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    Der "Schalke, ich freu mich mit Dir" Fanthread - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 02.02.01 23:47:48 von
    neuester Beitrag 08.12.01 19:18:06 von
    Beiträge: 104
    ID: 337.991
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     Ja Nein
      Avatar
      schrieb am 02.02.01 23:47:48
      Beitrag Nr. 1 ()
      Schalke wird Deutscher Meister, wer will das noch bezweifeln;)?
      Avatar
      schrieb am 02.02.01 23:52:37
      Beitrag Nr. 2 ()
      :cry:
      Avatar
      schrieb am 02.02.01 23:53:39
      Beitrag Nr. 3 ()
      Atackeeeeeeeeeeeee

      kommst du aus GE?

      Q.
      Avatar
      schrieb am 02.02.01 23:55:15
      Beitrag Nr. 4 ()
      aus gelsenkirchen kann er nicht sein, er kann ja lesen und schreiben :laugh:
      Avatar
      schrieb am 02.02.01 23:57:20
      Beitrag Nr. 5 ()
      Wir haben die schönere Stadt, die besseren Fussballer,die schöneren Frauen und wir werden Deutscher Meister!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!:):)

      Sprecht mir alle nach:

      Es ist schön ein Schalker zu sein,
      auch mit nur einem Bein,
      schießen wir dem BVB noch einen rein

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      Avatar
      schrieb am 02.02.01 23:58:26
      Beitrag Nr. 6 ()
      @fstein,
      wenn der BVB so gut kontern könnte wie Du, würde es vielleicht auch mal mit der Meisterschaft klappen :laugh:

      Gruß
      kpk
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 00:06:46
      Beitrag Nr. 7 ()
      Und mußt du mal scheißen und hast kein Papier
      dann nimmst du den Wimpel von Schalke 04 :p
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 00:09:18
      Beitrag Nr. 8 ()
      Ich kann auch lesen und schreiben. Ich kann sogar rechnen und nach Zahlen malen.

      @Regenschirm, wo aus GE?

      Q.
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 00:29:28
      Beitrag Nr. 9 ()
      Ach übrigens fstein007, meine Frau kommt aus Dortmund. Sie hat mal folgende Geschichte erzählt:

      Da waren mal zwei Stammtischgruppen, die haben einen Wettstreit im rudern ausgetragen. Die eine Gruppe rief beim rudern immer Hau Ruck, Hau Ruck.......mit dem Resultat das die andere Gruppe um Längen verlor. Nun dachte sich der unparteiische Schiedsrichter nehmen wir der Siegergruppe mal die eine Gehirnhälfte raus, vielleicht wird es dann etwas gerechter und die anderen haben eine Chance. gesagt getan. Die Gruppe rief nun beim rudern nur noch Ha Ruck, Ha Ruck........trotzdem verloren die anderen um Längen. Der Schiedrichter nahm den Männern auch noch die andere Gehirnhälfte raus und die Gruppe rief beim rudern nur noch Ruck, Ruck.........wieder verloren die anderen. Da legte der Schiedsrichter den Männern ein nasses Brötchen in den hohlen Kopf.........die Männer ruderten und riefen Heja BVB, Heja BVB.................
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 00:36:32
      Beitrag Nr. 10 ()
      ach übrigens Q., ich dachte deine frau kommt von beate uhse
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 00:40:31
      Beitrag Nr. 11 ()
      Arbeitslos und eine Flasche Bier, das ist der S04, die Sch...e vom Revier..

      Nix für ungut...FC Colonia rulez!

      MfG, jk :)
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 03:24:34
      Beitrag Nr. 12 ()
      ..."Der Schalke ich freu mich mit Dir" -Tread!

      Willst Du nicht, daß sich hier Fans melden, oder warum verwendest Du die deutsche Sprache für den Treadtitel???
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 07:51:52
      Beitrag Nr. 13 ()
      Andi Möller ist auf Schalke zum richtigen Mann geworden!!
      Und ich steh`halt auf richtige Männer!!
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 10:19:28
      Beitrag Nr. 14 ()
      Wer Deutscher Meister wird,entscheide immer noch ich!!!:D


      Erich
      Avatar
      schrieb am 03.02.01 20:05:25
      Beitrag Nr. 15 ()
      :laugh::laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 04.02.01 14:56:53
      Beitrag Nr. 16 ()
      S04: *magaloooooooool* :laugh:
      Avatar
      schrieb am 10.02.01 16:02:31
      Beitrag Nr. 17 ()
      Gibts bei WO eigentlich auch Schalke-Fans??
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:21:14
      Beitrag Nr. 18 ()
      Hooooosssssaaaa!!!!!!!!!!!


      3:1 Sieg gegen die Bayern!!!!!!!!!!

      Platz uno!!!! Vor Bayern und dem BVB!!!!!!

      Laßt uns trinken Brüder!!!!!
      So Tage gibts nicht oft!!!!!

      Wir sollten mal ein Boardtreffen auf Schalke machen:)!!!!
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:23:00
      Beitrag Nr. 19 ()
      Ich denk dies Regenschirm-Arschloch ist gesperrt!!
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:34:37
      Beitrag Nr. 20 ()
      Das ist das Jahr von Schalke!!!

      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:36:22
      Beitrag Nr. 21 ()
      Das Jagger-Arschloch ist ja auch immer noch da.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:39:42
      Beitrag Nr. 22 ()
      Hey,
      Schalke auf Platz eins und keiner da, der sich mit mir freuen möchte??
      Schade, ist ein so klassse Ostergeschenk!!!

      Seid doch bitte netter zueinander!!
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:43:19
      Beitrag Nr. 23 ()
      Ach penderecki,
      leg dich nicht mit mir an! Da spielst du in einer klasse, in der du nur verlieren kannst!Ausserdem, mit so blassen red` ich normalerweise gar nicht, lass dich erstmal voll registrieren!

      Jagger2000
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:47:29
      Beitrag Nr. 24 ()
      Dopppelll looooooooooooooooooooooooooooool

      @ penderecki

      Der war gut, nicht wahr?
      Das könnte es sein, was ich mir erlauben dürfte über den Jagger zu denken,hihihi

      Supergröööööööööl[/b]


      Aber Schalke steht oben, was solls:)
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:51:10
      Beitrag Nr. 25 ()
      *bibber*
      Das Jagger-Arschloch macht mir Angst. Huhu.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:53:27
      Beitrag Nr. 26 ()
      Cum on, Jagger-Baby. Make my day.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 18:54:27
      Beitrag Nr. 27 ()
      Würdet ihr bitte zum Streiten woanders hingehen, oder Euch per BM anmachen?
      Hier solls um Fußball gehen, sonst wird nachher wieder alles rausgelöscht.

      Wäre nett von Euch.

      Danke
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:04:37
      Beitrag Nr. 28 ()
      @Mick :)

      bitte ziehe in Betracht, dass @penderecki
      auch eine ID von Hasenthommy ist.
      Mit dieser ID kann er so richtig vom Leder lassen.

