekommen heute drei Prozent Zinsen aufs Girokonto, bei Ackermanns Deutscher Bank kriegt man ein Sechstel davon. Für einen Kredit zahlt man vier Prozent, die Kontoführung ist kostenlos. Das geht eben nur, weil Vogt an allem Drumherum spart. Als er kürzlich in der Zentrale von Schwäbisch Hall eingeladen war, um in dem riesigen Glaspalast über die Raiffeisenidee heute zu sprechen, sagte er nur: ¸¸Wissen Sie, wessen Geld Sie da verbaut haben? Das ist geklautes Geld."


      In ¸¸Schotter wie Heu", der im Herbst 2001 gefilmt wurde, wird Vogt von der aufgeregten Raiffeisen-Zentrale in Stuttgart angerufen: Nach dem 11. September habe man ihm doch einen Brief geschickt, mit der Aufforderung, zu prüfen, ob Taliban-Konten bei ihm eröffnet worden seien. Vogt sagt, er habe den Brief weggeschmissen. Die Empörung ist groß: Er solle sofort per Fax antworten, ob es unter seinen Kunden Taliban gebe. Vogt provozierend ruhig: ¸¸Ich hab" kein Fax." Dann eben per Mail. ¸¸Wenn ich kein Fax hab", hab ich doch erst recht kein Mail."

      Taliban gab es keine. Dafür aber ein Einbrechertrio, das ihm kurz nach dem 11. September den Safe leer räumte. Die drei wurden erwischt und sitzen jetzt im Gefängnis. ¸¸Aber wissen Sie", sagt der Brechtleser Fritz Vogt, ¸¸was ist schon ein Bankräuber gegen einen Bankdirektor." Vogt wird bald 74. Er würde sich gerne zur Ruhe setzen. Aber es gibt so viel zu tun: Momentan liegt er mit dem Bundesamt für Finanzdienstleistungen im Clinch. Früher musste jede Bank jährlich 0,07 Prozent ihrer Bilanzsumme als Mitgliedsbeitrag zahlen. Das war schmerzhaft für die großen Institute. Vogt musste für seine kleinste deutsche Bank 111 Euro überweisen. Im vergangenen Jahr wurden die Gebühren um 3000 Prozent erhöht: Künftig muss jede Bank, ganz egal wie viel sie umsetzt, einen Grundbetrag von 4000 Euro zahlen. Das kommt den Großen zugute. Vogt weigert sich. Es wird wieder zum Prozess kommen. Gegen den Einwand, die Prozesskosten würden sicher höher ausfallen als das, was er eventuell einspare, sagt Vogt: ¸¸Egal. Es geht ums Prinzip."


      Quelle: Süddeutsche Zeitung
      Nr.174, Freitag, den 30. Juli 2004
      Avatar
      schrieb am 19.01.07 12:23:56
      Beitrag Nr. 17 ()
      16.01.2007

      Auschwitz-Zeichnungen
      Mengeles Malerin
      Im KZ musste die Jüdin Dina Babbitt für den SS-Arzt Todgeweihte portraitieren - sie malte in der Hölle und streitet nun mit dem Museum um die Rückgabe der Werke.

      Von Reymer Klüver


      Santa Cruz, im Januar - Der Teufel hat ihr das Leben geschenkt. Kekse hat er ihr gebracht und ein paar Tanzschritte getänzelt. Er hat sie geradezu umschmeichelt, umworben, ihr, der Künstlerin, Farben, Pinsel und Staffelei beschafft, auf dass sie Todgeweihte male und die Bilder sogar signiere. Mit ihrer Nummer, hatte sie gefragt. Nein, nein, sagte des Todes Meister da, ruhig mit ihrem Namen solle sie zeichnen.

      Und so kam es, dass Häftling 61016 neun Portraits von stiller Größe tuschte und mit "Dina" signierte. Bilder von Sinti und Roma, die aus ganz Europa verschleppt worden waren und in Auschwitz-Birkenau sterben sollten. Das war 1944, und ihr Auftraggeber war niemand anderes als der gefürchtete Mordarzt Josef Mengele.

      Dina Gottliebova, selbst jüdischer Herkunft aus Brünn, malte um ihr Leben. Die anderen ihres Transports starben in der Gaskammer. Sie aber kam davon dank ihrer Kunst. Heute ist sie 83 Jahre alt, heißt Dina Babbitt, lebt in den Bergen Kaliforniens und hat nur noch einen Wunsch: Sie will diese Bilder zurück. Ihre Bilder.

      Denn sieben der neun Tuschzeichnungen haben die Zeiten überdauert. Sie befinden sich im Besitz des Museums Auschwitz, sechs davon sind ständig in den Ausstellungsräumen zu sehen. Und das macht aus dem simplen, verständlichen Wunsch einer Künstlerin, Bilder zurückzuerhalten, die man ihr einst abpresste, eine internationale Prinzipienfrage, in die außer dem Museum in Auschwitz mittlerweile das Außenministerium und der Kongress in Washington verwickelt sind und Polens Regierung, der Internationale Auschwitzrat, das American Jewish Committee und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sowie Hunderte von Künstlern und Graphikern in ganz Amerika.

      Schneewittchen in Block B

      Es ist eine einfache, allerdings nicht ganz einfach zu beantwortende Frage: Können die Bilder, an denen Dina Babbitt unzweifelhaft die Urheberrechte hat, gleichwohl auf alle Zeiten ihrem Zugriff entzogen sein, einfach, weil sie Erbe der Menschheit geworden sind?

      Das Museum in Auschwitz jedenfalls weigert sich, sie herzugeben. Mit dem Hinweis, dass, wenn es einen Ort gebe, an dem sie am richtigen Platz seien, dann an der Stätte des Massenmords. Der Sache haftet tatsächlich eine feine, traurige Ironie an. Mengele gab diese kleinen Portraits einst in Auftrag, um die angebliche rassische Minderwertigkeit ihrer Sujets zu beweisen. Heute verleihen gerade sie den Ermordeten eine eigene Würde. Und die könnte ihnen nur ein Umstand nehmen: Wenn niemand die Bilder mehr betrachten dürfte.

      Man kann die Angelegenheit aber auch anders sehen, aus der Sicht der Künstlerin: Setzt das Auschwitzmuseum im Namen eines höheren Rechts nicht das Unrecht fort, das Dina Babbitt einst in Zeiten der Rechtlosigkeit widerfahren ist? Dass nämlich nicht sie über ihre Bilder verfügen kann, sondern andere darüber bestimmen?

      Eine einspurige Serpentinenstraße führt zu Dina Babbitts Holzhaus in den Redwoods empor, den regenfeuchten Wäldern in den Bergen von Santa Cruz, zwei Autostunden südlich von San Francisco. Seit 20 Jahren lebt sie hier, ein Bach, der Zayante Creek, rauscht unter dem Dach der Mammutbäume direkt am Haus vorbei.
      Nur Penelope, ein Kurzhaar-Dackel, ist immer bei ihr.

      Mit dem Auto fährt sie regelmäßig hinunter in die Stadt, 20 Minuten. Seit einem Jahr sagt sie sich, dass sie eigentlich umziehen sollte, weil der Rettungswagen so lange brauchte. Damals hatte sie einen Herzinfarkt. Aber sie hat sich erholt. Mit einem großen Schwung öffnet sie die weiße Holztür. Sorgfältig frisiert sind die rot-blonden Haare, eindrucksvoll die schweren Messing-Ohrclips und kräftig der Lippenstift. Am auffälligsten aber an der kleinen Frau im schwarzen Rollkragenpulli sind die Augen: große, stahlblaue Augen, mit denen sie noch in der Tür den Besucher prüft.

      Bald erzählt sie. Aus ihrem langen Leben und von ihren Bildern. Und auf einmal ist Auschwitz präsent im kalifornischen Bergidyll, ein Zeitalter danach und eine Welt entfernt. Die Namen. Die Angst, die Todesangst. Das Groteske, das Komische im Grauen.

      Sie spricht Englisch, aber deklamiert ein traurig-schönes Gedicht eines Mithäftlings in makellosem Deutsch, mit leicht böhmischem Akzent. Von Fredy Hirsch erzählt sie, einem deutschen Juden, der die Kinderbaracke im Block BIIb leitete und sich später umbrachte, um nicht zu erleben, wie die Kinder in die Gaskammer getrieben wurden. Er wusste, dass sie Kunst studiert hatte, und bat sie, ein Bild für die Kinderbaracke zu malen.

      Und so zauberte sie einen weißen Berg an die graue Wand und eine grüne Wiese und ein wunderschönes Schneewittchen und sieben bunte Zwerge, so wie sie es vor dem Krieg gesehen hatte in Brünn, im Kino, als Disneys "Snow White" in Farbe gezeigt wurde und sie fasziniert mehrmals hintereinander die bewegten Bilder bestaunte. So wurde im Lager bekannt, dass sie malen konnte.

      Vom gefürchtet sadistischen SS-Mann Fritz Buntrock erzählt Dina Babbitt, der später gehenkt wurde. Er wollte von ihr die Vergrößerung des Miniaturaktes einer Schönheit mit roten Schamhaaren. Gegen Zigaretten. Die tauschte sie wiederum gegen Brot. Buntrock kam später noch mal, weil das Bild ein Loch hatte - an der Stelle der Schamhaare.

      Und Franz Lucas schildert sie, der als Lagerarzt auf der Rampe stand und doch später bis in die achtziger Jahre hinein als Landarzt in Holstein praktizieren durfte. Er brachte sie damals zu Mengele ins E-Lager, ins sogenannte Zigeunerlager, hielt ihr sogar den Wagenschlag auf: "Ich dachte, er macht sich über mich lustig und ich würde nie wieder zurückkommen."

      Der Mörder sitzt Modell

      Und dann Mengele. "Von allen Menschen in Auschwitz", sagt Dina Babbitt, "war er der am wenigsten bemerkenswerte." Da ist nicht einmal Verachtung zu spüren, sie stellt es einfach fest. Er machte gerade Fotos von Sinti und Roma und fragte sie, ob sie in gemalten Portraits den Farbton ihrer Haut "sehr akkurat" treffen könne. Das war seine Wortwahl, Dina Babbitt erinnert es genau.

      Den Haaransatz der Portraitierten müsse sie präzise wiedergeben, die Kontur der Ohren, des Mundes, alles vorgebliche Kennzeichen einer nicht-arischen Herkunft.

      Der Todesarzt war zufrieden mit seiner Künstlerin. Sie durfte leben, und weil sie den Mut hatte zu sagen, dass sie nicht ohne ihre Mutter bleiben wolle, setzte er auch die auf die Liste. Mengele saß Dina Babbitt sogar selbst Modell für eine Portraitzeichnung. Das Bild ist nicht wieder aufgetaucht. "Ich habe nie mehr so tote Augen gesehen", sagt sie am Küchentisch in Santa Cruz.

      Es war bei dieser Gelegenheit, dass Mengele ihr Gebäck mitbrachte und einen Freudentanz aufführte in der Todesfabrik, weil sein Sohn Rolf geboren worden war. Mengele ist ihr geblieben, in ihren Träumen. Auf den Treppen ihrer alten Schule in Brünn tritt er ihr regelmäßig in den Weg und feixt, dass sie ihm nicht entkommen werde, diesmal nicht.

      Doch Dina Babbitt hat ihr Leben gelebt. Nicht eine Sekunde werde sie mehr verlieren, das hatte sie sich geschworen, als sie am 5. Mai 1945 in Neustadt-Glewe im Mecklenburgischen freikam. Sie ging nach Paris, um Kunst zu studieren, und nahm, damit sie und ihr Cockerspaniel Remus nicht verhungerten, eine Stellung als Assistentin bei einem Trickfilmzeichner namens Art Babbitt an, einem Amerikaner aus Hollywood. Das war ausgerechnet der Mann, der als Filmanimateur Disneys Schneewittchen (und die sieben Zwerge) zum Leben erweckt hatte.

      "Glauben Sie an Zufälle?", fragt Dina Babbitt nun unvermittelt im Erzählen und richtet ihre Augen auf ihr Gegenüber, als könne sie bis in dessen Gedanken schauen. Eine Antwort erwartet sie nicht. "Das war Bestimmung."

      Nun ja, sie hat ein bisschen nachgeholfen. Ob sie so etwas schon mal gemacht habe, Trickfilmzeichnung, hatte er die attraktive junge Frau gefragt. Und sie hatte glatt ja gesagt, ohne allerdings zu erwähnen, dass das nur an der Wand der Kinderbaracke in Auschwitz war.

      Erst vor ein paar Wochen hat sie die Szene nachgemalt, an der Staffelei in ihrem Häuschen am Zayante Creek. Schneewittchen auf der grünen Wiese, so wie sie es erinnert. Damals hatte sie zunächst nur den Blick aus dem Fenster eines Chalets in den Bergen gemalt, mit der Balustrade vorne und dem Schneegipfel hinten und der Tanne und den bunten Blumen dazwischen und dem strahlend blauen Himmel darüber. Sie fragte die Kinder, ob ihnen noch etwas fehle. Und da hatten sie Schneewittchen gesagt. Die sterben sollte und doch leben durfte.

      Mit Babbitt ging sie nach Amerika. Die beiden Töchter kamen, sie arbeitete als Trickfilmanimateurin. Cap"n Crunch, Wile E. Coyote und Speedy Gonzalez zeichnete sie für die Trickfilmstudios, sie, die im Auftrag Mengeles das in Formaldehyd eingelegte Herz eines Häftlings hatte malen müssen, den sie noch am Morgen lebend gesehen hatte. Wohnte in einem Haus mit Swimming Pool direkt über dem Hollywood Bowl, auf dessen Bühne sie von ihrer Terrasse aus schauen konnte und einen Auftritt der Beatles erlebte.

      Viel später, nach der Trennung von Babbitt, zog sie in das Holzhäuschen am Zayante Creek, das ein bisschen an Schneewittchens Chalet erinnert mit dem Blick auf die mächtigen Redwoods und die Gipfel der Santa Cruz Mountains. Und wenn ihr danach ist, geht sie in den Wald hinter ihrem Haus, an einen der Jahrhunderte alten Baumriesen und fühlt sich mit all denen verbunden, die ihr einmal nahe waren, in Auschwitz und in den Jahren, die ihr danach vergönnt waren.

      Wie viele Überlebende hatte sie versucht, Auschwitz aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Den Töchtern, Teenager damals, hatte sie nie etwas erzählt. Dann kam 1973 der Brief. Ein Brief aus Auschwitz. Darin unterrichtete sie das Museum, dass man ihre Bilder habe. "Ich fuhr hin, um sie zu holen", erzählt sie "und als ich meine Bilder einstecken wollte, sagten sie nein." Überwacht worden sei sie damals in Polen. "Ich habe nicht gewagt, eine Szene zu machen." Es war schließlich Auschwitz.

      Sie wollte einen Anwalt einschalten. Doch der verlangte für den Anfang 5000 Dollar. Die hatte sie nicht. Der damalige Museumskustos schrieb ihr in einem bösen Brief, dass nicht sie, allenfalls Mengele als Auftraggeber Eigentumsrechte für die Bilder geltend machen könne. Es waren die Jahre des Kalten Kriegs. Später, 1997, nach der Wende, fuhr sie noch einmal nach Auschwitz, mit einem Fernsehteam von NBC. Aber wieder verweigerte man ihr die Bilder.

      Sie fand viel Unterstützung. Angesehene Senatoren verwendeten sich ebenso für sie wie der spätere US-Botschafter in Berlin, Dan Coats, und der damalige amerikanische UN-Botschafter Bill Richardson. Der Kongress verabschiedete Resolutionen zu ihren Gunsten. 450 Künstler, unter ihnen der berühmte Cartoonist Art Spiegelman, selbst Sohn von Auschwitz-Überlebenden, unterzeichneten erst im September eine Petition ans Auschwitzmuseum, in der sie die Herausgabe der Originale forderten. Und im Oktober hat der Holocaust-Beauftragte des State Department ihre Sache in Warschau erneut zur Sprache gebracht. Ohne Erfolg. Bislang.

      Ein Erbe der Menschheit?

      Es ist eine verfahrene Situation. Denn das Museum, das sechs der Bilder einer polnisch-ungarischen Überlebenden abkaufte und auch für das siebte bezahlte, pocht aufs Prinzip. "Bei Licht betrachtet", heißt es in einer offiziellen Erklärung des Museums vom Oktober, "ist das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau rechtmäßiger Besitzer der sieben Zigeuner-Portraits."

      Und dann wird eine "theoretische Frage" gestellt. Was würde passieren, wenn auf einmal die Nachfahren von Jan Liwacz Rechte geltend machen würden, der das Eingangstor nach Auschwitz mit dem höhnischen "Arbeit macht frei" schmieden musste?

      So ganz theoretisch ist die Frage nicht. In Frankreich meldete ein Mann Eigentumsrechte an, nachdem er den Koffer seines Vaters in einer Holocaust-Ausstellung entdeckt hatte. "Der Verlust eines einzigen Teils aus diesem tragischen Erbe der Menschheit wäre ein fürchterlicher Verlust für all diejenigen, die hierher kommen, um der Opfer zu gedenken", heißt es im Schreiben des Museums.

      Es findet dafür Unterstützung, etwa vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Dessen Vorsitzender Romani Rose warnt vor dem Präzedenzfall. "Da würden wir Geschichte auflösen. Diese Bilder gehören an den Ort, wo die Barbarei geschehen ist", sagt er. "Die Opfer haben größere Rechte an den Bildern als Frau Gottliebova."

      Ähnlich formuliert der Vorsitzende des Internationalen Auschwitzrates, Polens ehemaliger Außenminister Wladyslaw Bartoszewski: "Wir werden in keiner Weise zulassen, dass das Erbe der Menschheit in aller Welt verstreut wird." Doch deutet der alte Mann einen Kompromiss an. Er könne nicht für den polnischen Staat sprechen, sagt er, aber vielleicht wäre es akzeptabel, einen Teil der Bilder zurückzugeben. "Wir würden die Dame gerne einladen."

      Auch Rabbi Andrew Baker vom American Jewish Committee, seit Jahren in der Sache engagiert und ebenfalls Mitglied im Auschwitzrat, glaubt nicht, dass es einen Präzedenzfall schaffen würde, wenn das Museum "wenigstens ein Bild" zurückgäbe - und die anderen Bilder mit einer Videoaufzeichnung von Babbitts Lebensbericht präsentierte.

      Dina Babbitt weiß von all dem nichts. Vielleicht will sie auch nur nichts davon wissen. "Wenn es diese Bilder nicht gäbe, wäre ich nicht am Leben", sagt sie, "meine Mutter wäre nicht 82 Jahre alt geworden, und es gäbe meine beiden Töchter nicht und meine drei Enkelkinder." Dass das Museum sich ihren Forderungen überhaupt verweigern kann, will ihr nicht in den Sinn. "Wenn Sie etwas finden und Sie wissen, wem es gehört, geben Sie die Sache doch zurück, oder?", fragt sie. Und schaut einen mit funkelnden, blauen Augen an, sieht nach, ob ihre Worte auch tief genug eindringen.

      (SZ vom 16.1.2007)
      Avatar
      schrieb am 08.04.07 10:14:37
      Beitrag Nr. 18 ()
      Hugo Strasser
      Der geborene Klarinettist
      Keep on swinging - der Münchner Big-Band-Veteran Hugo Strasser feiert seinen 85.Geburtstag.
      Von Christian Mayer

      Man müsste so gelassen sein wie Hugo Strasser, der über ein sich ständig regenerierendes Publikum verfügt und Generationen zusammenführt. Kürzlich hatte er nach einem Auftritt mit der Bigband mal wieder Grund zu dieser heiteren Gelassenheit, als sich ein fabelhaft schönes Mädchen bei ihm vorstellte.

      Ein Autogramm wollte sie haben, aber für wen? "Für Martha", sagte die Konzertbesucherin und lächelte. Hugo Strasser, der sich Verehrerinnen gegenüber als perfekter Kavalier präsentiert, freute sich über so viel jugendlichen Zuspruch. "Da wird sich meine Oma aber freuen!", sagte das Mädchen und drehte ab.

      Hugo Strasser schildert solche Begegnungen mit einem jungenhaften Lächeln, er ist ohnehin ein charmanter Geschichtenerzähler und gerade in diesen Tagen ein gefragter Gesprächspartner. Schließlich wird er am Karsamstag 85 Jahre alt, was allein schon Grund genug wäre, über seine mehr als sechs Jahrzehnte währende Karriere als Klarinettist zu plaudern.

      Über seinen Weg zum legendären Bandleader, über seine Freundschaft mit den anderen Veteranen des deutschen Swing, Max Greger und Paul Kuhn. Und ganz allgemein über seine hingebungsvolle Liebe zur Musik. Aber Strasser spricht nicht nur in der Vergangenheitsform; er hat noch einiges vor.


      "Wissen Sie, natürlich übe ich noch immer fleißig, zehn Stunden in der Woche." Die Klarinette sei ein forderndes Instrument. Außerdem steht der König der Tanzmusik noch immer 40, 50 Mal im Jahr auf der Bühne - das nächste Mal in München am 22. April, wenn er gemeinsam mit den Weather Girls und seiner Band im Festsaal des Bayerischen Hofs die Fans bedient.

      Auch jetzt sitzt er im Hotel am Promenadeplatz, vor sich ein Glas Leitungswasser, nicht mal einen Kaffee hat er sich genehmigt. Im raschen Tempo springt er vor und zurück durch sein Leben, das vor allem mit München zu tun hat. Hier ist er geboren, als Sohn eines Schulhausoffizianten, eine gehobene Bezeichnung für Hausmeister.


      Das musikalische Talent geerbt

      In der Haimhauser Straße in Altschwabing wuchs er mit fünf Geschwistern auf. Die Mutter kam aus Schrobenhausen, der Vater stammte aus einer Bauernfamilie aus Jetzendorf bei Petershausen und hat dem kleinen Hugo die musische Ader vererbt.

      Schon als Sechsjähriger beherrschte dieser die Mundharmonika so gut, dass er in der "Kinderstunde" auf Radio München spielen durfte. Aber dann passierte etwas, was Kindern die Musik verleiden kann: Hugo lernte das falsche Instrument. Mit der Geige, die ihm krampfhafte Verrenkungen abforderte, konnte er sich so gar nicht anfreunden.

      Es waren Glücksfälle, die ihm zu seinem Karrierebeginn verhalfen. Erst mal machte der junge Strasser nach der Volksschule eine Schriftsetzerlehre, musste aber nach einer Bleivergiftung bald einsehen, dass er nicht geschaffen war für diesen Beruf. Dann marschierte er, auf Drängen des Vaters, zum Vorstellungsgespräch in die Akademie für Tonkunst am Odeonsplatz, wo er zufälligerweise von Professor Arnold begutachtet wurde.

      Der Mann war Solo-Klarinettist bei der Bayerischen Staatsoper, ihm fielen sofort die Zahnstellung und der kräftige Mund des Bewerbers auf. "Der geborene Klarinettist", urteilte der Professor, der mit dieser Einschätzung einen Volltreffer gelandet hatte.

      "Ich konnte beim ersten Hineinblasen einen reinen, klaren Ton hervorbringen - das schafft fast keiner", erzählt Strasser. Es war Liebe auf den ersten Griff, bald schon übte er täglich im leeren Schulhaus seines Vaters, dort gab es einen "herrlichen Hall".


      Der "Strasser-Sound" wurde geboren

      Es ist bis heute jener gewisse "Strasser-Sound" geblieben, der damals geboren wurde. "Es gibt Klarinettisten, die spielen mich in Grund und Boden", sagt er. "Aber ich habe diesen erkennbaren Ton, das war immer mein Markenzeichen."

      Weniger günstig waren dagegen die Zeiten für junge Musiker wie Strasser, der im achten Semester zur Wehrmacht eingezogen wurde. Das war 1940, der Münchner spielte nun in Stettin und später im Ruhrgebiet mit Soldaten-Kapellen. Den amerikanischen Swing schätzte er schon damals, über das besetzte Paris kamen aufregende neue Songs und Sounds auch nach Deutschland.

      Allerdings durfte man offiziell nicht mal den Namen eines Glenn Miller in den Mund nehmen - die nationalsozialistische Reichsmusikkammer kontrollierte sogar die Noten. Doch Musiker sind manchmal trickreich, und so wurde beispielsweise aus "Whispering" eine deutsche Variante mit dem albernen Text "Lass mich dein Badewasser schlürfen", was Hugo Strasser auch heute noch mit diabolischer Freude erzählt.


      Die wilde Nachkriegszeit

      Am Ende des Krieges, den er als Flakhelfer-Ausbilder mit viel Glück überlebt hatte, sah Strasser auch das Ende seiner Karriere gekommen. Er selbst hatte sich zwar auf einem Kohlenzug nach München durchgeschlagen, aber die Konzertsäle waren zerstört und die Zeiten reif für Trauermärsche.

      Doch bald schon war Strasser wieder ein gefragter Mann, er durfte bei den amerikanischen Offizieren auftreten, in Erholungsheimen und Münchner Lokalen wie dem Hofbräu am Wiener Platz oder dem Keller-Club in Freimann: "Köche, Friseure und Musiker waren gefragte Leute."

      Mit Berühmtheiten wie Count Basie, Ella Fitzgerald und Lionel Hampton durfte er Konzerte geben, wobei er zwischen Altsaxophon und Klarinette wechselte. Manchmal tobte auf Münchens Kleinbühnen ein erbitterter musikalischer Wettstreit zwischen Hillbillies aus der texanischen Provinz und den Jazzern und Westcoast-Swingern. "Eine absolut wilde Zeit", an die sich Strasser anekdotenreich erinnert. Wohl auch, weil er schon damals immer nüchtern blieb, während die anderen sich dem Rausch hingaben.

      Es hätte wohl keine bessere Schule für einen Unterhaltungsmusiker geben können, der sich wenig später, nach der Währungsreform, anschickte, auch das deutsche Publikum zu erobern. Strasser trat zunächst in der Band des legendären Schlagzeugers Fritz "Freddie" Brocksieper auf, später dann mit dem vier Jahre jüngeren Max Greger, der damals schon eine sehr "dominante Persönlichkeit" gewesen sein muss, wie sein Freund Hugo berichtet.

      Es war die Blütephase der Bigbands, zugleich sehnten sich die Menschen im Wirtschaftswunderland nach Schnulzen und heiler Welt. Strasser lieferte auch in dieser Hinsicht populäre Melodien: Er komponierte den Schlager "Das Edelweiß vom Wendelstein", einen Hit, der so viel einspielte, dass er für seine Familie ein Haus bauen konnte.

      Auch im Film kam er lautstark zur Geltung. In "Hallo Fräulein" durfte er 1949 in einer Szene mit der jungen Margot Hielscher zeigen, wie man mit dem Saxophon Frauen zum Vibrieren bringt.


      Die Leute von den Sitzen reißen

      Sein eigentliches Interesse aber galt der Tanzmusik. 1955 gründete er ein 16-köpfiges Orchester, mit dem er im Deutschen Theater regelmäßig die Leute nicht nur während der Faschingssaison von den Sitzen riss. Nichts anderes ist ja die Aufgabe einer guten Bigband, die vor allem das Publikum in ständiger Bewegung halten muss, ganz egal ob es sich dabei um den Ball der Berliner Zahnärzte, um den der Münchner Opernfreunde oder hessischer Juristen handelt.

      "Nach so vielen Jahren hat man ein Gespür für Stimmungen", sagt Strasser, der immer auch für das Fernsehen gearbeitet hat. Sechs Millionen seiner Tanzplatten hat er verkauft, unendlich viele Stücke komponiert und arrangiert. Titel wie "You’re the Cream in my Coffee" oder "Wild Cat Blues" sind der Grund, warum ihm das Publikum treu geblieben ist. Sein Song "Lonely Trumpet" ging sogar um die Welt, weil sich der Trompeter Ray Anthony frecherweise gratis aus dem Fundus von "Klarinetten-Hugo" bediente.

      "Ich hätte ja nie gedacht, dass ich so lange als Musiker durchhalte", sagt er, wenn man ihn auf seinen Geburtstag anspricht. "Ganz ruhig" will er feiern, mit ein paar Freunden am Chiemsee, anders als vor fünf Jahren, als es regelrechte Strasser-Festspiele zum 80. Geburtstag gab.

      Er wirkt robust, aber ein bisschen hat er die Drehzahl doch verringert, seit er vor zwei Jahren nach einer Lungenentzündung in ein künstliches Koma versetzt werden musste. In diesem kritischen Moment sprang sein Kumpel Max Greger ein, der einen ausverkauften Tanzball in Karlsruhe ohne Gage übernahm. "Habt ihr meinen Terminkalender dabei?", lautete Strassers erste Frage, als er im Krankenhaus erwachte.

      Und der Terminkalender ist noch immer gut gefüllt. Der Mann, der damit kokettiert, selbst nicht tanzen zu können, hält sein Publikum in Atem. Er freut sich, wenn er mit jungen Kollegen auftreten kann. Am 5. Juli gibt er etwa ein Konzert mit der SWR-Bigband in Regensburg.

      Hugo Strasser trifft dort auf den Sänger Roger Cicero ("Frauen regier’n die Welt"): "Der hat die deutsche Sprache zum Swingen gebracht." Strasser ist offen für viele Einflüsse, er mag Klassik und Rock, nur für Computer- und Elektronikmusik kann er sich nicht erwärmen. "Viel zu steril, zu technisch. Für mich hat Musik immer mit Menschen zu tun. Und sie braucht eine Melodie."

      (SZ vom 7.4.2007)
      Avatar
      schrieb am 10.04.07 09:18:04
      Beitrag Nr. 19 ()
      10.04.2007 06:19 Uhr

      Leben und Leiden eines "Bankerts"
      Wenn der Herr Pfarrer eine Tochter hat
      "Dornenvögel" auf bayerisch: Veronika Egger wuchs in Oberbayern als heimliches Kind eines katholischen Priesters auf - und litt unter dem ewigen Versteckspielen. Mit 13 fielen ihr die Haare aus.
      Von Sarah Stricker

      Die Lüge ist erblich. Veronika bekommt sie von ihrer Mutter vermacht, da ist sie gerade in der ersten Klasse, im Jahr 1984. Neben der Tafel hängt ein Jesus am Kreuz. Die Religionslehrerin erklärt, warum in der Kirche immer eine Kerze brennt und wie der Leib Christi in diese kleine Back-Oblate passt. Veronika reckt den Finger in die Luft und verkündet mit dem Stolz einer Siebenjährigen, dass sie das schon alles weiß. Weil ihr Papa Priester ist.

      Prompt wird die Mutter zum Direktor zitiert: Schlimm genug, dass sie einen Diener des Herrn verführt habe. Aber man müsse ja nicht auch noch darüber sprechen. Veronika versteht nicht wirklich, warum sie plötzlich nicht mehr über den Vater reden darf. Was sie aber spürt, ist, dass da etwas Schlimmes in ihr steckt, etwas, wofür man sich schämen muss.

      Also beginnt sie, Ausreden über ihren Vater zu erfinden, schottet sich immer weiter ab, aus Angst, sich zu verplappern. Dabei ist das erzwungene Versteckspiel eine Farce. Ein-, zweimal die Woche parkt der blaue Fiat des Priesters vor dem Holzhäuschen am Waldrand, in dem Veronika mit ihrer Mutter lebt. In dem 30-Seelen-Weiler in Oberbayern gibt es keine Geheimnisse.



      Nicht an die große Glocke
      Als Veronikas Mutter 1978 das Pfarrerskind zur Welt bringt, wird sie ins Münchner Ordinariat zitiert. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, erinnert sie sich, habe ihr durch seinen Generalvikar ausrichten lassen, sie trage als Frau die alleinige Schuld. Es sei das Beste, den Kontakt zum Kindsvater abzubrechen. Um ihr diesen Schritt zu erleichtern, werde der Sünder vorerst versetzt. Wenn sie seine Karriere nicht völlig zerstören wolle, rate er ihr, die Geschichte nicht an die große Glocke zu hängen.

      Die Urteile, die der Klerus verhängt, lasten nicht nur auf seinen Hirten. "Du hast uns den Pfarrer weggenommen", bekommt die Mutter zu hören. Veronikas Vater ist überaus beliebt, bis heute laden ihn seine ehemaligen Schäfchen zu Hochzeiten oder Taufen ein. Dass er es war, der sein Gelübde gebrochen hat, kreidet ihm niemand an. Schuld sind Frau und Kind.

      Unablässig kratzt das "Pfarrerbankert", wie man in Bayern sagt - frei übersetzt: Bastard -, am blank polierten Weltbild der Katholiken. Auch im Trachtenverein ist Veronika unerwünscht. Ihr Haar sei zu kurz. Hier in Oberbayern zählt die Meinung der Kirche noch was.

      Der Priester, der für die Liebe seines Lebens das Keuschheitsgelübde bricht - das klingt nach dem legendären TV-Vierteiler "Dornenvögel", romantisch und ein wenig verrucht. Dabei verstößt mindestens die Hälfte der Geistlichen gegen den Zölibat, behauptet Ernst Sillmann, Vorsitzender der Vereinigung verheirateter Priester und ihrer Frauen. Bei vielen sei es gerade der Reiz des Verbotenen, der die Gefühle befeuert.



      Urlaub in Rom
      Irgendwann aber ist es nur noch ein langes Elend. Wenn die Mutter nachts weint, ist es die Tochter, die sie in den Arm nimmt. Nur in den Ferien darf Veronika Kind sein. Ausgerechnet in Rom spielen die drei heile Welt. Wie eine richtige Familie schlendern sie über die Piazza Maria Maggiore, die kleine Hand liegt in der des Vaters, die Mutter liest aus dem Reiseführer, während die Neunjährige den Tauben Brotkrumen zuwirft.

      Doch die Lüge spürt Veronika auf. Plötzlich reißt der Vater seine Finger weg. Von einem Moment auf den anderen ist er verschwunden. Veronika ist zu jung, um die deutschen Autos zu bemerken, die das gleiche Kennzeichen tragen wie der Wagen des Vaters. Aber ihre Mutter kämpft mit den Tränen. Als der Vater nach einer Viertelstunde gut gelaunt wieder auftaucht, behauptet er, sie im Gewühl verloren zu haben.

