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    Schwerer Stand der Wirtschaftswissenschaft in Politik und Gesellschaft - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 08.02.07 08:43:42 von
    neuester Beitrag 08.02.07 09:39:03 von
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      schrieb am 08.02.07 08:43:42
      Beitrag Nr. 1 ()

      Fehlendes Fachwissen im Kabinett Merkel


      Im Griff der Unvernunft


      Von Bernd Ziesemer

      In Deutschland hat die ökonomische Vernunft keine schlagkräftige Lobby. Es gibt so gut wie keine Quereinsteiger, die aus einem Topjob in der Wirtschaft in die Politik wechseln. In den Parlamenten fehlt es deshalb dramatisch an wirtschaftlichem Urteilsvermögen aus der Praxis – von theoretischen Kenntnissen ganz zu schweigen. Die große Koalition liefert ein gutes Beispiel dafür.

      DÜSSELDORF. Wer eine kurze Geschichte der ökonomischen Unvernunft in Deutschland schreiben will, kommt nicht umhin, den Umgang der Politiker mit dem ökonomischen Sachverstand in der Republik zu analysieren. Die Politik beschäftigt sich nicht mit der ökonomischen Wissenschaft, schon gar nicht mit ihren neueren Erkenntnissen und Empfehlungen. Sie ignoriert auch die schnellen Entwicklungen auf den Märkten, vor allem auf den Finanzmärkten.

      Die ökonomischen Grundkenntnisse des Durchschnittsabgeordneten darf man getrost als dürftig bezeichnen, obwohl doch alle Parlamentarier ständig über wichtigste ökonomische Fragen entscheiden. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Oswald Metzger, einer der wenigen Wirtschaftsliberalen unter den Grünen, bescheinigte sogar den meisten Mitgliedern des Wirtschaftsausschusses im Bundestag erschreckende Unkenntnis. Bundespräsident Horst Köhler bemerkte im August 2006, im internationalen Vergleich sei vor allem das Finanzwissen in der deutschen Politik viel zu gering.

      Warum hören die Politiker so selten auf Wirtschaftswissenschaftler und Praktiker aus den Unternehmen? Wieso schlagen sie ökonomische Erfahrungen so oft so leichtfertig in den Wind? Auseinandersetzen muss man sich allerdings auch mit der Frage, ob Deutschlands Ökonomen nicht weit hinter den besten internationalen Vertretern ihrer Zunft zurückbleiben – und ob sie sich überhaupt auf die Methoden einer modernen Politikberatung verstehen, wie sie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten zum Regierungsalltag gehört.

      Das parlamentarische System in Deutschland kennt so gut wie keine Quereinsteiger, die aus einem Topjob in der Wirtschaft in die Politik wechseln. In den Parlamenten fehlt es deshalb dramatisch an wirtschaftlichem Urteilsvermögen aus der Praxis – von theoretischen Kenntnissen ganz zu schweigen. Lediglich einige wenige pensionierte Manager fanden in den letzten fünfzig Jahren den Weg in den Bundestag – die meisten mit eher dürftigen Ergebnissen. In den Parlamenten fehlt es deshalb dramatisch an wirtschaftlichem Urteilsvermögen aus der Praxis, von theoretischen Kenntnissen ganz zu schweigen.

      Ganz anders stellt sich die Situation in den USA dar: Dort besteht ein reger Austausch zwischen Wirtschaft und Politik. Die meisten Gouverneure, Senatoren und Minister waren erfolgreich auf dem Privatsektor tätig, bevor sie ein Regierungsamt übernahmen. Finanzminister wie Robert Rubin oder Hank Paulson blickten auf eine überaus erfolgreiche Karriere an der Wall Street zurück, bevor sie in die Politik gingen. Natürlich können dadurch auch Probleme entstehen, etwa durch die Verquickung wirtschaftlicher und politischer Interessen. Mit dem Fachwissen amerikanischer Toppolitiker aus der Welt der Finanzmärkte kann aber auf jeden Fall keiner ihrer europäischen Amtskollegen mithalten.

      Lesen Sie weiter auf Seite 2: Fehlendes Fachwissen im Kabinett Merkel.

      Die große Koalition unter Angela Merkel und Franz Müntefering liefert ein gutes Beispiel dafür. Von der Ausbildung her finden sich in der Bundesregierung unter der Physikerin Merkel fünf Juristen, drei Lehrer und Lehrerinnen, ein Verwaltungswirt, ein Ingenieur, ein gelernter Müller, ein ausgebildeter Industriekaufmann, eine Theologin. Nur ein einziger Volkswirt komplettiert die Riege: der sozialdemokratische Finanzminister Peer Steinbrück. CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen absolvierte neben ihrem Medizinstudium immerhin eine betriebswirtschaftliche Zweitausbildung.

      In früheren Bundesregierungen war das Bild nicht sehr viel anders. Nur zwei Bundeskanzler, Ludwig Erhard und Helmut Schmidt, verfügten über tiefere ökonomische Kenntnisse. Deutschland wird traditionell entweder von Berufspolitikern oder von Juristen regiert. Selbst unter den elf letzten Bundeswirtschaftsministern fanden sich nur drei studierte Volkswirte. Von den sechs Staatssekretären, die zu Beginn der Legislaturperiode unter dem Müllermeister Glos im Wirtschaftsministerium dienten, konnte nur ein einziger wissenschaftliche Meriten vorweisen.

      Jura gilt in Deutschland, ganz im Unterschied zu vielen anderen Ländern, nach wie vor als bestes Studienfach für „Generalisten“ auch in der Unternehmensführung. Anders als in der Politik gelangt in den großen deutschen Unternehmen jedoch niemand in ein höheres Amt, der sich nicht erhebliche betriebswirtschaftliche Zusatzkenntnisse angeeignet hat. Die Kluft zwischen unseren typischen Juristen-Berufspolitikern und der Ökonomie ist aber noch aus einem anderen Grund tiefer als in vielen anderen Ländern: In Deutschland haben sich die Staatswissenschaften (Jura, Politologie, Verwaltungswissenschaft) seit Jahrzehnten immer weiter von den Wirtschaftswissenschaften entfernt.