      Eine Facette mehr von seiner durchgeknallten
      Persönlichkeit ! :)

      Aber was schreibe ich denn da ?
      Thommy eine Persönlichkeit ??? :laugh::laugh::laugh::laugh:

      Ich glaube, jetzt bin ich durchgeknallt ! :D:D:D:D:D

      Gruss Legend :)
      falls @pendericki keine ID von Thommy ist, bezeichne
      ich ihn trotzdem als Arschloch ! :)
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:06:39
      Beitrag Nr. 29 ()
      Username: penderecki
      Registriert seit: 30.09.2000
      User ist momentan: Online seit 14.04.2001 18:59:43
      Threads: 2
      Postings: 112
      Interessen keine Angaben

      Wer sich mit dieser klebrigen Penetranz zusammentut, hat eh schon jede Selbstachtung und jedes Profil verloren! Das Ende eines weiteren Idioten!

      Jagger
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:11:19
      Beitrag Nr. 30 ()
      Na, Jagger-Idiot? How is life going?
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:11:45
      Beitrag Nr. 31 ()
      @Legend :):)

      So ist es!!!!
      Was dagegen spricht, dass "penderecki" eine weitere Thommy-ID ist, ist die Tatsache, dass penderecki ganze Sätze fehlerfrei UND verständlich rüberbringt, das hat unser Hasen-Thommy-Vollidiot noch nie geschafft!

      Grüsse
      Mick
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:11:52
      Beitrag Nr. 32 ()
      Das ist das Meisterstadion, hoffe ich!!

      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:16:57
      Beitrag Nr. 33 ()
      @jagger
      :laugh: :laugh: :laugh::laugh: :laugh: :laugh::laugh: :laugh: :laugh:
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:19:26
      Beitrag Nr. 34 ()
      Du lachst so unregelmäßig, Konto. Vorsicht! Nicht verschlucken!
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:21:34
      Beitrag Nr. 35 ()
      Och Jungs,
      es macht so keinen Spaß.Jetzt müßte von mir folgende Retourkutsche kommen:

      Wenn Jagger der Meinung ist, daß ich nicht mal ansatzweise ganze Sätze zusammen bringe, müßte es für ihn, als hochintellektuell studierten Doctore, doch umso beschämender sein, mir in keiner einzigen Diskussion zumindest emotional, auch nur ansatzweise gewachsen zu sein.

      Es geht hier um Fußball!!!!!Macht die Jagd wegen mir im Hasenthread, wo ihr zwar auch schon sehr vorgeführt wurdet, weiter
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:27:14
      Beitrag Nr. 36 ()
      Ist er nicht süss, wenn er wütend wird ?? :D:D:D:D:D

      :laugh::laugh::laugh::laugh::laugh::laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:29:23
      Beitrag Nr. 37 ()
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:32:37
      Beitrag Nr. 38 ()
      Oh man, der Board-Rassist spielt in einer Klasse, in der
      penderecki nur verlieren kann. Man gebe mir eine Schaufel;
      ich möchte mich auch in diese Klasse herabgraben ... :rolleyes:
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:35:29
      Beitrag Nr. 39 ()
      Lieber agh,
      sowohl Du, als auch ich haben bekanntgegeben niemehr mit Jaggerli zu streiten, die Gründe sind bei uns ähnlich.

      Also sollten wir das lassen.
      Man muß auch mal einsehen können, wenn der Gegner einfach zu wehrlos ist und dann sich selbst zurückhalten.
      Sorry, wenns so belehrend von dem jungen Spund Hasi rüberkommt;).
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:37:12
      Beitrag Nr. 40 ()
      @Legend, weisst was unserem übermachtigen Hasen fehlt, endlich mal eine Frau!
      Wir verstehen ja, dass einem von der ganzen Kifferei und Onanierei mal die Birne durchknallt, aber jetzt in RL endlich mal `ne richtige Frau, die nicht gleich wieder - abgestossen von Langweilerei und Schleimscheisserei - Reissaus nimmt!

      Aber das werden wir nie erleben!

      Man muss sich doch fragen, warum ein 24jähriger, der voll im Saft stehen sollte, nur zuhause rumhängt und jedes WE nur den Leuten im INET auf den Sack geht! Aber dann die wüstesten Weibergeschichten erzählt und seine sexuellen Phantastereien übers Board rüberlässt.

      Er kotzt jeden nur an - ausser penderecki natürlich, sein genauso krankes alter ego - aber er nervt bis zur letzten Mohrrübe! Unser Vollidiot Thommy! Der Ober-Sofanarr, aber selbst dazu ist er zu blöd!

      Jagger
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:40:19
      Beitrag Nr. 41 ()
      @Mick

      wo soll ich unterschreiben ???????????

      Legend :)
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:45:15
      Beitrag Nr. 42 ()
      @Legend :)

      wie wär`s wir sammeln mal bisschen Geld und schicken ihm `ne Nutte! Aber wahrscheinlich nimmt die auch reissaus, wenn er losschleimt, -klebt und - sich selbst penetriert!

      Und dann die Solidarität mit agh: der treppenwitz!!! Die Oberhohlbirne des boards verbindet sich mit einem verbitterten Single, der nichtmal einen Fernseher hat!

      :laugh::laugh:

      Gruss
      Mick
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:45:41
      Beitrag Nr. 43 ()
      @Dr_Hasenbein

      Ja, Du hast wohl recht. Der Jagger-Bot ist eh` in spätestens
      einer 3/4 Stunde vollbreit und dann macht es keinen Spass
      mehr. :D

      Aber in einem muss ich ihm jetzt mal recht geben. Du
      solltest wirklich mal mehr an die frische Luft.
      Revolutionäre Kampfbereitschaft bekommst Du nicht vom
      Tippen auf der Tastatur. Das hat uns schon der Vater meines
      alten Schulfreundes eingebleut!

      Im übrigen wissen wir alle wer hier wirklich jeden Tag rund
      um die Uhr online ist. Vom ersten Kopfschmerz bis zum
      letzten Glas. Natürlich nur insoweit das Fingern im Anus
      das auch zulässt! ;)


      agh
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:50:22
      Beitrag Nr. 44 ()
      @agh,

      jetzt sei mal einaml in deinem Lebeen ehrlich!! Die Solidarisierung mit diesem Schwachkopf muss dir doch körperliche Schmerzen bereiten!!!??!!

      Oder soll ich dir deine frühere Äusserungen über die klebrige Penetranz mal raussuchen? Mach ich gern!

      Jagger
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:50:34
      Beitrag Nr. 45 ()
      Agh,
      bei der heutige Jugend beginnt der Abend erst etwas später und dann werd ich auch bis morgen, wie eigentlich jedes WE unterwegs sein.

      Wie schon never erkannt hat, ich nutze dies hier zu rein psychologischen Zwecken und dafür investier ich doch gerne mal ein paar Stunden, die ich dann wertvoll verarbeiten kann.