      Bei seinen Besuchen am Waldrand erwartet er strahlende Gesichter und volle Aufmerksamkeit. Er ist es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. "Weihwasserfrösche" nennt Veronika die Damen, die ihn von der ersten Kirchenbank aus anhimmeln. Die Leiden der Tochter, die alle paar Wochen krank ist, Kopfweh, Rückenschmerzen, Virus-Infektionen, haben unter dem priesterlichen Heiligenschein keinen Platz. Auch nicht, als Veronika alle Haare ausfallen. Da ist sie 13.

      Zuerst kleben nur einige dunkelbraune Strähnen am Kopfkissen, dann verliert sie büschelweise Haar. "So was ist oft psychosomatisch", murmelt der Arzt und betastet ihren Schädel. Nur in der Stirn kräuseln sich noch einige flaumige Härchen. "Gibt es etwas, was Sie bedrückt?" Veronika presst die Lippen aufeinander und drückt die Perücke auf die Glatze. Versteckt sich, schon wieder.

      Sie weiß nicht mehr, ob die Mitschüler sie meiden, weil sie von ihrer Unnahbarkeit abgeschreckt werden oder weil ihr ihre Geschichte aufs Gymnasium in der Kleinstadt gefolgt ist. Manche Lehrer kennen ihren Vater, der selbst an ihrer Schule unterrichtete. Spitze Bemerkungen, schräge Blicke. Kommt das Gefühl, unerwünscht zu sein, von außen oder aus ihr selbst? Sie weiß es nicht.

      In der 12. Klasse wird es unerträglich. Veronika schwänzt die Schule, liegt tagelang im Bett. Als ihre Mutter beim Aufräumen ein verzweifeltes Gedicht findet, fürchtet sie, Veronika könne sich etwas antun. Während sie im Sekretariat wartet, um ihre Tochter von der Schule abzumelden, winkt sie der stellvertretende Direktor in sein Büro. "Ich sag’s Ihnen ganz ehrlich", wirft er ihr an den Kopf, "wir wollen hier keine wie die Veronika."

      Ein halbes Jahr lang schlägt "die Veronika" Stunde für Stunde tot. Dann rappelt sie sich auf und beginnt eine Ausbildung als Kinderpflegerin. Und diesmal hat sie die Heimlichkeiten satt. Sie stellt sich vor die Leiterin der Berufsfachschule und sagt ihr klipp und klar: "Mein Vater ist katholischer Pfarrer, wenn Sie das stört, sagen Sie’s lieber gleich." Die Schulleiterin bewundert ihren Mut. Veronika beginnt, offen über ihre Herkunft zu sprechen. Übers Internet sucht sie Menschen mit dem gleichen Schicksal. Und wird fündig. Wieder. Und wieder.

      Selbst die Kirche kann die heimlichen Kinder nicht mehr totschweigen. Allein in Veronikas Diözese gesteht man widerwillig 10 bis 15 Fälle ein. Bundesweite Statistiken existieren nicht. "Verschwindend gering" sei die Zahl der Pfarrerskinder, wiegelt Winfried Röhmel, Sprecher des Erzbistums München-Freising, ab.

      Heute lebt Veronika Egger in einem kleinen Ort im Bayerischen Wald, wo sie als Waldführerin jobbt. Ihr Haar ist nachgewachsen, sie hat das Abitur nachgeholt, ein Lehramtsstudium begonnen. Das Häuschen am Berghang, in dem sie seit fünf Jahren lebt, hatte ihr Vater einst mit dem Versprechen gekauft, dass sie dort irgendwann zusammen leben würden. Wenn er pensioniert wäre, vielleicht.



      Offenes Geheimnis
      Sie verurteilt ihren Vater nicht für sein Doppelleben. "Ich habe mich mit der Situation abgefunden", sagt Veronika, ohne dabei resigniert zu klingen. "Er schaut, dass es uns gut geht." Noch immer kommt er regelmäßig auf Besuch zu seiner heimlichen Familie.

      Er selbst will über sein gespaltenes Leben am liebsten gar nicht reden. Nur soviel: Er ist immer noch katholischer Pfarrer, irgendwo in Oberbayern. Zu seiner Familie darf er sich deshalb nicht offen bekennen. Aber viele wüssten ohnehin, dass er eine Tochter habe, sagt er. Und viele Menschen hätten es auch gut gefunden, dass er sich nie von Frau und Kind losgesagt habe. Er arbeitet weiter als katholischer Seelsorger. Denn er habe zwar an der Kirche gezweifelt, aber nie an seinem Glauben.

      (SZ vom 10.4. 2007)
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      schrieb am 18.04.07 12:41:30
      Beitrag Nr. 20 ()
      Leben mit geplatzten Träumen
      Von wegen ruhiges Rentnerleben: Krankheit und Schulden können die Pläne für die Alterssicherung zunichte machen.

      Von Sven Loerzer

      Viel Platz bleibt da wirklich nicht: In einer Nische des Appartements steht das Bett, davor ein Esstisch mit vier Stühlen, ein Sofa mit Couchtisch, dazu in einer weiteren Nische neben dem Balkon die Kochecke.

      Vor sieben Jahren ist Marianne S., 73, schweren Herzens in das Appartementhaus in Ramersdorf gezogen, aus einem Reiheneckhaus, in dem sie vier Jahrzehnte ihres Lebens verbracht hat.

      ,,Ich bin hier wie ein Tiger im Käfig herumgegangen‘‘, sagt Marianne S. und streicht die Osterhasen-Tischdecke glatt. ,,Ich bin mir vorgekommen wie im Gefängnis.‘‘

      Der Traum vom sorgenfreien Leben im eigenen Häuschen ist längst Vergangenheit, von der einzelne Tränen künden, wenn Marianne S. sich daran erinnert, wie die gemeinsame Lebensplanung ,,schiefgegangen‘‘ ist: ,,Angefangen hat es mit der Krankheit meines Mannes, bei dem 1986 chronisch lymphatische Leukämie festgestellt wurde.‘‘

      Ihr Mann hatte sich mit einem ,,kleinen Großhandel‘‘ in der Sanitärbranche selbständig gemacht. Doch er war Diabetiker, und es sei dann ,,eines zum anderen gekommen‘‘. Immer wieder längere Krankenhausaufenthalte, ,,er hat unheimlich gekämpft‘‘.

      Zum Schluss sei ihm ein Bein abgenommen worden, und als auch das zweite amputiert werden sollte, ,,da wollte er nicht mehr‘‘. Er starb vor drei Jahren. Mit der Firma, die ihnen eigentlich auch Alterssicherung sein sollte, ging es schon zuvor bergab.

      Ihr Mann musste das Unternehmen aufgeben, weil er sich wegen seiner Krankheit nicht mehr um die Kunden kümmern konnte. Das Reihenhaus war nicht zu halten, aber es seien, ,,außer ein paar kleineren Sachen‘‘, wenigstens keine Schulden geblieben.

      Dass Marianne S. wieder Anschluss ans Leben gefunden hat, schreibt sie der Enge in dem Appartement zu, vor der sie geflohen sei: Sie engagiert sich in der Kirche und vor allem beim Sozialverband VdK stark in der ehrenamtlichen Arbeit.

      ,,Mit der Vereinsamung im Alter geht das oft sehr schnell‘‘, sagt die Frau. Die ehemalige Krankenschwester hatte wegen der Krankheit ihres Mannes eine Zusatzausbildung für die Altenpflege absolviert, um so mit 55 Jahren wieder eine Anstellung zu finden.


      Zehn Jahre hat sie in der Altenpflege gearbeitet, noch heute geht sie regelmäßig in Heime und hilft mit. Sie erlebt den alltäglichen Pflegenotstand, ,,eine einzige Pflegekraft allein auf der Station - am Tag‘‘. Marianne S. schüttelt den Kopf: ,,Wenn ich da aus dem Altenheim rausgehe, bin ich so klein mit Hut, mir fehlt dann nichts mehr.‘‘

      Zum Leben bleibt Marianne S. nicht viel. Sie holt den Kontoauszug vom letzten Monat aus einer Mappe: Ihre Rente beträgt 329,89 Euro, dazu kommen 32,17 Betriebsrente und 235,11 Euro Witwenrente.

      Vom Münchner Sozialamt erhält sie 154,27 Euro Grundsicherung im Alter. Denn ihre Renten reichen nicht, um den Lebensunterhalt und die Warmmiete von knapp mehr als 400 Euro im Monat abzudecken. Mit Grundsicherung verbleiben ihr unter dem Strich 345 Euro zum Leben.

      ,,Damit kommt man mehr oder weniger gar nicht hin‘‘, sagt sie. Dabei sei sie gewohnt zu sparen: Früher, als ihr Mann noch lebte und sie das Haus gekauft hatten, ,,da haben wir gespart, damit wir es im Alter schön haben‘‘.

      Manchmal befalle sie eine ,,Mordswut‘‘, etwa wenn sie an die ,,Herren Ackermann, Hartz & Co‘‘ denke. Aber Marianne S. ist nicht neidisch. Sie freut sich, dass sie bei ihren Besuchen im Altenheim zum Essen eingeladen wird, ,,das ist eine Hilfe für mich.

      ,,Ich fahre sehr viel mit dem Rad‘‘, sagt sie. Das ist nicht ganz ungefährlich, weil sie immer wieder mal unter Gleichgewichtsstörungen leidet. Aber der MVV werde ,,doch jeden 1. April teurer, das ist ein Irrsinn‘‘, gerade wenn die Rente und die Grundsicherung nicht steigt. ,,Oft sind es nur wenige Cent, aber die Teuerungen summieren sich schnell.‘‘

      Mehr als ein Viertel, 28 Prozent, der alleinlebenden Rentner gelten als armutsbedroht, weil sie über weniger als 856 Euro Einkommen im Monat verfügen, schlägt der Sozialverband VdK auf der Basis einer Studie des Statistischen Bundesamtes Alarm. ,

      ,Diese Studie sollte man all denjenigen als Pflichtlektüre verordnen, die ständig das Märchen von den reichen Rentnern erzählen, die ihren Ruhestand Golf spielend auf ihrer Finca in Mallorca verbringen‘‘, sagt Ulrike Mascher, die Landesvorsitzende des Sozialverbands VdK Bayern.

      5,6 Prozent der über 65-Jährigen in München weist der letzte Armutsbericht für 2004 als arm aus, bei steigender Tendenz. Mehr als 12000 Rentner sind auf staatliche Unterstützung angewiesen und erhalten vom Münchner Sozialamt Grundsicherung.

      Hauptursache der wachsenden Altersarmut, so Mascher, seien die hohe Arbeitslosigkeit sowie die Renten- und Gesundheitsreformen der letzten 15 Jahre. Stagnierende Renten nach drei Nullrunden in Folge bei gleichzeitig wachsenden Lebenshaltungskosten, vor allem auch durch höhere Zuzahlungen im Gesundheitsbereich sowie durch steigende Energie- und Heizungskosten führten zu erheblichen Kaufkraftverlusten bei den Rentnern.

      Auch die Mehrwertsteuererhöhung habe die Rentner hart getroffen, zumal sie nicht wie die Arbeitnehmer von der Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags profitieren können.

      Marianne S. schaut auf ihren Balkon, der mit selbst gezogenen Blumen geschmückt ist. Zwischen den Tulpen hat eine Amsel ein Nest gebaut. ,,Ich habe mich eingewöhnt.‘‘ Das 31-Quadratmeter-Appartement habe den Vorteil, dass man da ,,nicht den ganzen Tag rumlaufen und putzen muss. Das geht einfach nicht mehr so, wenn man älter wird.‘‘


      (SZ vom 18.4.2007)
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      schrieb am 19.07.07 09:52:26
      Beitrag Nr. 21 ()
      Bitte, bitte, Baby!
      Schön genug für die härteste Tür Münchens? Wo Champagner 1800 Euro kostet und ein schwarzes Seil in und out trennt: Ins Baby, den neuen In-Club, darf nicht jeder. Ein Besuch.
      Von Markus Balser und Kristina Läsker

      Die Nacht beginnt an einer unscheinbaren Pforte. Ein schwarzes Seil trennt Trottoir und Tür, es trennt zwischen drinnen und draußen, zwischen in und out, zwischen hoffen und dürfen. Die Wartenden sind hier, weil sie gehört haben, dass man drinnen gewesen sein muss. Keine Broschüren, keine Anzeigen: Das Baby, Münchens neuer Club, spricht sich herum.

      "Wir machen keine Werbung," sagt Clubchef Daniel Laurent. Schon aus Prinzip nicht. Die Türsteherin – schwarz, schlank, schön – schaut auf die Schlange, wie sie schauen muss: cool. Die Abgelehnten schauen, wie sie nicht schauen wollen: enttäuscht. Die Tür gleicht dem Schritt durch den Zauberspiegel ins Wunderland des Nachtlebens. In or out, so ist das in Münchens Nachtleben.


      Draußen am Maximiliansplatz marschieren die Enttäuschten weiter in Richtung Soul City, Rote Sonne, 089 oder Pacha. Das Club-Quintett konkurriert um die Nachtschwärmer der Innenstadt. Im Baby zieht es die Besucher ins Helle, ins Herzstück des Clubs: den weißgetünchten Stucksaal im Wohnzimmerformat, wo Kronleuchter und eine langgezogene Bar glitzern. Gegen Mitternacht füllt sich der Club, die ersten Gäste fangen an zu Wippen, aus dem Wippen wird ein Wogen. Tanzen war gestern, heute wogt man in Ekstase.

      Die ersten Unternehmensberater legen ihre Sakkos ab, Mädchen mit Paris-Hilton-Frisur und kurzem Rock quietschen. Neben der Tanzfläche klettert eine Blondine auf das Podest neben dem tätowierten DJ und lässt ihren Körper im Rhythmus der soften House-Musik vibrieren.



      Makellose Gesichter betrachten makellose Gesichter
      In der dunklen Lounge neben dem weißen Saal füllen sich die Ledersitze mit Menschen. An den Wänden spiegeln sich Weinkühler mit Veuve Clicquot- und Moet-Flaschen. Acht Sorten Champagner bietet die Bar – die teuerste Variante kostet 1800 Euro. Und sie wird häufig verlangt, glaubt man dem Barmann. "Prosecco haben wir nicht auf der Karte“, sagt Geschäftsführer Laurent. Die Cocktail-Auswahl ist klein, immerhin ist die begehrte Caipirinha drin geblieben – ein Zugeständnis an den Mainstream. Denn eigentlich will das Baby elitär sein, so wie die Besucher. Es kostet keinen Eintritt - aber rein kommt nur, wer auf der Gästeliste steht, oder wer den Eindruck macht, als sollte er drauf stehen.

      Was den idealen Gast ausmacht? Es gehe darum, den Club zum Treffpunkt interessanter Menschen zu machen, sagt Laurent – egal ob Punk oder sechzig Jahre alt, ob bekannt oder nicht. Das Baby erwarte keine Uniform von seinen Gästen, dafür Stil oder Mut. Soweit die Theorie. Doch das Auge sucht vergeblich nach zu dick oder zu leger. Die Menschen sind groß, schlank und teuer angezogen. In den Spiegeln betrachten makellose Gesichter makellose Gesichter. Nur einer ist anders – und den hat die Schöne an der Tür wohl gern hineingelassen: der Trommler mit dem Faltengesicht. Eine Elektro-Djembe hat der Alte dabei, schrillt lässt er sie im Beat erklirren. Wo der Typ mit der Trommel auftaucht, da ist es hip. Man kennt ihn aus dem P1.

      Es ist halb drei, Gespräche und Musik sind aufgedreht, die Barkeeper wirbeln, die Menge wogt – ein kurzes Auflodern markiert den Zenit dieser Nacht, schnell und steil beginnt der Fall. Noch rühren TV-Gesichter mit Strohhalmen im Champagner. Unaufgeregt nicken sich Männer mit Sinatra-Hüten zu. Von ihnen dürften einige schon früher dagewesen sein: Die drei Räume haben gastronomische Geschichte geschrieben. 1979 erhielt Starkoch Eckhard Witzigmann hier für sein Restaurant "Aubergine" als erster in Deutschland drei Michelin-Sterne. Zuletzt servierten hier Kellner im Restaurant "Hunsingers Pacific" dezent den Fisch.

      Draußen stehen vereinzelt Hoffende und flirten mit der Schönen. In or out, so ist das in Münchens Nachtleben.

      Quelle:sueddeutsche Zeitung
      Avatar
      schrieb am 06.08.07 18:34:35
      Beitrag Nr. 22 ()
      Gedächtnisverlust

      Der Mann ohne Vergangenheit

      Von Alex Westhoff

      Sein Name ist Karl. Das behauptet er zumindest. Beruflich hat er früher vermutlich etwas mit Flugzeugen zu tun gehabt. Man schätzt ihn auf 60 Jahre. In diesem Jahr hat Karl wohl zum ersten Mal in seinem Leben am 1. Januar seinen Geburtstag gefeiert. Die Behörden benötigten irgendein Geburtstdatum, sonst funktioniert die EDV nicht. Man entschied sich für den Neujahrstag. Gefeiert wurde im kleinen Kreis im „Haus am Brunnen“ in Lampenhain, einem winzigen Ortsteil von Heiligkreuzsteinach im Odenwald, Karls neuer Heimat seit Oktober.


      Das Pflegeheim mit Platz für 40 Bewohner schmiegt sich an einen der vielen saftig grünen Hügel, auf der stark abschüssigen Straße kommen mehr Radler als Autos vorüber. Viele Fenster sind von innen mit kleinen Basteleien beklebt. „Dort oben“, sagt Karl und zeigt die Straße hinauf, „bin ich zur Schule gegangen.“ Ehe er mit 14 Jahren Leutnant der „Luftwaffe“ geworden sei. Unablässig bastelt Karl an seiner eigenen Biographie herum. Verschiedene Versionen werden täglich oder auch stündlich neu aufgelegt und überarbeitet.


      „Ich möchte mein altes Leben zurück“


      Karl spricht fließend englisch, er versteht nur ein paar Brocken Deutsch. Über Begriffe wie „Luftwaffe“, die ihm locker über die Lippen kommen und seine Leidenschaft für Flugzeuge will die Polizei Karls wirklicher Geschichte auf die Schliche kommen. Der drahtige Mann mit dem schütteren grauen Haar, das sich bei jedem Windhauch hebt und senkt, ist seit seinem plötzlichen Erscheinen ein Mysterium.


      Im Juni 2006 war Karl auf einmal da, am Mannheimer Hauptbahnhof. Bekleidet mit einem roten T-Shirt, einer sauberen Hose und Schuhen. Ansonsten hatte er nichts dabei, weder Portemonnaie noch Ausweis. Die Bahnpolizei griff ihn auf. Er gab an, dass er sich weder an seinen vollständigen Namen noch an seinen Wohnort erinnern könne. Karl leidet unter Amnesie, die Erinnerung an alles vor seiner Entdeckung ist verschwunden. „Ich kann mich an nichts mehr erinnern“, sagt Karl, wenn man ihn in seinem Redefluß unterbricht und auf Mannheim anspricht. Er sei am Bahnhof gestürzt und auf den Kopf gefallen. Von einer Wunde oder Beule war aber nichts zu sehen. „Ich möchte mein altes Leben zurück, alles in mir ist wie erstarrt.“


      Keine „Erinnerungsflecken“


      Der Mann ohne Gedächtnis spricht nicht gerne über jenen Tag. Bei der nächstbesten Gelegenheit kehrt er in seine Welt zurück, berichtet über seine vielen Jahre als Gitarrist von Pink Floyd und seine Fusionspläne als Eigner von Daimler-Crysler und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank. Seine wachen blauen Augen leuchten, wenn er ins Erzählen kommt. Nun gibt es kein zurück mehr zu den Fakten.


      Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. „Patienten mit Gedächtnisverlust sind keine Seltenheit. Aber Karl ist ein ungewöhnlicher Fall“, sagt Helmut Vedder, Chefarzt am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden, der Karl in den ersten Monaten behandelte. Die Patienten hätten meist noch „Erinnerungsflecken“, auf denen die Therapie aufbauen könne. Karl müsse so schnell wie möglich mit seinem alten Lebensumfeld konfrontiert werden. „Sonst werden die Chancen auf Heilung immer geringer.“


      Täglich Bilder von Flugzeugen oder Autos


      Sprachwissenschaftler vermuten, dass Karl aus Süd- oder Mittelengland stammt. Womöglich ist er mit englischen Fußballfans zur WM gekommen. Doch niemand scheint ihn zu vermissen. Eine Spur in die Vereinigten Staaten hat sich kürzlich als nichtig herausgestellt. Nun versucht die Polizei anhand der Seriennummer von Karls T-Shirt, mit den Ermittlungen voranzukommen. Der amerikanische Versandhändler soll herausfinden, wann und wo Karl das Hemd erworben haben könnte. Es hängt fein säuberlich an einem Bügel an Karls Kleiderschrank und verdeckt „Das große Liebes-Horoskop für den Sommer“. Stolz zeigt Karl auf die abgebildete knapp bekleidete Dame: „Das ist meine Frau.“ Die Hochzeit sei 1981 gewesen.


      Aus Karls verwirrenden Erzählungen Hinweise auf sein früheres Leben zu gewinnen, seine Vergangenheit wie ein Puzzle aus vermeintlichen Versatzstücken seiner Lebensgeschichte zu rekonstruieren - „das führt zu nichts“, sagt Ralf Steigleder, Leiter des Lampenhainer Pflegeheims. „Wir haben hier recht schnell aufgegeben, seine Äußerungen zu deuten.“ Auch seine zwei bis vier Bilder von Flugzeugen oder Autos, die er täglich malt, werden nicht mehr präzise untersucht.


      „Er ist halt ein englischer Gentleman“


      Karl hat nie einen konkreten Anhaltspunkt auf sein früheres Leben geliefert. Im Heim gilt er als stets freundlicher Einzelgänger, nicht zuletzt durch die Sprachbarriere. Rauchen, Malen, Spazierengehen, Mittagsschlaf seien seine Hauptbeschäftigung. Höflich frage er nach Nachschub an Papier und Stiften, er halte Türen auf, habe gute Tischmanieren und lege Wert auf Hygiene. Steigleder meint: „Er ist halt ein englischer Gentleman.“


      Karl ist sich bewusst, dass ihm die Erinnerung an etwa 59 Jahre seines Lebens fehlen, dass er an einem Ort lebt, an den er im Grunde nicht gehört. Aber er wirkt nicht unglücklich. Er lacht viel. Der Blick des Zuhörers bleibt unweigerlich an den riesigen Lücken rechts und links der Schneidezähne hängen. Wenn er geht, macht er hin und wieder einen hüpfenden Zwischenschritt - wie ein übermütiges Kind an der Hand der Mutter. Karl bittet den Besuch auf seinen kleinen Balkon in Hochpaterre, ein Topf mit Tabak steht dort bereit. In sein Zimmer mit der Nummer 19 fällt trotz wolkenlosen Himmels nur wenig Sonnenschein - Fenster und Balkontür sind mit seinen Bildern beklebt. Detailkenntnisse und präzise Flugzeugzeichnungen legen den Schluss nahe, dass Karl früher etwas mit Luftfahrt zu tun gehabt haben muss.


      In Südamerika und Europa Fußball gespielt?


      Karl hat eine seiner Versionen seiner Lebensgeschichte in Englisch aufgeschrieben, auf zwölf Seiten. Demnach hat er in seiner 30 Jahre langen Karriere als Fußballprofi bei Dutzenden Spitzenklubs in Südamerika und Europa gespielt und mit seinem Vater Carl Olsson - dem Prinzen von Dänemark - den Krieg haarscharf überlebt. Als sich ein Radfahrer den Berg vor dem Heim hinaufquält, fällt ihm plötzlich ein, dass er sieben Mal die Tour de France gewonnen hat.


      Zwei Seiten hat Karl auch auf Deutsch geschrieben, mühsam, Wort für Wort mit einem Wörterbuch: „MEIN NAMENZ KARL FREDERRIKK. ICH BIN 60 JAHR ALT“, heißt es in großen, etwas windschiefen Buchstaben. Zum Abschied bittet Karl nochmal an die Balkontür, zu einem angeklebten Zettel mit der Überschrift „For Sale“. Er benötige einen Agenten, der ihm behilflich sein könne „meine Bundesligaklubs“ Borussia Dortmund und Werder Bremen zu verkaufen. Für zwei Milliarden Dollar pro Klub. „Wüssten Sie da jemanden?“ Den FC Bayern München will er noch behalten.

      Text: F.A.Z.
      Avatar
      schrieb am 03.10.07 09:42:44
      Beitrag Nr. 23 ()
      Der bayerische Riese
      Dem Himmel so nah
      Mit fast 2,20 Metern hat es Peter Zimmermann vom Schützengraben zum Altar geschafft - in einer Zeit, in der Riesen nur verspottet wurden.
      Von Hans Kratzer



      Peter Zimmermann rückte als Bayerns größter Soldat 1914 in den Ersten Weltkrieg ein.
      Foto: oh

      Schon als Bub wollte Peter Zimmermann hoch hinaus. Eines Tages hatte der Schulinspektor den zehnjährigen Volksschüler gefragt, was er einmal werden wolle - und der gab ihm treuherzig zur Antwort: "A Papst." Die ganze Klasse soll schallend gelacht haben. Letztlich hat es der Lauf der Geschichte so eingefädelt, dass nicht er, sondern ein anderer Bayer Papst wurde. Und trotzdem landete auch der Bauernbub Peter Zimmermann aus dem Bayerwalddorf Warzenried im Schoß der Mutter Kirche und erregte als Priester fast so viel Aufsehen wie Papst Benedikt XVI.

      Zimmermann war nicht nur der längste Soldat, der im Ersten Weltkrieg zu den Waffen gerufen wurde, sondern auch der größte Pfarrer, den Bayern vermutlich jemals gesehen hat. Höchstens der Volksheilige Rasso, der in der Wallfahrtskirche Grafrath im Fürstenfeldbrucker Land bestattet ist, könnte gemäß der Überlieferung ein noch größerer geistlicher Riese gewesen sein. Leider haben Räuber bei einem Diebstahl anno 1867 das Skelett des Rasso enthauptet.



      Moralische Größe
      Die Geschichte des fast 2,20 Meter großen Peter Zimmermann wäre längst vergessen, wenn nicht kürzlich eine Ausstellung im Kloster Windberg an ihn und sein Schicksal erinnert hätte. Verwandte hatten seine letzten Habseligkeiten zur Verfügung gestellt, seine riesigen Schuhe, sein Primizbild, seinen Zylinder und seine Schnupftabakdose. Es war anrührend, das alles anzuschauen, aber vor allem seine leider nie veröffentlichte Autobiographie "Aus dem Leben eines Vielbeneideten" zeigt, dass Zimmermann allen Widrigkeiten zum Trotz ein eigenständiger Kopf war. Zu seinem körperlichen Wuchs gesellte sich eine moralische Größe, die ihn befähigte, auch den Nazis zu trotzen. Vermutlich hat ihn diese Haltung das Leben gekostet.


      Nach langer SucheChinesischer Gigant heiratet kleine Braut mehr...Heute stehen Riesen in großem Ansehen, vor allem im Sport. In den Profiligen der Basketballer wimmelt es nur so von Menschen, die ähnlich groß sind wie Peter Zimmermann. Vor 100 Jahren war das noch anders. Zwei-Meter-Riesen waren eine Seltenheit und wurden auf Jahrmärkten als Sensation vorgeführt.

      Die meisten erfuhren ein trauriges Los, wie etwa der 1852 geborene Thomas Hasler, den man den Riesen vom Tegernsee nannte. Er litt an einer Überproduktion von Wachstumshormonen und war mit 2,35 Metern wohl der bisher größte Bayer überhaupt. Sein Aussehen war so schrecklich, dass er bis zu seinem Tod mit 24 Jahren einsam in einer Scheune gelebt haben soll. An den größten Menschen aller Zeiten, den 2,72 Meter großen Amerikaner Robert Wadlow (1918-40), reichte aber selbst er nicht hin.

      Wie alle Riesen seiner Zeit musste auch Peter Zimmermann Spott ertragen. "Wenn er irgendwo hinkam, hatte er immer das Gschau", sagt Frater Raphael, der Kurator der Ausstellung im Kloster Windberg. Die Sticheleien waren gewiss nur mit Humor zu ertragen, aber den hatte er, wie aus seiner kleinen Autobiographie hervorgeht.

      Selbst nachdem Zimmermann anno 1911 ins Priesterseminar in Regensburg eingetreten war, blieb er eine Zielscheibe von Witzbolden: "Du Großer, was für ein Wind geht denn bei dir droben?" Fragen wie diese wurden ihm fast täglich gestellt. Seine Kollegen verglichen seine Schuhe mit Kindersärgen und seine dicken Finger mit Regensburger Knackwürsten.



      "Bub, hör doch einmal das Wachsen auf"
      1891 war Zimmermann auf einer Einöde bei Warzenried (Landkreis Cham), zur Welt gekommen. Weil er begabt war, durfte er eine höhere Schule besuchen, und zunächst verlief auch alles normal. Doch plötzlich fing der Waldbauernbub unheimlich zu wachsen an, bald war er über zwei Meter groß, das war für die damalige Zeit mitsamt ihrer Mangelernährung ganz außergewöhnlich.

      Ein Arzt, der bei der Ausstellung in Windberg die wenigen Fotografien betrachtete, auf denen Zimmermann abgebildet ist, stellte die Diagnose, dass er wohl an einem Krebs in der Wachstumsfuge gelitten habe. Im Bauernhaus seiner Eltern fand der Knabe bald keinen Platz mehr. Der Vater wusste nicht mehr ein noch aus: "Bub, hör doch einmal das Wachsen auf, sonst bringst mi noch auf d'Gant", zitiert ihn Zimmermann. So sagte man, wenn der Konkurs drohte. Um das Haus nicht umbauen zu müssen, riss der Vater den Boden aus der Stube und legte diesen 30 Zentimeter tiefer, damit der Sohn wenigstens aufrecht stehen konnte.



      Soldat ohne Stiefel
      Nach dem Abitur beschloss der mittlerweile 2,14 Meter große Jüngling, Priester zu werden. Denn, so schrieb er in seinen Memoiren, "wer Papst werden will, muss in der Regel vorher Priester sein". Ein großer Papst war damals durchaus nach dem Geschmack der katholischen Welt, wie wir vom Dichter Oskar Maria Graf wissen. Dessen Mutter, die Heimrath Resl, kam einst furchtbar enttäuscht aus Rom zurück, denn: "Als Papst sollten sie schon ein festeres Mannsbild ausgesucht haben." Der Stellvertreter Christi sollte ihrer Meinung nach auch körperlich jeden Menschen überragen.

      Das Internat ließ ein Spezialbett für Zimmermann anfertigen. In Scharen kamen Neugierige, um es zu besichtigen. Der Rummel nervte ihn zusehends. Außerdem kam es vor, dass sich Kirchenbesucher beschwerten, unter den Alumnen sei einer, der sich bei der Wandlung nicht einmal niederkniee. "I knia ja schon", rief er frustriert zurück. Beim Militär kamen große Soldaten wie er gerade recht.

      Anfang Dezember 1914 rückte der Pfarrerstudent zum Ersatzbataillon des Dritten Bayerischen Fußartillerie-Regiments in Ingolstadt ein. Aber auch die Kaserne war auf einen Riesen nicht vorbereitet. Es gab nirgendwo passende Stiefel und keine Uniform. Nach einem Unfall im Mai 1915 wurde er dienstunfähig geschrieben, nahm sein Studium wieder auf und wurde am 29. Juni 1916 im Regensburger Dom zum Priester geweiht.



      Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit
      Weil er oft krank war, bekam Zimmermann keine Pfarrerstelle. Deshalb trat er 1928 im Maristenkloster Furth bei Landshut eine Stelle als Benefiziat an, dort ist er dann am 24. Juni 1936 im Alter von gerade einmal 45 Jahren gestorben. Vermutlich waren es die Nazis, die ihm das Leben nicht gönnten und ihn an Leib und Seele zerstörten.

      Zimmermann war gemäß den spärlichen Quellen als entschiedener Gegner des Hitler-Regimes aufgetreten und aufgrund seiner kritischen Äußerungen mindestens zweimal in Schutzhaft genommen worden. Dass er dort misshandelt wurde, ist wahrscheinlich. Dass er bei einer Verhaftung von Polizisten geschlagen wurde, berichteten Augenzeugen.

      Er selber schrieb über die Beschwernis seines Lebens als Riese: "Die Großen dieser Welt klagen alle über die Neugierde und Zudringlichkeit ihrer Mitmenschen. Aber sie können sich dieser Unannehmlichkeiten wenigstens ab und zu entziehen, indem sie incognito reisen. Das ist aber für einen Menschen mit außergewöhnlicher Körpergröße leider niemals möglich. Und es ist wirklich unangenehm, ständig der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit und der Zielpunkt mehr oder minder treffender Witze zu sein."

      Sein Gegenrezept war der ungebrochene Humor, der auch in dem Gedicht aufblitzt, das Zimmermann zu seiner Primiz verfasst hatte: "Zwei Meter und vierzehn! Und geistlicher Herr! Ja höher geht's wahrlich bald nimmer mehr."



      (SZ vom 2.10.2007
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      schrieb am 03.10.07 11:42:09
      Beitrag Nr. 24 ()
      Vor dem Kollaps

      Leben auf Pump und hoffen auf bessere Zeiten - nirgendwo wird die Misere des "American Way" deutlicher als in Detroit. Das Industriezentrum, das fest mit der Automobilbranche verwachsen ist, hat seine goldenen Zeiten längst hinter sich. Handelsblatt-Korrespondent Markus Ziener zu Besuch in einer krisengeschüttelten Stadt.



      DETROIT. Eddie Peters lenkt seinen Geländewagen in die Blackstone Street. "Ihr solltet jetzt besser nicht aussteigen", sagt Eddie. Dabei ist es erst zwei Uhr nachmittags. Aber wir sind in Brightmoor, gut zwei Blocks südlich der West 8 Mile Road. Südlich der unsichtbaren Mauer, die sich durch Detroit zieht und die der Rapper Eminem in einem Film vor ein paar Jahren unsterblich gemacht hat. 8 Mile trennt Schwarz von Weiß, Reich von Arm, Gut von Böse. Wer heute hier wohnt, hat das übelste Ende von Detroit erwischt. Das Viertel Brightmoor ist Darwinismus pur. Ohnehin schon wegen des Kollaps der amerikanischen Autoindustrie, wegen des Verfalls der Städte - und jetzt auch noch wegen der Immobilienkrise.