      Juristen gehen in den meisten Fällen völlig ohne ökonomische Kenntnisse ins Examen. Die amerikanische Juristenausbildung orientiert sich dagegen viel stärker an den Bedürfnissen der freien Wirtschaft. Mit der „reinen Politik“ hat die Ökonomie in Deutschland nichts zu tun, so lautet die überwiegende Meinung. Viele Intellektuelle in Deutschland prahlen sogar mit ihren fehlenden ökonomischen Kenntnissen und sind stolz darauf, dass sie in ihrem Leben noch niemals in den Wirtschaftsteil einer Tageszeitung geschaut haben. Trotzdem maßen sich im Feuilleton Schriftsteller und Theaterkritiker Pauschalurteile über den „Raubtierkapitalismus“ an. Diese intellektuelle Haltung strahlt tief in die gesamte politische Klasse hinein.

      Für die Politiker gilt das Gleiche wie für die deutsche Elite insgesamt: Weil sie selbst über geringe wirtschaftliche Kenntnisse verfügen, sind sie eigentlich dringend auf ökonomische Beratung durch Fachleute aus den Universitäten und aus der Wirtschaft angewiesen. Doch in der Praxis nutzen sie die vorhandenen Möglichkeiten so gut wie gar nicht – vor allem, wenn es um die ökonomischen Wissenschaften geht. Dabei lässt sich der Bund die ökonomischen Beratungskapazitäten einiges kosten: Für ihre Frühjahrs- und Herbstgutachten zur Konjunkturentwicklung kassieren allein die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute rund 1,3 Mill. Euro pro Jahr.

      Die fünf Weisen verfügen über ein Budget von fast 1,7 Mill. Euro. Mehrere Bundesministerien unterhalten eigene wissenschaftliche Beiräte, die mit ihren Empfehlungen häufig in Konkurrenz zum Sachverständigenrat treten. Alle diese Expertenrunden präsentieren regelmäßig genauso dicke Gutachten wie das der fünf Weisen, mit dem Unterschied, dass sie von Öffentlichkeit und Politikern im Allgemeinen noch weniger beachtet werden als das Jahresgutachten des Sachverständigenrats.

      Lesen Sie weiter auf Seite 3: Kein Dialog, nirgends.

      Nur weil die Vorschläge der Hartz-Kommission ins politische Kalkül der damaligen Bundesregierung passten, schafften es die Empfehlungen einer Expertenkommission ausnahmsweise einmal (und noch dazu reichlich verzerrt) in die breitere politische Öffentlichkeit. Die Urteile vieler Wissenschaftler über den Dialog mit der Politik fallen denn auch verheerend aus. Der ehemalige Wirtschaftsweise Horst Siebert behauptet, die Politik schlage die Ratschläge der Ökonomen seit Jahrzehnten in den Wind, denn sonst müsse beispielsweise der Arbeitsmarkt in Deutschland seit langem ganz anders aussehen.

      Kanzler Schröder tat ein unliebsames Gutachten des Sachverständigenrats schlicht als „Meteorologie“ ab. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement attestierte den Ökonomen verschiedentlich, sie wüssten offenbar nicht, worüber sie reden. Und der Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Ludwig Stiegler, polterte gleich bei mehreren Gelegenheiten, er wolle sich das „Professorengeschwätz“ des Sachverständigenrats nicht länger anhören.

      Das beste Beispiel für die Missachtung wissenschaftlichen Rats lieferten wiederum die Hartz-Reformen: Die ersten Fehlentwicklungen waren bereits kurz nach dem Start der Programme erkennbar. Trotzdem ließen die Fachbeamten des Bundesarbeitsministeriums die so genannten Evaluierungsberichte über Hartz I bis Hartz III erst einmal für ein halbes Jahr unbeachtet liegen. Erst im Januar 2006 beschäftigte sich das Bundeskabinett nach heftiger Kritik der Medien mit Tausenden von Seiten, die von verschiedenen Experten zusammengetragen worden waren. Bereits vorher hatten die Politiker jedoch einzelne Änderungen an den Reformen beschlossen, bevor sie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen überhaupt kannten.

      Einen wirklich engen Kontakt zwischen ökonomischer Wissenschaft und praktischer Politik gab es nur in den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland. Während damals in den angelsächsischen Ländern der Keynesianismus dominierte, also die Idee einer staatlichen Nachfragepolitik zur Belebung der Wirtschaft, profilierte sich bei uns die Ordnungspolitik der so genannten Freiburger Schule. Ihr Kopf, der Nationalökonom Walter Eucken, lehnte jede punktuelle Wirtschaftspolitik als gefährlich ab. Statt „interventionistische Prozesspolitik“ zu betreiben, sollte sich der Staat seiner Meinung nach auf „Ordnungspolitik“ beschränken. Diese theoretischen Positionen der Freiburger Schule waren über weite Strecken deckungsgleich mit der Politik Ludwig Erhards, der als ehemaliger Professor der Nationalökonomie in engstem Kontakt mit seinen Kollegen stand.

      Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren entwickelten sich beide Sphären in Deutschland immer weiter auseinander. Die Mitglieder des Sachverständigenrats gehörten 1976 zwar international zu den ersten Ökonomen, die nach Jahren der keynesianischen Konjunktursteuerung in der ganzen Welt für einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik plädierten.

      Lesen Sie weiter auf Seite 4: Der Glaubenskrieg unter den Ökonomen.

      Durchsetzen konnten die Professoren ihre Position damals jedoch nicht: Die marktwirtschaftliche Renaissance, die sie mit ihren Forderungen in Deutschland einleiten wollten, fand einige Jahre später in Ländern wie Großbritannien und den USA statt. Die wissenschaftlichen Vorkämpfer einer neuen Wirtschaftspolitik verstanden es niemals, in Deutschland die breite Öffentlichkeit für ihre Thesen zu gewinnen.

      Gerade weil sich die Angebotstheoretiker in Deutschland in der praktischen Politik in den siebziger Jahren nicht wirklich durchsetzen konnten, tobte in den darauf folgenden Jahrzehnten in Deutschland ein besonders heftiger Glaubenskrieg um ihre Thesen. Zum Teil koppelten sich die deutschen Ökonomen damit vom internationalen Mainstream ihres Fachs ab, der in den achtziger und neunziger Jahren immer neue kreative Konzepte aufnahm: Die Spieltheorie, ökonomische Experimente unter Laborbedingungen und komplexe mathematische Methoden bestimmen seit zwei Jahrzehnten das Bild der modernen Wirtschaftswissenschaften in den USA und in Großbritannien. In Deutschland schlagen dagegen bis heute Neokeynesianer und Neoklassiker die letzten Schlachten von gestern.