      Aber Jagger, ob breit, oder nüchtern, zumindest hier im Board ist er von einer anfangs kämpferisch, aggresiiven Streitfigur zu nem armen immer leiser werdenden Witz geworden.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:55:23
      Beitrag Nr. 46 ()
      Ihr seid doch wohl alle nicht mehr ganz dicht !!!!!!!!

      Legend und agh,könnt nicht ihr beiden euch wenigstens zurückhalten???
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:55:58
      Beitrag Nr. 47 ()
      Juuuuuuuuuuhuuuuuuuuuu
      Schalke, ick danke dir
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 19:58:00
      Beitrag Nr. 48 ()
      Ein Schalkefan????!!!!!

      Endlich!!!
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:02:23
      Beitrag Nr. 49 ()
      Die Pappnase AGH ist auch noch vertreten!!!!!!!! :cry: :cry: :cry:
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:04:46
      Beitrag Nr. 50 ()
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:05:15
      Beitrag Nr. 51 ()
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:07:24
      Beitrag Nr. 52 ()
      Ullrich H. Laaser

      Die Popularmusik Lateinamerikas im Rahmen des internationalen Unterhaltungsmarktes

      Analog zu den Gegebenheiten der globalisierten Informations- und Unterhaltungsindustrie wird auch der internationale "Flow of Cultural Ressources" organisiert und kanalisiert. In diesem spielt Lateinamerikas Kunst und Kultur, insbesondere seine Popularmusik, seit der Jahrhundertwende eine bedeutende Rolle: Ihre Gestaltungs- und Erlebnisprinzipien fanden (u.a. als "Tango", "Rumba, "Samba", "Latin Jazz", "Salsa" etc.) stets begeisterte Akzeptanz auf den globalen Kultur- und Unterhaltungsmärkten, wo sie die Musikmoden immer entscheidend mitprägten. Im umgekehrten Verhältnis dazu stand (und steht) bislang aber das geringe Maß an Marktmacht, kultureller Selbstbestimmung und Gewinntransfer, so daß von einem deutlich asymmetrischen Kulturaustausch gesprochen werden muß. Der nachstehende Beitrag reflektiert auf dieses Mißverhältnis und beschreibt einerseits die große, kulturelle Substanz lateinamerikanischer Popularmusik (am kubanischen und brasilianischen Beispiel) und andererseits die fremdbestimmten Marktverhältnisse, die auf dieser lasten.

      1. Ethnohistorische Traditionen

      Lateinamerikas Muik resultiert aus der Akkulturation mindestens dreier ethnischer Großgruppen (Indios, Afrikaner; Europäer; in den Guyanas auch Inder), wobei sich überdies der resultierende Kulturwandel von den kulturellen Entwicklungsbedingungen in der sonstigen Kolonial- bzw. Entwicklungswelt in mancher Hinsicht unterschied:

      a) In keiner anderen Region vollzog sich die Ausrottung und Unterwerfung der indigenen Kulturen so nachhaltig wie in Lateinamerika unter der spanischen Eroberung, vor allem durch die physische Vernichtung der Menschen. Selbst während der Hochzeit des Imperialismus hatten die Kolonialmächte weder in Afrika noch in Asien einen vergleichbaren Penetrationsgrad erreicht und waren mit dem "Indirect Rule" der Pax Britannica oder dem Assimilationsansatz des französischen Imperialismus einen anderen Weg gegangen. So ist es kaum übertrieben zu sagen, daß weite Teile Lateinamerikas zu einer kulturellen Tabula gemacht worden waren, in deren Vakuum die überseeischen Fremdkulturen nachhaltig einfließen konnten.

      b.) Aus diesem Grunde entwickelte sich eine bodenständige euro- lateinamerikanische Kreolenkultur; sowohl als Elitekultur der Kolonialaristokratie bzw. später der Agraroligarchie, als auch als Basis - und Volkskultur Arbeiter und Bauern. Eine solche "Indigenisierung" weißer Kultur gab es in afrikanischen und asiatischen Siedlerkolonien weniger (wenn man von Südafrika oder Australien absieht).

      c) Am bedeutsamsten für die Entwicklung der heutigen lateinamerikanischen Popularmusik war der Beitrag der mindestens sechzehn bis zwanzig Millionen als Sklaven zwangsverschleppten Schwarzafrikaner. Unter den spezifischen Bedingungen der romanisch- katholischen Latifundien- Sklaverei vermischten sich die diversen schwarzen Kulturen mit europäischen, auch indianischen Elementen zu einer eigenständigen afro-lateinamerikanischen Popularkultur; die in großen Teilen Lateinamerikas auch zur Basis der Popularmusik wurde . Da der Sklavenhandel sehr schnell eine transafrikanische Infrastruktur entwickelt hatte, wurden Angehörige vieler afrikanische Ethnien verschleppt, darunter aus so verschiedenen wie den:

      islamischen Mandingo- und Fulo- arabischen Kulturen der Sahel- und Sudan-Region (mit ausgepräg feudaler Großreich- Tradition, umfassender Staatsideologie, islamischer Religion, Handel und Manufaktur)
      polytheistischen Kulturen der Yoruba, Fon, Dan, Ewe u.a. des Guinea- Golfes (Stadtstaaten mit dezentraler Häuptlingsorganisation, Gottkönigtum und feudal- monarchischer Organisation; hochorganisierter Kosmologie/ Religiosität, fortgeschrittener Metalltechnologie und Teilmanufaktur)
      animistischen Bantu- Kulturen des äquatorialen Regenwaldes und angrenzender Savannen (sakrosankte Häuptlingstümer, Geheimbundwesen; ausgeprägt animistisch-komplexe Kosmologien; dezentrale Dorforganisation).
      Jede dieser Großgruppen ist in zahllose Einzelkulturen und Sprachgruppen, natürlich auch Musikkulturen, unterteilt; hinzu kommt, daß wahrscheinlich über die Zentren des indo- arabischen Sklavenhandels (Sansibar, Madagaskar, Kapstadt) auch Angehörige ostafrikanischer Küstenvölker verschleppt wurden. Dies alles zusammengenommen erklärt die Breite und Mannigfaltigkeit schwarzafrikanischen Kulturschaffens in Lateinamerika. Entsprechend vielfältig sind die musikalischen Manifestationen, die um so eher überleben konnten, als die Musik fast überall in Schwarzafrika eine zentrale Rolle im soziokulturellen Regelwerk spielte und unlösbar mit den sonstigen gesellschaftlichen Symbolsystemen verknüpft war. So erhielten sich aus der vorkapitalistisch- feudalen, der kolonialen und der gegenwärtigen Gesellschaftsformation eine Vielzahl säkularer und sakraler Musikformen: Rituelle und liturgische Gesangsformeln und Litaneien; Arbeits - und Erntelieder, oralhistorische Chroniken, Dramatisierungen von Lebensübergängen mit Geburts-, Taufund Weiheliedern; Unterhaltungsmusik, Wiegenlieder, Preisgesänge oder Hellpredigten - vieles blieb unter den besonderen Bedingungen lateinamerikanischer Plantagensklaverei lebendig. Einige dieser Bedingungen, die zumindest eine informelle, quasi- institutionelle Kulturpflege ermöglichten, sind:


      Das klerikale Zeremonialwesen des lateinamerikanischen Katholizismus, in das der Plantagensklave, anders als im kalvinistischen oder freikirchlichen Norden, weitgehend mit eingebunden war. Manche Messefeierlichkeiten, Opferrituale, Prozessionen, Gebetsvorschriften samt ihrer visuellen Choreographie ähnelten durchaus dem afrikanischen Glaubenszeremoniell, so daß unter ihrem Schirm heimatliche Sakraltraditionen kaschiert weiter gepflegt wurden. Wenn man sich freilich vergegenwärtigt, daß etwa die Yoruba circa 400 Gottheiten verehrten, deren jeder ein bestimmtes Zeremoniell zugeordnet war; wird auch die Begrenztheit dieses Synkretismus deutlich.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:08:05
      Beitrag Nr. 53 ()
      S. Klettenhammer

      Körperschriften
      "Für das postmoderne Subjekt ist, im Gegensatz zu seinem cartesianischen Vorläufer, der Körper ein integraler Bestandteil seiner Identität. Von Bachtin bis Bodyshop, von Lyotard bis Leotardtrikots ist der Körper tatsächlich zu einem Hauptanliegen postmodernen Denkens geworden." Dies konstatiert der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton in seinem Essay "Subjekte" (in: ders.: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Stuttgart-Weimar 1997. S. 93) und er fährt fort: "von Berkeley bis Brighton gibt es nichts, was" gegenwärtig "mehr sexy wäre als der Sex". (ebd.) Eagleton, der sich einem aufklärerisch-sozialistischen Denken verpflichtet weiß, begegnet dieser Hinwendung zum `Körper`, die u.a. durch die Arbeiten Jacques Lacans oder Michel Foucaults eingeleitet wurde, allerdings mit Skepsis und Kritik. Den gegenwärtigen Körper- und Sexualitätsdiskursen wirft er vor, daß sie das Subjekt in seiner Handlungsfähigkeit lähmten, weil sie negierten, daß dieses zwischen den cartesianischen Polen `Körper` und `Geist` eingespannt bleibe und in dieser Aporie leben müsse.
      Die Kritik Eagletons am Kulturalismus der Postmoderne, d. h. an der Vorstellung, daß auch der `Körper` kulturell überformt und Produkt der Sprache sei und sich seit der Moderne eine zunehmende Entfremdung vom Kreatürlichen feststellen lasse, welche gleichzeitig den Wunsch nach einer `Widerkehr des Körpers` nähre und damit Gefahr laufe, in Biologismus und Irrationalismus zurückzufallen, fokussiert sich im Satz: "Es ist nicht wahr, daß ich einen Körper habe, und es ist auch nicht richtig, daß ich ein Körper bin". (ebd., S. 100)

      Bezieht man die Kategorie `Geschlecht` in die Reflexionen um die gegenwärtige `Auferstehung des Körpers` mit ein, so wird deutlich, daß der mit dem Subjekt-Diskurs untrennbar verbundene `Körper`-Diskurs nach wie vor gesellschaftspolitisch brisant ist und keineswegs als Naturalisierung des Politischen interpretiert werden kann.

      Der `Körper` als Schnittstelle zwischen `Natur` und `Kultur` ist spätestens seit Simone de Beauvoir erkannt und als Feld patriarchaler Herrschafts- und Machtausübung beschrieben worden. Dem verdrängten weiblichen `Körper` eine Sprache zu geben und die Schrift des weiblichen `Körpers` aufzuzeichnen, gehörte im Zuge der Emanzipationsbewegung in den 70er Jahren zu den zentralen Anliegen der Neuen Frauenbewegung. Auf theoretischer Ebene, insbesondere in den sich kritisch auf die Psychoanalyse beziehenden literaturtheoretischen Schriften der französischen Poststrukturalistinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva rückte das Kreatürliche und die Materialität (auch der Sprache) in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um Nicht-Subjektivität bzw. Subjektstatus der Frau in einer Gesellschaft, deren Geschlechterordnung auf ausschließenden Dichotomien beruht.

      Auch in literarischen Texten von Autorinnen begegnet der `Körper` vielfach als Schreibfläche, in der unauslöschbar die gesellschaftlichen Zurichtungen und die Spuren patriarchaler Gewalt eingeritzt sind - so vor allem bei Anne Duden ("Übergang", 1982) oder Ingeborg Bachmann ("Malina", 1971; "Der Fall Franza", veröff. 1978). Die Zerstörungsprozesse, die der Kampf der weiblichen Figuren gegen die von der Gesellschaft und ihrer Geschlechterordnung erzwungenen Sozialisationsformen im und am weiblichen `Körper` auslöst bzw. ausgelöst hat, sind wiederholt Gegenstand der literarischen Darstellung.

      Im folgenden werde ich exemplarisch einige Prosaarbeiten österreich
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      schrieb am 14.04.01 20:08:08
      Beitrag Nr. 54 ()
      S. Klettenhammer

      Körperschriften
      "Für das postmoderne Subjekt ist, im Gegensatz zu seinem cartesianischen Vorläufer, der Körper ein integraler Bestandteil seiner Identität. Von Bachtin bis Bodyshop, von Lyotard bis Leotardtrikots ist der Körper tatsächlich zu einem Hauptanliegen postmodernen Denkens geworden." Dies konstatiert der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton in seinem Essay "Subjekte" (in: ders.: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Stuttgart-Weimar 1997. S. 93) und er fährt fort: "von Berkeley bis Brighton gibt es nichts, was" gegenwärtig "mehr sexy wäre als der Sex". (ebd.) Eagleton, der sich einem aufklärerisch-sozialistischen Denken verpflichtet weiß, begegnet dieser Hinwendung zum `Körper`, die u.a. durch die Arbeiten Jacques Lacans oder Michel Foucaults eingeleitet wurde, allerdings mit Skepsis und Kritik. Den gegenwärtigen Körper- und Sexualitätsdiskursen wirft er vor, daß sie das Subjekt in seiner Handlungsfähigkeit lähmten, weil sie negierten, daß dieses zwischen den cartesianischen Polen `Körper` und `Geist` eingespannt bleibe und in dieser Aporie leben müsse.
      Die Kritik Eagletons am Kulturalismus der Postmoderne, d. h. an der Vorstellung, daß auch der `Körper` kulturell überformt und Produkt der Sprache sei und sich seit der Moderne eine zunehmende Entfremdung vom Kreatürlichen feststellen lasse, welche gleichzeitig den Wunsch nach einer `Widerkehr des Körpers` nähre und damit Gefahr laufe, in Biologismus und Irrationalismus zurückzufallen, fokussiert sich im Satz: "Es ist nicht wahr, daß ich einen Körper habe, und es ist auch nicht richtig, daß ich ein Körper bin". (ebd., S. 100)

      Bezieht man die Kategorie `Geschlecht` in die Reflexionen um die gegenwärtige `Auferstehung des Körpers` mit ein, so wird deutlich, daß der mit dem Subjekt-Diskurs untrennbar verbundene `Körper`-Diskurs nach wie vor gesellschaftspolitisch brisant ist und keineswegs als Naturalisierung des Politischen interpretiert werden kann.