      Zwölf Morde gab es hier in den letzten zwei Wochen. Nachmittags ziehen Drogengangs durch Straßen, nachts sind Schüsse zu hören. Die Einbrüche lassen sich nicht mehr zählen, und an jeder zweiten Ecke steht ein ausgebranntes Haus. In der Blackstone Street sind gerade noch vier von zehn Häusern bewohnt. Der Rest ist verlassen. Eddies Job ist es, diese Häuser zu verkaufen. Doch was er macht, ist manchmal eher ein Verschenken. Schlappe 4 000 Dollar wollte er neulich für ein Haus in Brightmoor, das einst das 30- oder 40-fache wert gewesen war. Doch auch zu diesem Preis wollte es niemand. Manchmal kommt in der freiesten Marktwirtschaft der Welt selbst das Spekulieren an ein Ende.

      Der Niedergang der "Big Three" im Automobilmarkt, GM, Ford und Chrysler, und damit der Niedergang von Detroit ist nicht neu. Doch neu ist der Tiefschlag, den die gebeutelte Stadt jetzt einstecken muss: Mit der Krise auf dem amerikanischen Immobilienmarkt sind in keiner anderen US-Großstadt die Preise für Grund und Boden so radikal abgestürzt wie in der einst stolzen "Motorcity". Der S&P/Case-Shiller Index meldete vor wenigen Wochen ein Minus von elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Detroit liegt damit beim Wertverlust mit weitem Abstand an der Spitze im Ranking der US-Metropolen. Zu tun hat dies aber nicht nur mit der Dauerkrise der Autoindustrie. Zu tun hat dies heute vor allem mit dem hohen Anteil an Subprime-Krediten, an Risikokrediten, die in Detroit unters Volk gebracht wurden.

      So wie an Gary und Cathy. Die beiden sitzen an diesem Nachmittag zu Hause um einen eckigen Holztisch und zählen Geld. Es sind Münzen, Centstücke, Nickels, Dimes, Quarters. Es sieht nach viel aus, aber mehr als 20, 30 Dollar kommen nicht zusammen. Jedes Mal, wenn Gary eine ausladende Handbewegung macht, streift er einen der Centtürme. Und jedes Mal fallen dann ein paar der Kupferplättchen vom Stapel. Aber Gary kümmert das nicht.

      Denn schon lange geht es bei den beiden nicht mehr um Cents und Quarters. Schon lange rechnet das Ehepaar aus Detroit in Tausenden von Dollar, die sie nicht haben. Cathy und Gary sind tief in die Hypothekenkrise geschlittert. So tief, dass aus einem Kredit von einst 100 000 Dollar heute Schulden von 240 000 Dollar geworden sind. Wieder einmal schwebt über ihrem hübschen Haus am Hatherly Place die drohende Zwangsvollstreckung. Und diesmal könnte es richtig eng werden. Was dann sein wird, hat sich Gary schon mal überlegt. "Wenn du Roulette spielst, immer wieder verlierst und irgendwann einmal kein Geld mehr hast", sagt der 52-Jährige, "dann stehst du auf und gehst." Und nach einer Pause sagte er: "Und das ist möglicherweise das, was wir bald machen." Aufstehen, die Autos voll packen, Strom und Wasser abdrehen und gehen. Noch sind die beiden nicht so weit. Aber sie denken daran.

      Als Gary und Cathy Mitte der 90er-Jahre einen Kredit über 100 000 Dollar aufnehmen, um ihr Haus in Sterling Heights zu kaufen, geht es ihnen finanziell noch gut. Cathy hat einen exzellent bezahlten Job als Autodesignerin und Gary verkauft mit ordentlichem Gewinn Autoschrott. Zwar haben sie kaum Reserven, doch so lange die Schecks regelmäßig im Briefkasten landen, schöpften die beiden aus dem Vollen. Die Kinder gehen auf die beste Privatschule des Viertels, vor der Tür steht stets mehr als nur ein Auto. Der Hauskredit bleibt stehen, nur die Zinsen werden regelmäßig bezahlt. Es ist ganz der "American Way": Niemand denkt ernsthaft daran, den Kredit eines Tages zu tilgen, aber jeder setzt auf eine Wertsteigerung seines Hauses.

      Doch es kommt ganz anders. 2002 verliert Cathy ihren Job als Autodesignerin, weil ihr Arbeitgeber diese Leistungen nach Fernost auslagert. Gleichzeitig rauscht der Schrottpreis in den Keller. Innerhalb weniger Monate sehen sich Gary und Cathy in ihrer Existenz bedroht. Als sie die Zinsen nicht mehr zahlen können und die Zwangsversteigerung droht, nehmen sie Zuflucht bei einem vermeintlichen Retter. Der bietet ihnen folgenden Deal an: Er kauft das Haus, Gary und Cathy bleiben darin wohnen und später können sie es zurückkaufen. Die beiden schlagen ein - mit fatalen Folgen. Denn ihr "Retter" will vor allem Geld sehen: Eine satte Provision für seine Großzügigkeit, die schöne Chevrolet Corvette aus dem Jahr 1959 als "Anzahlung", 17 Prozent Zinsen für das Geld, das er vorgestreckt hat. Nach einem Jahr holen sie sich ihr Haus tatsächlich wieder zurück. Doch jetzt haben sie noch mehr Schulden.

      Als Gary seine Geschichte zu Ende erzählt hat, sagt Cathy leise: "Wir haben uns zu sehr auf unsere Jobs verlassen." Und dann sagt sie noch: "Wir hätten das Kleingedruckte im Vertrag lesen sollen." Der "fine-print" ist die Falle, in die die Schuldner reihenweise tappen. Dort, auf Seite 4 unten rechts steht, was wirklich wichtig ist. Etwa, dass die Kreditzinsen nach den ersten Jahren deutlich steigen, dass aus den verführerischen Lockraten von sieben Prozent ganz schnell zwölf Prozent werden können. Gary und Cathy zahlen heute monatlich 1 700 Dollar an die Bank. "Das sind etwa drei Viertel unseres Einkommens," sagt Gary, und es fällt ihm sichtlich schwer, darüber zu reden.

      "Diese Story könnt ihr 10 000-mal hören in Michigan", sagt Eddie. Die Geschichte von Menschen, die sich nie auf einen größeren Kredit hätten einlassen dürfen, die vergessen haben, wo ihre Kragenweite endet, und die von Geldverleihern skrupellos aufs Glatteis geführt wurden. Eddie kommt immer erst dann ins Spiel, wenn die Misere nicht mehr aufzuhalten ist. Eddie makelt für den fünftgrößten amerikanischen Subprime-Geldverleiher GMAC, der indirekt zu General Motors gehört. Fällt ein Haus nach einer Zwangsversteigerung zurück an die Bank, dann versucht Eddie, das Objekt an einen Investor zu verkaufen. Eddie sieht, wie Menschen ihre Existenz verlieren - und wie andere daran verdienen.

      Etwa, wenn mit gefälschten Gutachten gearbeitet wird. Einer der Tricks, um an Geld zu kommen, besteht darin, den Wert eines Hauses zu überdrehen. Das geht so: Der Eigentümer oder Investor engagiert einen Schätzer, der ein Haus zum Beispiel statt auf 70 000 auf 140 000 Dollar taxiert. Auf dieser Basis geht das Haus dann auf den Markt. Findet sich ein Käufer für diesen Preis, dann wandert in der Regel ein Umschlag des Verkäufers in die Jackentasche des Schätzers - mit mindestens 20 000 Dollar. Sollte der Schätzer dabei auffliegen, verabschiedet er sich ohne Risiko in einen anderen Bundesstaat. "Die Staaten sind nicht in der Lage, die Daten abzugleichen", sagt Eddie. Spätestens wenn der neue Eigentümer versucht, sein Haus zu verkaufen, kommt das böse Erwachen.

      Seit Jahren haben die Verleiher auf dem Subprime-Markt die Grenzen immer weiter verschoben. Galt einst ein Verschuldungsgrad von 25 Prozent als das Maximum für eine noch seriöse Kreditvergabe, so hatte sich dieser Quotient zuletzt verdoppelt. Die Verleiher haben in den vergangenen Jahren auch dann Geld gegeben, wenn der Schuldner schon bei Abschluss des Vertrags die Hälfte seines Einkommens für den Schuldendienst aufbringen musste. Warum? "Gier, reine Gier", sagt Eddie. Als Wertpapiere gebündelt, ließen sich die Kreditverträge mit hohen Zinserträgen an die Wall Street verkaufen. Und dort hat niemanden gekümmert, ob die Schuldner auch tatsächlich die Verträge bedienen konnten. Fielen sie aus, dann wurde eben umgeschuldet. Solange die Immobilienblase nicht platzte, konnte nicht allzu viel schiefgehen.

      "Die Leute haben die Häuser wie Kreditkarten benutzt", sagt Claire. "Sie haben damit ihr Auto finanziert, die Ausbildung der Kinder, Anschaffungen - immer in der Erwartung, dass die Immobilienpreise steigen." Claire berät in Not geratene Hausbesitzer. An diesem Abend sitzt sie im riesigen Audimax des Wayne County Community College Centers an der Greenfield Road in Detroit und wartet auf ihre Klientel. Auf Leute wie Margaret, der ungebremst die Tränen über die Backen rollen, als sie in Bruchstücken von ihrer Lebenskatastrophe erzählt. Kann sie nicht bis zum sogenannten "SheriffŽs Sale" am 12. Oktober ihre Rückstände bezahlen, dann geht ihr Haus in die Zwangsversteigerung. Und ist der Termin einmal überschritten, dann schuldet sie alles, den gesamten Kredit plus Zinsen. Kann nicht bezahlt werden, kommt das Haus spätestens nach weiteren sechs Monaten unter den Hammer. Margaret schluchzt, und erst nach einer Weile wird das ganze Ausmaß der Misere klar. Margaret ist nicht nur bei einem Kredit in Verzug, sondern mindestens bei zweien. Die Berater machen ihr Mut. Hinter ihrem Rücken aber wechseln sie besorgte Blicke.

      "In den USA will jeder Hausbesitzer sein", sagt Claire. "Aber nicht alle sind dazu geeignet." Und: "Wer eben nur 40 000 Dollar im Jahr verdient, der kann sich kein Haus im Wert von 700 000 Dollar leisten", sagt die langjährige Beraterin. Rastlos ist Claire in diesen Wochen in den USA unterwegs, um die schlimmste Not zu lindern. Bezahlt wird sie von Mortgage-Unternehmen, die den Imageschaden fürchten, den die Krise ausgelöst hat. Auf Jahre hinaus, so prophezeien Experten, werde der amerikanische Subprime-Markt nicht mehr auf die Beine kommen. Denn kein Kreditinstitut werde einem schwachen Schuldner noch Geld leihen. "Dabei gibt es durchaus ein Bedürfnis für dieses Angebot", glaubt Claire - allerdings nur in bestimmten Grenzen.

      Grenzen, von denen Cynthia und ihr Mann Tracey eigentlich dachten, dass sie sie eingehalten hätten. Beide sind Lehrer an öffentlichen Schulen, haben ein regelmäßiges Einkommen, drei Kinder und haben sich 1999 ein Haus in New Center, einem hübschen Viertel in Detroit, gekauft. Zehn Prozent haben sie auf den 225 000 Dollar-Kredit angezahlt, Zins und Tilgung sollten mit den beiden Gehältern finanzierbar sein, glaubten sie. Doch was sie nicht bedachten: Sie hatten nicht nur ihre Unterschrift unter einen Vertrag mit flexiblem Zins gesetzt. Vor allem wurden sie von einem sprunghaften Anstieg der Grundsteuer und der Prämien für die Hausversicherung überrascht. Statt auf knapp 2 000 Dollar kletterten die Rechnungen auf monatlich fast 3 000 Dollar.

      Dann griff eins ins andere: "Bezahlten wir die Steuern, konnten wir die Heizkosten nicht mehr überweisen, und bezahlten wir die Heizung, hatten wir kein Geld für die Versicherung", sagt Cynthia. "Unsere Kreditwürdigkeit war nach einiger Zeit absolut am Ende." In den USA ist aber kaum etwas so schlimm wie das. Denn ohne halbwegs vernünftigen "credit record" geht nichts mehr - zumindest nichts mehr auf Pump. Mit Unterstützung der Schuldnerhilfe "Southwest Solutions" wollen Cynthia und Tracey nun ein neues Paket schnüren, eines, das diesen Teufelskreis durchbricht. Dass eine solche Lösung überhaupt möglich ist, erfuhren sie erst, als sie von einem ähnlichen Fall in der Zeitung lasen. "Die Banken", sagt Cynthia, "haben uns nicht geholfen."

      Als wir wieder herausfahren aus Brightmoor, kreuzt Eddie noch einmal die 8-Mile-Tangente. "Ich habe keine Angst mehr, ich bin frei wie ein Vogel", singt Eminem in seinem Lied über die Trennlinie von Detroit. "Ich fahre quer über den Mittelstreifen und haue hier ab. Und alles, was ich noch sehe von der 8 Mile Road, ist ein verschwommener Fleck."



      Quelle: Handelsblatt.com
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      schrieb am 12.01.08 12:38:04
      Beitrag Nr. 25 ()
      Klassentreffen
      Fremde fürs Leben

      Von Hilmar Klute
      Warten auf das nächste Klassentreffen: Alle zehn Jahre treffen sich Leute, die sich nichts zu sagen haben. Warum eigentlich?



      Dieses Jahr werde ich auf keinen Fall hinfahren. Das hat nämlich auch mit dem Traum zu tun, der in letzter Zeit immer häufiger kommt, und der wie folgt abläuft: Ich gehe über den Schulhof und suche den Eingang zur Albert-Einstein-Schule; ich habe bereits mein komplettes Studium beendet, aber es wird nicht anerkannt, weil ich das Abitur nicht bestanden habe. Es scheiterte an den Fächern Sport und Musik, ich muss das jetzt nachholen - also, wo geht es hier bitte rein?

      Nein, dieses Jahr kann ich da wirklich nicht hinfahren, wenn sich alle wieder in einem gediegenen westfälischen Fachwerkhaus-Restaurant treffen, mit ausgebautem Dachboden, und das Buffet hat für jeden Geschmack etwas zu bieten, das reicht vom Lachs mit Meerrettich-Dill-Dip bis hin zu Frikadellen und kaltem Braten. Ich weiß noch, wie es vor zehn Jahren war, als wir uns in Koch’s Kotten getroffen haben, und manche von uns standen da schon wie unsere Väter an den Stehtischen, tranken ihr gepflegtes Pils aus Gläsern mit Abtropfblättchen, und ihren Gesprächen konnte man en détail entnehmen, wie ein Opel Zafira von unten aussieht.

      Und einer, der in den Unterrichtsstunden immer die Lehrer mit einer imaginären Kalaschnikow hinterrücks niedermetzelte, während sie etwas an die Tafel schrieben - trank auf dem Klassentreffen mehr, als er vertragen konnte, und am Ende lag er bewusstlos in der Salatbeilage. V. hat ihn dann leise schimpfend nach Hause gefahren, wie so oft.



      Die drängendste Frage: Wer war das nochmal?

      Manchmal saß man nichtsahnend in ein nichtssagendes Gespräch vertieft, als einer angeschlichen kam, ein ganz kleiner, verhuschter, und er erzählte von sich aus, was aus ihm geworden ist. Keiner hatte ihn danach gefragt, und dann erinnerst du dich, dass sich seinerzeit auch niemand erkundigt hatte, was er so machte und bekommst nachträglich ein schlechtes Gewissen. Also wendest du dich ihm zu, formulierst die Fragen so, dass du seinen Namen umgehen kannst, weil du ihn vergessen hast. Und dann hoffst du, dass er bald an einen anderen Tisch gehen wird, der kleine traurige Außenseiter. Ich hätte zwei Fragen zu der Sache: Ist das tatsächlich schon so lange her? Und: Müssen wir das denn unbedingt feiern?

      Die Einladungen werden vermutlich in den nächsten Wochen eintreffen. F.wird sie wieder in seinem alten selbstrenovierten Fachwerkhaus entwerfen und einfach an die Adressen unserer Eltern schicken. Ein kleiner Unkostenbeitrag wird fällig, und dann ist vor allem wichtig, dass man viel gute Laune und ein prima funktionierendes Gedächtnis mitbringt, welches einem die Frage "Wer warst du nochmal?" nicht allzu häufig zu stellen zwingt.

      Aber ich werde ohnehin nicht kommen, irgendwann muss einfach Schluss sein mit dem Kapitel.

      Denn wenn man es genau betrachtet, war das Abitur, meines jedenfalls, nichts weiter als das gerechte Ende eines jahrelangen Hängens und Würgens. Es kam aufgrund verschiedener Kompromisse zustande und war keine wirkliche Leistung, sondern ein augenzwinkerndes "Jetzt bringen wir dich da auch noch durch."

      Auf dem Weg dorthin bin ich zweimal sitzengeblieben, einmal konnte ich eine Nachprüfung machen, in Latein. Herr J. pumpte das Klassenzimmer mit Roth-Händle-Dunst voll und ließ mich "ambulare" konjugieren. Dann durfte ich zu den anderen in die zehnte Klasse spazieren. Ein anderes Mal war es so schlimm gekommen, dass meine Mutter mich an der Realschule anmelden wollte. Der Rektor schickte mich aber wieder zurück aufs Gymnasium, wo das Drama weiterging. Einmal habe ich eine Mathearbeit von meinem Nachbarn C. komplett abgeschrieben und wäre dafür fast von der Schule geflogen. Stattdessen durfte ich die Arbeit nachholen. Als der Tag kam, war im ganzen Ruhrgebiet Smogalarm, und die Klausur fiel aus. Auf solcherlei Wegen erreichte ich die Oberstufe.

      Dragonerhafte Höllenpädagogen oder Kumpel namens Ekki

      Aber bei der Abiturfeier in der Aula durfte ich damals vor zwanzig Jahren die Abi-Rede halten, und das war auch folgerichtig, denn ich hatte zwar keine Ahnung, was eine Kurvendiskussion war, aber ich wusste, wie man eine größere Anzahl von Leuten dauerhaft mit Worten eincremt. Außerdem hatte die Zeit der schulischen Niederlagen mein Geltungsbedürfnis nicht beeinträchtigt, und alle wussten das.

      Ich trug ein beaujolaisfarbenes Hemd. In meiner Ansprache erzählte ich allen Schülern und deren Eltern, dass meine Mathematiklehrerin eine intolerante, unsensible, dragonerhafte Höllenpädagogin gewesen sei, die kein Auge für meine wahren Talente gehabt hätte. Ich wischte ihr kräftig eins aus, da war natürlich Kaiserwetter im Saal. Eigentlich war es eine ziemlich rotznasige Rede gewesen, denn man darf schließlich eines nicht vergessen: Wenn Frau S. nicht den Kompromiss angeboten hätte, mir immer den überlebensnotwendigen einen Punkt zu geben, solange ich einfach nur stumm den Unterrichtsstunden beiwohnte, hätte ein anderer die Abirede halten müssen.

      Wirkliche Wut auf Frau S. bekam ich erst viele Jahre später, als ich in einer medizinischen Fachzeitschrift bestätigt fand, dass ich damals vermutlich sehr krank war. Ich litt ganz bestimmt unter Dyskalkulie, das ist Legasthenie mit Zahlen. Ich war lernbehindert, und Frau S. hat das nicht berücksichtigt. In unseren heutigen reglementierungsfreudigen Zeiten bekäme sie dafür ein Disziplinarverfahren an den Hals. Na ja.

      Aber jetzt sollen wir uns also einfach so wiedersehen, Apéritifs zwischen die Finger klemmen und Kanapees von grünen Papierservietten essen? Wir sollen die alten Schulzeiten schön feuerzangenbowlenhaft an uns vorüberwehen lassen und so tun, als habe uns das, was uns nicht umgebracht hat, fit fürs Leben gemacht. Eine ganze Weile ging das auch ganz gut, die Schulzeit ließ sich leicht verdrängen, und die Erinnerung rückte die Lehrer zuweilen in ein mildes Licht, ließ sie also jene Art von Beleuchtung genießen, die man liebenswerten harmlosen Käuzen zukommen lässt. Weißt du noch, wie wir einmal einen Angelhaken über dem Türrahmen befestigt hatten, und Herr G. kam rein und sein Toupé - ja, die Geschichte ist schnell erzählt. Und weißt du noch, wie Herr Dr. K., die ganze Stunde über die Knie so seltsam unter dem Pult gekreuzt hatte und kurz vorm Pausenklingeln "Ach Scheiß drauf" sagte, die Knie einzog, und das Pult brach in sich zusammen wie ein Einfamilienhaus in Florida bei der ersten Orkanböe?



      Ein großes Gefühlsfestival

      Unsere Lehrer gehörten ja jener Generation an, die während der sechziger Jahre in Happenings gehockt hat, und deshalb ein ungewöhnlich frisches, unverkrampftes Verhältnis zu uns Kindern aufbauen wollte. Sie hießen Martin, Jürgen und Ekki, und wir dachten: Das sind alles unsere Kumpels, die schleusen uns komplett durch das System Schule wie einen Heringsschwarm. "Du, Jürgen, ich find das bescheuert, dass du mir die Sechs in Deutsch gegeben hast", sagte die Schülerin zum Lehrer, bevor der Jürgen die Micki die Jahrgangsstufe wiederholen ließ.

      Ein paar von den ehemaligen Studienräten sind auch immer bei den Klassentreffen dabei. Sie belassen es meist bei einem Bier am Abend, gehen zu dem und der und sagen jedem, ich hab dich erst nicht wiedererkannt, aber dann wusste ich sofort, wer du bist. Meistens irren sie sich dann doch. Wenn es unerwartet etwas später wird, und Musik aus den Achtzigern erklingt, schließen die Lehrer die Augen und fangen ganz langsam und verträumt an zu tanzen. Sie sind ein bisschen wie der alte Regierungsrat Wojwode in Franz Werfels Roman "Der Abituriententag", welcher bei der Zusammenkunft keinen von den Schülern mehr identifizieren kann: "Kindergesichter hätte er vielleicht wiedererkannt, aber diese wildfremden, überströmend lauten Herren?! Gott, Gott! Wenn er es nur wird aushalten können."

      Das Klassentreffen ist eines der wirklich großen Gefühlsfestivals, welche das Leben organisiert. Hier kommen Männer und Frauen zusammen, die schon ein passables Erwachsenenleben vorzuweisen haben; viele haben Kinder, die meisten sehr schöne Berufe, Häuser, Geld und vorzeigbare Ansichten. Aber alle eint eben auch die Erinnerung an diese Zeit, in der wir uns in den vielleicht lustigsten und peinlichsten Situationen unseres Lebens gesehen haben. In denen wir an die Tafel gerufen wurden und dort standen wie Vollidioten, die keinen Ton rausbrachten; in denen wir auf Klassenfahrten von dem begleitenden Lehrer als "Die Affenfresse" sprachen und nicht mehr an ein glückliches Ende des Abiturs glaubten, als wir zu spät merkten, dass er die ganze Zeit hinter uns gestanden hatte.

      Dann kamen doch die Prüfungstage im Mai, die Lehrer waren mild wie Frühlingsprimeln, und am Ende hatten wir alle das Zeugnis in Händen. Und dann? Wir haben uns, und hier beginnt die Erinnerung schon blasser zu werden, einen Tag später an den Ruhrwiesen zum Grillen getroffen, ein paar Bratwürste anbrennen lassen und dann sind wir alle abgehauen, weit weg von der Schule, der Stadt; sind in Business-Anzüge und Verantwortungsbereiche gestiegen, einige haben promoviert, andere die gleichen Drogen geschluckt wie vorher schon, ein paar sind gestrandet, und zwei sind schon früh gestorben.

      "Nachdem sie alle die (...) Abschlusszeugnisse in Empfang genommen hatten, waren sie einfach auseinandergegangen, auf kalte Weise froh, die anderen nie wiedersehen zu müssen." Der Satz stammt aus Robert Menasses Roman "Die Vertreibung aus der Hölle", und wenn man es genau betrachtet, ist es der einzig richtige Weg für uns alle gewesen. Aber seien wir doch ehrlich: Haben wir uns nicht alle im Laufe der Jahre gegenseitig schon x-mal gegoogelt und anschließend den Suchbegriff rasch wieder aus dem Explorer gelöscht, weil man die Namen von damals eigentlich längst vergessen wollte wie die ganze Schulzeit? Und dann haben wir sie doch immer erneut eingegeben, und so haben wir einander über zwei Jahzehnte immer wieder gesucht, und die Tiefenpsychologen unter uns möchten es mit hochgezogenen Brauen hinzufügen: Im anderen suchten wir uns selbst.

      Von manchen von uns stehen Bilder im Internet - harte Managergesichter, Entscheidervisagen, Existenzgründerprofile, und nur wir wissen, wie diese Jungen damals dreingeschaut haben, als ihre Abinote vom Durchschnitt so sehr abwich, dass sie sich nochmal vors Prüfungsgremium setzen mussten. Nur wir kennen die unwürdigen Monate, während derer sie um ein Mädchen aus der Nebenstufe scharwenzelt sind, das dann doch ein anderer abgekriegt hatte. Verlierer waren wir damals alle, und erst in der Zeit nach dem Abitur wurden die meisten von uns für diese würdelosen Jahre mit einigen hübschen Erfolgsbonbons entschädigt. Und jetzt sollen sie nach zwanzig Jahren wieder Zeugen aus der unrühmlichen Zeit treffen, womöglich das Mädchen, das den anderen gewählt hatte? Und diesen anderen gleich dazu? Ja, vielleicht wäre das ja sogar auf schmerzhafte Weise ziemlich komisch.



      Die Mädchen von damals tragen heute Krähenfüße

      Es gibt ja Menschen, die zeit ihres Lebens eine Schülerseele in sich tragen und jedem Klassentreffen dermaßen entgegenfiebern, als bekämen sie ein zweites Mal ihre Schultüte in die Arme gedrückt.

      Im Internet loggen sich diese Leute bei www.stayfriends.de ein, das ist ein Forum, welches dabei hilft, die alten Klassenkameraden von damals ausfindig zu machen. Ich habe mir die Namen öfter angesehen und die meisten sagten mir etwas, aber ich konnte mir kein Gesicht mehr dazu vorstellen. Vielleicht glauben die stayfriends-Freunde ja, dass sie schon dadurch zusammengehören, dass sie auf einer gemeinsamen Liste stehen wie damals in den roten Taschenkalendern, aus denen die Lehrer am Zeugnistag litaneihaft ihren Quartalsende-Singsang ablasen: "Mattias ne Zwei, Volker ne Drei, Susanne ne Vier, Florian ne Eins."

      Ja damals, damals waren wir noch eine richtige große Gemeinschaft, wenn auch unfreiwillig. Aber die Freunde aus dieser Zeit - waren sie überhaupt jemals Freunde? - sind heute Fremde. Sie riechen nicht mehr nach Hubba Bubba wie früher, sondern nach Baldessarini. Die Mädchen kommen nicht mehr in ihren grünen Nickipullis daher, sie haben Krähenfüße um die Augen und tragen Hosenanzüge wie Angela Merkel, weil sie Chefsekretärinnen geworden sind, Hochschuldozentinnen oder Lehrerinnen.

      Einige erzählen beim Klassentreffen von ihren Familien, Kindern, Schicksalen, und während sie das tun, fällt dir ein, wie du sie früher beleidigt hast mit böse erfundenen Nicknames, mit miesen verletzenden Karikaturen, die alle zu Gesicht bekamen, sobald der Lehrer die Tafelhälften aufklappte. Ja, erzähl’ wie es dir heute geht, Krötenkopf, sag’ mir, was aus dir geworden ist, Flaschenöffner, es interessiert mich wirklich aufrichtig, und ich werde sehr, sehr höflich zu dir sein. Allein für solche Momente lohnt es sich, die Entscheidung, dem Klassentreffen fernzubleiben, noch einmal zu überdenken.

      Am Ende wird es dann wohl so aussehen, dass wir uns alle unsere Visitenkarten in die Hand drücken, E-Mailadressen austauschen und einer wird bedauern, warum er sich vor 20 Jahren eigentlich nicht an M. herangemacht hat, oder sah die damals noch nicht so fabelhaft aus?

      Einer von uns wird den Kameraden Kalaschnikow sturzbetrunken im Buffet oder sonstwo im Festlokal finden, und V. wird ihn, wie so oft in seinem Leben, nach Hause fahren, während ein paar Kolleginnen sich bei den Wirtsleuten für die Peinlichkeiten entschuldigen - Stay Friends!

      Und wir anderen kommen auf die Idee, ein Taxi in die Innenstadt zu nehmen und dort ins Intershop zu gehen oder ins Café Sachs, in unsere großartigen Kneipen von damals also, nur dass die Gäste dort heute alle über zwanzig Jahre jünger sind; und dann würgen wir schweigend noch ein Pils runter und stellen fest, dass der kleine, aufdringliche Außenseiter irgendwie auch mit im Taxi war, und plötzlich fängt der an zu erzählen, wie gut das ist, wenn man nach so langer Zeit wieder an einem Tisch sitzt und sich immer noch etwas zu sagen hat. Und keiner wagt dem anderen in die Augen zu blicken.

      So ungefähr wird es ablaufen, das zwanzigjährige Abiturtreffen, und ich werde - Traum hin, Internet-Explorer her - natürlich hinfahren wie immer, denn eines ist sicher: So fremd kommen wir nie wieder zusammen.

      (SZ vom 5./6.1.2007)
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      schrieb am 13.02.08 16:04:52
      Beitrag Nr. 26 ()
      Einsamer Tod auf dem Hochsitz

      Er nahm kein Gift und er sprang von keiner Brücke. Ein 58 Jahre alter Arbeitsloser aus Hannover hat auf einem Hochsitz seinem Leben ein qualvolles Ende gesetzt: Er hat sich bewusst zu Tode gehungert. In einem Tagebuch hat er seine letzten Wochen dokumentiert.


      Es war ein langsamer und einsamer Tod auf einem Hochsitz: 24 Tage lang ertrug der 58-Jährige aus Hannover Durst, Hunger und Schmerzen, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Sein Wille war stark, er wollte nicht gefunden werden und er widerstand allen Versuchungen, den Hochsitz in der Nähe der niedersächsischen Kleinstadt Uslar zu verlassen. Seine letzten Wochen, sein langsames Sterben, dokumentierte der Mann in einem Tagebuch. Das, so schrieb der Mann in seinem letzten Eintrag am 13. Dezember, soll seine Tochter erhalten.

      Medienberichten zufolge soll die junge Frau, die bei Ahrensbök in Schleswig-Holstein lebt, gesagt haben, dass sie keinen Wert darauf lege, den Leichnam ihres Vaters zu bestatten oder das Buch in Empfang zu nehmen. Die zuständige Polizei in Northeim will dies nicht bestätigen. "Ich kann nur so viel sagen: Das Buch ist an Verwandte des Toten unterwegs", sagt Polizeisprecher Uwe Falkenhain im Gespräch mit stern.de. Nach einem Bericht der "Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen" hat sich die Tochter entschieden, ihren Vater auf hoher See bestatten zu lassen. Offenbar ist das ein Wunsch ihres Vaters gewesen.


      Eine Tragödie in idyllischer Umgebung


      Die persönliche Tragödie des 58-Jährigen ereignete sich in idyllischer Umgebung: Ein Hochsitz, wie es sie im Mittelgebirge Solling zu hunderten gibt, nicht weit entfernt von einem Erlebnis-Waldweg in der Nähe des Ferienorts Uslar. Zwei Jäger, die ein paar morsche Bretter am Hochsitz reparieren wollten, fanden in dem zwei auf zwei Meter großen Innenraum erst einen Rucksack, dann die Leiche. Sie lag mumifiziert auf einer Matratze, daneben das Tagebuch und ein Handtuch. Die alarmierten Rettungskräfte hievten die Leiche des stark abgemagerten Mannes hinunter. Die Polizei schließt ein Verbrechen aus. "Für uns steht fest, dass war ein Suizid. Damit ist der Fall für uns erledigt", sagt Polizeisprecher Falkenhain.





      Was den 58-Jährigen tatsächlich bewogen hat, im Wald den freiwilligen Hungertod zu sterben, werden zumindest die Ermittler nicht endgültig klären. Aus seinem in blaues Plastik eingebundenen Tagebuch, das der Mann geschrieben hatte, während er auf dem sechs Meter hohen Hochsitz hauste und nichts mehr aß, geht hervor, dass der frühere Außendienstmitarbeiter schon länger arbeitslos war. Im Oktober 2007 endete die Zahlung seines Arbeitslosengeldes. Er hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich, seine erwachsene Tochter habe sich von ihm losgesagt, schreibt er. Und: Er war einsam. Nach Erkenntnissen der Polizei lag nicht einmal eine Vermisstenmeldung auf seinen Namen vor.


      Schmerzen, die ihm der Hunger bereitete


      In dieser Situation machte sich der 58-Jährige irgendwann im Spätherbst mit dem Fahrrad auf den mehr als 100 Kilometer langen Weg von Hannover Richtung Solling. Aus dem Tagebuch geht hervor, dass der 58-Jährige mindestens dreieinhalb Wochen auf dem Hochsitz zugebracht hat und in dieser Zeit keine Nahrung zu sich nahm. Er berichtet in dem Buch von Schmerzen, die ihm der Hunger bereitete, und davon, dass er nicht mehr leben wolle. Er soll auch darüber berichtet haben, wie sich eine Unterzuckerung auswirkte und welche inneren Organe nach seiner Einschätzung allmählich aussetzten, die Haut eintrocknete.

      Einmal wäre er beinahe von einem kleinen Mädchen entdeckt worden, das auf den Hochsitz klettern wollte, schreibt der Mann. Der besorgte Vater des Kindes habe es aber zurückgeholt. Dass nicht früher ein Jäger kam, lag daran, dass die Leiter zum Hochsitz morsche Tritte hatte.

      Irgendwann in der Zeit vor Weihnachten muss der Mann dann gestorben sein. Zurück bleibt nicht viel: Ein Tagebuch und ein paar andere Habseligkeiten.