      Erst in den letzten Jahren konnte die deutsche Ökonomie einen Teil des Rückstands wieder aufholen, der nach dem Krieg entstanden war und sich in den achtziger und neunziger Jahren weiter verstärkte. Der Amerikaner Dennis Snower, der seit Herbst 2004 das renommierte Kieler Institut für Weltwirtschaft leitet, hält jedoch viele heutige Beiträge in der ökonomischen Debatte in Deutschland immer noch für „Konzepte von gestern“. In der ökonomischen Politikberatung sind die neuen wissenschaftlichen Methoden noch nicht angekommen. Im Gegenteil: Deutschlands kreativste Ökonomen spielen in der öffentlichen Auseinandersetzung so gut wie keine Rolle.

      Das Handelsblatt veröffentlichte im Mai 2005 die bisher einzige
      repräsentative Rangliste in Deutschland für Ökonomen.
      An der Spitze steht der Spieltheoretiker Klaus Schmidt, der in der Fachwelt mit seinen Forschungen über Wettbewerb, Fairness und Kooperation Furore macht.
      Auf Platz zwei folgt Thomas Lux, der sich als Volkswirtschaftsprofessor in Kiel mit Studien zum Zusammenwirken unterschiedlichster Akteure an den Finanzmärkten profilierte.
      Platz drei in der Liste der deutschen Topökonomen eroberte Wolfgang Härdle, der sich mit Statistik und Ökonometrie beschäftigt. Was alle drei gemein haben: In der deutschen Öffentlichkeit sind sie so gut wie unbekannt, kein Politiker dürfte je von ihnen gehört haben.

      In der öffentlichen Debatte geben ganz andere Ökonomen den Ton an. Zu den Medienstars gehören Männer wie der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Bert Rürup (Platz 2), der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach (Platz 3) oder der Gewerkschaftsökonom Gustav Horn (Platz 7). Für sie alle gilt: In der Rangliste der Topforscher kommen sie überhaupt nicht vor. Sie alle arbeiten kaum noch wissenschaftlich und sind in der internationalen Scientific Community so gut wie unbekannt. Auf Platz eins schaffte es allerdings Hans-Werner Sinn, der sich auch als Wissenschaftler einen Namen gemacht hat.

      Nur sehr wenige deutsche Ökonomen wie Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung halten sich sowohl in der Spitzengruppe der Wissenschaft wie in der Politikberatung. Doch damit wächst keineswegs ihre Durchsetzungskraft in der deutschen Politik. Sinn machte diese Erfahrung gleich mehrfach: 1991 warnte der Professor mit seinem spektakulären Buch „Kaltstart“ vor den verheerenden Folgen einer falschen Wirtschaftspolitik in den neuen Bundesländern. Die Privatisierungspolitik der Treuhand laufe auf eine „Konkursverwaltung mit Sozialplan“ hinaus, die Folgen der schnellen Angleichung der DDR-Löhne an Westniveau kämen einem „industriellen Arbeitsverbot“ gleich. Wie wir heute wissen, waren alle seine Warnungen vollkommen berechtigt.

      Lesen Sie weiter auf Seite 5: Dem Land fehlen Denkfabriken.

      13 Jahre später gehörte Sinn zu den wenigen deutschen Ökonomen, die vor den unberechenbaren Folgen von Hartz IV warnten: Vielen Empfängern des Arbeitslosengeldes II werde die „Lust am Arbeiten vergehen“, prophezeite Sinn. Doch in beiden Fällen und vielen anderen hörte die Politik nicht auf seine Ratschläge. Seine Kritik an der Wiedervereinigungspolitik wurde sogar als „unpatriotisch“ diffamiert.

      Die wirtschaftliche Vernunft verfügt in Deutschland zwar über einige Anhänger, aber über keine schlagkräftige Lobby. In Deutschland fehlen vor allem einflussreiche ökonomische Denkfabriken, wie es sie in den Vereinigten Staaten gibt. Unsere Forschungsinstitute, die staatliche Auftragsforschung betreiben und auf staatliche Finanzmittel angewiesen sind, ziehen sich meistens in den Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft zurück. Oft fehlt ihnen auch der politische Riecher, wie ökonomische Empfehlungen in einer Parteiendemokratie durchzusetzen sind. Ausnahmen wie das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das unter seinem neuen Leiter Michael Hüther durch kreative Beiträge zu allen wichtigen Debatten auffällt, bestätigen eher die Regel.

      In den Vereinigten Staaten tummeln sich dagegen gleich Dutzende von ökonomischen Denkfabriken, die hoch professionell und gleichzeitig für die breite Öffentlichkeit verständlich zu allen aktuellen Fragen Stellung beziehen und einen großen Einfluss auf die Abgeordneten ausüben. Mit den Arbeiten der amerikanischen Denkfabriken befassen sich die deutschen Experten kaum – sie sind vollauf damit beschäftigt, einander eifersüchtig zu beäugen. Überflüssig zu erwähnen, dass die amerikanischen Positionen nicht in unsere politischen Debatten einfließen. Die gesamte Auseinandersetzung um die deutschen Wirtschaftsreformen umweht ein Hauch der Provinzialität.

      Zwar verweisen einige Politiker je nach Couleur gern einmal auf die Erfahrungen in Dänemark oder Neuseeland. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch sorgte vor einigen Jahren durch einen einzigen Trip nach Milwaukee, wo er sich mit den Erfahrungen der amerikanischen Sozialhilfe beschäftigen wollte, für großes mediales Aufsehen. Solche Einzelaktionen und wohlfeilen internationalen Referenzen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere gesamte Reformdebatte um sich selbst kreist. Sozialdemokraten und Grüne wollen explizit das „deutsche Modell des Sozialstaats“ verteidigen und lehnen schon deshalb einen Blick über die nationalen Grenzen ab. Und auch die CDU/CSU zeigt wenig Neigung zum wirklichen internationalen Benchmarking, wenn es um ökonomische Fragen geht.