      Der `Körper` als Schnittstelle zwischen `Natur` und `Kultur` ist spätestens seit Simone de Beauvoir erkannt und als Feld patriarchaler Herrschafts- und Machtausübung beschrieben worden. Dem verdrängten weiblichen `Körper` eine Sprache zu geben und die Schrift des weiblichen `Körpers` aufzuzeichnen, gehörte im Zuge der Emanzipationsbewegung in den 70er Jahren zu den zentralen Anliegen der Neuen Frauenbewegung. Auf theoretischer Ebene, insbesondere in den sich kritisch auf die Psychoanalyse beziehenden literaturtheoretischen Schriften der französischen Poststrukturalistinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva rückte das Kreatürliche und die Materialität (auch der Sprache) in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um Nicht-Subjektivität bzw. Subjektstatus der Frau in einer Gesellschaft, deren Geschlechterordnung auf ausschließenden Dichotomien beruht.

      Auch in literarischen Texten von Autorinnen begegnet der `Körper` vielfach als Schreibfläche, in der unauslöschbar die gesellschaftlichen Zurichtungen und die Spuren patriarchaler Gewalt eingeritzt sind - so vor allem bei Anne Duden ("Übergang", 1982) oder Ingeborg Bachmann ("Malina", 1971; "Der Fall Franza", veröff. 1978). Die Zerstörungsprozesse, die der Kampf der weiblichen Figuren gegen die von der Gesellschaft und ihrer Geschlechterordnung erzwungenen Sozialisationsformen im und am weiblichen `Körper` auslöst bzw. ausgelöst hat, sind wiederholt Gegenstand der literarischen Darstellung.

      Im folgenden werde ich exemplarisch einige Prosaarbeiten österreichischer Autorinnen aus den 80er und 90er Jahren vorstellen, in denen die `Subjekt`-Frage vielgestaltig mit dem Thema `Körper` und `Sexualität` verknüpft ist.

      Neben Elfriede Jelinek ("Die Liebhaberinnen", 1975), Barbara Frischmuth ("Die Klosterschule", 1968) oder Marianne Fritz ("Die Schwerkraft der Verhältnisse", 1978) hat sich als eine der ersten Marie-Thérèse Kerschbaumer diesem Thema zugwandt. Bereits in ihrem 1982 erschienenem Gesellschaftroman "Schwestern" (dzt. vergriffen) zerstören Krankheit und Selbstmord das Leben der Protagonistinnen, wenn sie sich den herrschenden gesellschaftlichen Konventionen anpassen. Domestizierung in Form von Medikalisierung und Psychiatrisierung erwartet sie, wenn sie sich gegen diese ihre Identität vernichtenden Strukturen auflehnen. Bleibt in "Schwestern" der Weg weiblicher Subjektwerdung noch weitgehend verdeckt, so scheint er in Kerschbaumers Romanen "Die Fremde" (1992), "Ausfahrt" (1994) und "Ferne" (2.000), die als Entwicklungsromane bzw. als fiktive (Auto-)Biographien konzipiert sind, in den Vordergrund zu treten. Gezeigt wird der Aufbruch "Barbarinas", des fremden Kindes aus der exotische Welt der Karibik, aus Ich-Verlust, religiös motivierter Frauenverachtung und Körperfeindlichkeit, aus Sprachlosigkeit und aus sozialen und geschlechtsspezifischen Ausbeutungsverhältnissen im Österreich der Kriegs- und Nachkriegszeit. Lyrische Evokationen der Freiheit, des Glücks, der kurz aufblitzendenVersöhnung von Intellekt und Sinnlichkeit, des körperlichen und seelischen Einklangs in Liebesbeziehungen konterkarieren ihr Leiden am gewaltdurchsetzten Umfeld:
      Der dunkelhäutige Mann mit den schönen Zügen, dem glatten Gesicht, dem blauschwarzen Haar den bläulichen Lippen, dem wachen und zugleich gelassenen Blick, der junge, fremdländische Mann mit dem schönen und zugleich intelligenten Gesicht, in dem nichts Böses wohnte, der sanft und nicht weich war, gütig, nicht schwach, ein junges Gesicht, das vollkommen war, weil es beides in sich trug, Idee und Gestalt, Wunsch und Gewähren, Geist und Fleisch, dieser junge Mann bei dessen Anblick sie sogleich wußte "Indien", und "zu spät", und "jetzt", und "nicht versäumen", hat ihren Blick erwidert, hat ein wenig gelächelt, blieb mit ihr am Straßenrand stehen, sah ihr lange in die Augen, berührte sanft ihre Arme, ergriff ihre Tasche, legte den Arm um die Schultern und führte sie langsam und schweigend fort, schlenderte schweigend mit der am ganzen Leib von rasendem Herzklopfen bebenden Fremden zur Brücke, bog zum Fluß, setzte sich auf die Kaimauer, indes die im Traum Wandelnde sich lehnte an seine Knie. [...] Und dann fing er in einer fremden Sprache leise zu singen an. Er wiegte sich ein wenig, umarmte sie fester, unterbrach sich und begann zu erzählen: (Marie-Thérèse Kerschbaumer: Ausfahrt. Klagenfurt-Salzburg 1994. S. 231ff.)

      Diese Evokationen schließen die frühe paradisiesche Kindheit in der farbig-exotischen, von Gerüchen und Klängen durchsetzten sinnlichen Welt Mittelmerikas oder Indiens ebenso ein wie den Widerstand gegen Unmenschlichkeit oder die in Literatur und Kunst utopisch aufbewahrten Werte eines menschenwürdigen Lebens. Zu den bei Kerschbaumer vorgestellten Befreiungsversuchen, die sich vor allem als Begegnung mit der Kunst und als Aufhebung der sich für Frauen fatal auswirkenden Dichotomie von Intellekt und Sinnlichkeit manifestieren, gehört auch das Überschreiten der Heterosexualität.

      Auch das 1984 erschienene Erstlingswerk von Elisabeth Reichart "Februarschatten" reflektiert über die Darstellung von Körpererfahrungen weibliche Biographien und Sozialisationsformen. Seelische Empfindungen und körperliche Sinneswahrnehmungen wie `Kälte`, `Schatten` und `Dunkelheit`, von denen sich Hilde mit Alkohol abzuschotten sucht, führen sie von der Jetztzeit und ihrem unauffälligen Leben als Witwe in einer kleinbürgerlichen Wohnsiedlung in die Kindheit während der 30er Jahre und der Nazizeit zurück:
      Ich darf nicht zulassen, daß ich mir immer früher mit Wein in den Tag hineinhelfe.
      Wenn du mich so sehen würdest. wie ich schon am Vormittag eine neue Flasche aufmache.
      Aber du hast mich ja nie so gesehen. Wirst mich nie so sehen.
      Nur ich habe von klein auf solche Bilder sehen müssen. In diesem Loch, in dem ich aufgewachsen bind, wurde niemand geschont. Da mußte ich zusehen, wenn der Vater zum Frühstück Most trank. mußte ich zuhören, wie er in der Früh spuckte und spuckte. Da wurde mir der eigene Körper fremd. Noch bevor ich ihn kennenlernen konnte. (Elisabeth Reichart: Februarschatten. mit einem Nachwort von Christa Wolf. Berlin 1997 (=AtV). S. 36f.