      Quelle: Financial Times Deutschland
      Avatar
      schrieb am 11.04.08 12:36:52
      Beitrag Nr. 27 ()
      Antwort auf Beitrag Nr.: 33.355.893 von Dorfrichter am 13.02.08 16:04:52"Geld kann Aids bekommen"
      Gerhard Polt und die Biermösl Blosn über die Finanzkrise, stinkende Rollmöpse in der Bank und Erfahrungen als Schnapsverkäufer.

      Interview: Harald Freiberger, Alexander Hagelüken und Hannah Wilhelm

      Auf einer Kommode in Gerhard Polts Münchner Wohnung steht eine Postkarte mit dem Spruch von Karl Valentin: "Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist." Der Hausherr empfängt im Sitzen, er hat sich den Fuß verknackst. Beim Treppensteigen! Um den Tisch im Wohnzimmer haben sich seine drei Bühnenpartner von der Biermösl Blosn versammelt: Hans ("Hansi"), Michael ("Michal") und Christoph ("Stofferl") Well. Alle warten auf die Weißwürste.

      SZ: Lieber Herr Polt, liebe Biermösl Blosn, reden wir über Geld.

      Gerhard Polt: Das ist natürlich ein Thema wie Glaube, Liebe, Hoffnung. Da kannst dir Zeit lassen. Das geht ja zurück bis in die frühesten menschlichen Kulturen. Da reden wir von 8000 Jahren vor Christus. Rein philosophisch geht es um die Frage, hab ich es, das Geld, oder hat es mich?

      SZ: Und?

      Polt: Ich weiß es nicht. Es gibt so absurde Seiten. Eine Frau, deren Mann ein fremdes Kind totgefahren hat, hat mir einmal erzählt, dass die Versicherung für das Kind 180.000 Mark gezahlt hat. Das wär so der Wert, an dem man das Kind dingfest machen kann. Und, hat sie gesagt, die Eltern hätten natürlich mehr wollen, eine Million. Aber bei der Versicherung wär der Wert eben festgeschrieben, genauso wie wenn ich einen Hax verlier oder einen Finger. 180.000 Mark - mehr gibt’s nicht für ein überfahrenes Kind.



      Polt: Es hat auch was mit Nekrophilie zu tun. Menschen wenden ihre Liebe toten Dingen zu. Wie dem Geld. Ich kann des schon verstehen: Ein Mensch oder ein Tier kann einem ja weglaufen. Das Geld nicht. Ein Auto auch nicht. Die ganze Autoindustrie spekuliert auf diese Nekrophilie.

      SZ: In Ihren Kabarett-Programmen geht es oft um Geld. Aus welchen Erfahrungen kommt das?

      Polt: Einmal lernte ich einen Bankmenschen kennen. Ich fragte ihn: Und sonst geht’s gut? Er sagte: "Ja, aber ich sitz auf einem heißen Stuhl. Ich soll möglichst viele Kredite vergeben. Aber die Leute, die unbedingt einen Kredit haben wollen, die werden ihn nicht zurückzahlen. Bei denen sagt man schon vorher: Ui ui ui. Und die, denen ich unbedingt einen Kredit geben will, die brauchen gar keinen."

      SZ: Klingt, als hätte der Mann schon damals den Kern der heutigen Finanzkrise getroffen.

      Polt: Ehrlich, ha?

      Stofferl: Eines unserer Programme hat Diridari geheißen, also bayerisch für Geld. Es ist schön, wie der Bayer sprachlich mit Geld umgeht. Diridari, das klingt wie Larifari.

      Hansi: Bei Diridari sind wir von der Vorstellung ausgegangen, dass Geld arbeitet und sich vermehrt. Wir haben über eine Orgie im Tresor gesungen.

      Polt: Die Geldscheine haben kopuliert.

      Hansi: Und natürlich können sie auch Aids bekommen. Dann sind sie infiziert, so wie derzeit in der Finanzkrise das Geld von der BayernLB.

      Lesen Sie im zweiten Teil, warum Hansi Well heute nicht im Aufsichtsrat der BayernLB sitzt.

      SZ: Was die bayerische Staatsregierung vermurkst, zieht sich durch Ihre Programme. Mega Petrol, Schneider, BayernLB - lauter Affären, in die der Staat verwickelt war und bei denen Anleger oder Steuerzahler die Zeche zahlten.

      Hansi: Ich wollt mich für die Kleinanleger bei Schneider in den Aufsichtsrat wählen lassen. Aber der Konkursverwalter hat mich abgelehnt.

      Polt: Eine zentrale Frage ist: Wer haftet? Wir haben da mal eine Szene drüber gemacht mit dem Herrn Rösner, den spielte der Hansi. Er übernimmt für alles die Verantwortung: das Waldsterben oder wenn ein Atomkraftwerk in die Luft fliegt. Wahrscheinlich wäre das psychologisch gut für das Volk, wenn es jemanden gäbe, so eine Art Popanz, der sich hinstellt und wo man sagen kann: Er war’s.

      Hansi: Jawoll, ich war’s.

      SZ: Und wer zahlt’s?

      Polt: Das ist die andere Frage. Jede chemische Reinigung muss eine hohe Versicherung abschließen für den Fall, dass sie die Umwelt schädigt. Eigentlich müsste das jeder Landrat und Bürgermeister. Wie hoch ist der Beitrag für die Staatsregierung, wie groß für Unterfranken? Da müssten sie ganz schön rechnen bei der Allianz.

      Stofferl (aus der Küche): Die Weißwürscht sind warm, seid’s Ihr bereit?

      Polt: Ich bin innerlich aufgeschlossen. Stofferl: Hast du Weißbier?

      Polt: Na. Ich hab gar nix da. Bloß Wein. (Betretenes Schweigen)



      » Die CSU regiert noch drei Millionen Jahre. Bis die Welt halt untergeht. «

      Hansi Well
      SZ: Sie treten seit 30 Jahren auf und protestieren gegen CSU, Gewerbegebiete, Umweltzerstörung. Was hat’s gebracht?

      Polt: Ja mei.

      Hansi: Ich weiß noch gut, wie wir gegen die Startbahn 1 des Münchner Flughafens im Erdinger Moos gespielt haben. Inzwischen wollen sie die Startbahn 3.

      Polt: Er will damit sagen, dass alles, gegen was wir protestieren, auf alle Fälle durchgesetzt wird.

      Stofferl: Das stimmt nicht, die WAA Wackersdorf, der Transrapid! Und: Wir sind nicht krank geworden, weil wir immer das gesagt haben, was uns stört. Und im Publikum sind vielleicht auch manche nicht krank geworden.

      SZ: Viele Bayern sind zufrieden mit der Modernisierung des Freistaats.

      Polt: Am Rockzipfel meiner Kindheit habe ich die agrarische, handwerklich geprägte Zeit noch mitbekommen. Meine Frau kommt aus der Nähe von Cham, ich sehe das alles noch vor mir: die Misthaufen, in einem Bauernhof lief ein Rinnsal durch die Küche, das nur von einem Brett abgedeckt war.

      SZ: Ein Rinnsal vom Misthaufen?

      Polt: Nein, Frischwasser vom Bach. Das waren wirklich arme Hunde. Und dann kam der Zivilisationsumschwung: Wenn so ein Bauer mit einem Sachl, einem kleinen Hof, auf einmal Lkw-Fahrer werden durfte, da fühlte er sich wie ein König.

      SZ: Also ging es durch die CSU wirtschaftlich aufwärts?

      Hansi: Ja klar, war ja keine andere Partei net da.

      Polt: Es is scho a Wahnsinn, was die sich teilweise leisten können. Da hat der Otto Wiesheu damals im Vollrausch den Rentner totgefahren, und sie machen ihn nachher ausgerechnet zum Verkehrsminister!

      Michal: Jetzt ist er bei der Bahn und verdient Geld wies Heu. Wies Heu!

      SZ: Wie lange regiert die CSU noch?

      Hansi: Drei Millionen Jahre. Bis die Welt halt untergeht. Durch den Klimawandel kann’s allerdings auch schneller gehen.

      Lesen Sie im dritten Teil, warum für Hansi Well Kinderarbeit völlig normal ist.

      SZ: Im Buch "Hundskrüppel" über Ihre Kindheit beschreiben Sie, Herr Polt, Ihren ersten antikapitalistischen Akt: Wie Sie in einer Bank in der Münchner Amalienstraße einen Rollmops hinter der Fußleiste versteckt haben...

      Polt: Der Bankchef war so eine unangenehme Erscheinung. Die Eltern meines Spezls hatten aus Ungarn Forint mitgebracht, und wir wollten wissen, wie viel sie wert sind. Da hat er gesagt, wir sollen uns schleichen. Wir haben uns gerächt. Es hat in der Bank furchtbar zu stinken angefangen. Sie haben lange gesucht.

      Stofferl: Also stinkt Geld doch!

      SZ: Teilen Sie die Einnahmen bei Ihren Auftritten durch vier?

      Stofferl: Das ist Betriebsgeheimnis. Aber der Gerhard wird mit Naturalien bezahlt. Darum hab ich heut die Weißwürscht mitgebracht. Gell, Gerhard?

      Polt: Ja, ich bin sehr zufrieden.

      Michal: Wir schauen, dass wir die Preise für die Auftritte einigermaßen niedrig halten, weil ich mich selber noch gut erinnern kann, wie das ist, wenn man sich kein Kino oder Theater leisten kann.

      SZ: Bei den Wells zu Hause waren Sie ja 15 Kinder. Wie konnte Ihr Vater Sie mit einem Lehrergehalt durchfüttern?

      Stofferl: Kindergeld.

      Michal: (gleichzeitig) Kinderarbeit.



      Stofferl: Ich hab immer schon Geld gekriegt, vom Vater hab ich nie wirklich einen Pfennig gebraucht.

      Hansi: Der Stofferl war der Raffinierteste. Wenn wir Schokolade gekriegt haben, hat er draufgespuckt, damit es die anderen Geschwister nicht mehr mögen.

      Stofferl: Ich war halt der Kleinste und musste schauen, wo ich bleib.

      Hansi: Wenn die ganze Familie mit Volksmusik aufgetreten ist, hat er sich mit unserem Bruder Karli kurz vor dem Ende von der Bühne geschlichen, an den Ausgang gestellt und die Zehnerl und Fuchzgerl kassiert. Der Vater hat nie für einen Auftritt Geld verlangt, das fand er unanständig. Wenn ihn der Veranstalter fragte, hat er gesagt: "Gebt’s uns halt das Benzingeld." Die Bedürfnisse waren nicht so groß auf dem Dorf. Aber wenn aus unerklärlichen Gründen beim Bauern eine Sau gestorben ist, hat der Lehrer profitiert.

      Polt: Man konnte damals mit weniger leben. Es gab Plätze, da saßen Rentner stundenlang und bestellten mal ein Bier und nach vier Stunden wieder eins, zum Beispiel in München im Café Neumayr am Viktualienmarkt. Diese Nischen gibt es heute nicht mehr. Da fragt man sich: Wie geht die Gesellschaft mit den Menschen um?

      Lesen Sie im vierten Teil, wieso Kleinsparer Gerhard Polt lieber in Wein investiert, als in Aktien.

      SZ: Herr Polt, wann war bei Ihnen das Geld knapp?

      Polt: Ich habe in Göteborg Schwedisch studiert, mit wenig Geld. Ich habe zum Beispiel in Cafés aus einer Tasse Kaffee zwei gemacht, indem ich die Untertasse auch gefüllt habe. Und ich hab irre Jobs gemacht, zum Beispiel Nachtwächter.

      Stofferl: ...und aufm Schiff.

      Polt: Im Bauch einer Fähre habe ich Schnapsflaschen sortiert. Als jemand an Deck ausfiel, bin ich aufgestiegen und durfte an die Schnapsboutique.

      Stofferl: Die Gschicht musst noch erzählen.

      Polt: Also, es kam ein riesiger Mann an die Boutique und wollte noch eine Flasche Gordon’s Gin. Die Boutique aber hatte schon geschlossen, mein Chef sagte zu dem Mann: "Hau ab". Da fiel er auf die Knie, brach in Tränen aus
      und rief: "Seid ihr keine Christenmenschen?" Natürlich war er angedonnert (macht Trinkbewegung). Später kam ein Kind, weinte und fragte, ob wir seinen Vater gesehen haben. Es beschrieb ihn, und wir wussten, dass es der Mann war. Und noch später kam eine Lautsprecherdurchsage: "Mann über Bord." Da warf mein Chef seinen Bleistift in die Ecke und fluchte: "Kruzifix, (laut) Kruzifix, schon wieder eine halbe Stunde." Wenn jemand über Bord gegangen war, musste ein Schiff laut Vorschrift eine halbe Stunde nach ihm suchen. Wir haben ihn nicht gefunden. Es war der Mann, der den Gin wollte.

      SZ: Sie haben nach dem Studium bis 35 als Lehrer und Dolmetscher einen bürgerlichen Beruf gehabt.

      Polt: Ich wollt’ nie was werden.

      SZ: Haben Sie mal in einem Projekt viel Geld versenkt?

      Polt: Meine Filme "Kehraus", "Herr Ober" und "Germanikus" waren alle keine großen kommerziellen Erfolge, beim letzten ging sogar viel Geld verloren. Aber Gott sei Dank war ich an der Finanzierung nicht selbst beteiligt.



      » Bei Cargolifter hab ich 20.000 Mark verloren. «

      Hansi Well
      SZ: Sind Sie reich?

      Polt: Mei, reich. Vielleicht reich an Erfahrung. Ich bin, wie es im Lateinischen heißt, "bene stante", also, es geht mir gut. Mir gehört mein Haus am Schliersee und die Wohnung hier.

      SZ: Nicht so viel für einen bekannten Künstler. Wie legen Sie Ihr Geld an?

      Polt: Ich bin der klassische Kleinsparer, nur normale Anlagen.

      SZ: Besitzen Sie Aktien?

      Hansi: Ich hab was in Wind- und Solarenergie angelegt. Ok, und bei Cargolifter hab ich 20.000 Mark verloren.

      Polt: Ich hab keine Aktien. Eigentlich bin ich der Meinung, dass Wein die beste Geldanlage ist. So ein schöner Barbera d’Asti.

      SZ: Und dann wieder verkaufen?

      Polt: Nein, nein. Es ist auch so schön: Man geht in den Weinkeller, er reift, man grüßt ihn, man kennt ihn schon.


      (SZ vom 11.04.2008/hgn
      Avatar
      schrieb am 30.04.08 19:11:24
      Beitrag Nr. 28 ()
      Avatar
      schrieb am 03.05.08 09:26:48
      Beitrag Nr. 29 ()
      Quelle: Die Zeit
      ________________________

      Am Anfang war der Bus
      Von Felix Zimmermann | © DIE ZEIT, 01.05.2008 Nr. 19

      Schlagworte: Israel Reisen
      Als Israel vor 60 Jahren gegründet wurde, war Egged schon unterwegs. In den grünen Wagen erfährt man, was das Land zusammenhält.


      Zwischenhalt in Afula auf dem Weg von Jerusalem zum See Genezareth

      © Felix Zimmermann
      Durch Israel mit dem Bus fahren, nur mit dem Bus, durchs ganze Land. Erleben, wie unbegründet das Stirnrunzeln ist, das so ein Vorhaben in Deutschland auslöst. Alle fahren Bus in Israel. Schnell wird man Teil davon und drängelt mit in der Menschentraube, die trotz Platzkarten ungeduldig auf den Einstieg wartet. Manchmal sticht einen dabei ein Gewehrlauf in die Seite; aber daran gewöhnt man sich.

      Israelische Busse, das sind fast immer die grünen Wagen des Unternehmens Egged. Auf der Seite tragen sie ein weißes geflügeltes Aleph, den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, mit dem das Wort Egged beginnt. Für uns sieht er aus wie ein X. Man sieht das Logo häufiger als die israelische Flagge, und die sieht man oft. Die Egged-Zentrale hat ausgerechnet, dass auf täglich 44.957 Fahrten 810.500 Kilometer zurückgelegt und mehr als eine Million Menschen transportiert werden. Das entspricht einem Sechstel der Bevölkerung.

      Meine erste Etappe führt von Jerusalem im Zentrum des Landes zum Badeort Elat am Roten Meer, dem südlichsten Punkt. Der Busbahnhof sieht wie eine Festung mit Schießscharten aus. Reinzukommen dauert wegen der Sicherheitskontrolle. Wer drinnen ist, fährt wenig später auf der Rückseite wieder hinaus. Durch das Busfenster sehe ich die Altstadt, die goldene Kuppel des Felsendoms glänzt in der Sonne. Jerusalem blendet, so hell ist der Stein, aus dem die Häuser gebaut sind. Dann geht es in den Tunnel unter dem Ölberg hindurch. Auf der anderen Seite beginnt schon das judäische Bergland. Israel, so karg, wie es in weiten Teilen ist.

      Die Straße in Richtung Totes Meer schlängelt sich ins Jordantal hinab. Es ist Frühjahr, noch sind die Hügelkuppen von grünem Flaum bedeckt, bald kommen die heißen Tage, und alles wird braun und schroff sein. Auf der linken Seite liegen einige der jüdischen Siedlungen, die seit dem Sechstagekrieg im palästinensischen Westjordanland entstanden sind. Längst ist diese Straße eine sichere Passage durch das besetzte Gebiet, kürzlich wurde sie vierspurig ausgebaut. Beduinenhütten huschen am Fenster vorbei. Dann ein Schild. Es zeigt an, dass hier die Straße den Meeresspiegel unterschreitet. Daneben in der Sonne steht Israels berühmtestes Kamel. Sein Besitzer ruht im Schatten einer Palme. Er verdient an Reisenden, die sein Tier mit dem Schild fotografieren.

      Am Sabbat fallen die pulsierenden Busbahnhöfe plötzlich in Schlaf

      Immer schlucken, um den Druck zu lösen, der sich bei der Fahrt auf 400 Meter unter Normalnull auf die Ohren legt. Jericho ist links zu sehen, die älteste Stadt der Welt, dann das Tote Meer. Fahl liegt es da, dunstig und blass, drum herum rotbraune Felslandschaft. Der tiefste Ort der Erde! Einige Kilometer weiter wird die Tragödie sichtbar, die über diesem Ort liegt. Ein Traktor fährt auf einem asphaltierten Weg, er zieht mehrere Anhänger, in denen Menschen in Badekleidung sitzen. Vor einigen Jahren gab es den Weg noch nicht, denn hier begann schon der Strand. Doch weil dem Jordan das meiste Wasser entnommen wird, trocknet das Tote Meer allmählich aus. In 50 Jahren, sagen Experten, sei es vielleicht nur noch eine Pfütze.


      60 Jahre Israel Eine Bildergalerie »
      Im Bus treffe ich einen jungen Mann namens Stevenson. Er kommt von der Karibikinsel St. Martin, die ihm als Anhänger um den Hals baumelt. Er liebt seine Heimat, aber einen liebt er noch viel mehr: Jesus. Seinetwegen hat er seinen Job bei der Post aufgegeben und die weite Reise nach Israel angetreten. »Gott hat mir den Weg gewiesen!«, sagt er.
      Bis jetzt hat sein Gottvertrauen ihn nicht enttäuscht. In der Jerusalemer Altstadt erwähnte er einem orthodoxen Juden gegenüber Jesus, »unseren Messias«. »Der wurde richtig wütend, er hat mich beschimpft. Doch dann ging sein Herz auf.« Er lud Stevenson in sein Haus ein, dort durfte er zwei Monate wohnen. Jetzt ist er auf dem Weg nach Kairo, wo ein riesiger Christenkongress stattfinden soll. Danach will er von seiner Familie in St. Martin Abschied nehmen, um für immer in Israel zu bleiben.

      Elat, ganz im Süden. Israel grenzt hier an Jordanien, Ägypten und das schwappende Meer, ein paar Kilometer weiter beginnt schon Saudi-Arabien. So eng liegt das alles beieinander. Der Ort ist schnell gewachsen. In den Gründungsjahren Israels war er noch ein einsamer Strand am Rande der Wüste. Heute drängen sich Hotelburgen ans Meer, der Flughafen liegt mitten in der Stadt. Die Strandpromenade ist von Buden gesäumt, aus denen Räucherstäbchenduft strömt, es gibt die üblichen Souvenirs. Plastische Chirurgen waren offenbar bei vielen tätig, die hier unterwegs sind. Vor einer Bude, in der man mit Maschinenpistolenattrappen schießen kann, liegt ein Boxer mit gefletschten Zähnen.

      Ich bleibe nicht lange, ein ruhiger Ort soll es sein für die Nacht. Der Bus von Elat ans Tote Meer steht abfahrbereit. In tiefer Dunkelheit halten wir in En Gedi. Der wunderbare Kibbuz, ein immer blühender Fleck in der kargen Landschaft, ist ausgebucht. Aber die Jugendherberge nebenan hat noch Zimmer frei. Nach ruhiger Nacht früh aus dem Bett, israelisches Frühstück mit Oliven, Gurken, Frischkäse. Um 8.40 Uhr soll der Egged-Bus nach Jerusalem fahren. An der Haltestelle unten an der Straße sitzt ein Vater mit Tochter und Sohn. Sie kommen aus Süddeutschland und reisen drei Wochen mit Egged durchs Land. »Man muss viel warten«, sagt der Vater, »aber es geht.« Längst hätte der Bus da sein müssen, sie sind gelassen. Irgendwann wird er kommen. Plötzlich stehen sie auf. »Man kriegt so einen Egged-Blick«, sagt der Vater, und dann steht der grüne Bus mit dem weißen Aleph auch schon da.

      Im Busbahnhof von Jerusalem ist es voller als sonst. Wir haben Freitag, am Abend beginnt der Sabbat. In wenigen Stunden fährt kein Bus mehr. Zwar ist Egged kein religiöses Unternehmen, aber die Religiösen sind in Israel mächtig. Es wäre nicht ratsam, sie zu verprellen. Dann lieber 30 Stunden lang gar nicht fahren. Es ist ein Schauspiel, zu sehen, wie die sonst so pulsierenden Busbahnhöfe plötzlich in einen Dämmerschlaf fallen, bis sie am Samstagabend wieder erwachen und mit ihnen das ganze Land.

      Egged wurde 1933 als Zusammenschluss mehrerer kleiner Busgesellschaften gegründet und ist bis heute eine Kooperative. Der Name, hebräisch für »Bund«, geht auf den Nationaldichter Chaim Nachman Bialik zurück. Eine urzionistische Organisation, die ein Land zusammenhielt, das es noch gar nicht gab. Seit der Staatsgründung vor 60 Jahren hat Egged Israel mitgestaltet, auch dadurch, dass die Busse während der Kriege zum Truppentransport genutzt wurden und den Schützen als Hinterhalt dienten. Joske Harari ist 80 Jahre alt und Sohn eines der Gründer von Egged, ehemaliger Fahrer und langjähriger Vorsitzender der Kooperative. Er erzählt, wie er 1973 kurz vor dem Jom-Kippur-Krieg 2.000 Busse bereitstellen ließ, um die Soldaten schnell an die Front bringen zu können. Der damalige Stabschef habe ihm später gesagt, Egged sei »früher bereit gewesen als die Armee«.

      Überall, wo Israelis wohnen, fahren die Busse hin. Auch wenn es brenzlig wird wie in den besetzten Gebieten. Dann werden die Fahrzeuge eben mit schusssicherem Glas ausgestattet und fahren so durch Orte wie Hebron, Ofra oder Ariel, wo Siedler auf palästinensischem Land wohnen. 114 der insgesamt 3105 Busse sind gepanzert.

      Es ist Sonntagmorgen, die Woche beginnt. Im Busbahnhof riecht es nach den Hot-Dog-Würstchen, die sich nackt auf einer Warmhaltevorrichtung drehen. Soldaten sind auf dem Weg zurück in ihre Camps, überall sitzen sie, große Taschen neben sich. Angst und Stärke sind in Israel immer mit dabei. Ich nehme den Bus 963 nach Kyriat Schmona an der israelisch-libanesischen Grenze. Die Fahrt geht über die Autobahn 6, Israels modernste Straße. Kameras fotografieren die Nummernschilder der Autos, einige Tage nach der Fahrt kommt der Mautbescheid per Post. Die 6 ist auch eine Nahtstelle, sie führt am Westjordanland vorbei. Israelis und Palästinenser, getrennt durch eine hohe Betonmauer, davor blüht der Mohn.


      Neben mir sitzt Avital. Die Schläfenlocken hat er hinters Ohr geklemmt, auf dem Kopf sitzt ein Armee-Schlapphut. Während der Fahrt betet er, wippend und murmelnd, Verse aus einem abgegriffenen Gebetbuch. Dann knipst er sich mit dem Fotohandy. Avital ist unterwegs zu seiner Einheit auf dem Golan, an der syrischen Grenze. Dort kommt es immer wieder zu Zwischenfällen. Macht ihm das Angst? Nein, sagt er, »alles ruhig da oben – und so schön, das Land, das Gott uns gab«. Dann betet er weiter. In Tiberias steigt er um. Etwas später, in Tabgha am See Genezareth, verlasse auch ich den Bus. Eine Nacht am See, an jenem Ort, an dem Jesus mit ein wenig Brot und Fisch die 5.000 speiste. Eine schlichte Kirche erinnert daran.

      Der ganze Stolz des Egged-Museums ist das Modell Tepele, der »Topf«

      Die letzte Station meiner Reise ist ein Parkplatz in Holon, nicht weit von Tel Aviv. Hier liegt die Schatzkammer der israelischen Busfahrt: das Egged-Museum. Noach Slutsky ist der Schatzmeister, ein stämmiger Mann mit Halbglatze und rahmenloser Brille. Als Egged-Mitglied kümmert er sich um alle Gebäude der Genossenschaft, aber Busse sind seine Passion. Selbst sein Büro ist ein ausrangierter Bus. Hier sitzt Slutsky jeden Freitagvormittag vor Vitrinen, in denen er Busmodelle aus aller Welt aufbewahrt. Jüngstes Exponat: ein gelber Schulbus aus den USA. Den hat er vom letzten Urlaub mitgebracht.

      Draußen zeigt Slutsky Originale: die wuchtigen Ford-Busse aus den 1940ern mit langer Schnauze, rundliche Royal Tiger von British Leyland aus den 1960ern, Mercedes-Busse, die bei Egged von 1973 an fuhren und Proteste auslösten, weil die Zeit für deutsche Transportfahrzeuge in Israel noch nicht reif war. Slutskys ganzer Stolz ist der »Tepele«, das älteste Stück, gebaut in den 1930ern und so klein, dass Tepele – Topf – der passende Spitzname ist. Dieses Modell fand ein Kollege als Kiosk genutzt am Rande der Stadt Yahud. »Acht Monate lang haben wir ihn restauriert«, sagt Slutsky.

      Früher waren Egged-Busse blau-weiß, dann rot-weiß, seit einigen Jahren sind sie grün. Joske Harari, dem früheren Egged-Vorsitzenden, gefällt das nicht, aber er hatte nichts mehr zu sagen, als die Entscheidung anstand. Warum gerade grün? Slutsky zeigt auf den Parkplatz neben dem Museum. Das Egged-Depot für Zentralisrael. Da stehen viele Busse nebeneinander. »Es sieht schön aus, alles ist grün, dabei leben wir in der Wüste«, sagt Slutsky. Klingt fast so, als erfülle Egged nun auch den Auftrag des Staatsgründers David Ben Gurion, das dürre Land fruchtbar zu machen.

      Ich fahre über Tel Aviv zurück nach Jerusalem. Eine gute Dreiviertelstunde, der Bus windet sich die Berge hinauf. Vorbei an den Wracks von Armeefahrzeugen, die als Mahnmale am Straßenrand liegen. Sie erinnern an den Unabhängigkeitskrieg 1948, als sich Israels Armee den Weg nach Jerusalem erkämpfen musste. Jedes Jahr werden die Wracks mit Rostschutzfarbe gepflegt. Einige kamen kürzlich abhanden, weil sich mit Altmetall gutes Geld verdienen lässt. Schon im Unabhängigkeitskrieg fuhr Egged diese Strecke, mit dem frühen Modell eines gepanzerten Busses. Fensterklappen aus Stahl und schmale Luken machten ihn zur Festung. Auch er steht im Museum.

      Während wir fahren, überlagern sich die Bilder. Israel und Egged, damals und heute, alles wird eins. Der Bus ist voller Soldaten – wie früher, als es noch an die Front ging. Ein letzter Anstieg, eine letzte Kurve, dann erreicht der Bus Jerusalem. Mit Egged zu reisen heißt auch, durch die Geschichte dieses Landes zu fahren. Effektiv, meistens pünktlich, auf jeden Fall aber mit einem tiefen Einblick in die israelische Seele. Wie ein Schlund taucht die Einfahrt in den Busbahnhof auf. Dunkelheit. Dann gleiten die Türen zur Seite.