      Die Lebhaftigkeit der ökonomischen Debatte und die Lust an der theoretischen Durchdringung der Wirklichkeit mit ökonomischen Mitteln wie in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien gehen den Deutschen ab. Die wirtschaftliche Vernunft erscheint den meisten Menschen in unserem Lande als blutleer und über weite Strecken doktrinär. Viele wittern hinter ökonomischen Einsichten nur die vordergründigen Interessen der Reichen oder der Unternehmen. Die deutschen Medien tragen an dieser Einstellung eine gehörige Mitschuld. Sie dürfen deshalb in einer kurzen Geschichte der ökonomischen Unvernunft keinesfalls fehlen.


      HANDELSBLATT, Dienstag, 6. Februar 2007, 19:24 Uhr

      http://www.handelsblatt.com/news/Wissenschaft-Debatte/Essay/…" target="_blank" rel="nofollow ugc noopener">http://www.handelsblatt.com/news/Wissenschaft-Debatte/Essay/…
      Avatar
      schrieb am 08.02.07 08:46:03
      Beitrag Nr. 2 ()
      Der vom Autor in #1 herausgearbeitete bessere Stand der Wirtschaftswissenschaften in den USA und England zeigt sich dann in der Dominaz beider Länder auf den internationalen Finanzmärkten.
      Avatar
      schrieb am 08.02.07 08:46:47
      Beitrag Nr. 3 ()
      Antwort auf Beitrag Nr.: 27.502.834 von obus am 08.02.07 08:46:03DIE ZEIT


      Beaufsichtigt die neuen Großspekulanten!

      Die wild wuchernden und global agierenden Fonds müssen genauso überwacht werden wie die Banken und der Wertpapierhandel. Das ist ein Gebot der Vernunft und der Moral.

      Von Helmut Schmidt

      Die New Yorker Investmentbank Goldman Sachs hat im vergangenen Jahr 16 Milliarden Dollar an ihre Vorstände und Mitarbeiter ausgezahlt, die fünf größten amerikanischen Investmenthäuser zahlten insgesamt 36 Milliarden Dollar. Für einen normalen deutschen Staatsbürger ist das eine unvorstellbare Summe, sie entspricht in der Größenordnung der Jahreskreditaufnahme durch den deutschen Finanzminister. Man fragt sich unwillkürlich, ob auf den Finanzmärkten alles mit rechten Dingen zugeht. Der ehemalige Finanzminister Helmut Schmidt erklärt Ursachen, Zusammenhänge und Gefahren.

      Am Ende des Zweiten Weltkrieges hat die große Mehrzahl aller Chinesen, aller Russen, Japaner und Deutschen unter weit ärmlicheren Verhältnissen gelebt als jemals in den Jahrzehnten davor. Im Beginn des 21. Jahrhunderts leben sie dagegen unter besseren ökonomischen Umständen als je zuvor. Zwar hat sich die Weltbevölkerung im Laufe der vergangenen sechs Jahrzehnte mehr als verdoppelt; zugleich aber hat der weitaus überwiegende Teil der Menschheit einen unerwarteten ökonomischen Aufstieg erlebt. Eine der Ursachen ist die starke Beschleunigung des technologischen Fortschritts, vor allem im Verkehr und in der Telekommunikation. Zudem haben die Staaten ihre Volkswirtschaften für den Austausch ihres Wissens, ihrer Erfahrungen, ihrer Technologien, ihrer Produkte und Leistungen weit geöffnet. Zugleich haben die Regierungen damit die Entstehung von Weltmärkten ermöglicht, nicht nur wie vormals für einige Rohstoffe, sondern für die allermeisten anderen Güter und Leistungen. Die Staaten der Welt haben sich diesem Verflechtungsprozess (neuerdings Globalisierung genannt) allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß und Tempo angeschlossen und angepasst: Deutschland und Japan beispielsweise sehr weitgehend und relativ früh, China nur beschränkt und sehr viel später, Russland noch später.

      Die Globalisierung der Finanzmärkte begann erst in den 1970er Jahren – und zwar zunächst zögerlich. Als die Opec im Zusammenhang mit den anhaltenden israelisch-arabischen Konflikten von einigen wenigen Öl exportierenden Staaten als weltpolitischer Machthebel eingesetzt wurde, traf dies zeitlich zusammen mit dem Ende der globalen Ankerfunktion der amerikanischen Währung. Eine globale ökonomische Rezession war die Folge. Heutzutage haben wir es mit der Gefahr einer vergleichbaren Machtposition von Akteuren auf den globalen Finanzmärkten zu tun. Hier sind es nicht Staaten oder Regierungen, sondern vielmehr private Finanzinstitute. In einigen wenigen internationalen Finanzzentren treffen sie täglich und stündlich Entscheidungen, die tief in die wirtschaftlichen Prozesse eines großen Teils der ganzen Welt eingreifen. Während es sich bei der Opec um ein ökonomisches Kartell von Regierungen auf dem Weltmarkt für Öl handelt, liegt auf den Weltfinanzmärkten die Gefahr eher im Herdenverhalten von Finanzmanagern im Falle einer Krise. Die Globalisierung der Finanzmärkte hat China einstweilen nur relativ gering und Russland noch kaum erfasst. Doch die Volkswirtschaften Deutschlands und anderer europäischer Staaten, auch südostasiatische und einige südamerikanische Volkswirtschaften, geraten zunehmend unter die Herrschaft der privaten Finanzmanager in den internationalen Finanzzentren in New York und London.

      Einerseits ist die deutsche Volkswirtschaft heute – hinter denen der USA und Japans – die drittgrößte der Welt. Dabei werden über 40 Prozent unseres Sozialproduktes exportiert, viele Millionen deutscher Arbeitsplätze hängen vom Export ab; die Importquote unseres Sozialproduktes – einschließlich des Rohöls – ist fast ebenso groß. Wir sind sehr viel stärker in die Weltwirtschaft verflochten als etwa die USA, Japan oder auch China. Andererseits werden aber die für uns wichtigsten privatwirtschaftlichen Finanzentscheidungen nicht etwa in Frankfurt, sondern in New York und in London getroffen. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die ehemals führenden deutschen Banken nicht im gleichen Tempo gewachsen sind wie die deutsche Wirtschaft (die Deutsche Bank ist die einzige Ausnahme).