      Indem sich Hilde ihre Ausgrenzung innerhalb der Familie, insbesondere ihre abgebrochene Kommunikation mit der Mutter und den Schwestern und die patriarchalen Gewaltverhältnisse, die soziale Marginalisierung der antinazistischen Arbeiterfamilie und die Verbrechen der NS-Zeit nochmals bewußt macht und diese auch aussprechen lernt, kann sie sich von den sie auch körperlich lähmenden `Schatten` dieser Vergangenheit befreien.

      Der Form des biographischen Erzählens in Zusammenhang mit Identitätsvergewisserungen von Frauenfiguren begegnen wir ferner im sehr erfolgreichen Roman "Die Züchtigung" (1985) von Anna Mitgutsch. In "Die Züchtigung" löst die rückerinnernde Begegnung der Tochter mit ihrer gewalttätigen und autoritären, später an Krebs sterbenden Mutter namens Marie die Reflexion ihrer eigenen, auf Unterordnung und Sexualitätsverzicht ausgerichteten Sozialisation aus. Thematisiert werden zum einen die Elterngeneration, zum anderen die in den Nachkriegsjahren geborene Generation und ihre Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Lebensmustern. Mitgutschs Text zeigt, daß der fanatisch betriebene und beinahe auch gelingende Versuch Maries, sich und die Tochter in die neue kleinbürgerliche Ordnung einzufügen und deren Normen zu übernehmen, Ausdruck einer gegen sich selbst kehrenden Rebellion aufgrund erlittener Verletzungen ist. Marie ist Opfer des von sprachloser Gewalt, Fremden- und Frauenfeindlichkeit geprägten ländlich-bäuerlichen Umfeldes, das Frauen nur als Arbeitstiere und Gebärmaschinen ohne Anspruch auf Bildung betrachtet und in dem das Recht des körperlich und ökonomisch Stärkeren herrscht. Maries Kampf gegen Demütigung und Deklassierung äußert sich im Sexualitätsverzicht und in der Verleugnung jeder Körperlichkeit, in der keine Entbehrung scheuenden Anpassung an städtisch-kleinbürgerliche Normen und in der psychischen und physischen Disziplinierung der Tochter, die zum Kunstwerk der Mutter gerät und das repräsentieren soll, was dieser versagt blieb.

      In diesen Texten fungiert der `Körper` vielfach als `Grenze`, als `Wand`, die die Figuren als Schutz gegen die Gesellschaft aufrichten, damit wird er aber auch verletzbar. Seine Verfaßtheit verweist zeichenhaft auf die erlittenen Zurichtungen und den Zustand der geschilderten Gesellschaft.

      Krankheitserfahrungen als Auslöser veränderter Wahrnehmungen des eigenen Körpers und der Umgebung stehen dagegen im Mittelpunkt von Evelyn Schlags Ich-Erzählungen "Stoffwechsel" und "Ein Dauertropf für die Wüste" aus dem Erzählband "Touché" (1994). Mit dem Erleben der Zuckerkrankheit der Mutter und der eigenen Erkrankung ist für die in ihre Jugend zurückblickende Ich-Erzählerin die Erfahrung der `Unordnung` verbunden. Diese Krankheitserfahrungen machen ihr die Zwänge und das Einschränkende äußerer Ordnungen, vor allem die rationale medizinische Ordnung des Vaters, der jede sinnliche Erfahrung fernzuhalten und den `Körper` in ein Korsett von Regeln einzuspannen sucht, noch offensichtlicher. Sie setzen die Ich-Figur nach außen und nach innen dem Konflikt zwischen Anpassung an diese Regeln und Auflehnung gegen diese Regeln, aber auch gegen die Krankheit aus.

      In Elfriede Kerns Roman "Kopfstücke" (1997) ist dagegen Yolande von ihrem Bruder eine schwere Kopfverletzungen, ein Loch im Kopf, zugefügt worden. Die aus der Perspektive Yolandes geschilderte Flucht in ein abgeschlossenes Tal und von dort aus hin zum Meer enthüllen in der Folge prozeßhaft ein geschlossenes System von Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, auf das zeichenhaft Yolandes Kopfverletzung hinweist:
      Das Licht ist grell in den Raum gefallen. Ich habe den Kopf gesenkt. Der Mann ist vor mir gestanden und hat von oben auf meinen Kopf geschaut. So was habe ich noch nie gesehen, hat er nach einer Weile mit veränderter Stimme gesagt und die Luft durch die Zähne gezogen. Läßt du dich normalerweise für Geld sehen? hat er gefragt. Ich habe die Augen gehoben und mir angeschaut, mit wem ich es zu tun habe. (Elfriede Kern: Kopfstücke. Salzburg 1997. S. 12f.)

      Das Netz von Herrschaftsbeziehungen, in dem Yolande agiert, das sie auch bedient und aus dem sie sich vergeblich zu befreien sucht, ist geprägt vom Versuch der männlichen Figuren, ihren `Körper` verfügbar zu machen, ihn zu kontrollieren, sich ihn anzueignen: Yolandes `Loch` erweckt ihr sexuelles und ihr medizinisches Interesse. Yolandes Flucht zu Cora - der weiblichen Gegenfigur - mündet jedoch ebenso ins Nichts, denn auch sie ist nur an Yolandes Körper, diesmal aus wirtschaftlichen Eigennutz und in Hinblick auf seine Verwertbarkeit, interessiert. Körperlich schwer versehrt bleibt Yolande allein zurück.

      Wiederum aus einer anderer Perspektive nähert sich Evelyn Schlag im Roman "Die göttliche Ordnung der Begierden" (1998) dem Thema `Körper` und `Macht`. Hier wird sich der Priester Ulrich in der betont nüchternen alle Emotionen zurückhaltenden Reflexion seiner Beziehung zu Cordula und zu seinem homosexuellen Freund und einstigen Mitseminaristen Johannes der Leib- und damit auch der Lebensfeindlichkeit der katholischen Kirche bewußt; er erkennt in ihren `Körper`-Ikonen Frauenhaß und männlichen Sadomasochismus, in der Orientierung der Kirchenvertreter auf ein Abstrakt-Göttliches und in den kirchlichen Ritualen ein verführerisches, von Männern geschaffenes Macht- und Herrschaftsinstrument, das das Individuum zum Objekt eines Systems degradiert. Die Negierung der Vielfalt der `Körper`-Erfahrungen und der Sexualität - so die Erkenntnis Ulrichs - führt in die Erstarrung und wirkt persönlichkeitszerstörend.