      http://www.zeit.de/2008/19/Israel-neu?page=4
      Avatar
      schrieb am 29.06.08 11:54:22
      Beitrag Nr. 30 ()
      #25 von Wasser_fuer_Alle 24.08.02 18:59:52 Beitrag Nr.: 7.200.807
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      Die Normalbürger haben heutzutage ein von den Medien und den entsprechenden Fachleuten ausgearbeitetes und exakt in sich geschlossenes Weltbild, das so beschaffen ist, dass keinerlei Fragen offen zu bleiben scheinen. Abstrakte Gebilde wie "die Wissenschaft", die "Pharmazie", die "UNO", der "Kapitalismus", der "IWF", das "System" etc. beherrschen das Bild. Jeder Normalbürger weiß, diese Institutionen sind jeder Bedrohung und jedem Problem gewachsen, sie sind für den Normalbürger sozusagen eine Art Mutterersatz, ein sanftes Ruhekissen, auf dem man sich nach getaner Arbeit niederlassen kann. "Die werden schon alles regeln". Der Normalbürger hat ein fast schon groteskes Vertrauen in abstrakte Institutionen, die die Welt schon retten werden. Alles sei unter Kontrolle. Auch steht für jeden Bürger fest, dass in Bezug auf die wirklich wichtigen Fragen unserer Zeit keinerlei Handlungsbedarf besteht, da ebendiese Institutionen schon einspringen werden und "ja ohnehin an den Lösungen arbeiten". "Es ist alles nur noch eine Frage der Zeit, bis "alle Probleme" gelöst sein werden" ist deren Devise. Auch denken die Bürger, daß es ihnen noch nie so gut ging wie heute, dass sie noch nie freier gewesen wären, dass sie noch nie so viele Rechte und noch nie einen so großen Wohlstand gehabt hätten. Somit ist für den Bürger klar, er hat nur seine Position im System zu erfüllen und alles werde gut.
      Doch es gibt auch solche Bürger, die sehen, dass nicht alles in bester Ordnung ist. Diese in der Gesellschaft gern gesehenen und von den Medien des öfteren als die großen Vorbilder gepriesenen Individuen möchten "mehr tun", sie möchten sich "engagieren", möchten "sozial tätig" sein, möchten "helfen". Sie sind diejenigen, die im Gegensatz zu allen anderen, die "nur" ihrer Arbeit nach gehen, "ehrenamtlich" "darüber hinaus" noch in verschiedenen Institutionen tätig sind: bei der "Caritas", bei den "Tierschützern", bei "Greenpeace", beim "roten Kreuz" oder als "Entwicklungshelfer in Afrika". Die restlichen Bürger können diese angesichts ihres Einsatzes nur bewundern - doch auch sie "tun "etwas"". Sie "spenden". Sie spenden für "die Armen", für "die Notleidenden", für "die Kriegsopfer, für "Nachbar in Not" usw.. So können sie nachts wesentlich besser schlafen, da sie ja "wissen", dass sie "etwas" getan haben.
      Der Bürger weiß, dank "Gentechnik", "Biotechnologie", "Computer", "New Economy", "Functional Food", der "neuen Technologien" und so weiter wird es diese Probleme in naher Zukunft nicht mehr geben. Es müssen mehr Nahrungsmittel produziert werden und bessere Agrartechnologien entwickelt werden, sonst kann man das Welthungerproblem nicht lösen, ist sich der Bürger sicher.
      Er sieht und hört in den Medien, wie emsig die internationalen Institutionen und "die Wissenschaft" an den Problemen arbeiten und hofft daher auf eine bessere Zukunft, auch für die Menschen in den Entwicklungsländern. Die Gentechnologie z. B. wird in seiner Meinung auch das leidige Problem der "vielen" "genetischen" Krankheiten lösen, auch "Krebs", "Aids" und andere Krankheiten werden damit in Zukunft besiegt werden. Auch die Autoindustrie entwickelt "in der Zwischenzeit" "treibstoffsparende Autos" mit "Katalysatoren", die "helfen", die Umwelt rein zu halten und weniger fossile Brennstoffe zu verbrauchen.
      Er ist sich hundertprozentig und unerschütterlich sicher, die besten und nur die besten Technologien werden von der Wissenschaft eingesetzt, um die Menschheit in eine gute Zukunft zu führen, doch er weiß aus den Medien auch, dass man hier Kompromisse schließen muss. Entweder - oder, beherrscht sein Denken. Entweder Auto oder Radfahren, Atom oder kein Strom, Arbeit oder gesellschaftliches Abseits, Kapitalismus oder Kommunismus, Demokratie oder Diktatur, das sind die Alternativen, die er kennt und keine anderen. Wenn es z. B. etwa bessere, umweltschonendere, technologisch fortgeschrittenere Fortbewegungsmittel als Autos mit Verbrennungsmotoren gäbe, so ist er sich unerschütterlich sicher, dann wären diese schon längst eingeführt, denn dann "hätten wir es ja "schon längst, das ist doch klar"". Kopfschüttelnd verfolgt er dabei die gelegentlichen Meldungen von "freier Energie Technologie" und grinst blöde vor sich hin, wenn er solches auch nur hört, denn er ist ja umfassend "gebildet" und "weiß" ja, so etwas kann nicht funktionieren, schließlich verfolgt er des öfteren im Fernsehen die anstrengenden Versuche der Autoindustrie und der Wissenschaftler, Wasserstoffmotoren u.ä. zu entwickeln und wie mühselig und höchst kompliziert das doch alles eigentlich ist. Jeder kleinste Erfolg muss teuer erkauft werden, und Wissenschaftler erklären die Problematiken genau und vertrösten auf die Zukunft. "In 10 Jahren werden wir......dann haben wir die technischen Voraussetzungen.......dann können wir eine Masseneinführung dieser Technologie in Angriff nehmen.....vorerst sind unseren technischen Möglichkeiten Grenzen gesetzt....wir haben das Potential ausgeschöpft....usw.. Aufgrund all dessen steht der "gute Staatsbürger" grundsätzlich auf dem Standpunkt, dass "diese Freie Energie Technologie Spinner besser "was vernünftiges" arbeiten" sollten. Er weiß, dass deren Betätigung "sinnlos" und "keine Alternative" ist, denn die Wissenschaft hat vor vielen Jahrzehnten ja beschlossen, dass es freie Energie Technologie, die er ja locker und nebenbei mit dem Perpetuum mobile gleichsetzt, nicht gibt. Für ihn sind diese Leute daher (esoterische) "Spinner", "Mystiker", abgehobene und weltfremde Querköpfe, die besser eingesperrt oder eingespart gehörten, damit sie "keinen Schaden" anrichten können.
      Er hingegen "weiß", er macht mit seinen Spenden, mit seinen "sozialen Aktivitäten", mit seinem "Engagement" das eindeutig Richtige. Und das ist ihm auch durchaus sein Geld wert, im "Kampf" gegen diese "Probleme", "Bedrohungen" und gegen diese "Krankheiten" u.a.. Er sieht, wie die Wissenschaft "kämpft", und unbewusst möchte er sie in diesem "Kampf" "unterstützen", für die richtige Seite, im Kampf für "treibstoffsparende Autos", "effektivere Medizin", "bessere Schulausbildung" usw., es könnte ja auch ihn selber "mit all diesen Problemen" einmal treffen.
      Diesbezüglich hat der Bürger also durchaus "Problembewusstsein" und aus einer "rationalen", "logischen" und "grundvernünftigen" Sicht "kann er ja nur Recht haben", das "weiß" er.
      Was jedoch "die Wirtschaft" betrifft, so ist sich der Bürger bewusst, die ist "zu kompliziert". "Solche Dinge" übersteigen sein Fassungsvermögen. Daher überlässt er das besser den Fachleuten. Diese haben den Durchblick. Dass die Währung stabil bleibt, dass es keine größeren Finanzkrisen geben kann, steht für ihn fest. Heute ist die Welt "vernetzt", so etwas "wie früher" gibt es nicht mehr, "diese Zeiten sind vorbei", "Friede, Freude, Eierkuchen", davon ist er felsenfest überzeugt. Daher legt er seine Vermögensplanung lieber in die Hände von "Experten", die ihm Aktien, Fonds, Versicherungen etc. verkaufen, für eine "sichere Zukunft". Diese vermehren sein Geld ohne sein Zutun, doch er weiß auch, dass das auch mit Risiko verbunden sein kann, weil es so mancher Bankberater ihm (noch) mitteilt. Lässt er sein Geld jedoch bei der Bank liegen, so ist er "auf der sicheren Seite", weiß er, es kann ihm nichts passieren. Schließlich gibt es ja den "Einlagensicherungsfonds". Er bekommt also "garantiert" sein Geld zurück, "was auch immer" passiert. Außerdem steigen Aktien "langfristig". Man darf "nur nicht verkaufen". So wird man "automatisch reich". So folgt er den Ratschlagen der Experten, und sein Geld fließt dahin, wo es am "produktivsten" "arbeitet" - also in die Entwicklungsländer, in Billigarbeit, Kinderarbeit, Ausbeutung, Kriegswirtschaft, Blut und Tränen. Die Folgen sind Outsourcing, Lohndumping, Stellen- und Sozialabbau, Mord. Doch davon ahnt er nichts, will er auch partout und unter keinen Umständen etwas wissen, denn "das" geht ihn nichts an, damit will er "lieber" nichts zu tun haben. "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Solange nur die Rendite stimmt, ist ihm egal, was "die Experten" mit seinem Geld machen. Ansonsten geht er auf die Barrikaden, der Herr Nachbar darf um keinen Preis der Welt mehr Rendite erzielen als er, sonst würde er ja "danebenstehen", sonst wäre er "der Dumme". Er kann nicht ertragen, wie andere finanziellen Erfolg haben und er nicht. Denn dann geht er sofort auf die Barrikaden und mutiert zum geldgierigen Tier, das um der Rendite willen an den Lippen des "Finanzberaters" hängt, jedes Wort einsaugt wie ein Verdurstender einen Tropfen Tau und sich jede noch so risikoreiche wie schwachsinnige Anlage andrehen lässt, wie z. B. "China Prosperity", "DER" "Fonds" für den "erfolgreichen" Anleger (Klorollenhersteller in China).
      Er wundert sich nur, warum ihm in der Wirtschaftswelt ein immer rauerer Wind um die Ohren pfeift, warum der Arbeitsdruck immer mehr ansteigt, warum seine Kollegen entlassen werden, warum ganze Abteilungen ins Ausland verlegt werden, wieso die Welt immer "härter" zu werden scheint. Er versteht es einfach nicht und schüttelt den Kopf. Eigentlich ist er ja gegen die "Globalisierung", aber "andererseits" läßt sich "der Fortschritt" "ja nicht aufhalten". Nur ein grenzenlose Wirtschaftswelt ist eine freie Welt, so weiß er aus den Medien, wenn nicht bewusst, dann zumindestens unbewusst. Auch dafür müssen Opfer gebracht werden, auch das ist Teil des Fortschritts. Manches mag ihm zwar nicht gefallen, doch letzten Endes geht es ihm hier, "in der goldenen ersten Welt", ja immer noch hunderttausend Mal besser als den armen Menschen in den Entwicklungsländern, die er täglich immer und immer wieder im Fernseher vor sich hinsiechen, leiden oder verhungern sieht. Daher beißt er die Zähne zusammen und sagt sich vor "Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit". Sinngemäß also "Arbeit macht frei", er kann sich nur nicht richtig so daran erinnern, wo er diesen Satz zum letzten Mal gehört hat. Das Heer der Arbeitslosen bestärkt ihn in dieser Ansicht und versetzt die Arbeitgeber in höchstes Entzücken. Lohndrücken und Arbeitsvertrag-Drücken fällt da schon leichter, auch "interessante" Arbeitsverträge, die vormalige Arbeitnehmer in "Selbständige" verwandelt, sind "beliebt".
      Wenn ihm der Arbeitsdruck und "das Leiden" dann doch zu groß wird, dann "flieht" der Bürger in "seine kleine Welt", "My Home is my Castle", denn "er muss sich ja auch einmal etwas gönnen". Er "gleicht" den Verlust seiner persönlichen Freiheit mit Konsumgütern aus. Das Konzept "Freiheit" hat er ja schon lange ad acta gelegt, von einigen "aufrührerischen Momenten" am Beginn seines Arbeitslebens abgesehen, aber das war ja eh nur das übliche "jugendliche Rebellentum". Und überhaupt gewöhnt man sich ja an alles, wenn man nur lange genug in der Scheiße sitzt, merkt man es nicht mehr. Doch irgendwie ahnt er dunkel und weit entfernt, eigentlich geht ihm ja etwas ab, etwas wichtiges, nur was? Um das zu verdrängen, verbringt er seine Freizeit mit dem Konsumieren von Drogen, Alkohol, Zigaretten, Essen, Sex, Pornografie, Gewaltfilmen, Fernsehen, mit Talkshows, Einkaufen, Handytelefonieren, Auto kaufen oder vorführen, etc.. Das "verschafft" ihm den "nötigen Ausgleich", er muss sich nämlich "ablenken", vor allem von sich selbst und dem Sinn des endlosen Produzierens und Konsumierens. Zur Ruhe kommen hieße ja nämlich, mit Problemen konfrontiert werden, von denen er nichts wissen will. Mit sich selbst kann er ja schon überhaupt nichts anfangen, deswegen hat er regelrecht Angst davor, mal aus seinem hyperaktiven Treiben herausgerissen zu werden und in die Lage zu kommen, nachdenken zu müssen. Zudem lebt er durch Ablenkung und Ersatzbefriedigungen wie o.a. seinen "Freiheitsdrang" aus. In Film und Fernsehen projiziert er sich selbst auf den Hauptdarsteller und erlebt dessen Abenteuer als seine eigenen Abenteuer. Dazwischendrin konsumiert er Subliminalwerbung und wird reizüberflutet durch kurzgeschnittene im Sekundentakt wechselnde "Clips", "Infopanels", "Sound Effects" und ähnliches. Dass all diese auf ihn auch nur den geringsten Einfluss haben sollten, lehnt er generell ab. Er schließt es von vorneherein aus. "Ich tue, was ich will", ich bin "mein eigener Herr", sagt er mit überzeugter, fester Stimme. Ich bin ich und sonst niemand. Dass es eine Tatsache ist, dass bei einer Wahl nach 10% der ausgezählten Stimmen die restlichen 90% der Bevölkerung mit 95%iger Sicherheit (anders ausgedrückt mit maximal +/- 5% Abweichung von der dann real eintretenden Stimmverteilung nachdem alle Stimmen ausgezählt wurden) vorhergesagt werden können, "glaubt" er entweder nicht, "misst dem keine besondere Bedeutung zu" oder hält es für "Zufall". Oder er glaubt oder besser gesagt nimmt es zur Kenntnis, macht sich aber eigentlich keine tieferen Gedanken dazu. "Es ist halt so, na und?" Mathematik ist aber auch nicht jedermanns Sache und überhaupt hat er dort in der Schule eigentlich nie aufgepasst. Dennoch glaubt er ernsthaft, er habe "eine freie Meinung". Auch glaubt er an "Pressefreiheit", "Meinungsfreiheit" und an die "Demokratie". Vor allem die freie Presse und der freie Buchhandel ist eines seiner Lieblingsthemen, "irgendwie" "weiß er" "die sind "ganz" wichtig". "Irgendwo" hat er das "schon mal" gehört. Dass er aber nie oder nur sehr selten ein Buch liest, und wenn, dann höchstens "Harry Potter" (= Anleitung zum Okkultismus, auch schon für die Kleinsten!) oder "Loveboat", scheint ihn nicht sonderlich zu stören. "Man hat "Wichtigeres" zu tun". "Der Lack hat schon wieder einen Kratzer", "Die Fernseher einen Strich", "Der Computer spinnt", Die "Dachrinne tropft", "Ich muss jetzt Big Brother sehen" etc..
      Seine Zielvorstellungen und seine Vorstellungen vom "sinnvollen Leben" reduzieren sich im Kern auf Produzieren und Konsumieren, auf das Erschaffen und Vernichten von Gütern und Dienstleistungen. Auf das Arbeiten und auf die Kompensation des Leidensdruckes der Arbeit durch Luxus, Bequemlichkeit, Ablenkung etc.. Als Motivation und für ihn "erstrebenswerte" Zielvorstellung kommen ihm dabei die zahlreichen Bilder über Luxus und Wohlstand in den Sinn, die er zu Millionen im Kopf hat. Er "weiß", wenn er "das alles" "erst" hat, "dann" ist er "wirklich" "glücklich" und dafür muss er sich anstrengen, dafür lohnt sich "die Arbeit". "Irgendwann", so glaubt er, "erreicht" er "es" "auch". Leider machen ihm wirtschaftliche Zwänge immerzu einen Strich durch die Rechnung, was er mit rücksichtsloserem Vordrängen in der Ellenbogengesellschaft und "intelligenten Taktiken" oder puren Egoismus "kompensiert", denn "von nichts kommt nichts", "ohne Fleiß kein Preis", "zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen". Leider macht ihm auch die Gesundheit zu schaffen. Der Arzt meinte, er solle nicht so "fett" essen, nicht so stark würzen etc., doch er weiß, einmal sagen die dies, einmal das. Heute sagen sie, Milch ist gut für die Knochen, und morgen schon sagen sie dass Milch Osteoporose auslöst. Man kann sich eben auch dort "auf nichts verlassen", das ganze ist "viel zu kompliziert", also überlässt er das Kapitel Gesundheit eben "den Fachleuten" wie Ärzteschaft oder Pharmakonzernen. "Die Ärzte" werden seinen Körper schon "reparieren" wie ein Klempner den Wasserhahn, denn "dazu" sind sie "ja schließlich" da. Auf sein "richtiges Essen" braucht er also nicht verzichten, "die" sorgen schon dafür, dass es ihm "gut geht". Notfalls legen sie einen Bypass, das zahlt dann die Krankenkasse. Ist zwar nicht billig, aber er hat ja "so lange" eingezahlt, "jetzt will er auch was dafür bekommen". So geht es auch mit seiner Gesundheit ständig und immer weiter bergab, trotz der "Fortschritte" der Medizin und aller tollen neuen "Technologien", trotz aller "Wunderpillen" und "Innovationen". Von Alternativmedizin will er nichts wissen, da "wirft man nur sein Geld hinaus" und überhaupt ist das "wissenschaftlich nicht anerkannt" und "Abzockerei". Heilpraktiker = Quacksalber, neulich gehört in "Medizin aktuell". Ich bin voll informiert!. Die Magnetmatten- und Glaspyramidenverkäufer sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst.
      So läuft und läuft er bis zur Pension, wenn er diese erreichen kann, wie ein Hamster in der Tretmühle oder die Ratte beim Rattenrennen. Der Kilometerzähler der Hamstermühle bzw. der Kilometerstein am Straßenrand der Rattenstrecke ist sein Antrieb und seine Motivation, "so weit" ist er "schon gekommen", hat er es "gebracht". Andererseits aber macht er sich immer noch Hoffnung, dass er "es" doch noch erreicht, "die Hoffnung stirbt zuletzt". Die, die von vorneherein der Meinung waren, dass es in dieser Gesellschaft in diesem System unglücklicherweise nur den Reichen vergönnt ist, in Saus und Braus zu leben und "alles" zu haben, die "linken Terroristen", "Anarchisten", "Steinewerfer" usw., für diese hat er nur Verachtung übrig. "Das sind Parasiten der Gesellschaft die nichts arbeiten, nur herumgammeln, morden, klauen und stehlen und dem Staat viel Geld kosten, wenn sie protestieren gehen und deren Weltbild, hah, das verdient den Namen ja nicht mal. Und deren Theorien... - wissenschaftlich ja nicht anerkannt und jeder Wirtschaftsfachmann kann darüber nur lachen. Die sollen gefälligst was arbeiten und wenn sie nicht wollen, dann muss man sie eben zwingen (Zwangsarbeit). Denen gehört jede Unterstützung gestrichen (sollen verhungern) oder gleich einsperren (KZ)" [Anm.: Solche wie die Tute Bianche]. Gute, fleißig arbeitende, völlig verdummte und extrem oberflächliche Mittel- (oder darunter)standsignoranten wie Zlatko hingegen verdienen Respekt. "Deutscher Fleiß und deutsche Gründlichkeit" - "Arbeitet und denkt nicht, denn Arbeit macht frei". Insgeheim ein Vorbild, man sieht ja, Zlatko hat es zu "etwas" gebracht. Wenn solche wie Zlatko es schaffen können, dann kann er es doch auch. "Man sieht, auch als ignoranter, unwissender Vollidiot kann man es durchaus zu etwas bringen" ist die tolle Botschaft, die aus den Flimmerkästen im Halbschlaf des Alphawellenrhythmus in die Gehirne einsickert, ebenso wie Botschaften wie "nichts wissen macht auch nichts", besser "nichts wissen und gut leben". Zudem "sieht man", "macht es ja nichts", "überwacht zu werden". Man kann "auch so" "gut" "leben". "Hauptsache mir geht`s gut". Wie beruhigend, dass die Erkenntnisse der überaus erfolgreichen Psychohygiene und Gleichschaltung aus dem dritten Reich sowie die Erkenntnisse der gesamten psychologischen Forschung bis heute dazu benutzt werden, den Bürgern über den Volksempfänger und neuerdings auch schon über ELF Sendeanlagen (man geht mit der Zeit!) nach allen Regeln und Möglichkeiten der Kunst derart vorteilhafte Ideologien und Ideen in den Kopf zu hämmern, oder besser gesagt, still und leise einzuflößen - jeden Tag hundertmal jenes Sätzchen und dann wieder dieses Sätzchen und dieses Bild und diese Botschaft und alles schön subliminal und still und leise. Macht im Jahr X tausend Manipulationen .....und nach X Jahren X zehntausend usw...... und irgendwann hat man die Bürger zu völlig verblödeten, oberflächlichen Ignoranten modifiziert, die strebsam Arbeiten, die Klappe halten und das noch ernsthaft für "das Leben" halten und sich artig bedanken, wenn sie einmal im Jahr Urlaub machen können, Billigurlaub in Griechenland, "zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit", wie es im Gesetz heißt.
      Der Lebenssinn? - Funkstille, Rauschen im Äther - . Generell beschäftigen sich die Bürger lieber nicht mit Fragen "wie diesen", mit Fragen über das Leben oder den Tod oder dem Sinn des ganzen wahnsinnigen Treibens, solange es sich irgendwie verdrängen lässt. Insbesondere die Frage nach dem (Lebens-)Sinn ist irgendwie unangenehm, nur warum, das scheint der Bürger nicht so genau zu wissen. Aber ansonsten "weiß er ja eigentlich alles", er ist "umfassend gebildet", "Fernsehen bildet" ja bekanntlich. Er hält es daher auch nicht für nötig, sich "darüber hinaus" noch zu informieren, das ist ja auch "nicht nötig", er ""weiß" ja "schon" "alles"". Und er "weiß" auch, dass er alles "weiß". Zumindest "das Wichtige", das, was man "zum Leben" braucht, das, was aus den Medien stammt. Doch gegenüber den Medien hat er keine Vorbehalte, denn die "decken ja auch auf" und "verändern damit die Welt" positiv, bringen die "schonungslose Wahrheit". Nur bei Prinzessin Diana vergoss er eine Träne. Die bösen Paparazzi! Die arme Prinzessin!
      Die Wahrheit ist das, was alle glauben. Außerdem ist nicht wahr, was nicht wahr sein darf. Dazu gehören unter anderem auch Dinge wie diese "Hypothesen" von der Umverteilung von arm nach reich durch "die Zinsen", mit denen sich der Normalbürger entweder gar nicht oder nur äußerst oberflächlich beschäftigt. Wie ein Reicher leistungslos immer mehr Geld bekommt und jede Nacht während er schläft Geld "erwirtschaftet", für das er selbst monatelang arbeiten muss, das ist für ihn "ein Mysterium" der "hochkomplexen Wirtschaft", ein "unlösbares" "Paradoxon". Ungerecht findet er es "ja eigentlich", aber die Welt der Reichen ist "sowieso" für ihn "unverständlich", damit hat er "nichts am Hut" und eigentlich ärgert es ihn, sich "darüber" Gedanken zu machen, daher macht er sich "lieber" keine. Er "wundert" sich nur, "woher" die das Geld bekommen. Er lässt jedoch bald schon davon ab, diese Frage weiterzuverfolgen, denn "das" "ist "eben" zu kompliziert". So "wundert" er sich dann auch, warum die Staatsschulden vorne und hinten explodieren, wieso die Sozialleistungen vorne und hinten gekürzt werden und er immer mehr Geld "an den Staat" verliert. Laut ruft er "Steuersenkung!" oder die "Lohnnebenkosten" sind zu hoch! Am selben Tag tritt im Fernsehen ein Multimillionär von einem Politiker ans Rednerpult und brüllt mit klarer, fester, schneidender Stimme: "Fusionen bringen Arbeitsplätze!!! Wir müssen rationalisieren! Der Staat hat sich nicht mehr in die Wirtschaft einzumischen! Die Überregulation muss ein Ende haben! Lasst uns den Staatsinterventionalismus zu Grabe tragen! Der freie Markt garantiert den Wohlstand!". Alle klatschen. Dann fühlt auch er sich besser - es gibt halt noch die "Ehrlichen, die "Guten", und für einen Moment fühlt er sich erleichtert von seiner Wut "auf die bösen Nichtstuer und Sozialschmarotzer", gerade so, als ob er noch jung wäre und die Katze am Schwang gezogen hätte. Der hat es denen gegeben, recht hat er, die sollen "bloß arbeiten"!
      Angesichts seiner Überforderung mit "solchen" Dingen geht er dann dazu über, die "bösen" Ausländer anzugreifen. Oder auch die Politiker, die "bösen Konzerne", die "verdammten Sozialschmarotzer", die ""überhöhten"" Sozialausgaben", die "ständig kranken Hypochonder", die ""verwöhnten" Leute, "denen es viel zu gut geht"". Nichtsdestotrotz hat er immer noch genug Geld, um "mobil" zu telefonieren, auch für die ISDN Standleitung hat er noch Geld, "denn die braucht man", schließlich schreibt er dann und wann lustige 1,5 Kilobyte große Emails an seine Freunde bzw. lädt sich Pornos aus dem Internet herunter. Gerüchten, dass man beim Handytelefonieren sein Gehirn mit krebserregenden Wellen bestrahlen könnte, traut er nicht über den Weg. Diejenigen, die solche Thesen verbreiten, hält er für "Spinner", für "Leute, die von Technik nichts verstehen" oder für "zarte hypochondrische Mimosen, denen es "eben" zu gut geht" oder die "zu wenig" arbeiten, sodass sie auf "so dumme" Gedanken kommen. Richtige Techniker können darüber nur lachen! Überhaupt ist das alles erstunken und erlogen und beruht "einzig und allein" auf dem "Placeboeffekt", denn negatives Denken schadet ja bekanntlich, das sieht man ja. Kaum ist so eine Antenne mal auf dem Dach (auch wenn die Leute nichts davon wissen), klagen schon einige (die Elektrosensiblen, aber das ist natürlich erfunden) über Müdigkeit, Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Schlaflosigkeit, Depressionen, Unruhe und die Krebsrate steigt, "auf wundersame Weise". Natürlich kann dazu "keine kausale Verbindung" hergestellt werden, denn Strahlung schadet bekanntlich nicht, wenn sie nicht stark genug ist, um das Gewebe zu erhitzen. Das ist bekanntlich der neueste wissenschaftliche Stand, zweifelsfrei bewiesen. Die "Wissenschaft" alias "die Mobilfunkbetreiber" haben das "zweifelsfrei" mittels "großangelegter" "repräsentativer" "Studien" bewiesen. Jeder, der etwas anderes sagt, ist also ein Dilettant, denn nichts ist unangreifbarer als die ehrliche, unbestechliche und stets ausschließlich der Wahrheit verpflichtete Wissenschaft. Dass sein handyvertelefoniertes Geld "nebenbei" für den Ausbau einer totalitären Überwachungsinfrastruktur eingesetzt werden könnte, mit der letztlich jeder Bürger in der Zukunft kontrolliert werden wird, interessiert ihn eigentlich nicht wirklich. "Na und? Was juckt es mich wenn die mehr wissen als ich über mich selbst". Überhaupt sind solche "Szenarien" "Fantasien" von "Spinnern". Wir leben ja in einem "freien Land" und nichts gilt höher als die "individuellen Rechte". Auch die großflächige Bestrahlung der Bevölkerung, Kinder, Alter, Kranker und Schwacher sowie der Tier und Pflanzenwelt mit krankheits-, stress- und krebsauslösenden Wellen sind alles haltlose Phantastereien. "Kristallklare Sprachqualität" geht "nun mal" vor. Man muss "für den Fortschritt" Opfer bringen und wenn diese auch noch so groß sind, das ist so wie in der Medizin, wo inzwischen offensichtlich Verrückte ungestraft Frankenstein - Ersatzteillager anlegen können - das ist eben Fortschritt. Nur so kommt die Menschheit weiter. Die Kirche kann dazu nur überzeugt sagen: "Seid glücklich und vermehret euch" (auch in der Dritten Welt). Schwach werden "Eingriffe in die Keimbahn" kritisiert, leider weiß dort aber anscheinend keiner, was die Keimbahn ist, denn mit Dingen, die unter dem Gürtel liegen, wollen die ehrenwerten violett gekleideten Eminenzen auf ihren Geldbunkern, Schlössern und Kunstschätzen aus dem zweiten Weltkrieg und jahrhundertlanger Ausbeutung, Massenmord, Verdummung und Völkervernichtung (und vieler vieler anderer Dinge mehr) wohlweislich nichts wissen, denn sie sind zu "höherem" verpflichtet und viele schweben abseits von der realen Welt in selbstgewählter Klausur und philosophieren über kirchentheoretische Fragen. Ansonsten geben sie sich "säkularisiert" und weltoffen, insbesondere in unstrittigen Punkten, wie zum Beispiel dem Telefon. So macht es nichts, wenn Kirchtürme in Mobilfunkmasten umfunktioniert werden, denn das Telefon ist das Telefon und ganz eindeutig nichts Böses. Außerdem findet sich in der Kirchenbibliothek seltsamerweise kein Buch über Handystrahlung, woraus sich in zwingender Notwendigkeit die Schlussfolgerung für die Kirche und ihre weisen, sich immer gewählt ausdrückenden Vertreter ergibt, dass daran nichts schädliches liegen könne und der Teufel sicherlich nichts mit dem Telefon zu tun hat. Überhaupt ist es sehr bequem, wenn sich die Landbarone und Lehnsherren auf ihren Schlössern auf diese Art und Weise verständigen und miteinander streiten können - siehe einen gewissen Bischof Kurt Krenn - welcher die Kirche in einige verfeindete Gaue gespalten hat, die sich gegenseitig vorwerfen, nicht fromm und päpstlich genug zu sein bzw. die sich uneinig sind, wie sie sich angesichts des wütenden Ansturms von schwarzen Schafen, die es wagen, die Sexualität zum Thema zu erheben (=Gotteslästerung, die mit dem Feuertod bestraft werden muss, was aber leider nicht mehr so einfach ist wie vor einigen Jahren), verhalten sollen. Dazu gibt es auch ein schönes Bibelquiz auf www.systemfehler.de zu bestaunen, womit sich der Bibelkenner vom gemeinen, analphabetisch begabten Bürger sehr schnell unterscheiden läßt, denn nur gute Kirchenmänner wissen hier die Antworten!
      Doch zurück zu fortschrittlicheren Themen und zu unseren guten, edlen, noblen, gebildeten, intellektuellen "Bürgern". Auch im Internet verhalten sich diese genauso fortschrittlich wie anderswo. Der Bürger hat es sich zur "guten Gewohnheit" gemacht, mit seiner richtigen IP Adresse auf den einschlägigen Seiten zu "surfen" und hat auch immer den Hotkey bereit, um den Bildschirminhalt verschwinden zu lassen, falls zufälligerweise Gott oder seine Frau durch die Türe tritt, denn man muss auf alles vorbereitet sein und wir wollen das jüngste Gericht ja nicht vorzeitig starten lassen. Auch füllt er wahrheitsgemäß alle Fragen in diversen Formularen, die meistens mit intelligenten, aber auch diskreten Fragen, wie z.B. nach den ersten 4 Ziffern der Kreditkartennummern (bei Lycos zu bestaunen) aus, und seien sie wie gesagt auch noch so dämlich oder privat, schließlich macht es ja nichts, wenn "die Firmen" oder "sonst jemand" "alles" über ihn wissen, so bekommt er "wenigstens" die "Mails", die seinen vorrangigen Interessen (Männer: Fußball / Autos, Sex, und der Rest; Frauen: Klamotten, Diamanten, Parfüms, Luxus, mächtige Männer (genetisch bedingt!) (auch wenn sie hässlich sind), und zuletzt Sex, was die Männerwelt EXTREM freut) entsprechen oder die "richtigen Magazine". So wird über ihn in einem Militärbunker in den USA ein vollständiges Datenprofil angelegt mittels militärischen, hochentwickelten Programmen (Echelon - Projekt), die von den besten und hochbezahltesten Fachleuten auf diesem Gebiet entwickelt wurden. Diese ermitteln mittels auf Computerprogrammen basierender künstlicher Intelligenz und raffinierten Vergleichsmethoden Daten über ihn und dann wird, unter Einbeziehung einer größeren Anzahl weiterer Daten, wie z. B. Handy oder Kreditkartenbewegungsprofilen oder Geheimdienstdaten, ein exakt zutreffendes Profil über ihn erstellt, das dann in die Rasterfahndung gegen "Systemkritiker und andere Terroristen" mit einfließt. So können Systemkritiker von "guten Bürgern" "wie ihn" separiert werden, deren "mit Sicherheit" "finstere Pläne" vereitelt und diese "Terroristen" "endlich unschädlich" gemacht werden, damit er sich nicht mehr vor ihnen zu fürchten braucht; denn er sieht ja regelmäßig Aktenzeichen XY und ist daher "voll" informiert.
      So geht die Abwärtsspirale für unseren guten Staatsbürger weiter, und je schlimmer die Zustände werden, desto mehr wird er radikalisiert, er geht zu den Nationalsozialisten, den Linken, den Grünen, den Kommunisten oder zu den Okkultisten oder gar zu den Schwarzmagiern.
      Sein Nachbar, ein "ganz seltsamer", redet in dieser Zeit vermehrt vom "kapitalistischen System", von "Zinsen", von "logischen Folgen" usw.. Er gibt ganz verrückte Sachen von sich und redet wirres Zeug, wie z. B. dass man jetzt sein Vermögen "richtig" anlegen sollte in Gold und Silber und besser keine langfristigen Verbindlichkeiten oder Versicherungen haben sollte. Natürlich kann der gute Staatsbürger darüber nur "milde lächelnd" den Kopf schütteln und vor sich hin grinsen... Gold und Silber ist doch eigentlich kein "richtiges" Geld mehr! Und überhaupt, da hat man ja "überhaupt keine Rendite und kriegt keine Zinsen", das Geld "faulenzt" sozusagen. "Mein Geld aber soll arbeiten!!!"
      Über den Spinner sagt er: "Wie kann man bloß soooo dumm sein????" oder "Was es nicht alles für Leute gibt...".. "Den Leuten geht es "eben" viel zu gut".
      Eines schönen Tages kommt dann eine Wirtschaftskrise und trifft ihn und "alle anderen" (bis auf die Superreichen und einige Vorbereitete), aus heiterem Himmel, "völlig unvorhersehbar" und völlig überraschend. Er verliert seine ganzen Ersparnisse, die Bank hat "zufälligerweise" geschlossen, die Währung ist hyperinflationiert, seine langfristigen Kredite (z. B. auf die Wohnung) und sonstigen Verbindlichkeiten platzen, sein Vermögen wird von der Bank zwangsgepfändet und seine Schulden bleiben hundertfach erhöht bestehen. Damit verliert er "alles", auch sein ganzes Weltbild von der glücklichen, reichen, schönen neuen Welt und so beginnt er zum ersten Mal in seinem Leben nachzudenken. Da erinnert er sich an seinen Nachbarn, diesen komischen Kauz mit den sehr sehr seltsamen Ansichten, über den er insgeheim immer gelacht hat. Er erinnert sich, warnte ihn dieser vor einiger Zeit nicht davor, er solle sein Geld bloß nicht in Aktien und Versicherungen anlegen, er solle schnellstens seine Schulden tilgen und besser Gold und Silber kaufen??? Ja, so war es doch! Der hat also davon gewusst! Der wusste es und hat mich nicht gewarnt, der ist jetzt reich geworden damit, und ich habe alles verloren!!!! So ein Dreckschwein!!!! Schnell beendet er seine theoretischen Überlegungen und schreitet mit den vielen anderen arg gebeutelten "guten Staatsbürgern" seiner Nachbarschaft zur Tat. Der komische Kauz wird von marodierenden Horden endgültig außer Kontrolle geratener Bürger am nächsten Baum aufgehängt, im "Namen der Gerechtigkeit". Danach fühlt er sich wieder besser, schließlich "hat er ja "eigentlich" "nur" einmal zugeschlagen". Im darauf folgenden Bürgerkrieg verliert er sein Leben, er stirbt heldenhaft "im Kampf", und mit ihm seine ganze endlose, unendliche, unbeschreibliche, himmelschreiende Dummheit, Arroganz und Ignoranz, zum höchsten Glück der gesamten lebendigen Schöpfung und aller denkenden und fühlenden Lebewesen.
      Avatar
      schrieb am 19.07.08 08:48:43
      Beitrag Nr. 31 ()
      Rätselhafter Einsiedler
      Der Eremit von Cap Martin
      Er lebte neben seiner verwesenden Mutter, trug das Haar drei Meter lang. Die französische Polizei hat nahe dem Fürstentum Monaco einen Einsiedler entdeckt.



      Cap Martin ist ein malerischer Ort neben dem Fürstentum Monaco. Friedlich verbringen hier vor allem ältere, wohlhabende Menschen ihre Tage. Therèse Pagès war einer von ihnen.

      Ihre Leiche wurde am 7. Juli entdeckt. Die 76 Jahre alte Frau war in ihrem Sessel sitzend gestorben. Als die Feuerwehr von Nachbarn alarmiert nach dem Rechten schaute, machte sie eine unglaubliche Entdeckung.

      Die Rentnerin lebte zusammen mit ihrem Sohn. Seit mehr als dreißig Jahren versteckte er sich in dem Haus, einige Schritte vom Mittelmeer entfernt, und lebte als Eremit. Völlig verwahrlost, mit drei Meter langen Haaren, in beklagenswertem hygienischen Zustand.

      Seit der Wahl von Giscard d’Estaing im Jahr 1974 hat Michel Pagès die Sonne nicht mehr gesehen. Mit 17 Jahren beschloss der schüchterne Junge, sich vor der Welt zu verschließen.

      "Heute morgen habe ich noch mit ihr gesprochen"
      "Im Haus stank es bestialisch", schilderte der erste Feuerwehrmann, der das Haus nach dem Tod der Mutter betrat, seine Eindrücke. Er stieß auf einen abgemagerten Mann im T-Shirt, mit verdreckter Unterhose und Pantoffeln. Hinter ihm die tote Mutter, die Beine bereits im Verwesungszustand. "'Ihre Mutter ist tot', sagte ich zu ihm. Er antwortete: 'Ach ja? Heute morgen habe ich noch mit ihr gesprochen.'"

      Seit seiner Entdeckung schirmen die Behörden den Eremiten von der Öffentlichkeit ab, er wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Warum sein selbst gewähltes Schicksal nicht früher bekannt wurde, gibt weiter Rätsel auf. Nachbarn sahen den Mann gelegentlich, wenn er sich mitten in der Nacht in den Garten setzte.