      Welche Risiken auf globalisierten Finanzmärkten bestehen

      Seit Ende der 1960er Jahre die Selbstverpflichtung der USA, jeden ihrer Zentralbank präsentierten Dollar in Gold einzulösen, aufgehoben wurde, seit infolgedessen Anfang der 1970er Jahre der Dollar seine Funktion als alleiniger Anker eines globalen Systems fester Wechselkurse verloren hat, haben sich Währungskrisen gehäuft. Wer zum Beispiel aus einem Lieferungskredit an einen Abnehmer in einem südostasiatischen Land in den späten 1990er Jahren eine Forderung in der betreffenden südostasiatischen Währung hatte, der musste erleben, dass seine Forderung für ihn plötzlich erheblich an Wert einbüßte, weil der Wechselkurs jener Währung zusammenbrach. Wenn der Kreditgeber sich seinerseits gegenüber einer Bank verschuldet hatte, so geriet nicht nur er selbst, sondern auch seine Bank in Schwierigkeiten. Andere Banken, die den Vorgang beobachteten, kündigten ihre Kredite. Auf diese Weise gerieten in einem schnellen Prozess mehrere südostasiatische Währungen in eine Verfallsspirale ihrer Wechselkurse. Eine der Konsequenzen war das Ende für eine Reihe von Banken. Eine andere Konsequenz war, dass solche Spekulanten, die auf den Verfall des Wechselkurses jener südostasiatischen Währung gesetzt hatten, einen Gewinn verbuchen konnten; sie hatten im Vorwege große Beträge jener Währung zum alten, höheren Preis für einen späteren Termin verkauft, ohne sie tatsächlich zu besitzen – nun aber konnten sie sich nachträglich dieselbe Währung zu niedrigerem Wechselkurs beschaffen und liefern.

      Tatsächlich war die südostasiatische Währungs- und Bankenkrise keineswegs die erste, sie war allerdings ihrem Volumen nach eine der größeren Währungskrisen, die wir seit 1970 erlebt haben. Derartige Krisen bleiben auch künftig möglich. Sie können durch vielerlei verschiedene Ursachen ausgelöst werden. Ein Staat kann zum Beispiel das Vertrauen in seine Währung durch inflationäre Geldpolitik untergraben. Er kann sich durch eine zu hohe Verschuldung in der Fremde zahlungsunfähig in ausländischer Währung machen und dadurch das Vertrauen in die eigene Währung gefährden – dergleichen hat die Welt vielfach erlebt (zum Beispiel in den späten 1980er Jahren in der DDR). Ein Staat kann auch durch eine defizitäre Außenwirtschaftsbilanz – zu viele Importe, zu wenige Exporte – den Wechselkurs seiner Währung verfallen lassen. In allen derartigen Fällen liegt die Verantwortung natürlich zur Hauptsache bei der jeweils eigenen Regierung. Außerdem können auch große Naturkatastrophen, vor allem aber politische Ereignisse und Kriege die Wechselkurse stark beeinflussen. So hat zum Beispiel die Opec unter saudi-arabischer Führung in den 1970er Jahren durch ihre außenpolitisch-strategisch motivierte Ölpreisexplosion die Wechselkurse einer Reihe von Währungen unter Druck gesetzt, weil die auf Ölimport angewiesenen Staaten plötzlich ein Vielfaches der früheren Ölrechnungen in Dollar zahlen mussten.

      Wenn umgekehrt ein Staat den Wechselkurs seiner Währung ansteigen lässt, so wird ein solcher Vorgang in der Welt fast ausnahmslos nicht als Krise empfunden; ein Beispiel war die im Ergebnis stetige Aufwertung der Deutschen Mark zwischen 1970 und dem Ende der 1990er Jahre. Eine Aufwertung verteuert die eigenen Exporte, sie verbilligt die eigenen Importe. Aus Rücksicht auf ihre exportabhängigen Arbeitsplätze halten China und Japan ihre Währungen seit Jahren künstlich niedrig, indem ihre Zentralbanken vor allem amerikanische Dollar (aber auch Euro) kaufen und in ihren Währungsreserven anhäufen. Dieser Prozess stützt einerseits den Wechselkurs des Dollar. Andererseits entziehen die chinesischen und japanischen Exportüberschüsse ihren eigenen Volkswirtschaften einen Teil der eigenen Güter, wofür das Äquivalent sich in wachsenden Währungsreserven niederschlägt, die in ihrem riesenhaften Umfang – einstweilen! – ziemlich nutzlos sind. Hinter dem Wort »einstweilen« verbergen sich zukünftige Risiken und Gefahren.

      Wechselkursveränderungen und auch Währungskrisen sind nicht die einzig denkbaren Ursachen für krisenhafte Entwicklungen und Ereignisse in den globalen Finanzmärkten; immerhin haben sie aber seit den 1970er Jahren vielerlei Spekulationen provoziert.

      Hedge- und Private Equity Fonds sind weltweit im Aufstieg

      In den 1970er Jahren war von Hedgefonds und von Financial Derivatives keine Rede. Damals ist das am Dollar verankerte weltweite System fester Wechselkurse der Währungen fortgefallen, seither spielen Währungsspekulationen eine große Rolle. Zugleich haben sich die nationalen Finanzmärkte zunehmend globalisiert und gleichzeitig verästelt. Heute gebieten international operierende Hedgefonds über insgesamt weit mehr als 1000 Milliarden Dollar. Die große Mehrzahl der über 9000 Hedgefonds hat ihr juristisches Domizil auf klitzekleinen souveränen Inseln errichtet; denn dort funktioniert weder eine Steuerbehörde noch eine Finanzaufsicht. Die allermeisten ihrer Manager – das gilt auch für die Real Estate oder die Private Equity Companies – haben nicht einmal eine Aktionärsversammlung und einen Aufsichtsrat über sich. Die Manager dieser neuartigen Finanzinstitute sind ebenso frei, ihren Spekulationen und ihrem persönlichen Gewinn nachzugehen, wie die Condottieriim italienischen Mittelalter.

      Die großen Banken sind auf vielfältige Weise am Spiel beteiligt. Sie geben den Fondsmanagern riesige Kredite, mit denen diese die Volumina ihres Hedgefonds vervielfachen – und zugleich dessen Risiken. Viele Banken errichten außerdem ihre eigenen Hedgefonds. Viele Fondsmanager sind ohnedies früher als Händler in einer Bank tätig gewesen. Bank- und Fondsmanager erfinden täglich neue spekulative Finanzderivative, deren Risiken weder der private Kunde noch der eigene Vorstand ausreichend beurteilen kann. Der Enron-Zusammenbruch hat das eindrucksvoll belegt.