      Eine Zuspitzung erfährt das Thema `Körper`, `Macht` und `Geschlecht` in den Texten Elfriede Jelineks (u.a. in "Die Liebhaberinnen" 1975; "Die Ausgesperrten" 1980; "Die Klavierspielerin" 1983; "Lust" oder "Die Kinder der Toten", 1995), in Elisabth Reicharts Erzählung "Fotze" (1993) und in den Romanen Elfriede Czurdas ("Kerner" 1987, "Die Giftmörderinnen" 1991, und "Die Schläferin" 1997), denn sie beziehen auch die Gewalt der `Sprache` und die Macht der Diskurse in bezug auf die Körperwahrnehmung ein.

      Wie schon in den "Liebhaberinnen" desavouiert Jelineks Roman "Die Ausgesperrten" nicht nur die die Klassenschranken außer Acht lassenden Redeweisen vom möglichen gesellschaftlichen Aufstieg für jedermann. Die vorgeführten Sprachschablonen der Figuren legen auch offen, daß der Kampf um sozialen Aufstieg vor allem über den `Körper` der Geschlechter geführt wird. Das Kapital `Körper`, das die männlichen und weiblichen Figuren in diesem Machtspiel einsetzen, erweist sich allerdings nicht als etwas Vordiskursives, es ist vielmehr Produkt des Mythos `Sport`, der mythenproduzierenden Unterhaltungsindustrie mit ihren stereotypen und die Geschlechterhierarchie stabilisierenden Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern, der (auch pornographischen) Literatur oder der abendländischen Geschlechter-Philosophie, die die Geschlechterdifferenz über die Dichotomie von `Geist`/`Kopf` und `Geschlecht`/`Sexualität` konstruiert.

      Im Roman "Die Klavierspielerin" hat sich der soziale Machtkampf scheinbar ins Private verlagert, denn das Handlungsgerüst bildet jetzt eine Mutter-Tochter Beziehung. Die Tochter Erika durchquert im Handlungsverlauf sämtliche Stationen der geschlechtlichen Ausdifferenzierung, wie sie die Psychoanalyse beschreibt. Sie erlebt den traumatischen Blick auf das männliche Geschlecht und den nicht weniger traumatischen Blick auf das eigene weibliche Geschlecht (allerdings in Übernahme der phallischen Position), den Blick auf den Geschlechtsakt, die inzestuöse Bindung an die Mutter bei gleichzeitigem Wunsch, sich von ihr abzulösen oder die narzistische Prägung, die sich in ihrem manischen Kleiderkauf äußert. Alle Versuche Erikas sexuelle Identität zu erlangen, die Versteinerungen und Panzerungen ihres Leibes und die damit verbundene Empfindungslosigkeit gegen Lust und Schmerz, den sexuellen Tod, das Nichts, das die Frau im psychoanalytischen Diskurs und in der philosophischen Tradition des Abendlands ist, aufzuheben, scheitern. Sie scheitern, weil Erika zum einen in der Figur des sportlich durchtrainierten, die `Natur` liebenden Klemmer das personifizierte Patriarchat entgegentritt, das die Frau nur als `Körper`-Maschine oder als zu bezwingendes `Natur`-Objekt auf dem Weg zum `Gipfelsieg` wahrnimmt:
      Herr Klemmer will so gern Erikas Freund werden. Dieser formlose Kadaver, diese Klavierlehrerin, der man den Beruf ansieht, kann sich schließlich noch entwickeln, denn zu alt ist er gar nicht, dieser schlaffe Gewebesack. Dieses krankhaft verkrümmte, am Idealen hängende Witzwesen, veridiotet und verschwärmt, nur geistig lebend, wird von diesem jungen Mann auf das diesseits umgepolt werden. Die Freude der Liebe wird sie genießen, warte nur! Walter Klemmer fährt im Sommer und schon im Frühjahr auf Wildwassern Paddelboot, sogar Tore umrundet er dabei. Er bezwingt ein Element, und Erika Kohut, seine Lehrerin, wird er auch noch unterwerfen. (Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 1986 (=rororo 1290). S. 67.)

      Die Verknüpfung von `Natur`, `Körper`, `Sport` und `Frau` in Klemmers Redeweisen entlarven die kulturelle Verklärung der `Natur` und damit implizit auch der Frau als Verschleierung patriarchaler Herrschaftverhältnisse. Diese Verklärung verdeckt, daß auch das scheinbar `Natürlichste` - die Sexualität - der alle Bereiche der Gesellschaft bestimmenden Kauf- und Tauschordnung unterliegt. Jede phallische Anmaßung der Frau, zu der ökonomische Überlegenheit und materielles Begehren ebenso gehören wie die bewußte Inszenierung einer sadomasochistischer Sexualität durch Erika, die auf diese Weise ihren Objektstatus überwinden möchte, wird mit der Vernichtung der Frau bestraft: im Roman mit der Vergewaltigung Erikas durch Klemmer.

      Jelinek setzt Diskurse verschiedener diskursiver Praxen in Szene und unterwandert diese, vielfältige Schreibtechniken einsetzend, in satirischer Absicht, um ihren herrschaftsstiftenden Charakter zu entlarven. Dieses Verfahren ist auch für den die Sprache der Pornographie inszenierenden Roman "Lust" oder für den Roman "Die Kinder der Toten" bestimmend. Die Durchquerung der verschiedenen Diskurse seitens der weiblichen Figuren gerät dabei zu einer Durchquerung des Todes: neben den Diskursen der Philosophie oder der katholischen Religion sind es vor allem `Krieg`, `Sport`, `Mode` und in enger Verbindung damit die modernen Medien, die `Körper`-Bilder kreieren und Stereotypien der Geschlechterdifferenz transportieren, die auf die Vernichtung des (männlichen und weiblichen) `Körpers` ausgerichtet sind.