      "An einem Tisch, ein Glas Wasser in der Hand", berichtete einer von ihnen. "Zu seinen Füßen lag ein Haufen Haare. Ich dachte, es wäre ein schlafender Hund. Aber es waren seine eigenen Haare." Wenn er die wenigen Schritte die Treppe in sein Zimmer hochlief, wo er sich von zwei Fernsehern berieseln ließ, musste er seine Mähne zusammenwickeln und in der Hand tragen.


      Beträchtliches Erbe

      Seine Mutter wurde als "ideale Nachbarin" beschrieben. Freundlich, unauffällig. Besuch empfing sie nie. "Sie hat ihren Sohn verheimlicht", sagte Mireille Fasiolo vom Sozialamt der Stadt der Zeitung Libération. "Hätten wir von seiner Existenz gewusst, hätten wir uns um ihn gekümmert." Seit Michel Pagès mit 14 Jahren die Schuler verließ, ist er in Vergessenheit geraten. Der Vater, der vor mehreren Jahren starb, habe ihn oft von der Schule abgeholt, berichtete der Beamte.

      Die Verwandtschaft ist er jetzt wieder auf ihn aufmerksam geworden, berichtete Libération am Donnerstag. Der Grund: Es geht um ein nicht unerhebliches Erbe. Das zweistöckige Haus seiner Großeltern, in dessen Garten man das Rauschen des Mittelmeeres hört, ist rund 700.000 Euro wert. Zudem wird ein großes Barvermögen vermutet. Der Vater hatte einen hoch dotierten Job, und seine Frau und sein Sohn haben so gut wie kein Geld ausgegeben.

      (AP/Tobias Schmidt/mmk)
      Avatar
      schrieb am 20.09.08 16:26:36
      Beitrag Nr. 32 ()
      Quelle Sueddeutsche Zeitung

      Leben im Alter
      Ausgedient
      Nach jahrzehntelanger Schufterei in fremdem Dienst sind sie endlich Herren ihrer selbst - die Knechte und Mägde im Dienstbotenheim im schweizerischen Oeschberg.
      Eine Reportage von Marcel Burkhardt


      Anton Haslebacher könnte ausschlafen, tagsüber in der Sonne liegen, abends fernsehen und ein Glas Wein trinken. Doch wenn einer dem 69-Jährigen mit so einem Vorschlag kommt, dann blickt er fast grimmig drein und schüttelt den Kopf.

      Anton Haslebacher will aufstehen, wenn alle anderen noch schlafen, und sich um die Kühe kümmern, so, wie er das fast sein "Läbtig lang" gemacht hat.

      Es ist Viertel vor fünf, das Tageslicht nur zu erahnen. Haslebacher, breite Schultern, kräftige Arme, derbe Hände, wischt sich den Schweiß von der Stirn, fährt eine schwere, mit dampfendem Kuhdung bepackte Karre aus dem Stall, quer über den Hof, am mächtigen Walnussbaum vorbei, mit Schwung auf den meterhohen Misthaufen hinauf.

      Fünfe gerade sein lassen, vielleicht hat er davon mal geträumt als junger Mann. Aber der Bauer, für den er jahrzehntelang geschuftet hat, hätte ihm was erzählt. Haslebacher eilt zurück. Er hat keine Ruhe in sich, solange er einen Berg Arbeit vor sich sieht. Er muss Ulrike, Anja, Sina und die fünf anderen Kühe versorgen. Sie brauchen trockenes Stroh unter die Hufe, frisches Futter in die Tröge. Haslebacher muss ihnen die schweren Glocken umhängen, das Fell striegeln, die Euter reinigen. Um halb sechs kommt der Chef zum Melken.


      Die Würde des "braven Gesindes"
      Der Chef, das ist Alexander Nägeli (60). Gelernter Landwirt, ein großer, stiller Mann. Seit 22 Jahren leitet er gemeinsam mit seiner Frau Verena das Dienstbotenheim Oeschberg in Koppigen, einem Dorf unweit von Bern. Zurzeit finden 45 alte Knechte und Mägde hier nach jahrzehntelangem Schuften auf Schweizer Bauernhöfen ein letztes Zuhause.

      Das einzigartige Altenheim gibt es seit mehr als 100 Jahren dank einer Spende der wohlhabenden Geschwister Elise und Ferdinand Affolter. Ihre Porträts hängen heute an einem Ehrenplatz. Es heißt, dass sie ein Herz hatten für Menschen in Bedrängnis. Ihr letzter Wille war es, ein Heim für "das brave Gesinde" zu schaffen, verbunden mit einem landwirtschaftlichen Betrieb. Knechte und Mägde sollten in Würde altern können.


      Die Hausordnung von 1906 gilt im Wesentlichen bis heute. Sie hängt, in gotischer Schrift gedruckt und in 22 Paragraphen gegliedert, gleich neben der Haustür des Haupthauses: Jeder, so ist dort festgehalten, hat Anspruch auf ein eigenes Bett, Gemeinschaftsduschen und -toiletten befinden sich auf dem Gang. Paragraph 10 verbietet, im Haus auf den Boden zu spucken. Wer "tubaken" will, muss an die frische Luft oder in die Scheune. Täglich vier Mahlzeiten schreibt die Hausordnung außerdem fest: "Die Kost ist einfach, aber reinlich und schmackhaft zubereitet."

      Zum Frühstück gibt es Brot, Marmelade und frisch gemolkene Milch. Aus der Küche duftet es nach Rösti und Kaffee. Punkt sieben läutet einer die Glocke. Jeder geht an seinen festen Platz und isst stumm sein Brot. Früher saßen sie auch mit vielen am Tisch, aber wenn einer gesprochen hat, dann war es der Bauer. Nach einer knappen halben Stunde steht Alexander Nägeli auf, faltet die Hände ineinander und spricht für alle laut das Gebet: "Für Spys u Trank u ds täglech Brot, mir danke dir o Gott." Das Signal zum Aufstehen.

      Die Kostgelder in Oeschberg sind konkurrenzlos günstig. Alle Bewohner können sie mit ihren Renten aufbringen. Wer tüchtig mitarbeitet, bezahlt etwas weniger, rund 65 Franken (circa 40 Euro) pro Tag. Wer weniger arbeiten mag oder mehr Pflege braucht, zahlt umgerechnet 53 Euro. Dank der Kostgelder, der Erträge aus der Landwirtschaft und der Pacht aus 35 Hektar Land ist das Heim finanziell unabhängig. Elf Hektar Land besitzt das Gut, dazu sechseinhalb Hektar Felder, auf denen Kartoffeln, Gerste und Weizen wachsen. Außerdem 60 Obstbäume, eine Beerenplantage, den Gemüsegarten, Rinder, Schweine, Kaninchen und Hühner.

      Keiner wird in Watte gepackt
      Weil die alten Männer und Frauen hier ihren Alltag weiterleben und eine bodenständige Arbeit verrichten können, ist der Wechsel vom Bauernhof ins Dienstbotenheim kein tiefer Einschnitt, sondern vielmehr der Antritt einer letzten Stelle. Keiner wird hier in Watte gepackt. Es gibt auch keine stundenlangen Diskussionen über die Gebrechen des Alters, über Unbeweglichkeit, Pillencocktails, das Sterben. Kein Gejammer über zu geringe Renten. Keiner ertrinkt in Selbstmitleid oder rezitiert aus Langeweile das Fernsehprogramm. Dafür sind sie hier viel zu ausgefüllt mit Leben und Aufgaben, die sie lieben.

      Jeder, der kann und will, bekommt sein "Ämtli". Ohne ihr Mittun würde wenig laufen auf dem Gut, das wissen die Alten, und das macht sie zufrieden. Vroni Staub bügelt den ganzen Vormittag in der Waschküche. Rosmarie Kuhn legt die Kleider zusammen. Vreni Gurtner kocht. Willi Ulrich pflückt draußen die reifen Beeren, die im Sommer am Straßenrand verkauft werden. Der alte Mann, 74, aus dem Berner Oberland zupft jedes "Beeri" behutsam vom Busch. Die Plantage ist sein Reich, bei Wind und Wetter.

      Graue Wolken ziehen tief über das Land, es hat begonnen zu regnen.
      Für keinen aber stellt sich die Frage, drinnen zu bleiben. Anton
      Haslebacher tuckert mit dem Traktor auf eine nahe Wiese. Zu Fuß folgen ihm einige Männer, mit Rechen und Gabeln über den Schultern. Auf der Wiese riecht es nach frisch gemähtem Gras, Vögel zwitschern.

      Sein Rücken ist krumm, die Glieder schmerzen, doch Anton Bäreswil ist zufrieden. Nach jahrzehntelanger Schufterei für einen Bauern nahe Fribourg ist er jetzt sein eigener Herr. Im Schweizer Dienstbotenheim Oeschberg hat er sein letztes Zuhause gefunden - zusammen mit 38 weiteren Knechte und sechs Mägden.

      Text und Fotos: Marcel Burkhardt




      Anton Bäreswil keucht. Nicht, weil der Rechen zu schwer wäre. Die
      Knie schmerzen und sind geschwollen, Arthrose. Der 55-Jährige muss
      sich auf einen Gehstock stützen und humpelt. Trotzdem will er mitmachen.


      Anton Bäreswil: "Hie wirsch du no bruucht"
      Genauso, wie er später stundenlang auf allen Vieren vor der Scheune herumrobben und Unkraut zwischen den Pflastersteinen stechen wird. "Hie wirsch du no bruucht", sagt er. Anderswo könnten die Bauern ja heute alles mit ihren Maschinen machen. "Gly git es für aus Maschine. Da bruucht es kener Helfer meh."

      32 Jahre lang hat er bei Fribourg für einen Bauern gearbeitet, täglich von vier Uhr morgens bis acht Uhr abends. Um 48 Kühe hat er sich gekümmert. Immer war er da. Dann war Schluss. Der Bauer war zu alt, keines seiner fünf Kinder wollte den Hof übernehmen. Bäreswil musste den Hof verlassen. "Dr Buur het nie reklamiert", sagt er stolz.

      An Bäreswils Geburtstag habe der Bauer nach Oeschberg kommen wollen und seinen ehemaligen Knecht zum Essen einladen. Bäreswil wartet seit vier Jahren. Aber der Bauer kommt nicht. "Schad", sagt Bäreswil leise.


      Hektik ist in Oeschberg ein Fremdwort. Aufregung aber gibt es jeden Tag. Zum Beispiel, als ein kaum hörbares Maunzen vom Scheunenboden klingt.

      Da ist sofort was los. Anton Bäreswil lässt das Boulevardblatt Blick liegen, Anton Prisi setzt seine Schubkarre ab, kratzt sich am Kinn und gibt Ratschläge, Rosmarie Kuhn kommt neugierig aus der Waschküche gelaufen und Willi Ulrich holt eine Leiter, klettert hinauf, sucht im Gebälk und bringt eine kleine Katze mit. "Was für es schöns Chätzli!"

      Willi Ulrich gibt dem Tier Milch, hält es dann vorsichtig in der Hand und lässt alle an seiner Freude teilhaben.


      Unfrei seit der Kindheit
      "Die Menschen, die hierher kommen, sind vom Leben nicht verwöhnt worden", sagt Alexander Nägeli. "Aber verbittert ist keiner." Einige der Knechte im Dienstbotenheim mussten schon als kleine Buben ihre Familien verlassen, sich auf einem fremden Hof ihr Brot verdienen. Einige wurden unehelich geboren. Manchmal gab es auch einfach zu viele Geschwister, konnten die Eltern die vielen Münder nicht mehr stopfen. Diese Kinder mussten für Kost, Logis und ein kleines Taschengeld von morgens bis abends ran. Manche hatten Glück und durften neben der anstrengenden Arbeit zur Schule gehen, bekamen eine Chance. Andere kannten weder Feiertag noch Urlaub. Ihre Tage begannen vor dem Hahnenschrei und endeten nach Sonnenuntergang.


      Alexander Nägeli

      Und nun, am Ende ihres Lebens, finden manche in Oeschberg erst die Heimat, die ihnen immer gefehlt hat, weil sie von einem Bauernhof zum nächsten zogen, rastlos. "Wir sehen uns als Hausgemeinschaft, in der jeder dem anderen hilft, so gut es eben geht", sagt Nägeli. Dennoch gibt es in Oeschberg keinen Zwang zur Arbeit. Nägeli akzeptiert, wenn einer der Pfleglinge seine Ruhe haben mag.

      Die harte Arbeit hat die Buckel der Knechte und Mägde krumm gemacht. Manche können nur noch mühsam gehen, sie schlurfen und hinken. Weil es in vielen Gliedern zwickt und sticht, ist zweimal am Tag Hochbetrieb im Behandlungszimmer des Dienstbotenheims. Emile Kehrli ist gleich dran. Der 94-Jährige reibt sich die Hände und lacht. Vielleicht aus Vorfreude auf die Wadenmassage? Kehrli ist der älteste Bewohner des Dienstbotenheims, es heißt, er sei auch der fröhlichste.

      Im Behandlungsraum riecht es nach Cremes und Desinfektionsmittel. Kehrli nimmt auf einem Sofa Platz, streift flink Schuhe und Strümpfe ab, streckt die Beine aus. Während der Wadenmassage seufzt er: "Ooh, wie neugebore." Kehrli wirkt drahtig und fit, obwohl er raucht wie ein Schlot. Sein Alter nehmen ihm Fremde oft nicht ab. Denen zeigt er dann seinen Ausweis.

      Kehrli teilt die Zeit nicht nach Jahren ein, sondern in schlechte und gute Zeiten. Jetzt habe er "e gueti Zyt", sagt er. Und die Jugend? "Kei gueti Zyt." Dann lacht er und erzählt: Wie er schon als kleiner Bub mit anpacken musste, in den Wald zum Holzfällen. Da war er noch nicht einmal in der Schule - "und es het no kei Motorsagi gä." Und wieder lacht er, und weil er zu lachen nicht aufhören kann, klopft er sich auf die Schenkel.


      Und dann kam die späte Liebe
      So weit er zurückdenken kann, hat er für andere geschuftet. Damals brauchten die Bauern noch Männer wie Kehrli, die mithalfen bei der Ernte und beim Holzmachen, die immer verfügbar waren, wenig forderten. Eine eigene Familie? Emile Kehrli zupft sich am Ohr: Von was denn? Von 600 Franken und weniger im Monat? Arbeit gab es immer mehr als genug, aber von dem kargen Lohn Frau und Kinder ernähren? Kehrli setzt seinen Hut ab, rauft sich das weiße Haar. Nein, daran war nicht zu denken.

      In Oeschberg hat er nun eine Ersatzfamilie. Denn wie Kehrli hat fast niemand hier geheiratet. Mit dem geringen Lohn konnten sie keine Familie aushalten, keine eigene Wohnung bezahlen. "Viele Bauersleute haben Frauen und Kinder in den Kammern der Knechte nicht geduldet", erzählt Alexander Nägeli.


      Rosmarie Kuhn war noch ein spätes, kurzes Liebesglück vergönnt. In ihrer Kammer, die einem Mädchenzimmer gleicht, mit Puppen, Plüschtieren auf dem Bett, Fotos und gezeichneten Bildern an den Wänden, blättert sie gerne in dicken Fotoalben. Sie betrachtet Bilder von ihrem Liebsten, den sie hier im Dienstbotenheim kennengelernt hat. Der Freund ist tot. Geblieben sind Rosmarie Kuhn nur die Fotos von gemeinsamen Ausflügen nach Italien und in den Schwarzwald. So schön war es da, sagt die 62-Jährige und strahlt übers ganze Gesicht. Aber am schönsten sei es doch in Oeschberg. Das Leben hier gibt ihr Halt, Sicherheit, Zufriedenheit.

      Pünktlich um zwei steht sie wieder in der Waschküche. Rituale spielen in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Sie hält ihre Arbeitszeiten ein, die sie sich selbst auferlegt hat und erscheint - wie alle anderen auch - pünktlich zu den Mahlzeiten. Am Sonntag macht sie sich nach dem Frühstück schön und erscheint im Feiertagsgewand zum Mittagessen.


      Abends sitzt Rosmarie Kuhn gern mit den anderen beisammen auf den Bänken vorm Haus, direkt an der vielbefahrenen Bern-Zürichstrasse, die das Grundstück des Gutes durchschneidet. Die alten Knechte und Mägde wetteifern miteinander, wer nun heute am meisten geleistet habe. Arbeiten, um die eigene Existenz zu berechtigen - diesen Zwang haben die Alten in Fleisch und Blut.

      Die kühle Abendluft ist durchdrungen vom Duft der Rosen. Anton Haslebacher geht als einer der Ersten hinauf in sein Zimmer. Er rückt sich seine Mütze zurecht, schaut noch einmal hinüber zum Stall. Vielleicht denkt er an Venus und Vera, die beiden drei Monate alten Kälber, denen er jeden Morgen gut zuspricht, die er liebevoll tätschelt und mit frisch gemolkener Milch verwöhnt. Er nickt stumm und lächelt. Für einige Augenblicke macht sich Ruhe in ihm breit. Dann nimmt er seine Rivella-Flasche und geht hinauf in seine Kammer, schlafen. Kurz nach vier klingelt sein Wecker. Dann will er wieder raus, als Erster, "zum Schaffe".



      (sueddeutsche.de/vs)
      Avatar
      schrieb am 24.12.08 10:09:19
      Beitrag Nr. 33 ()
      Mal was Lustiges:
      Quelle: Die Zeit

      Herbst
      Das Röhren der Laubpuster© ZEIT ONLINE 3.11.2008 - 12:10 Uhr

      Mark Spörrle wird verfolgt von Lärm und fliegendem Dreck


      Pusten im Stadtpark in Magdeburg

      © Jens Schlueter/ddp
      Hamburg im Morgengrauen. Dass es Herbst wird, ist deutlich zu hören; durch das gekippte Badezimmerfenster kann auch das ungeübte Ohr drei, vier Laubpuster zugleich unterscheiden.

      Im Fahrstuhl erzähle ich meinem Nachbarn, wie sehr ich mich wundere, dass es selbst in unserer nahezu innenstädtischen Gegend (kaum Gärten) Fanatiker gibt, die sich für das bisschen Laub solche Höllengeräte anschaffen.

      Er erzählt kichernd, dass es in dem gartenreichen Hamburger Vorort, in dem seine Eltern leben, zum Sport geworden ist, morgens als Erster aufzustehen und das Laub aus dem eigenen in die benachbarten Gärten zu blasen. »Gerade liegt ein Börsenhändler in Führung, der nicht schlafen kann und sein Gerät immer kurz nach Mitternacht anwirft«, lacht er.

      Auf dem Weg zur U-Bahn wird das Röhren lauter. An der Straßenecke vor dem Café macht sich ein Vermummter mit heulendem Laubpuster über die Blätter her, die der Wind zwischen die Stühle und Tische geweht hat. Vor der Fleischerei zwei Straßen weiter schwenkt ein Typ in blauem Overall das Rohr seines Bläsers wie ein Sensenmann von einer Fußwegseite auf die andere. Dank des Lärms können die meisten Fußgänger dem Schwall aus heißer Luft, Bonbonpapieren und Hundekot noch rechtzeitig ausweichen.

      »Na und?«, brüllt der Blauoverall auf, als ich ihm aus sicherer Entfernung mitteile, dass hier kaum noch ein Blatt liegt. »Was soll das heißen, Meister? Hä? Was willst du?«

      Vom Bürofenster aus beobachte ich, wie zwei orangefarben Gekleidete mit zwei orangefarbenen Laubpustern einen Haufen Papiermüll abwechselnd von einer Straßenseite auf die andere pusten. Sie tragen orangefarbene Schutzbrillen und lachen und johlen, wenn Passanten vor ihnen fliehen.

      Nach Stunden bekomme ich bei der städtischen Stelle für Lärmbekämpfung jemanden ans Telefon. »Ich weiß«, ruft er heiser. »Es ist grauenhaft. Aber wir können nichts tun! Jeder darf diese Geräte betreiben und das ganz legal – zumindest von 9 bis 13 und von 15 bis 17 Uhr!«

      Als ich meiner höllischen Kopfschmerzen wegen früher nach Hause fahre, patrouilliert der blaue Overall mit seinem Laubpuster noch immer vor der Fleischerei auf und ab. Ich nehme die nächste Querstraße. Plötzlich bricht aus dem Dickicht hinter mir am Freibad ein zweiter Laubpusterträger. Da er dicke Ohrenschützer trägt, hört er weder mein Schimpfen noch mein Flehen. Erst als er kurz in den Zeitungskiosk abbiegt, kann ich über die Straße fliehen.

      Während ich vor unserem Haus mein Sakko notdürftig reinige, lädt der dicke Hausmeister aus dem Nachbarhaus mit diabolischem Grinsen einen länglichen Karton aus seinem Auto, reißt ihn auf und trägt einen nagelneuen Puster in unseren gemeinsamen Innenhof. Da der einzige Baum dort noch alle Blätter hat (es handelt sich um eine Tanne), beginnt er, Dreck und Unrat auf den Erdgeschossterrassen zu beseitigen.

      Mit Stöpseln in den Ohren wähle ich erneut die Nummer des städtischen Lärmbekämpfers.

      Diesmal habe ich schon nach einer halben Stunde Erfolg; der Hausmeister unten im Hof hat gerade alles Kinderspielzeug und die Überreste der Terrassentopfpflanzen auf einem großen Haufen in der Hofmitte gesammelt und fängt nun an, mit geschickten Luftstößen die Pflanzen von den Balkons im ersten und zweiten Stock zu schießen.

      »Es ist noch nicht nach 17 Uhr«, ruft der Lärmbekämpfer am anderen Ende des Telefons, auch bei ihm im Hintergrund ist mittlerweile das Geräusch von Laubbläsern zu hören, »ich kann noch nichts unternehmen! Rufen Sie wieder an!«

      »Wie lange sind Sie noch da?«, schreie ich.

      »Bis Punkt 17 Uhr!«, ruft er.

      »Aber dann können Sie NIE etwas unternehmen!«, brülle ich. »NIE!«

      »Hören Sie«, schreit nun auch er, denn das Grollen bei ihm wird immer lauter. »Ich kann sowieso nichts unternehmen. Sie sind überall! Es werden immer mehr! Sie ...«

      »Hallo!«, rufe ich. »Hallo!«

      Durch das Telefon steigert sich das Laubbläserbrüllen zum schrillen Crescendo. Dann bricht die Verbindung ab. Morgen kaufe ich mir auch so ein Teil.
      Avatar
      schrieb am 05.01.09 11:37:32
      Beitrag Nr. 34 ()
      Quelle: Die Zeit

      Kurzgeschichte

      Eine Familiengeschichte

      Ich wollte eigentlich von etwas anderem erzählen, aber gerade wird eine Kinderleiche vor mir aus dem Fluss geborgen. "Es hat es selbst so entschieden", sagt die Mutter.

      Von André Pluskwa

      "When my kids were young I played a
      game with them. I'd give each of them
      a stick. One for each of 'em, and I'd tell
      them to break it. They'd do that easy.
      Then I'd tell them to make one bundle
      of all the sticks and try to break that.
      A course they couldn't. I used to say that
      was family, that bundle."

      (The Straight Story)

      Ich wollte eigentlich von etwas anderem erzählen, aber gerade wird eine Kinderleiche vor mir aus dem Fluss geborgen und ich kann mitfühlen, wie es den Eltern gehen wird, wenn sie davon erfahren. Ich hoffe, dass es so ist. Denn ich höre jeden Tag von Neugeborenen in Kühlschränken, die Familie versklavenden Vätern, ihre Töchter im Internet versteigernden Müttern, tötenden Brüdern, brennenden Babys. Zwangsverheirateten Teenagern, die sich die Freiheit erklagen müssen. In den Bestsellerlisten Bücher, in denen unsere Kinder als Tyrannen und psychische Monster beschrieben werden.

      Das Prinzip Familie, diese generationsübergreifende, angeblich naturgegebene Zweckgemeinschaft, ist überholt, ohne Zweifel. Eine rottige Frucht entblößt ihren fauligen Kern, der aus Beeinflussung, Kontrolle und Ausbeutung besteht. Vielleicht sehe ich die Dinge aber auch nur zu verbissen. Mein Nachbar ist Ökonom und er sagt, dass es kein Wunder sei. Seitdem sie ihre Funktion als Altersvorsorge verloren haben, schützt die Kinder kein Nutzen mehr. Aus einer Investition wird ein Kostenfaktor. Aus dem Prestige der Schwangerschaft ein gesellschaftliche Herabstufung forcierendes Versehen, und während das Haustier zumindest im Welpenalter noch niedlich ist, ist das eigene Kind bereits direkt nach der Geburt ein Gestank, Lärm und Schmutz produzierender Stressfaktor.

      Nichts behindert die Selbstverwirklichung mehr als ein Kind oder die Gefangenschaft im Schoß der Zwangsgemeinschaft Familie. Der Mensch ist lieber ungebunden. Das bedeutet auf sich selbst gestellt, frei, allein. Wissenschaftler mahnen ein Verschwinden der Fähigkeit zur Empathie an, das käme bereits deutlich in den Kindergärten zum Ausdruck. Die Situation eskaliert also.

      Wir haben Glück, das Kind ist wahrscheinlich nur ertrunken. Keine offenkundigen Spuren von Gewalteinwirkung. Kein Rattenschwanz an Ermittlungen, Beamte, die Geschwister und Nachbarn befragen, Beamte im Kindergarten, Beamte auf dem Spielplatz. Eine Obduktion ist trotzdem per Gesetz angeordnet. Auch die Bösen werden professioneller.



      Die niedersächsische Kleinstadt, in der ich lebe, ist eine von denen, in der man nachts in der Fußgängerzone regelmäßig kontrolliert wird. Vandalismus ist hier fast ausgeschlossen. Wenn am Wochenende mal ein Jägerzaun eingetreten wird, lässt sich die Spur schnell zu einer Gruppe bierseliger Jugendlicher zurückverfolgen, der kleinen Handvoll Auffälliger, die die übliche Juvenilitäts-Quote erfüllen. Und während das Schreiben für Magazine wie diesem hier einen nicht gerade über Wasser halten kann, tut es doch ein Job bei der örtlichen Tageszeitung, die sich natürlich als überparteilich und unabhängig präsentiert, in Wirklichkeit aber mit den Führungsriegen aus Politik und Wirtschaft der Region eng verquickt ist. Von daher werden traditionelle, manche sagen: humanistische und christliche Werte gefördert, wie es seit Beginn des Wirtschaftswunders der Fall ist. Wir müssen: Zusammenhalten. Die Familie. Den Besitz.

      Wer nicht ein Teil eines nach Außen intakten Vater-Mutter-Kind-Gefüges ist, muss sich rechtfertigen, bleibt hier ein Sonderfall, auch wenn die Alleinerziehenden und Alternativmodelle prozentual längst weit vorne liegen. Eigentlich riecht es nach Umverteilung der Gelder und Mittel, aber der dem Bürger zugedachte Idealzustand einer Lebensgemeinschaft bleibt: die Familie. Ich muss das wissen. Ich bin der Gerichtsreporter. Ich bin auch bei den scheinbar öden und unwichtigen Terminen vor Ort.

      Dann, wenn es um Vormundschaften, Unterhalt, Kindergartenplätze oder Steuern geht. Wenn der Mann keine Familie hat, sieht er vielleicht keine Veranlassung zu arbeiten, haben sie argumentiert. In einer Welt ohne Kinder würden die Frauen für die Männer arbeiten und diese blieben zu Hause. Das bedeutet auch, dass Haushalt und Kinder offenbar das größere Übel sind. Aber im Ernst: Der Trick ist, die Kosten so enorm steigen zu lassen, dass beide Elternteile arbeiten gehen müssen, um ihren Doppelhaushälften-Mindest-Standard inklusive Must-Dos wie Urlaub und Zweitwagen zu finanzieren, den örtlichen Übereinkünften zu genügen. In der Stadt und bei den Einzelkämpfern, da ist es schon lange so, nun wird flächendeckend die Notwendigkeit der Ganztagsschule diagnostiziert. Paukenschlag! Meisterwerk! Alle Eltern bei der Arbeit, Kinder in der Obhut des Staates, "Ich glaube, wir haben die Sache im Griff, Sir!".

      Sie sehen sich an den Abenden und am Wochenende, irgendwie, jeder führt mehr eigenes Leben als gemeinsames, und doch sind sie Vater, Mutter, Kind. Sie würden nie behaupten, sich fremd zu sein und doch sind die Tage zu dritt nie die Norm, was seltsam ist und einschneidend, denn jetzt spüren Kinder wie Eltern die Distanz. Wer ist dieses Kind? denken sie, und es ist so, wie uns unsere Eltern fremd wurden, als wir älter wurden. Dieser Prozess der generativen Verwelkung steht allen Eltern bevor, die mit ihren Kindern leben. Es gibt nur eine Ausnahme.

      Man sagt, dass ein Konservierungseffekt eintrete. Bei betroffenen Eltern wären bei Verlust eines Kindes körpereigene Altersprozesse extrem verzögert, ein Effekt, der bei bestimmten Konstellationen des individuellen Hormonhaushalts, der erwartungsgemäss in so einer Trauer-und damit Stresssituation jenseits der Normbereiche aktiv ist, auftreten und zu ungewöhnlichen Reaktionen führen kann. Die einen nennen es Trauma, die anderen Alptraum. Als wären sie zur eigenen Qual und Strafe in einem auf Zeitlupentempo verlangsamten Leben gefangen. Dass das Opfern eines Kindes langjährige Jugend verspricht, ist allerdings nicht neu.

      Schon damals schlug man gern zwei Fliegen mit einer Klappe. Opferte (oder verkaufte) das Kleine mal schnell, das brachte der Götter (später dann Geld-) Segen und ein Kindermaul weniger zu stopfen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die dümmsten Kinder aller Zeiten waren Hänsel und Gretel. Sie haben ihre Eltern gerettet.

      Aber nicht alle haben so viel Glück wie die beiden. Die Obduktion ergibt: Das Kind war schon vorher tot. Es war an Schwäche gestorben.

      Die Pressearbeiterin der Kripo bittet mich, erst einmal alle Informationen zurückzuhalten. Sie wolle keinen Presserummel wie bei all den anderen Sensationsmeldungen bezüglich Vorfällen, in die Kinder involviert seien, die seit geraumer Zeit zumindest die Boulevardpresse beherrschen. Das könne nicht im Sinne der Familie sein, die immerhin noch mehr Kinder hätte als nur das verstorbene. Das sah ich ein.

      So sollte zum Beispiel niemand erfahren, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erheben würde gegen die Eltern. Ob wegen unterlassener Hilfeleistung oder Schwererem, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen noch offen.

      Manchmal fällt das Rudel Entscheidungen. Manchmal lässt man die Schwachen zurück zugunsten der Gruppe. Nur einer stirbt im Schnee.

      Das Kind war einfach eingegangen, lebte im Haushalt der Familie quasi allein nebenher. Hätte die Nahrung verweigert. Ich denke an eine Topfpflanze, die man nie giesst und schließlich ganz hinter dem Vorhang vergisst. Während der Verhöre brach es ziemlich schnell aus den Eltern heraus. Die Trance, in der sie Jahre gelebt hatten, wurde ihnen schlagartig bewusst. Wie konnte es sein, dass unter ihnen einfach eines ihrer Kinder wegstarb, still, blass, dünn, schwach, krank, unsichtbar? Wie konnten sie tatenlos wegsehen und zusammen mit den beiden anderen Kindern ein normales Leben führen?

      Es hätte bald in die Schule gemusst und war stets zu Hause, seine beiden Geschwister, jünger, im Kindergarten. Die Erzieherinnen gaben an, dass die Eltern beim Abholen ihrer beiden Sprösslinge stets liebevoll und aufmerksam schienen. Von einem dritten Kind wusste niemand etwas. Auch die anderen beiden hätten es nie erwähnt.

      Sie legten die Leiche im Schilf ab. Gestorben war das Kind zu Hause im Bettchen. "Es hat es selbst so entschieden." ist der tragischste Satz, den Cordula P., die Mutter, vor Gericht aussagen wird, denn so wie sie ihn spricht, wird deutlich, wie sehr sie der Überzeugung ist, dass es so wahr ist; so sehr hallt in ihrer Stimme die Hilflosigkeit und Resignation nach, dass man kurz versucht ist, auf Mitleid zu plädieren. Was tut eine Mutter, die ein Kind hat, das sich innigst wünscht zu sterben, nicht hier zu sein auf dieser Welt? Was, wenn sie mit Schrecken erkennen muss, dass es ihr eigentlich genauso geht?

      Der Vater schweigt. Er steht der Mutter bei, aber er war nie zu Hause. Dort nicht. Seine Kinder- er stockt. Da ist nichts, was ihm zu seinen Kindern einfällt.

      Diese stillschweigende Übereinkunft, das eigentliche Todesurteil für das Kind, ist das eine Problem. Das andere ist die schreckliche Stille selbst, in der es geschieht. Diese Stille soll von niemandem gestört werden.

      Mein Chefredakteur ordnet Zurückhaltung bei der Berichterstattung über diesen Fall an. So ein Fall stünde den Interessen der Region zur Zeit kontraproduktiv gegenüber. Daran müsse man denken.

      Dieser Fall ist zu schrecklich, als dass er zu tief in das öffentliche Bewusstsein gelangen darf. Kinder und Eltern vernichten gemeinschaftlich die Grundfesten aller Ordnung. Das darf es nicht geben.

      Es soll besser wie ein Unfall aussehen. Das tragische Unglück, das Drama für die Kurzmeldungen. Gekaufte Kleinst-Beiträge im Fernsehen tun ihr übriges. Die Eltern sind geständig. Niemand berichtet darüber. Stattdessen mehr Monster und wahnwitzige Geschichten über Folter und Terror und Sport.

      Es gibt kein Gerichtsurteil. Das Verfahren ist noch offen. Gäbe es ein öffentliches Interesse an diesem Fall, man könnte beiden Parteien Verschleppung vorwerfen.

      Der Bürgermeister lädt meinen Chef und mich zum Essen ein. Man nimmt meine Loyalität wohlwollend zur Kenntnis.

      Eltern und Kinder sind vorerst wieder vereint zu Hause. Ein Team von Psychologen betreut die Familie.

      Heute morgen war die Beerdigung. Ich muß zugeben: Die habe ich ganz verpasst.
      Avatar
      schrieb am 31.01.09 17:50:48
      Beitrag Nr. 35 ()
      Lucca verbietet Ethno-Küche
      Die Anti-Fastfood-Festung
      Eine toskanische Stadt setzt sich dem Vorwurf des Gastro-Rassismus aus: In Lucca will man die italienische Küche fördern, indem man fremdländische Lokale verbietet.
      Von Stefan Ulrich



      Pasta, basta: In der italienischen Stadt Lucca sind ausländische Restaurants in der Innenstadt verboten.