      In den 1990er Jahren haben wir miterlebt, wie der erfolgreich spekulierende Fondsmanager George Soros die britische Regierung zur Abwertung ihrer Sterling-Währung zwingen konnte. Wir haben miterlebt, wie das staatliche US-amerikanische Zentralbanksystem den großen Hedgefonds LTCM vor dem Bankrott retten musste, weil dieser sonst eine Reihe von Banken mit sich gerissen hätte. Am Ende desselben Jahrzehnts haben wir die New-Economy-Psychose der internationalen Finanzmanager miterlebt – und sodann die Offenlegung von vielerlei unlauteren und strafbaren Praktiken, und das selbst in weltweit angesehenen Firmen. Kurz vorher gab es nicht bloß die südostasiatische Währungs- und Bankenkrise; dazu kamen die Fälle Brasilien, Argentinien und Russland.

      Alle diese Erfahrungen weisen auf globale Risiken. Unter den transnational vernetzten Finanzmanagern können Psychosen und Domino-Reaktionen entstehen, welche einen einzelnen Fehlschlag weltweit ausbreiten und vervielfachen. Jedoch können nur die wenigsten Finanzminister der Welt heutzutage das finanzielle Risiko beurteilen und eingrenzen, das ihre eigene Volkswirtschaft betrifft.

      Deutschland hat zu wenig große internationale Banken

      Die volkswirtschaftlichen Risiken in den globalisierten Finanzmärkten treffen Deutschland in erheblichem Maße. Es mehren sich die Fälle, in denen einzelne Private Equity Fonds (Beteiligungsgesellschaften) oder deren Manager als Investoren auftreten und produzierende Firmen aufkaufen, fusionieren oder ausschlachten. Das trifft besonders solche mittelständischen Firmen, deren Eigentümer sich über die Fortführung des ererbten Familienunternehmens nicht einig sind und deshalb lieber Kasse machen. Es trifft aber auch große Aktiengesellschaften, wie das Engagement von Blackstone bei der Deutschen Telekom zeigt. Um sich gegen eine feindliche Übernahme zu schützen, setzen die Aktiengesellschaften sich selbst unter Druck, den Kurs ihrer Aktien durch allerhand Kunststücke zu steigern und hoch zu halten – mitunter zum langfristigen Schaden des eigenen Unternehmens. Weil der schnelle Gewinn das ausschließliche Motiv der sogenannten Investoren ist, geraten in manchen Fällen die Forschung und die langfristige Entwicklung der aufgekauften Firmen – und ihre Arbeitsplätze! – unter den Schlitten. Das Schlagwort vom Shareholder-Value hat diesen Zusammenhang nur vorübergehend vernebelt, während Franz Münteferings Wort von den Heuschrecken keineswegs aus der Luft gegriffen war.

      Unter den internationalen privaten Finanzinstituten verschwimmen heutzutage die Grenzen zwischen Banken einerseits und andererseits Investmentfonds, Hedgefonds, Private Equity Fonds, Real Estate Investment Trusts, Dachfonds und so weiter. Die Risiken der spekulativen Grundhaltung vieler Finanzmanager und -händler sind inzwischen zu erheblichen Gefahren der Banken und Versicherungen geworden. Aber auch Pensionsfonds, selbst einige gemeinnützige Stiftungen und sogar Kommunen lassen sich heute zur Beteiligung an hoch spekulativen Geschäften verleiten.

      Ein illustratives Beispiel von finanzieller Globalisierung gibt das größte private deutsche Bankinstitut: Die Deutsche Bank, die im vorigen Jahrhundert der wichtigste Finanzierer der deutschen industriellen Unternehmungen gewesen ist, erzielt heutzutage den bei Weitem größten Teil ihrer Gewinne im Investmentbankgeschäft in New York und in London. Ihre Aktien sind heute mehrheitlich in ausländischem Besitz.

      Vor einem halben Jahrhundert konnte Bundeskanzler Adenauer bei den Londoner Verhandlungen über die deutschen Vorkriegsschulden den damaligen Spitzenmann der Deutschen Bank mit der Vertretung der deutschen Interessen beauftragen. Ein knappes Vierteljahrhundert später, als wir angesichts der durch die Opec ausgelösten Weltrezession den ersten Weltwirtschaftsgipfel und zu dessen Vorbereitung für jeden der teilnehmenden Staaten einen Bergführer (»Sherpa«) erfanden, beauftragten wir Deutschen mit dieser Aufgabe abermals einen Sprecher derselben Bank. Ob im ersten Falle Hermann J. Abs oder ob im zweiten Falle Wilfried Guth, jedenfalls konnten die Bundesregierungen auf das patriotische Pflichtbewusstsein der Deutschen Bank bauen. Inzwischen hat sich die Bank selbst globalisiert; wenn es jetzt einen transnationalen Notfall gäbe – auf welches Bankers Rat und Tat könnte sich die heutige Bundesregierung verlassen?

      Der deutschen Wirtschaft fehlen heute einige große private Banken, die international operieren und international angesehen, aber fest in der eigenen Volkswirtschaft verankert sind. Die Konsolidierung unseres reichlich zerklüfteten Bankengefüges hat mit dem Wachstum unserer Wirtschaft nicht Schritt gehalten. Im Vergleich etwa mit Frankreich oder Spanien, Holland oder Österreich sind wir deshalb der finanziellen Globalisierung stärker als unvermeidlich ausgeliefert, von den USA und von England gar nicht zu reden. Hier liegt eine Aufgabe für die Verbände und die Vorstände unserer Sparkassen, Landesbanken und Genossenschaftsbanken. Deutschland verfügt über eine gesunde private Sparquote – ganz anders als die USA mit einer privaten Sparquote gleich null! –, aber unsere großen Unternehmen sind in erheblichem Maße auf ausländische Finanzierung angewiesen, während unser mittelständisches Gewerbe unter der Kreditverknappung durch die sogenannten Basel-II-Regeln leidet. Immerhin erscheint die eigene Kreissparkasse dem deutschen Publikum mit Recht als solide und zuverlässig; denn im Gegensatz zu den hundert- und tausendmal größeren internationalen Fonds mit Sitz in der Karibik wird jede deutsche Sparkasse sorgfältig beaufsichtigt.