      Sie ist mal Segen, mal Fluch für Lucca, die größte vollständig erhaltene Stadtmauer Europas. Vier Kilometer lang ziehen sich die Festungswälle aus rötlichem Ziegel um das Centro Storico. Diese Mauern hielten viele Feinde fern und schützten die stolzen, freien Bürger. Später engten sie Lucca jedoch ein und schnitten das Zentrum von der Moderne ab. Heute wirkt sich das als Segen aus: Unzählige Touristen flanieren auf den Mauern und bummeln durch die Altstadt, die mit ihren Palazzi aus dem Mittelalter und der Renaissance, ihren Flaniergassen und den historischen Geschäften die schönsten Toskanaträume übertrifft.

      Nun aber wähnen die mehrheitlich rechts-konservativen Stadtväter diese Welt in Gefahr. Fremdes, Billiges, Lautes und Hässliches niste sich in den ehrwürdigen Gemäuern ein, beklagen sie. Hamburgerrestaurants, Straßenimbisse, fremdländische Lokale bedrohten das Stadtbild und die heimische Esskultur. Fünf Kebab-Stände für 8000 Einwohner seien doch wohl ein bisschen viel, finden die Räte. Zudem schlägt es ihnen auf den Magen, dass die Frittenbuden bereits bis in die stimmungsvolle Via Fillungo mit ihren Jugendstilläden vordringen.

      Daher entschied der Stadtrat jetzt mit seiner konservativen Mehrheit: Genug ist genug. Fortan werden keine neuen Schnellimbisse mehr genehmigt. Die Restaurants haben sich edel einzurichten, die Kellner elegante Uniformen anzuziehen. Zudem sollen mehr traditionelle Luccheser Gerichte auf die Speisekarten kommen, Dinkelsuppe oder "Torta coi becchi", eine Torte aus Mangold, Rosinen und Pinienkernen. Zudem bestimmte der Stadtrat, dass keine Lokale mehr eröffnen dürfen, "deren Aktivitäten auf andere Ethnien zurückzuführen sind". Addio Kebab, Sushi, Frühlingsrollen.

      Die letzte Regelung löste Empörung in Italien aus. Linke Politiker werfen dem Gemeinderat vor, er wolle Ausländer diskriminieren und betreibe "gastronomischen Rassismus". Andere argwöhnen, hier solle via Küche ein Apartheid-Regime wie einst in Südafrika errichtet werden. Der Küchenkritiker Vittorio Castellani klagt: "Italien erweist sich als fremdenfeindlich und schämt sich nicht einmal mehr dafür." Der Schriftsteller und Journalist Massimo Fini moniert, der Begriff "Ethnien" diskriminiere gezielt andere Rassen. Deswegen dürfe in Lucca kein Schwarzer mehr ein Restaurant aufmachen, wohl aber ein Deutscher mit seinen "Krauti" und "Kartoffeln".


      Mode statt MafiaHut ab! Die derart gescholtenen Stadtpolitiker versuchen sich zu wehren. "Wir führen keinen Kreuzzug", versichert Mauro Favilla, der Bürgermeister von Lucca. Der Stadtrat habe nichts gegen Ausländer, sondern wolle lediglich die kulinarische Tradition und das Ortsbild innerhalb der Mauern erhalten. Von den Verboten seien genauso italienische Schnellimbisse, etwa Pizza-Stände, betroffen. Außerdem bekomme die Stadt auch viel Unterstützung für ihre Beschlüsse.


      Esst Schinken und Salami!
      Tatsächlich lobt der italienische Landwirtschaftsminister Luca Zaia: "Solche Initiativen sind willkommen." Es sei besser, wenn die Jugend edlen Schinken und Salami esse, als Kebab. So nehme sie auch etwas von der Geschichte ihres Territoriums auf. Die Region Lombardei überlegt derweil, ähnliche Regeln wie die Stadt Lucca aufzustellen. In Mailand würden bereits ein Viertel der Restaurants, Lokale und Bars von Ausländern betrieben, die nicht aus der EU kämen, stellte die Handelskammer der Stadt fest.

      In der Regierung der Lombardei heißt es: "Wir verlieren unsere Identität, wenn die charakteristischsten Ecken unseres Territoriums ausverkauft werden." Im Küchenkrach um Lucca gehen die Ansichten also weit auseinander. Geht es um Rassismus oder den Erhalt lokaler Traditionen? "Das ist wirklich ein schwieriges Problem", meint der Deutsch-Toskaner Ulrich Kohlmann. Er arbeitet als amtlich geprüfter Fremdenführer in Lucca und organisiert kulinarische Reisen, sodass er die Küchenprobleme bestens kennt. Das ästhetische Bild der Altstadt sei ein kultureller Wert, von dem die Luccheser lebten, sagt er. Denn deswegen kämen die Touristen ja nach Lucca. Daher sei es richtig, wenn die Gemeinde ihre lokale Gastronomie und ihr Stadtbild schützen wolle.

      "Es wäre nicht schön, wenn irgendwann alle Städte gleich ausschauen, mit einem Gucci-Geschäft und ein paar Kebab-Buden, egal ob man nach Shanghai, München oder Lucca kommt", sagt Kohlmann. In Lucca gehe es darum, die hässlichen Seiten der Moderne auszusperren, mit ihrer schrillen Reklame, Plastik und Wegwerfkultur. "Ich sehe ja, was da in Pisa und Florenz abläuft, und das ist wirklich schlimm." Die umstrittenen Regeln des Stadtrats gingen jedoch zu weit, weil das Verbot neuer "ethnischer" Lokale auch hochwertige Restaurants betreffe. "Lucca soll sich gegen Fastfood sperren - ohne sich gegen gute Küche aus anderen Ländern einzumauern."


      (SZ vom 30.01.2009/jkr)
      Avatar
      schrieb am 21.02.09 13:30:27
      Beitrag Nr. 36 ()
      Gold, Franken und Kaminöfen

      © ZEIT ONLINE 21.2.2009 - 10:08 Uhr

      Mark Spörrles Nachbar weiß sehr genau, wie man durch die Wirtschaftskrise kommt
      Lagebesprechung in der Tiefgarage. Gute Nachbarn helfen einander in schweren Zeiten, oder?

      Lagebesprechung in der Tiefgarage. Gute Nachbarn helfen einander in schweren Zeiten, oder?


      Neulich sprach mich ein Nachbar im Innenhof an: "Sag mal, kannst du eigentlich boxen, Karate oder gut schießen?"

      "Äh, nein", ächzte ich, "eher weniger ..."

      "Hm", sagte er. "Kennst du dich wenigstens mit dem Bau von Funkgeräten aus?"

      "Ich habe es noch nie versucht", sagte ich. "Warum?"

      "Warum?", er sah mich ungläubig an, "liest du keine Zeitung? Die Krise!"

      "Beruhige dich", sagte ich, "es wird nicht so schlimm werden. Die Politik tut ..."

      Mein Nachbar warf die Arme in die Höhe. "Die Politik!", heulte er auf. "Du weißt doch so gut wie ich, dass Politiker machtlos sind! Und wenn die nächsten Kreditblasen platzen, wenn dann das weltweite Finanzsystem kollabiert und unsere Währung in den Untergang reißt, dann ist das Chaos nicht mehr aufzuhalten: Die Banken schließen, Lebensmittel, Öl und Gas werden knapp, Banden werden plündernd durch die Städte ziehen. Es wird ein Rückfall in die Steinzeit – die 30er Jahre, die Zeit nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die verlorene EM, all das wird nichts sein dagegen!"

      Ich schwieg erschüttert. Bislang hatte ich meinen Nachbarn, er hat eine kleine, nicht sehr erfolgreiche Kaminofenfirma, für einen besonnenen, realistischen Menschen gehalten.

      Er schlug mir auf die Schulter.

      "Wir haben eine Chance", sagte er – "aber wir müssen uns gut vorbereiten. Habt ihr Vorräte?"

      "Nun ja", sagte ich. "Ein paar Nudeln..."

      "Fahrt zum Großmarkt", befahl mein Nachbar. "Sofort. Kauft Vorräte für sechs bis acht Wochen. Wir installieren hier im Haus eine zentrale Filteranlage, in die wir das Regenwasser leiten. Lutz aus dem Erdgeschoss macht sich gerade schlau, wie man so ein Ding baut. Einen Stromgenerator haben wir auch schon bestellt. Ach übrigens: Du solltest wieder anfangen zu laufen, der Kondition wegen. Und habt ihr nicht doch Waffen in der Familie?".

      Unter einem Vorwand eilte ich zurück ins Haus. Am nächsten Abend kam ich unglücklicherweise gerade heim, als mein Nachbar ächzend zwei Aluminiumkoffer in den Fahrstuhl wuchtete.

      "Ich habe unser gesamtes Sparguthaben gerade in Gold getauscht", raunte er mir zu. "Das würde ich euch auch raten, Gold ist in Krisenzeiten das einzige Zahlungsmittel ...."

      "Moment", sagte ich. "Du hast für all euer Geld Gold gekauft? Zu dem horrend hohen Kurs?"

      "Ein paar Diamanten sind auch dabei", lächelte mein Nachbar. "Aber ich sage dir: Der jetzige Goldkurs ist noch ein Schnäppchen. Warte nur nicht zu lange! Übrigens, wir machen später in der Tiefgarage eine Lagebesprechung. Du kommst doch auch?"

      Ich kam, natürlich aus reiner Neugier, wie fast alle anderen Hausbewohner, ausgenommen der Porschefahrer aus dem Vorderhaus, der angeblich einen plötzlichen Termin in Liechtenstein hatte. Mein Nachbar, der statt seines grauen Anzuges ein grob kariertes Flanellhemd und eine gefütterte Survivalweste trug, hielt im Schein der Neonleuchten einen kurzen Vortrag zur allgemeinen katastrophalen Situation und wies darauf hin, dass wir in diesen Zeiten Egoismen zurückstellen und uns gegenseitig helfen sollten.

      "Diese Weste zum Beispiel ist ein echtes Schnäppchen", sagte er. "Sie wärmt bei Kälte, kühlt bei Wärme, ist atmungsaktiv und schützt sogar vor leichten Messerstichen. Ich habe die letzten Exemplare über Beziehungen bei einem befreundeten Händler gekauft und gebe sie gerne zum Freundschaftspreis an euch weiter. Zusammen mit jeweils einem Kaminofen, den man mühelos an die alten Schornsteinzüge bei uns im Haus anschließen kann – ihr wollt doch nicht frieren, wenn die Fernwärme ausfällt?"

      Bei der anschließenden Versteigerung ging ich leer aus, weil Geld nicht akzeptiert wurde und der Edelmetallgehalt meines Eherings bei Weitem nicht ausreichte. Die Hausgemeinschaft beschloss spontan, uns dennoch nicht auszustoßen.

      "Du kannst Zeitungen und das Internet auswerten, solange es die noch gibt, und uns mit Informationen versorgen", sagte mein Nachbar gönnerhaft. "Welche Medikamente und Nährstoffe brauchen wir in der kommenden, entbehrungsreichen Zeit? Welche Ärzte sind bereit, einen auch unentgeltlich zu behandeln? Wo finden wir ein Stück Land, auf dem wir Obst und Gemüse anbauen können? Welche neuen schrecklichen Nachrichten gibt es bezüglich der Wirtschaftslage?..."

      "Da habe ich schon was", unterbrach ich. "Das 50-Milliarden-Konjunkturrettungspaket der Bundesregierung ist verabschiedet, die Preise für Rohstoffe auf dem Weltmarkt fallen offenbar nicht mehr weiter, und Wirtschaftsexperten sehen ab Mitte des Jahres eine leichte Erholung, einen Lichtblick..."

      In der nachfolgenden erregten Diskussion erklärte sich mein Nachbar bereit, sechs Survivalwesten samt Kaminöfen zurückzunehmen und für drei weitere ausnahmsweise eine Zahlung in Euro zu akzeptieren.

      Mein neuer in der Nachbarschaft und im Internet verkaufter Newsletter "Was Sie unbedingt wissen müssen damit die Krise nicht kommt" ist ein großer finanzieller Erfolg. Das Geld lege ich in der Schweiz an. Einfach nur so.
      Avatar
      schrieb am 26.02.09 13:40:05
      Beitrag Nr. 37 ()
      Der Knick
      Die Krausnickstraße in Berlin Andreas Labes
      Oranienburger, Ecke Krausnickstraße: Es gibt Anwohner, die sich dagegen wehren, dass sich die Welt des Sex und des lauten Vergnügens in ihrem Wohnquartier einnistet.

      Thomas Leinkauf

      Mittendrin hat die Krausnickstraße einen Knick. Es ist nur ein leichter Knick und er liegt im vorderen Teil der Straße, dort, wo sie der Oranienburger nahe ist. Im Knick befindet sich in einem Souterrain die „Pension Dallmann“. Eine Art Bordell, das ein ehemaliger Boxer führt und an dem sich die Geister scheiden.

      Manche der Anwohner können mit Dallmanns Pension gut leben. Für andere ist er ein Eindringling, ein Symbol der Bedrohung, und sie haben sich zusammengetan, um ihn wieder los zu werden. Es geht um Toleranz und um Ängste, um Wohnqualität und auch um Geld. Um die Suche nach Identität in einer geschichtsreichen Straße in Berlins Mitte.

      Für Ann Muller ist der Knick in der Straße eine Metapher ihrer Zerrissenheit. „Vorn, an der Oranienburger, ist es laut und rau“, sagt sie. „Und hinten beinahe kleinstädtisch. Bestimmt ein Zufall, aber die Pension Dallmann scheint die Straße mittendrin zu spalten.“

      Ann Muller ist Mitte 40, sie hat Malerei studiert, jetzt arbeitet sie für Musiker als Agentin und ist Kulturbeauftragte der luxemburgischen Botschaft. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in der Krausnickstraße 1. Es ist ein Eckzimmer mit Fenstern zu zwei Seiten, ein Teil geht zur Oranienburger Straße. Zwischen den Tischchen und Sesseln und Stühlen liegen Bücher und Zeitschriften herum, gerahmte Bilder lehnen an Regalen. An den Wänden hängen ein paar Zeichnungen. Vor allem aber alte Ölgemälde, auch ein Rembrandt ist dabei. „Die sind nicht echt“, sagt sie, „mein Großvater war ein bekannter Kopierer“.

      Ann Muller hat in Brüssel und Frankfurt am Main gelebt, in Moskau, Italien und New York, und immer wieder in Berlin. Sie wohnte in Mitte, „als es hier noch wild war“, und später im Bötzowviertel in Prenzlauer Berg. Irgendwann wurde es ihr dort zu langweilig. Zu uniform. Sanierte Spielplätze und überall Mütter mit Kinderwagen vor Latte-Macchiato-Läden und Väter im Anzug auf Fahrrädern. Es passte nicht mehr zu ihrem Faible für das Unaufgeräumte, das Unfertige. Das, was für sie ein Viertel lebendig machte.

      Sie hätte sich vorstellen können, nach Kreuzberg zu ziehen, wegen der verschiedenen Kulturen, die dort miteinander leben. Eigentlich, sagt sie, habe sie diese Übereinstimmung zwischen sich und ihrer Umgebung immer gesucht. Aber der Vater ihrer Kinder wohnt in der Krausnickstraße, nur ein paar Häuser entfernt von ihrer jetzigen Wohnung. Die Nähe ist praktisch für die Kinder und erleichtert manches. Das gab den Ausschlag, hier die Wohnung zu kaufen.

      Von draußen ist an diesem Abend kaum etwas zu hören. „Dreifach verglast“, sagt Ann Muller. „Sie müssen mal kommen, wenn im Sommer die Fenster offen sind und Touristen auf organisierter Sauftour unten durch die Oranienburger ziehen. Oder wenn ein Zuhälter mit hundert Sachen durch die Straße rast, aussteigt und eine halbe Stunde den frisierten Motor laufen lässt.“ Sie nennt das respektlos ihr, der Anwohnerin gegenüber, und es verletzt sie, weil sie sich als Mensch nicht ernst genommen fühlt. In solchen Momenten fühle sie sich hier wie eine Fremde. „Das ist doch nicht spießig, oder?“

      Die meisten Häuser in der Krausnickstraße wurden um 1860 gebaut. Damals kaufte ein reicher Torfproduzent aus Fehrbellin hier Land und ließ auf eigene Kosten die Straße anlegen als Verbindung zwischen der Großen Hamburger und der Oranienburger mit dem Barockschloss Mon Bijou am Ufer der Spree. Das Gelände links und rechts der Straße parzellierte er und verkaufte es an solvente Interessenten, die dann Häuser bauten. Herrschaftliche Wohnungen entstanden für gehobene Bedienstete des nahen Hofes und gutverdienende Bürger.

      Die Krausnickstraße ist nur 400 Meter lang. Ein bisschen wirkt sie wie eine Schlucht, das liegt an ihren balkonlosen Fassaden. Den Knick macht die Straße wahrscheinlich, weil sie sonst quer durch das Terrain des Sankt-Hedwigs-Krankenhauses gegangen wäre, das 1846 hier gegründet wurde. Überliefert ist, dass die Anwohner und Erbauer die Straße nach Schinkel oder Humboldt nennen wollten. Doch das Kabinett entschied für Heinrich Wilhelm Krausnick, der 26 Jahre lang Berliner Oberbürgermeister war.

      Vieles atmet hier Stadtgeschichte. Und vieles erzählt von Rissen und Brüchen. Gleich um die Ecke steht in der Oranienburger die Jüdische Synagoge, die im Krieg zerstört und kurz vor dem Ende der DDR wieder aufgebaut wurde. Vom anderen Ende der Krausnickstraße ist der Friedhof nicht weit, auf dem der Aufklärer Moses Mendelssohn begraben ist, Lessing nahm ihn zum Vorbild für „Nathan der Weise“. Ein paar Meter weiter steht die barocke evangelische Sophienkirche, noch ein Stück weiter das jüdische Gymnasium, das durch einen hohen Eisenzaun geschützt wird. Die Große Hamburger nannte man damals auch die Toleranzstraße, weil Protestanten, Katholiken und Juden nebeneinander ihre Altersheime, Schulen, Krankenhäuser errichtet hatten und friedlich zusammenlebten. Da schien die Gegend ihre Identität gefunden zu haben, und es scheint, als schließe man jetzt an an diese Zeit.

      Als seien die Jahre dazwischen nur eine Episode gewesen. Am Haus Nummer 6 erinnert eine Gedenktafel an Regina Jonas, die erste weibliche Rabbinerin Deutschlands, die hier wohnte. Die Nazis brachten sie wie zehntausende Juden aus der Gegend in Auschwitz um. Zu DDR-Zeiten waren die Fassaden hier überall grau, die Dächer undicht, die Wohnungen kohlebeheizt. Und dennoch begehrt, vor allem die großen, hundertzwanzig Quadratmeter für 100 Mark Miete. Nach der Wende stürzte sich die Szene auf das marode Quartier, besetzte Keller, Wohnungen, ehemalige Läden, eröffnete Kneipen und Clubs, die „Obst und Gemüse“ oder „VErkehrsBeruhigte OstZone“ hießen. Aus der Ruine eines ehemaligen Kaufhauses in der Oranienburger machten Künstler ein Kunsthaus, das sie Tacheles nannten. Es sollte ein Aufbruch sein. Aber es war nur ein letztes anarchisches Zwischenspiel. Bis das Geld wiederkam.

      Für Berliner Verhältnisse sind die Mieten für Läden und Wohnungen hier teuer. Kürzlich wurde in der Krausnickstraße eine Vier-Zimmer-Wohnung zur Miete angeboten: 115 Quadratmeter für 1 200 Euro kalt. Eine vergleichbare Kaufwohnung kostet hier kaum unter 300 000 Euro. In der Oranienburger zahlt man ein Drittel mehr. Und manches Penthouse in der Gegend ist nicht unter einer Million zu haben.

      Viele der alten Mieter sind inzwischen gestorben. Wer es sich hier nicht mehr leisten konnte, zog weg. Schätzungsweise 80 Prozent der Anwohner aus DDR-Zeiten leben nicht mehr in der Gegend. Dafür sind Schauspieler und Filmregisseure, Journalisten und Politiker, Künstler und Kreative, Galeristen und Geschäftsleute hierher gekommen. Die Mehrzahl ist aus dem Westen. Sie bezahlen viel Geld und erwarten dafür Wohnqualität. Nicht jeder kann sich mit einem Puff in seiner Straße anfreunden.

      Kurz vor dem Knick wohnt im Hochparterre seit gut 15 Jahren der Schauspieler Uwe Karpa. Wo früher einmal sein Schlafzimmer war, fährt heute ein Fahrstuhl nach oben ins Dachgeschoss. Dort wohnt die Eiskunstläuferin Katarina Witt, Karpas Vermieterin. Sie hat das Haus vor ein paar Jahren gekauft.
      Karpa ist 63, kommt aus Ost-Berlin und ist ein fideler, sympathischer Mann, dem es Spaß macht zu erzählen und der ständig versucht, lustig zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass er in seinem Leben viel Comedy gemacht hat. „Komm mal, ich zeig dir den Gänsemarsch“, sagt Karpa.



      Er dimmt das Licht im Zimmer ab, geht zum Fenster und deutet auf das Souterrain des Nebenhauses, das wegen des Straßenknicks von hier gut einzusehen ist. „Pass mal auf, gleich kommen sie raus“, sagt Karpa. Eine Tür öffnet sich und fünf großgewachsene Mädchen stöckeln auf die Straße. Sie tragen lange Haare, enge Hosen, die in hohen Stiefeln stecken, und weiße Daunenjacken. Darüber haben sie Korsetts geschnürt. Eine hat einen Kaffeebecher in der Hand, eine andere eine Zigarette zwischen den Fingern.
      In einer Reihe marschieren sie an Karpas Fenster vorbei. „Die Pension Dallmann da unten ist das Nachtquartier der Mädchen“ sagt Karpa. „Dort machen sie sich hübsch für den Straßenstrich auf der Oranienburger. Da geht’s jetzt hin. Und wenn sie sich einen Freier geangelt haben, kommen sie mit ihm hierher zurück.“

      Wo jetzt die Mädchen ihre Betten haben, war zu DDR-Zeiten eine Kohlehandlung, erzählt Karpa. Dann eröffnete jemand ein schickes Kamin-Restaurant. Aber die Zeit war wohl noch nicht reif dafür, es kamen wenig Gäste und der Wirt saß oft alleine vor seinem Kamin. Auch der Sadomaso-Club, der sich dort einrichtete, hielt sich nur kurze Zeit. Dann kam Dallmann. Offiziell betreibt er eine Pension.

      Von außen wirkt das Souterrain wie ein Hochsicherheitstrakt. Die Fenster hat Dallmann mit Platten aus glänzendem Stahlblech verbarrikadiert, auch die Eingangstür ist aus schwerem Metall. Über der Tür sind Kameras angebracht, die die Straße kontrollieren. Nur eine kleine Klingel verbindet das Souterrain mit der Außenwelt.

      Auf ein Klingeln kommt ein junger Mann vor die Tür. Sein Schädel ist kahl geschorenen, aus dem eng anliegenden T-Shirt wachsen gewaltige Oberarme. Er kommt nahe, sehr nahe und pumpt die Brust auf. Im nordischen Dialekt sagt er, dass er der Angestellte von Herrn Dallmann ist. Dann sagt er noch, dass er keine Auskünfte gebe. Sein Chef ist auch nicht zu sprechen. Der junge Mann verschwindet wieder hinter der Eisentür.

      Uwe Karpa stören Dallmann und seine Geschäfte in der Straße nicht. Ja eigentlich gefällt ihm das abendliche Theater vor seinem Fenster. „Die Mädels und die Freier gehören dazu, wenn man hier wohnt“, sagt er, „das war schon immer so.“

      Manchmal plaudert er mit den Mädchen, sagt Karpa. Eine habe ihn sogar mal erkannt, vom Fernsehen, wo er eine Kindersendung moderierte. Aber das sei lange her. Seine Freundin hat sich neulich von einem der Mädchen erklären lassen, wie man das Haar künstlich verlängert, erzählt er noch. Und von den Korsetts sei sie ganz begeistert. Ein bisschen fühlt sich der Schauspieler wohl selbst als Teil der Inszenierung.

      Es gibt andere in der Straße, Männer und Frauen, die fürchten, dass die Welt des Sex und des lauten Vergnügens ihnen zu nahe kommt. Die sich dagegen wehren, dass sie sich einnistet in ihrer Straße.

      Vorn an der Oranienburger liegt das Café Strichmann. Davor steht ein Mädchen, ganz in Schwarz, und versucht, Passanten zu verführen. Drin sitzt an einem Tisch eine blond gelockte Frau vor einem Cappuccino. Sie trägt ein Kostüm und ist um die 40. Sie stammt aus München, hat einige Jahre in Köln gelebt, führt jetzt eine kleine Firma in Berlin und lebt in einer Wohnung in der Straße, die nach hinten direkt in den idyllischen Krausnickpark führt.

      „Früher sind die Huren an der Ecke wenigstens noch Berlinerinnen gewesen“, sagt die Frau. „Die haben nett gegrüßt, so wie die kleine Schwarze, die hier immer stand. Aber jetzt? Haben Sie das gesehen? Undefinierbar, wahrscheinlich Osteuropa.“

      Den Einwand, das Mädchen draußen spreche deutsch und gerade hätte es mit einem Kunden berlinert, überhört sie. „Ich werd Ihnen mal sagen, wie es hier aussieht“, sagt die Frau, das können Sie ruhig schreiben, aber schreiben Sie meinen Namen nicht in die Zeitung, unter keinen Umständen. Verstehen Sie!“
      Atemlos redet sie weiter. Von einer wilden Verfolgungsjagd mit gezogenen Pistolen, die es kürzlich in der Straße gab und die auch durch ihren Hinterhof ging. Von einem Einbruch in ihre Wohnung. Von Spritzen und Verhüterli, die auf der Straße und im Park herumliegen, und vom Kaninchen ihrer neunjährigen Tochter, das unten im Hof ihres Hauses in einem Stall lebt, und das kürzlich von Fremden mit roter Farbe besprüht wurde. Abends nach neun traue sie sich gar nicht mehr aus dem Haus.

      Sie hat Angst, sagt die Frau. Angst vor den Zuhältern. Angst vor Dallmann. Angst um ihre Tochter.
      Vielleicht ist die Angst übertrieben und die Frau etwas hysterisch. Aber sie wirkt kampfbereit. Nicht willens, das erworbene Terrain freiwillig anderen zu überlassen.

      Die Münchnerin engagiert sich in einer Bürgerinitiative, die sich „gegen eine zunehmende Bordellisierung der Gegend“ wehrt. Die dafür kämpft, dass Sexläden wieder verschwinden. Es sind etwa ein Dutzend Anwohner. Sie telefonieren und schicken sich E-Mails, machen Druck auf die Behörden, organisieren Lokaltermine mit der Polizei, sammeln Unterschriften für ihre Protestbriefe. Zuletzt sollen 60 Anwohner gegen die „Bordellisierung“ unterschrieben haben, unerwartet viele, sagen die Initiatoren.
      Vorn in der Krausnick, vor dem Knick, waren es deutlich mehr als im hinteren Teil.

      Die Münchnerin hat ihre Wohnung für viel Geld gekauft. Sie sagt, dass es ein Fehler gewesen sei, hier zu kaufen. Dass sie es nicht getan hätte, wenn sie geahnt hätte, wie es hier zugeht. Und dass sie ja jetzt nicht verkaufen könne, wegen der Krise.

      Sie hofft nun auf Ernst Freiberger, einen ehemaligen Pizzabäcker, der, reich geworden, ins Immobiliengeschäft eingestiegen ist. Sein aktuelles Projekt ist ein Quartier an der Monbijoustraße, schräg gegenüber der Krausnick. Freiberger will an der Spree Luxuswohnungen bauen. Das könnte den Wert der ganzen Gegend steigern.

      Sicher ist das nicht. Wohnquartiere sind sensible Gebilde und so genau ist nicht voraussehbar, wie sie sich entwickeln. Sie brauchen Zeit. Und sie können schnell in ihrer Qualität kippen, wenn das Umfeld nicht stimmt. Ein Sexladen kann wieder verschwinden. Er kann aber auch andere nachziehen und eine ganze Straße zerstören. Neben der Pension Dallmann, vor dem Knick, hat sich schon ein Thai-Massagesalon angesiedelt. Kein gutes Zeichen.

      Der Strich auf der Oranienburger gilt als sehr lukrativ, ein Zuhälter kann in guten Wochen 30 000 Euro verdienen. Das liegt an den attraktiven und gepflegten Mädchen, die auch bei Preisen, die schnell bei zweihundert Euro sind, ihre Freier finden. Und es liegt an der Anziehungskraft der Straße, die am Hackeschen Markt beginnt, kurz vor der Synagoge die Krausnickstraße kreuzt und hinter dem Tacheles in die Friedrichstraße mündet.

      Eigentlich ist es keine Rotlichtmeile, wie man sie von anderswo kennt. Noch unfertig wirkt sie, richtungslos, unentschieden. Wie auf der Suche, wo es in der teuren Gegend, wo ein Quadratmeter Gewerbefläche inzwischen 80 Euro kostet, hingehen soll.

      Neben dem Bundesverband deutscher Internisten liegt die „Kellerassel“, eine der wenigen Kneipen, die es hier seit 20 Jahren gibt und die mit einer Restaurantkritik in der New York Times wirbt. Nicht weit davon führt ein Durchgang mit einer Gittertür in den Krausnickpark. Zwischen einem Sushi-Restaurant und einer Firma mit riesigen Schaufenstern, die sich Imagemovement nennt, machen Behinderte eine Trommeltherapie. Und nur ein paar Schritte neben der streng geschützten Synagoge wirbt ein Club mit Table-Dance – der einzige Laden mit erkennbarem Erotikangebot in der Straße. Wer es morbide mag, geht ins Tacheles. Und wer gut essen will, ins Luther und Wegner, gleich nebenan. 35 Restaurants und Kneipen gibt es in der Straße, Thais und Inder und Türken und Japaner, Lokale mit meist durchschnittlicher Kost. Dazwischen stehen die Straßenmädchen. Wenn die Touristenwellen in die Straße schwappen, wirken sie wie Orientierungsbojen im Meer.

      Gelegentlich kommt es zum Krieg zwischen rivalisierenden Zuhältern. Wie vor einem Jahr, als die einen Anteile an ihren Geschäften in der Oranienburger an Interessenten aus Südeuropa verkaufen wollten und die anderen das nicht zuließen. Sie engagierten Motorradbanden, überfielen sich gegenseitig in ihren Stammkneipen und Muskelbuden, schlugen aufeinander ein und brachen sich die Knochen. Dem ehemaligen Boxer Robert Dallmann, der einst im Schwergewicht kämpfte, rammte ein Konkurrent auf der Oranienburger ein Messer in den Hals. Ein paar der Schläger landeten daraufhin im Gefängnis, jetzt ist die Macht neu aufgeteilt und momentan ist es ruhig. Zumindest an der Oberfläche.

      Die Polizei toleriert den Strich. Manchmal kontrolliert sie Personen und Autos, nur um zu zeigen, dass sie da ist. Nur wo es kriminell wird, da greift sie ein. Die Pension Dallmann beobachten die Ordnungshüter momentan nur, gegen Dallmann liegt polizeilich nichts vor. Empörte und verunsicherte Anwohner sind kein Grund, polizeilich etwas zu unternehmen.

      Es könnte dennoch sein, dass der Boxer seine Pension demnächst zumachen muss. Dallmanns Pension gilt beim Bezirksamt als bordellähnlicher Betrieb. Kürzlich lag ein Schreiben vom Bezirksamt Mitte in den Briefkästen in der Krausnickstraße, darin stand, dass sie solche Betriebe nur in sogenannten Kerngebieten zulassen will. Das ist in Mitte zum Beispiel die Gegend um Alexanderplatz und Friedrichstraße oder der Hackesche Markt, dort, wo es Kaufhäuser gibt, Bahnhöfe, viel Verkehr. Die Krausnickstraße aber ist ein Mischgebiet mit Wohnungen, mit Geschäften, Büros und Kneipen. Das Bezirksamt hat Dallmann dort schon im vorigen Jahr die Nutzung seiner Pension untersagt, teilte der Stadtrat mit, in Kürze erwarte er eine gerichtliche Entscheidung.

      Natthanicha Phraisan will es auf so einen Entscheid nicht ankommen lassen. Die kleine schmale Frau mit dem runden, ebenen Gesicht und den halblangen dunklen Haaren trägt Jeans und einen leichten Pulli, um den Hals hat sie einen Seidenschal gewickelt, auf den Füßen stecken Pantoffeln mit Pelzbesatz. Frau Phraisan ist die Besitzerin des Massagesalons Longma in der Krausnickstraße 24, gleich neben Dallmann.

      Draußen vor dem Salon pflügt ein Bagger die aufgerissene Straße. „Keine Parkplätze, viel Lärm“, sagt sie und hebt die Hände. „Nicht gut fürs Geschäft.“
      Mit 26 ist sie nach Deutschland gekommen, hat hier geheiratet, sich wieder scheiden lassen, den ersten Massagesalon in Mitte eröffnet. Der in der Krausnickstraße ist ihr zweiter. In greller blauer Leuchtschrift wirbt Frau Phraisan um Kunden.

      Sie beschäftigt vier Mädchen, die Peilin „mit den magischen Händen“ oder Emmy „mit dem Hardbody“ heißen. Ab 45 Euro kann man ihre Dienste in Anspruch nehmen, dafür gibt es eine einfache Thaimassage von 40 Minuten. Im Whirlpool oder in der Sauna geht es bei 100 Euro für 60 Minuten los. Dafür sind die Masseusen nackt und man darf sie anfassen.
      „Kein Bordell“, sagt Frau Phraisan. „Kein Sex, kein Französisch und kein GV.“ Es gibt normale Massage und Body-to-Body-Massage. Und Tantra. Das ist Massage mit dem ganzen Körper. Und der Kunde wird, wenn er wünscht, am Ende entspannt.
      Das ist kein Sex?
      „Nein, kein Sex.“
      Frau Phraisan ist der feine Unterschied wichtig. Wegen der Initiative in der Straße gegen die Bordellisierung. Wegen des Argwohns der Zuhälter, ihr Laden sei in Wirklichkeit ein versteckter Puff. Und wegen der Nutzungsgenehmigung, die das Bezirksamt noch prüft.