      Banken- und Wertpapieraufsicht sind notwendigerweise eine Sache des Staates. Das Geschäft der Finanzierung privater Unternehmen sollte dagegen in den Händen von Banken liegen, die nicht staatlich dirigiert sind. Statt einiger großer Banken haben wir allzu viele sehr kleine Bankinstitute (einschließlich Sparkassen, Volks- und Genossenschaftsbanken); einige sind bereits von ausländischen Großbanken aufgekauft worden. Stattdessen wären innerdeutsche Fusionen erwünscht. Hier fehlt es an verantwortungsbewusster Initiative.

      USA – ein defizitärer Sonderfall: Wie lange kann das gut gehen?

      Seit Beginn des neuen Jahrhunderts häufen sich die enormen Defizite des amerikanischen Staatshaushalts. Weil gleichzeitig die privaten Haushalte in den USA praktisch überhaupt nichts sparen, ergeben sich hohe Defizite in der amerikanischen Handels- und Leistungsbilanz. Beide Defizite werden durch die Außenhandelspartner der USA gedeckt, dadurch verschuldet sich die amerikanische Volkswirtschaft im Ausland. Die Anhäufung von Dollar-Schulden in den Händen der meisten Zentralbanken der Welt und in den Händen ausländischer privater Finanzinstitute, Firmen und Personen hat inzwischen brutto 7700 Milliarden Dollar erreicht; diese Summe entspricht etwa zwei Dritteln des jährlichen Sozialproduktes der USA (wenn man amerikanische Forderungen an das Ausland abrechnet, bleibt eine Nettoverschuldung in Höhe etwa eines Viertels des US-Sozialproduktes). Weil die meisten ausländischen Zentralbanken und andere ausländische Gläubiger ihre Dollar wiederum in den USA anlegen und weil ausländische Firmen und Privatpersonen mit ihren eigenen finanziellen Überschüssen ein Gleiches tun, kommt es zu einem enormen Kapitalimport nach Amerika und zu hoher Liquidität in den beiden angelsächsischen Finanzzentren. Der Netto-Kapitalimport (amerikanische Kapitalexporte sind abgezogen) der USA hat heute jährlich die Größe von etwa sieben Prozent des amerikanischen Sozialproduktes. In diesem Ausmaß lebt die amerikanische Volkswirtschaft – einschließlich ihrer Investmentbanker und Fondsmanager – von den Überschüssen der Außenwelt. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich die Frage: Wie lange können sich die USA diese Verschuldung leisten? Oder andersherum: Wie lange wollen und können die ausländischen Partner der USA sich ihren Kapitalexport in die USA leisten?

      Die Antwort besteht aus zwei gegensätzlichen Elementen: Solange das große Vertrauen der Außenwelt in die politische und die ökonomische Führungskraft der USA besteht, so lange wird der heutige Mechanismus funktionieren. Es ist aber unwahrscheinlich, dass dieser einseitig die Amerikaner begünstigende Prozess auf ewig anhält. Zum Beispiel sind neue Fehlschläge der amerikanischen Außenpolitik, welche Vertrauen kosten, nicht auszuschließen. Deshalb mehren sich in den USA und im Ausland warnende Stimmen, die zur Vorsicht raten und zur Eindämmung der amerikanischen Schuldenpolitik mahnen.

      Inzwischen hält allein China 1000 Milliarden Dollar in seinen stetig wachsenden Währungsreserven; es ist nicht auszuschließen, dass diese künftig nicht mehr nur in amerikanische Staatsanleihen angelegt, sondern daneben auch zu ganz anderen Investitionen genutzt werden. Jedenfalls wird ein Streit über das bilaterale Handelsdefizit der USA gegenüber China die anhaltende Abwertungstendenz des Dollar im Verhältnis zum chinesischen Renminbi oder zum Euro nicht aufhalten. Wenn wir Europäer uns nicht zum Euro zusammengeschlossen hätten – heute die zweitwichtigste Währung der Welt –, so würden gegenwärtig internationale Finanzmanager mit unseren früheren kleinen europäischen Währungen kräftig spekulieren. Der Euro dagegen erweist sich als stabil, wegen der Schwäche des Dollar mit latenter Tendenz zur Aufwertung. Aber weder die Stabilität des Euro noch erst recht der enorme ökonomische Aufstieg Chinas, Indiens und der Öl exportierenden Staaten werden die USA vor der Notwendigkeit bewahren, ihre Außenwirtschaft besser ins Gleichgewicht zu bringen. In der heutigen Lage gibt der Dollar Anlass zu vielfältiger transnationaler Spekulation, besonders durch die spekulativen Hedgefonds. Amerika ist groß und mächtig, aber zugleich ist es finanzwirtschaftlich nicht unverletzlich. Die global vernetzten Finanzmärkte insgesamt sind ebenfalls verletzlich. Eine dramatische Dollar-Schwäche kann zu einer internationalen Finanzkrise führen.

      Die neuartigen Finanzinstitute benötigen Transparenz und Aufsicht

      Seit in den 1970er Jahren die ersten größeren Währungsspekulationen begannen, hat sich ein Hang zu finanzieller Spekulation über viele weitere Felder ausgebreitet. Mit hohem Einsatz wird auf die künftige Entwicklung der Preise von Rohstoffen, von Aktien, Anleihen, Grundbesitz, Zinsen gewettet. Viele Händler in den Investmentbanken, den Investmentfonds, Hedgefonds et al. müssen nachts arbeiten, damit sie die Kurse am anderen Ende der Welt einkalkulieren können, wo der Tag schon zu Ende geht, während er im eigenen Hause gerade erst beginnt. Zugleich mit dem Spekulationismus erleben wir einen Verlust an Anstand und Moral. Kreditfinanzierte Übernahmen gut gehender Unternehmen – zunehmend durch Private Equity Fonds – sind an der Tagesordnung. Dazu kommt vielfach eine grandiose Selbstbereicherung. Finanzmanager treten als Eigentümer auf und entscheiden zum eigenen kurzfristigen Vorteil über das Schicksal eines fremden Unternehmens und all seiner Mitarbeiter. Deutschland ist ein Zielland für feindliche Übernahmen geworden – Mannesmann war kein Einzelfall. Die Wachstumsraten von Private-Equity-Häusern liegen weltweit um ein Mehrfaches höher als das allgemeine Wirtschaftswachstum. Man darf von Raubtierkapitalismus sprechen. Und auch deutsche Banken bieten ihren privaten Kunden Fondsanteile, Finanzderivate und Zertifikate an, deren Risiken die Kunden nicht selbst beurteilen können.

      Zwangsläufig fehlt es nicht nur den Staatsbürgern, sondern auch den Politikern an Überblick. Die globalisierten Finanzmärkte bleiben ihnen undurchsichtig. Die privaten finanzwirtschaftlichen Zusammenhänge und Abhängigkeiten sind nur noch wenigen hoch spezialisierten Fachleuten erkennbar. Denn im Gegensatz zur staatlichen Bankenaufsicht gibt es keinerlei Aufsicht über Hedgefonds und verwandte Institute. Es gibt erst recht keine international gültigen Regeln.

      Diese Feststellung soll keine neuen Ängste auslösen. Wohl aber muss sie zu dem Appell an die Regierenden führen, für mehr Durchsichtigkeit zu sorgen und ihren staatlichen Finanzaufsichtsbehörden die Möglichkeit zu geben, gegen Missbräuche einzuschreiten und das Eingehen unvernünftiger Risiken zu unterbinden. Es grenzt an groben Unfug, wenn jede kleine Sparkasse unter alltäglicher Aufsicht durch die Behörde steht, andererseits aber hundertmal finanzkräftigere private Finanzinstitute vollkommen frei agieren können.

      Zwar wäre es dringend zu wünschen, die praktisch steuer- und aufsichtsfreien Inseln abzuschaffen, jedoch besteht dafür einstweilen wenig Aussicht auf Erfolg – handle es sich um souveräne oder quasisouveräne Staaten in der Karibik, in Europa oder sonstwo. Wohl aber könnten die Regierungen der großen OECD-Staaten den Banken und Versicherungen im eigenen Lande verbieten, privaten Finanzinstituten Kredite zu geben, die sich durch einen rechtlichen Sitz auf jenen Inseln der Aufsicht der eigenen Regierung entziehen. Unsere Regierungen können darüber hinaus im eigenen Land ganz allgemein die Kreditaufnahme von Hedgefonds, Private Equity Fonds und dergleichen beschränken. Sie könnten jeden, der im Inland einen Fondsanteil, ein Zertifikat oder Ähnliches zum Kauf anbietet, unter den gesetzlichen Zwang stellen, das damit verbundene Risikopotenzial zu veröffentlichen. Mit einem Wort zusammengefasst: Die Regierungen der großen Staaten der Welt könnten Rahmenbedingungen fixieren und ihre Befolgung beaufsichtigen lassen. Bisher gibt es allerdings keinen ernsthaften Willen, in dieser Richtung gemeinsam vorzugehen. Dass Deutschland innerhalb der eigenen Grenzen einige Beschränkungen vorgeschrieben hat, ist zwar lobenswert; es kann uns aber nicht vor internationalen Finanzkrisen bewahren, die aus der gefährlichen Ballung von Risiken der neuartigen Finanzinstitute in New York und London entstehen können.

      Transnational sich auswirkende Finanzkrisen können in den Euro-Raum und nach Deutschland durchschlagen. Deshalb haben wir ein vitales Interesse daran, dass die wild wuchernden und global agierenden Fonds in ähnlicher Weise unter Aufsicht kommen wie Banken und Versicherungen oder der Wertpapierhandel. Gegenwärtig kann niemand ausschließen, dass ein einzelner Kollaps, ein einzelnes dramatisches Ereignis, eine katastrophale politische Entwicklung im Raume zwischen dem Gaza-Streifen und Afghanistan oder eine neue Ölpreisexplosion eine Finanzkrise auslöst.

      Dass wegen der neuartigen Finanzinstitute ernste Besorgnisse realistisch sind, haben einige der Finanzmanager indirekt eingeräumt; das zeigen seit 2005 zum Beispiel die Wohlverhaltensregeln (»sound practices«) der privaten Managed Funds Association in Washington und der Corrigan-Report (benannt nach einem Vorstand von Goldman Sachs in New York). Beide Initiativen empfehlen lediglich, dass die Fondsbranche sich selbst reguliert. Die US-amerikanische Regierung hat eine »Presidents Working Group on Financial Markets« eingerichtet; die britische Finanzaufsichtsbehörde hat ein Diskussionspapier über Hedgefonds vorgelegt. Auf deutsche Initiative gibt es seit 1999 unter den Finanzministern und Notenbank-Gouverneuren der G8-Staaten ein Forum für Finanzstabilität. Tatsächlich ist aber bisher keinerlei durchschlagender Erfolg erzielt worden. Deshalb haben die Bundeskanzlerin und der Finanzminister recht, wenn sie das Problem auf die internationale Tagesordnung setzen.

      Man wird jedoch erleben, dass die Regierungen in Washington und London sich dagegen sträuben, weil sie die Gewinne der Investmentbanker und Fondsmanager als in ihrem nationalen ökonomischen Interesse liegend ansehen
      . Wahrscheinlich würden sie erst dann handeln, wenn das Kind bereits im Brunnen liegt. Umso mehr bedarf es der Beharrlichkeit der Bundesregierung. Genauso wie der globale See- oder Luftverkehr strikten Sicherheits- und Verkehrsregeln unterliegt, bedarf der globale Kapitalverkehr der Regulierung, damit Katastrophen vermieden werden. Das ist ein Gebot der vorsorgenden Vernunft – von Anstand und Moral ganz zu schweigen.

      ZUM THEMA
      Die spekulativen Methoden der Geldvermehrung - Glossar »

      DIE ZEIT, 01.02.2007 Nr. 06

      06/2007
      http://www.zeit.de/2007/06/Globale-Finanzmaerkte
      Avatar
      schrieb am 08.02.07 09:39:03
      Beitrag Nr. 4 ()
      In Deutschland regieren nicht Wissen und Können, sondern die Geschaftelhuberei.

      Eine Verbindung aus scheinheiligen Inkopmetenzen und Lahmarschprozessen, an deren Spitze man demnächst bequem auch einen vollbärtigen Ausbildungsscheiterer setzen kann ..

      Ein Profi aus der freien Wirtschaft würde als Quereinsteiger wohl nach nur 2 Wochen entnervt aufgeben. Um mit den meisten Politikern auf gleicher Augenhöhe operieren zu können, müsste der nämlich in die Knie gehen ..


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