      Die Reklame über ihrem Salon wird sie womöglich wieder abmontieren müssen. Die hässliche blaue Leuchtschrift passt, auch wenn das Frau Phraisan nicht so recht verstehen kann, nicht ins Straßenbild. Selbst vor dem Knick. Eine Mieterin von der anderen Straßenseite wollte ihr aus ästhetischen Erwägungen schon den Strom abknipsen. Das letzte Wort haben die Denkmalschützer, die müssen eine Expertise vorlegen. Das kann dauern.

      Frau Phraisan will keinen Konflikt in der Straße. Sie will in Ruhe ihr Geschäft führen. So, wie die Luxemburgerin Ann Muller hier Identität sucht. Die blonde Frau aus München Sicherheit. Und Uwe Karpa aus Ostberlin sein Theater.
      Mal sehen, wie das geht.

      Es ist spät am Abend, Nieselregen fällt auf das Pflaster. In Ann Mullers Eckzimmer in der Nummer 1 brennt noch Licht. Von der Oranienburger biegt ein Paar in die Krausnickstraße ein, schlendert vorbei an dem thailändischen Massagesalon und den Fenstern von Uwe Karpa. Im Knick der Straße öffnet sich die Eisentür der Pension Dallmann wie von Zauberhand und verschluckt die beiden.

      Berliner Zeitung, 14.02.2009
      Avatar
      schrieb am 15.03.09 10:38:27
      Beitrag Nr. 38 ()
      Eine passende Geschichte in unsere Zeit. Eine Geschichte, die menschliche Schicksale mit der großen Wirtschaftspolitik verbindet.

      Quelle: Sueddeutsche Zeitung

      "Verspieltes Vertrauen"

      Von A. Hagelüken, A. Mühlauer und H. Wilhelm

      Wie der Ex-Chef von Lehman, ein deutscher Lehman-Anleger, der Boss von General Motors und der Arbeitsamts-Chef in Bochum das vergangene halbe Jahr erlebten.
      Lehman Brothers, Foto: ReutersGrossbild

      Ihr Zusammenbruch veränderte den weiteren Gang der Welt: Menschen vor einer Filiale der früheren Großbank Lehman Brothers.
      Genau vor einem halben Jahr ging die US-Investmentbank Lehman Brothers in Konkurs. Es war das erste große Geldhaus, das nicht vom Staat gerettet wurde. Danach eskalierte die Finanzkrise zur schwersten Weltwirtschaftskrise seit acht Jahrzehnten. Anleger haben ihr Geld verloren, Arbeitnehmer ihren Job. Niemand weiß, wohin die Krise noch führen kann. Banker, Anleger, Bosse und Arbeitsmarktexperten erzählen, wie sich die Welt in einem halben Jahr völlig veränderte – und was das für die Zukunft bedeuten könnte. Bis heute stellt sich die Frage: Hätte die US-Regierung Lehman retten sollen und so Schlimmeres verhindert? Oder hätte die Krise die Welt trotzdem mit voller Wucht getroffen?

      Am Tag, an dem seine Bank verschwindet, macht Richard Fuld sein letztes großes Geschäft. Es geht ihm nicht um die Rettung des 158 Jahre alten Geldhauses mit dem Traditionsnamen Lehman Brothers, und um seine 28.000 Mitarbeiter geht es ihm schon gar nicht.

      Fuld, 62, verkauft seine fast drei Millionen Lehman-Aktien, 16 bis 30 Cent pro Papier. Er bekommt dafür knapp 500.000 Dollar. Für Fuld ein Wochenlohn, nicht gerade viel, aber immerhin etwas.

      An seine Mitarbeiter, die wegen der Pleite insgesamt 13,7 Milliarden Dollar ihres Vermögens verlieren, schreibt Fuld in einer E-Mail: "Ich fühle mich furchtbar."

      Für Gefühle war nie viel Platz in der Finanzwelt, schon gar nicht bei Fuld, den sie an der Wall Street "Gorilla" nannten. Am 15. September 2008, einem Montag, verschwindet seine Bank und mit ihr viel Geld und viel Vertrauen. Ein halbes Jahr ist das nun her. Spätestens jetzt erkennt die Welt: Vieles, was danach geschah, hat mit der Pleite dieser Bank namens Lehman zu tun.

      Ganz direkt kommt die Pleite in einem kleinen Ort bei München an, 8000 Einwohner, zwei Banken. Erwin Maurer, ein Rentner, der in Wahrheit anders heißt, bekommt einen Anruf von seiner Raiffeisenbank.

      40.000 Euro verloren

      Dort ist er seit über 30 Jahren Kunde. Sie sagen ihm, dass er bei seinen Anleihen 40.000 Euro verloren habe. Die Beraterin erklärt, die Insolvenz von Lehman Brothers sei schuld. Maurer hat den Namen noch nie gehört. Er fragt: "Was ist das denn für eine Bank?"

      Ausgerechnet am 16. September, dem Tag nach der Lehman-Pleite, feiert General Motors den hundertsten Geburtstag. An der Spitze des einstmals größten Automobilunternehmens der Welt steht Richard G. Wagoner, genannt Rick. GM - diese beiden Buchstaben stehen für Amerika wie Fastfood und Coca-Cola.

      Die Firma aus Detroit, Michigan, produziert seit 100 Jahren, wovon Amerikaner träumen: Jeeps, Pick-ups, Muscle Cars. Jetzt aber malt Wagoner die Lage der einstigen Traumfabrik in düsteren Farben: "Wir starten während eines fundamentalen Wandels der Autoindustrie in unser zweites Jahrhundert."

      Keine gute Stimmung in Bochum

      Tausende Kilometer über den Atlantik steht in Bochum ein Werk der GM-Tochter Opel. Dort ist die Stimmung noch gut. Als Lehman zusammenbricht, hört es Udo Glantschnig in den TV-Nachrichten. Der 59-Jährige leitet damals die Arbeitsagentur in Essen, heute ist er der Chef in Bochum.

      Beides Städte, die unter dem Schrumpfen von Kohle-, Stahl- und anderen Alt-Industrien im Ruhrgebiet leiden. Glantschnig ist seit 30 Jahren bei der Agentur.

      Er hält es für seinen Job, sich früh über wirtschaftliche Trends zu informieren. Den Namen Lehman Brothers liest er schon vor der Pleite. Er macht sich schlau, um was für eine Bank es sich da handelt. Er denkt, dass die Pleite vor allem Banken beschäftigen wird, weniger den Rest der Wirtschaft.

      Oktober 2008:

      Richard Fuld versteht die Welt nicht mehr. Er sitzt vor dem Kongress in Washington und sagt: "Ich verstehe einfach nicht, warum Lehman als einziges Institut nicht gerettet wurde." Bis er unter die Erde komme, werde er sich diese Frage stellen. Immer wieder.

      Der Rentner Erwin Maurer hat inzwischen in seinen Unterlagen nachgesehen. Auf der ersten Seite steht, die Anleihe sei von der DZ Bank, irgendwo hinten findet er die Angabe "Lehman".

      Erwin Maurer dachte, das Produkt sei zu 100 Prozent sicher. Auch weil seine Beraterin ihm das Produkt als sicher verkauft hatte. Er muss lernen: Das stimmt nicht. So wie Erwin Maurer geht es etwa 50.000 Lehman-Anlegern in Deutschland.

      Plötzlich fürchtet ganz Deutschland ums Ersparte

      Unsicher aber fühlen sich noch viel mehr Menschen. Anfang Oktober fürchtet plötzlich ganz Deutschland ums Ersparte, um die Sicherheit von Konten, Lebensversicherungen, Fonds. Sparer beginnen, ihr Geld umzuschichten, von kleinen Banken zu großen, von ausländischen zu inländischen. Die Bundeskanzlerin versucht die Menschen zu beruhigen, indem sie alle Einlagen garantiert.

      Bei der Arbeitsagentur Bochum haben sie dieses Jahr einen Rekord zu melden. Von 190.000 potentiell Arbeitsfähigen sind weniger als 19.000 arbeitslos. Die Arbeitslosenrate ist unter zehn Prozent gesunken - zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert. Zum ersten Mal seit 1983, dem Jahr, als die Deutschen einen gewissen Helmut Kohl zum Kanzler wählten.

      Besonders freut es sie in Bochum, dass auch eine ganze Reihe von Menschen einen Job gefunden hat, die seit Jahren nach einer Arbeit suchten. Eine Feier gibt es nicht. Niemand weiß ja, was noch so kommen könnte.

      Schnell in Kurzarbeit

      Udo Glantschnig merkt, dass die Lehman-Krise nicht nur auf die Banken, sondern auch auf den Rest der Wirtschaft wirkt. Ein Hersteller von Matratzen, mit dem er in Kontakt steht, finanziert sich seit Jahrzehnten auf dieselbe Weise: Die Bank gibt einen Kredit für die Produktion, der nach dem Verkauf der Matratzen zurückgezahlt wird.

      Auf einmal sagte die Bank, sie könne diese Kredite nicht mehr geben - nach Jahrzehnten. Der Matratzenhersteller musste schnell Beschäftigte in Kurzarbeit schicken.

      Auch von General Motors, der Mutter des Opel-Werks in Bochum, gibt es Nachrichten. Die Autofirma verkauft immer weniger Autos. Nach einem desaströsen Monat setzt die Deutsche Bank das Kursziel der GM-Aktie auf null.

      Ein paar Wochen später reist Autoboss Rick Wagoner von Detroit nach Washington. Er soll vor dem Kongress Rede und Antwort stehen. Und er soll vor allem begründen, warum er 18 Milliarden Dollar vom Staat für seine marode Firma haben will.

      Keine Hand geht nach oben

      Jetzt sitzt er da wie ein Schuljunge in der ersten Bank, neben ihm Alan Mulally, Chef von Ford, und Robert Nardelli, Chef von Chrysler. Wagoner droht, es stünden drei Millionen Jobs in den USA auf dem Spiel.

      Ein Abgeordneter bittet die drei Automanager um Handzeichen, wer denn zur Anreise auf einen Flug mit dem Privatjet verzichtet hätte. Keine Hand geht nach oben. Dann fragt er, ob einer von ihnen bereit wäre, den Privatjet zu verkaufen und per Linienflug nach Hause zurückzureisen. Wieder kein Handzeichen.

      Zwei Wochen später kommen die Drei aus Detroit wieder nach Washington. Diesmal mit dem Auto. Im Gepäck haben sie das Eingeständnis, nicht rasch genug in spritsparende Modelle investiert zu haben. Insgesamt wollen die Großen Drei 34 Milliarden Dollar.

      Januar 2008:

      Ex-Lehman-Chef Richard Fuld verkauft sein Haus. Für nur 100 Dollar überträgt er seiner Frau die gemeinsame Villa in Florida mit Tennisplatz und Gästehaus. Vor fünf Jahren zahlte er dafür 14 Millionen Dollar. Fuld versucht mit diesem Trick, sein Vermögen vor drohenden Zivilprozessen in Sicherheit zu bringen.

      Banken bekommen weltweit immer mehr Geld vom Staat, damit sie überleben. Die Anleger nicht. Erst im Januar gibt die Beraterin von Erwin Maurer auf wiederholtes Bitten den ausführlichen Prospekt zu seinen Anleihen heraus: Er liest, über Risiken und Ausfallwahrscheinlichkeiten, über Provisionen für die Verkäufer.

      "Von all dem wusste ich nichts, sonst hätte ich nie gekauft." Maurer hat sein Vertrauen in die Banken verloren. Damit ist er nicht alleine. Unbeliebter waren Banker selten, selbst Sparkassen und Volksbanken haben ihre Unschuld verloren.

      Schon wieder 1300 Arbeitslose mehr

      Mitte Januar können sie es in der Arbeitsagentur Bochum aus den Zahlen ablesen: Das wird kein guter Monat. Die Arbeitslosenrate steigt wieder über zehn Prozent. Der schöne Erfolg vom letzten Jahr - aus, vorbei. Es sind schon wieder 1300 Arbeitslose mehr.

      Vor ein paar Jahren hatte Deutschland fünf Millionen Arbeitslose. Dann gelang es auch durch die Reformen der Agenda 2010, die Zahl auf unter drei Millionen zu drücken. Wie geht es jetzt weiter?

      Viel hängt davon ab, wie lange die Firmen durch Kurzarbeit Entlassungen vermeiden. Glantschnig hofft, dass die Unternehmen die Zeit zur Qualifikation ihrer Mitarbeiter nutzen, da habe Deutschland sowieso Defizite.

      Wie lange hält der Optimismus?

      Doch wenn die Skepsis zu groß und die wirtschaftliche Lage zu schlecht wird, werden die Firmen doch entlassen. "Im Moment ist noch nicht erkennbar, dass der Optimismus verlorengeht", sagt der Chef der Arbeitsagentur. "Aber wie lange das hält?"

      Udo Glantschnig weiß, dass die Opel-Mutter GM ums Überleben kämpft. Im Januar bricht der Autoabsatz in den USA um 49 Prozent ein. Das Unternehmen beschäftigt weltweit 266.000 Menschen. Allein bei Opel in Deutschland arbeiten mehr als 25.000. Viele von ihnen bangen um ihren Job. Auch die Beschäftigten bei Opel in Bochum. Im Stadtteil Laer ist das Montagewerk des Autobauers, 5200 Opelaner arbeiten dort.

      März 2009:

      Es ist März, vor einem halben Jahr ging Lehman Brothers pleite. Von Richard Fuld, dem Ex-Chef der Bank, liest und hört man so gut wie nichts. Der ehemalige Gorilla der Wall Street ist abgetaucht. Die Scherben, die er hinterlässt, müssen nun andere aufräumen.

      Ein halbes Jahr also, und Erwin Maurer hat immer noch keine Entschuldigung bekommen, keine Entschädigung, keine Erklärung. Er hat gelernt, dass bei der Raiffeisenbank doch Verkäufer arbeiten und keine Berater. Und dass 40.000 Euro weg sind, die er für seine kranke, arbeitslose Tochter angelegt hatte, "damit sie etwas hat, wenn wir mal nicht mehr sind".

      Früher immer zum Gratulieren vorbeigekommen

      Nachts schläft er schlecht. Er wacht auf und fragt sich, was wird. Mit seinem Geld, seiner Tochter, der Weltwirtschaft. Vor ein paar Tagen ist er 80 Jahre alt geworden. Er hat nicht gefeiert. Früher ist seine Beraterin von der Raiffeisenbank immer zum Gratulieren vorbeigekommen. Dieses Mal nicht. Er ist froh darüber.

      Bereits Ende Februar meldete General Motors einen Verlust für 2008 von fast 31 Milliarden Dollar. GM hat seit 2005 insgesamt 70 Milliarden Dollar verbrannt. Der Mutter-Konzern von Opel ist faktisch zahlungsunfähig und überlebt derzeit nur dank eines Überbrückungskredits der Regierung in Washington. GM benötigt, so Rick Wagoner, weitere 16,4 Milliarden Dollar vom Staat, um die Zukunft der Firma sichern zu können.

      "Alles ist möglich"

      In Bochum diskutieren sie darüber, ob das Opel-Werk überlebt. Wenn nicht, wären 5200 Arbeitsplätze weg, eine Katastrophe für die Stadt. Vergangenes Jahr haben sie schon mal so etwas erlebt, als Nokia sein Handy-Werk schloss und nach Rumänien verlagerte. "Das war ein dicker Blocker für Bochums Entwicklung", sagt Glantschnig. Was wäre, wenn jetzt auch noch das Opel-Werk kaputt geht? "Alles ist möglich", weiß er.

      In diesen Tagen, ein halbes Jahr nach der Lehman-Pleite, beobachtet er in der Arbeitsagentur eine Veränderung. Es machen immer mehr Menschen einen Beratungstermin aus, die noch einen Job haben. Sie wollen sich wappnen für das, was da noch kommt.
      Avatar
      schrieb am 13.05.09 15:44:21
      Beitrag Nr. 39 ()
      NIEDERGANG EINES MULTIMILLIONÄRS
      Der Mann, der sein Leben verzockte

      Von Barbara Hans, Delmenhorst

      Klaus F. Schmidt verdiente mit einer Sprudelmaschine ein Millionenvermögen, besaß Yacht, Luxus-Sportwagen, ein Haus am See. Dann verzockte er alles am Roulette-Tisch - und wurde zum Hartz-IV-Empfänger, der Flaschen sammeln musste. Ein Leben wie eine Achterbahnfahrt.

      Delmenhorst - Es ist ein grauer Tag im Oktober 2000, an dem nichts mehr geht. Klaus F. Schmidt sitzt am Roulette-Tisch der Spielbank Bremen, er denkt an die Gitarre, die er seinem jüngeren Sohn zu Weihnachten versprochen hat, an die Mietnachzahlung, die er für den älteren übernehmen will.

      Klaus F. Schmidt schaut auf die Roulettescheibe, die sich dreht "wie der Kessel in der Waschmaschine" und setzt seinen letzten Jeton auf die Eins. Die Eins soll ihm die fast fünf Millionen zurückbringen, die er in den vergangenen 24 Monaten in der Spielbank gelassen hat.

      "Rien ne va plus. Nichts geht mehr."


      Die Zahlen sind gesetzt. Doch Schmidt zweifelt, seine Gedanken sind wirr: Seine Großmutter, bei der er aufgewachsen ist, hatte am 1. Geburtstag, aber seine Glückszahl ist eigentlich die 17. Doch die Kugel rollt. Er bittet den Croupier, noch einmal umsetzen zu dürfen. Eigentlich verletzt das die Regeln, das weiß Schmidt. Doch er ist ein guter Kunde, ein sehr guter Kunde. "Die Eins spielt die 17", es hat geklappt.

      Die Kugel rollt, wird langsamer - und fällt in die Eins.

      Schmidt hat verloren. Erst, mit dem Rückzug aus dem Job, seine Aufgabe, dann seine Kontrolle, irgendwann seine Selbstachtung, schließlich sein Vermögen. Fünf Millionen DM sind futsch, verzockt. Es war das definitiv letzte Spiel, nichts ging mehr.

      Schmidt holt den Mantel, verlässt das Casino durch die Drehtür, in seinem Kopf rotieren die Gedanken wie die Kugel im Kessel. Neben dem Eingang steht ein Straßenmusiker, Schmidt schaut ihn an, denkt "Ich kann dir nichts mehr geben". Die Blicke der beiden treffen sich, Schmidt greift in seine Manteltasche, um wenigstens seinen guten Willen zu zeigen - und findet einen 50-Mark-Schein.


      Es zieht ihn zurück in den Saal, mit den 50 Mark könnte er die Kugel besiegen, gewiss. Es könnte es noch einmal versuchen, die fünf Millionen zurückholen, die Schmach wettmachen, das Haus, die Yacht, den Sportwagen zurückkaufen, die Gitarre besorgen und die Mietrückzahlung übernehmen. Die Kugel rollt schon wieder in Schmidts Kopf.

      Doch plötzlich ist der Rausch vorbei. "Schmidt, hör auf zu spinnen", denkt er, greift nach dem Schein - und gibt ihn dem Straßenmusiker.

      "Guten Tag gehabt, was?", fragt der. Zum Dank spielt er Schmidt ein Lied, als der langsam auf der Bremer Böttcherstraße davongeht. "It's all over now, baby blue", Bob Dylan. Es ist der Soundtrack zu Schmidts Leben.

      Schmidt muss liquidieren, Schmidt fängt wieder von vorn an

      "Manchmal denke ich, irgendwer führt Regie in meinem Leben", sagt Schmidt. Er sitzt vor einem Glas Mineralwasser in einem Hotel in Delmenhorst, am selben Ort, wo er einst Verträge für Sodastream aushandelte. Die Decke ist holzvertäfelt, die Theke verspiegelt, die Sitzbänke sind mit schwerem, braun-grünem Stoff bezogen. In den Saal nebenan bringt die Kellnerin auf einem silbernen Tablett Kännchen für den Beerdigungskaffee.

      Schmidt ist nach Delmenhorst zurückgekehrt, wo 1993 in drei abgewrackten Räumen die Erfolgsgeschichte von Sodastream begann. Von hier ging es für Schmidt zunächst steil bergauf - in eine Wohnung nach Luxemburg und ein Haus am IJsselmeer. Nach dem tiefen Fall kehrte er hierher zurück, heute lebt der 59-Jährige in einem 16-Quadratmeter-Zimmer unter dem Dach. "So wie Spitzwegs armer Poet. Nur, dass es bei mir nicht reinregnet."


      1993 steigt er als Berater in die Firma eines Freundes ein. Der will eine Küchenmaschine aus Großbritannien auf dem deutschen Markt etablieren, die aus Leitungswasser Sprudel macht. Schmidt ist ohne Arbeit, er lässt sich auf das Projekt ein. Er hat nichts zu verlieren.

      Aus Holzpaletten baut er sich einen Schreibtisch. Die Post stellt das Telefon mehrfach ab, die Vermieterin steht regelmäßig vor der Tür, weil die Miete nicht gezahlt ist, bei der Bank gibt man Schmidt und seinen Geschäftspartnern nicht einmal mehr 50 Mark für Briefmarken. Vor dem Gerichtsvollzieher verstecken sich Schmidt und seine Kollegen hinter einem schweren, speckigen Samtvorhang.

      1993 kostet ein Sodastreamer 259 Mark, und es scheint nicht, als habe Deutschland auf diese Erfindung gewartet. Mit einer Tagesfahrkarte tingelt Schmidt nach Bremen, auf der Suche nach potentiellen Kunden, geht von Geschäft zu Geschäft. Vergeblich.

      Doch Schmidt ist ein Macher, er lebt in Superlativen - in positiven wie in negativen. Sein Leben ist eine Achterbahnfahrt, nie Durchschnitt. An seiner Hauptschule ist er der schlechteste von 800 Schülern, sein Lehrer prophezeit ihm, er werde als "obdachloser Nichtsnutz" enden.

      Doch Schmidt ist auch Autodidakt: Als junger Mann liest er juristische Loseblattsammlungen, vertritt dann Freunde vor dem Amtsgericht. Er leitet einen Handwerksbetrieb und eine Werbeagentur, gibt eine Zeitung heraus. Immer wieder gehen seine Projekte den Bach runter. Schmidt muss liquidieren, Schmidt fängt von vorne an. Es ist das ewig gleiche Spiel. Wenn scheinbar nichts mehr geht, beginnt Schmidt zu kämpfen.

      Schmidt wird geschätzt, aber nicht mehr gebraucht

      "Ich habe keine Angst vor Dingen, von denen ich nichts verstehe. Ich habe oft Sachen gemacht, von denen ich nichts verstanden habe. Und es hat immer ganz gut geklappt."

      Schließlich stellt Jean Pütz den Sodastreamer in seiner WDR-Sendung "Hobbythek" vor. "Bevorraten Sie sich!", rät er Schmidt und seinen Kollegen vor der Ausstrahlung - und behält Recht.



      1993 macht die Firma 100.000 Mark Umsatz, 1997 sind es 67,8 Millionen. Schmidt wird Geschäftsführer und zieht mit Ende 40 schließlich nach Luxemburg, um Sodastream in den Benelux-Ländern auf den Markt zu bringen.

      Doch auf dem Höhepunkt seines Erfolges steigt Schmidt aus.

      1998 steht der Sodastreamer in vielen deutschen Küchen. Schmidt hat damals einen Job, aber keine wirkliche Aufgabe mehr. Er hat die Firma aufgebaut, er hat sie groß gemacht, doch die Arbeit gibt ihm keinen "Kick" mehr, wie er heute rückblickend sagt. Er ist ausgelaugt, Stress und Anspannung der vergangenen Jahre machen sich bemerkbar.

      Schmidt, der Kämpfer, muss im Krankenhaus behandelt werden, weil sein Kreislauf schlapp macht. Burn-out, würde man heute sagen. Nichts geht mehr.

      Schmidt ist ausgepowert. Er wird geschätzt in der Firma, aber nicht mehr gebraucht. Er ist 49, als er beschließt, seine Anteile zu verkaufen. Wenn er heute davon erzählt, was ihn damals dazu brachte, wird Schmidt, der Anekdotenerzähler, der Redner, ruhig, nachdenklich. Manchmal zuckt er in der Anspannung fast unmerklich mit dem Kopf, als wolle er eine Fliege verscheuchen.



      Er bekommt mehr für seinen Anteil, als er erhofft hat: Fünf Millionen Mark zahlt sein Partner ihm aus. Schmidt ist noch keine 50, er hat Geld, aber keinen Lebensinhalt mehr. Er sucht die Freiheit, die ihm der Reichtum bietet - Arbeitslosenzahlen, Preissteigerungen, all das braucht ihn fortan nicht mehr zu interessieren - doch er findet sie nicht. Die Freizeit macht ihn einsam. Jetzt, da eigentlich alles geht, geht nichts mehr.

      Schmidt kauft sich einen Luxus-Sportwagen, eine Dodge Viper, eine Yacht, ein Haus am IJsselmeer in den Niederlanden, edle Anzüge. Junge Frauen bewundern ihn, er lädt Freunde zu Segeltörns ein. Doch die haben keine Zeit, müssen arbeiten. Schmidt ist reich, aber er hat niemanden, den er daran teilhaben lassen kann.


      Er ist auf dem Weg zu seinem Sohn nach Bremen, als er wenige Wochen später an der Ausfahrt "Zwischenahner Meer" von der A28 abfährt. Schilder weisen den Weg zur Spielbank Bad Zwischenahn. Schmidt kehrt ein, isst im Restaurant. Das Casino zieht ihn an, er sei halt ein neugieriger Mensch, sagt Schmidt heute lapidar.

      Er tritt ein, der dicke Teppich verschluckt die Stimmen, Schmidt hört gedämpftes Gemurmel, sieht gut gekleidete Menschen, höfliche Gesten. "Manierlich" nennt er das alles. Die Etikette, das viele Geld - Schmidt ist beeindruckt.

      Für die richtige Zahl wird er in den kommenden rund 24 Monaten alles riskieren - und alles verlieren.


      Seine Selbstkontrolle gibt er fortan ab, so, wie er den Mantel an der Casino-Garderobe abgibt. Schmidt, der Macher, verliert die Fäden, die er immer in der Hand gehalten hat, wird selbst zur Marionette.

      Das Spiel ist wie ein Rausch, die Zeit zieht an ihm vorbei, mal bleibt er nur kurz, dann wieder viele Stunden, meist jedoch so lange, bis er kein Geld mehr hat. Geht er doch mit Scheinen in der Tasche nach Hause, dann nur, weil das Casino schließt, er gehen muss.

      Schmidt, der Stratege, hat eine neue Aufgabe: Er will die Kugel besiegen. Er will vorhersagen, in welches Nummernfach sie fällt, will sich das verlorene Geld zurückholen. Es ist ein Spiel um Macht, Schmidt ringt mit der Spielbank, mit dem Roulette, er will sich nicht damit abfinden, dass er verliert. "Ich habe gedacht, wenn ich mich mehr mit der Materie beschäftige, würde ich auch nicht mehr verlieren, habe den Einsatz als Lehrgeld gesehen, das ich mir zurückhole, weil ich ja ein cleveres Kerlchen bin."

      An einem Abend verspielt er ein Zweifamilienhaus, mit 364.000 Mark geht er rein, mit 7000 geht er raus.

      Klaus J. Schmidt: "Multimillionär a.D."

      "Ich fand mich bedauernswert. Aber wenn ich mich bedauert habe, musste das wenigstens kein anderer machen." Schmidt lässt sich sperren, und spielt schließlich doch wieder. Sein Wohnmobil parkt auf dem Gelände der Spielbank, so ist er näher am Glück.



      An jenem Abend im Oktober 2000 hat Schmidt endgültig alles verspielt. Als er bei Bekannten um Unterschlupf bittet, wollen die im Gegenzug mit Schmidt auf dem IJsselmeer segeln. Sie ahnen nicht, dass er mittellos ist. Schmidt muss sich offenbaren: erst bei seinen Bekannten, später beim Sozialamt.

      Hartz IV klagt er in zweiter Instanz beim Sozialgericht ein: Man glaubt ihm zunächst nicht, dass kein Geld mehr übrig ist. Das Jobcenter ist in die früheren Sodastream-Büroräume gezogen, Schmidts Beraterin sitzt auf dem Stuhl, auf dem einst eine seiner Angestellten saß. Er sammelt Pfandflaschen, ist ganz unten.


      "Diese Berg- und Talfahrt, dieses himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, einmal gelingt alles wie im Schlaf, dann gelingt gar nichts und alles fällt in sich zusammen. Das macht auf Dauer müde, aber so verläuft ein Leben. Ich habe aufgehört, zu grübeln, wofür das gut sein soll. Und ich habe die Angst vorm Fallen verloren."

      Doch Schmidt kämpft: nicht länger gegen die Kugel, nicht länger gegen sich selbst, sondern gegen die Spielbanken. Schmidt will aufklären, vor Spielsucht warnen, die Zusammenhänge zwischen Glücksspiel, den Interessen der Länder und Finanzämter aufdecken, ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wenig es braucht, um die Kontrolle zu verlieren - und wie schnell es soweit ist, dass nichts mehr geht.

      Er verliert einen Prozess, weil der Richter ihm keine Spielsucht attestiert. Wenn das Spielen pathologisch wäre, dann hätte er an jenem Abend im Oktober nicht einfach aufhören können, urteilt das Gericht.

      "Multimillionär a.D." steht auf Schmidts Visitenkarte, inzwischen arbeitet er wieder als Berater für kleine Unternehmen, versucht sich an der Vermarktung einer russischen Sängerin, Hartz IV bezieht er nicht mehr. Er lebt allein. "Wenn man keinen Partner hat, kann man auch nicht verlassen werden", sagt er.

      Wer nichts hat, kann auch nichts verlieren.
      http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,623392,00…
      Avatar
      schrieb am 28.07.09 13:24:34
      Beitrag Nr. 40 ()
      Avatar
      schrieb am 10.08.09 20:15:06
      Beitrag Nr. 41 ()
      Eine etwas nachdenkliche Geschichte:

      "Die letzte Bleibe"
      Quelle: sueddeutsche Zeitung

      http://www.sueddeutsche.de/,tt6m1/muenchen/786/483234/text/
      Avatar
      schrieb am 20.08.09 17:33:05
      Beitrag Nr. 42 ()
      Diese Geschichte möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:


      Was erwartet uns?
      http://www.hartgeld.com/filesadmin/pdf/Gschwendtner%20-%20Wa…
      Avatar
      schrieb am 03.11.09 12:57:02
      Beitrag Nr. 43 ()
      Avatar
      schrieb am 07.04.10 10:41:28
      Beitrag Nr. 44 ()
      Avatar
      schrieb am 13.05.10 13:53:32
      Beitrag Nr. 45 ()
      300.000€ für die Prostituierte
      http://www.sueddeutsche.de/bayern/783/510897/text/
      Avatar
      schrieb am 21.06.10 16:45:29
      Beitrag Nr. 46 ()
      Avatar
      schrieb am 02.07.10 12:27:30
      Beitrag Nr. 47 ()
      Die Sueddeutsche Zeitung als Gast zu einem Interview bei einem Individualisten
      http://www.sueddeutsche.de/geld/reden-wir-ueber-geld-charles…
      Avatar
      schrieb am 31.10.10 11:08:23
      Beitrag Nr. 48 ()
      Japan- die Insel der glücklichen Alten
      http://www.geo.de/GEO/kultur/gesellschaft/4767.html
      Avatar
      schrieb am 11.11.10 09:54:55
      Beitrag Nr. 49 ()
      Keith Richards Autobiographie

      FALTUNG BEWAHREN

      __________________________________________

      http://www.sueddeutsche.de/kultur/keith-richards-wird-furche…
      Avatar
      schrieb am 23.01.11 12:50:24
      Beitrag Nr. 50 ()
      "Butzi Butzi kumm gemma Betti, gema Betti"

      http://www.sueddeutsche.de/reise/ballermann-am-berg-butzi-bu…
      Avatar
      schrieb am 14.03.11 16:19:48
      Beitrag Nr. 51 ()
      Avatar
      schrieb am 30.04.11 13:05:07
      Beitrag Nr. 52 ()
      Avatar
      schrieb am 30.04.11 15:48:11
      Beitrag Nr. 53 ()
      Was willst du uns eigentlich mit diesen Artikeln sagen?
      1 Antwort
      Avatar
      schrieb am 30.04.11 18:15:20
      Beitrag Nr. 54 ()
      Antwort auf Beitrag Nr.: 41.433.952 von sdaktien am 30.04.11 15:48:11Eigentlich überhaupt nichts. Es sind herausragend geschriebene Geschichten, die ablenken, nachdenklich stimmen, meinetwegen aber auch zum innehalten animieren sollen.

      Geschichten, die sich mit Schicksalen befassen, über Menschen berichten und einfühlend beschrieben sind.

      Ich lese sowas sehr gerne und denke viele Menschen denken wohl genauso.
      Schönes WOE
      Avatar
      schrieb am 29.05.11 16:25:05
      Beitrag Nr. 55 ()
      Avatar
      schrieb am 29.05.11 16:40:28
      Beitrag Nr. 56 ()
      In dem Wort Apotheke steckt das Wort Theke ja auch schon drin.
      Avatar
      schrieb am 13.10.11 12:26:06
      Beitrag Nr. 57 ()
      Avatar
      schrieb am 21.11.11 17:38:21
      Beitrag Nr. 58 ()
      Avatar
      schrieb am 03.01.12 11:17:08
      Beitrag Nr. 59 ()
      Wo der Bankvorstand die Filiale putzt
      Raiffeisenbank Gammelsfeld

      __________________________________

      http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/raiffeisenkasse-gammel…
      1 Antwort
      Avatar
      schrieb am 03.01.12 11:44:08
      Beitrag Nr. 60 ()
      Antwort auf Beitrag Nr.: 42.542.479 von Dorfrichter am 03.01.12 11:17:08Anhang zur Raiffeisenbank Gammelsfeld- Quer meint:
      http://www.youtube.com/watch?v=Florsd02Ock&feature=related


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