      Auch Elfriede Czurdas Roman "Die Schläferin" arbeitet mit abstrahierenden und typisierenden Stilmitteln. Über die Figurenperspektive werden stationenartig Redeweisen über die Geschlechterbeziehung vorgeführt und in Zusammenhang damit Körpererfahrungen der Protaginistin mitgeteilt. Magdalena führt einen aussichtslosen Abwehrkrieg gegen ihren `Körper`, dem sexuelle Gewalt eingeschrieben worden ist. Ihr Versuch, sich von ihren traumatischen Kindheitserfahrungen durch Schlaf und Essen abzutrennen und eine kleinbürgerliche Idylle als glücklich verheiratete Ehefrau mit klassischer Rollenverteilung aufzubauen, wird jedoch sukzessive unterminiert: zum einen, weil Magdalenas Leib den "Riß" nicht vergißt und sich durch Eß- und Brechsucht gegen ihre Disziplinierungsversuche kehrt, zum anderen, weil ihre Wunschvorstellungen von einer gelungenen Ich-Identität als glücklich Verheiratete sich als Illusion erweisen und zerbrechen. Die die Figurenreden und den Erzählerbericht bestimmenden und miteinander verwobenen Wortfelder "Natur", "Gefühle", "Ordnung", "Krieg", "Messer"/"Schnitte" verweisen einerseits auf die Ich-Dissoziation der Figur, andererseits auf die unüberbrückbare Kluft zwischen den idealisierten vorgeprägten Geschlechtsrollenmuster, wie sie der Chor der Nachbarn zum Ausdruck bringt, und ihrer Realität im vermeintlich privaten Raum:

      Zur Zeit errichtet Magdalena viele innere Mauern aus Thunfisch und Schokolade. Aber die halten nur kurz. Irgendwie ist alles um Magdalena brüchig zur Zeit.
      Magdalena erbricht die eben errichteten innern Mauern gleich wieder. Sie würgt sie aus. Sie magert ab, das versteht sie nicht. Bei allem, was sie ißt! Sie ist nervös. Schreckhaft. [...] Ihr scharfes Messer, Gefährte und Trost, wenn Magdalena wach ist, schneidet sie zurück in ein labiles Gleichgewicht, zurück in ein Leben mit Jakob. Nur mit ihremFreund, ihrem Messer, findet Magdalena zu einer gewissen Muße zurück, zu einem Gleichmut, der sich am Klappern der Schneide auf dem Buchenbrett erwärmt. (Elfriede Czurda: Die Schläferin. Reinbek bei Hamburg 1997. S. 48f.)

      Nur die Flucht in die Krankheit, dann die Ermordung des Partners, seine Enthauptung und Zerstückelung, und schließlich der Selbstmord, die Selbstvernichtung rettet Magdalenas Illusion vom kleinbürgerlichen Glück in trauter Zweisamkeit und ihre sich am romantischen Liebes-Ideal orientierende Sehnsucht nach einer alle Begrenzungen aufhebenden Liebesbeziehung.

      Czurda führt in diesem Roman, wie schon zuvor in den "Giftmörderinnen", die Gesellschaftlichkeit des vermeintlich Privaten vor und zeichnet nach, welche Muster `Mörderinnen` produzieren. Damit schreibt sie auch gegen eine literarische Tradition an, die entweder nur die gewaltsam getöte, weil ausschließlich sexuell bestimmte Frau (vgl. Oskar Kokoschkas Drama "Mörder, Hoffnung der Frauen", 1910) oder nur die in einer Sphäre des `Natürlichen` agierende und nach dem Kopf des Mannes trachtende dämonisierte Frauengestalt wie Salome kennt.

      Diese kulturell vorgeprägten Muster von Geschlechterbeziehungen hat auch Margit Hahn in ihren Texten - exemplarisch sei der Band "Entgleisungen" (1996) genan
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      schrieb am 14.04.01 20:08:12
      Beitrag Nr. 55 ()
      S. Klettenhammer

      Körperschriften
      "Für das postmoderne Subjekt ist, im Gegensatz zu seinem cartesianischen Vorläufer, der Körper ein integraler Bestandteil seiner Identität. Von Bachtin bis Bodyshop, von Lyotard bis Leotardtrikots ist der Körper tatsächlich zu einem Hauptanliegen postmodernen Denkens geworden." Dies konstatiert der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton in seinem Essay "Subjekte" (in: ders.: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Stuttgart-Weimar 1997. S. 93) und er fährt fort: "von Berkeley bis Brighton gibt es nichts, was" gegenwärtig "mehr sexy wäre als der Sex". (ebd.) Eagleton, der sich einem aufklärerisch-sozialistischen Denken verpflichtet weiß, begegnet dieser Hinwendung zum `Körper`, die u.a. durch die Arbeiten Jacques Lacans oder Michel Foucaults eingeleitet wurde, allerdings mit Skepsis und Kritik. Den gegenwärtigen Körper- und Sexualitätsdiskursen wirft er vor, daß sie das Subjekt in seiner Handlungsfähigkeit lähmten, weil sie negierten, daß dieses zwischen den cartesianischen Polen `Körper` und `Geist` eingespannt bleibe und in dieser Aporie leben müsse.
      Die Kritik Eagletons am Kulturalismus der Postmoderne, d. h. an der Vorstellung, daß auch der `Körper` kulturell überformt und Produkt der Sprache sei und sich seit der Moderne eine zunehmende Entfremdung vom Kreatürlichen feststellen lasse, welche gleichzeitig den Wunsch nach einer `Widerkehr des Körpers` nähre und damit Gefahr laufe, in Biologismus und Irrationalismus zurückzufallen, fokussiert sich im Satz: "Es ist nicht wahr, daß ich einen Körper habe, und es ist auch nicht richtig, daß ich ein Körper bin". (ebd., S. 100)

      Bezieht man die Kategorie `Geschlecht` in die Reflexionen um die gegenwärtige `Auferstehung des Körpers` mit ein, so wird deutlich, daß der mit dem Subjekt-Diskurs untrennbar verbundene `Körper`-Diskurs nach wie vor gesellschaftspolitisch brisant ist und keineswegs als Naturalisierung des Politischen interpretiert werden kann.

      Der `Körper` als Schnittstelle zwischen `Natur` und `Kultur` ist spätestens seit Simone de Beauvoir erkannt und als Feld patriarchaler Herrschafts- und Machtausübung beschrieben worden. Dem verdrängten weiblichen `Körper` eine Sprache zu geben und die Schrift des weiblichen `Körpers` aufzuzeichnen, gehörte im Zuge der Emanzipationsbewegung in den 70er Jahren zu den zentralen Anliegen der Neuen Frauenbewegung. Auf theoretischer Ebene, insbesondere in den sich kritisch auf die Psychoanalyse beziehenden literaturtheoretischen Schriften der französischen Poststrukturalistinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva rückte das Kreatürliche und die Materialität (auch der Sprache) in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um Nicht-Subjektivität bzw. Subjektstatus der Frau in einer Gesellschaft, deren Geschlechterordnung auf ausschließenden Dichotomien beruht.

      Auch in literarischen Texten von Autorinnen begegnet der `Körper` vielfach als Schreibfläche, in der unauslöschbar die gesellschaftlichen Zurichtungen und die Spuren patriarchaler Gewalt eingeritzt sind - so vor allem bei Anne Duden ("Übergang", 1982) oder Ingeborg Bachmann ("Malina", 1971; "Der Fall Franza", veröff. 1978). Die Zerstörungsprozesse, die der Kampf der weiblichen Figuren gegen die von der Gesellschaft und ihrer Geschlechterordnung erzwungenen Sozialisationsformen im und am weiblichen `Körper` auslöst bzw. ausgelöst hat, sind wiederholt Gegenstand der literarischen Darstellung.

      Im folgenden werde ich exemplarisch einige Prosaarbeiten österreichischer Autorinnen aus den 80er und 90er Jahren vorstellen, in denen die `Subjekt`-Frage vielgestaltig mit dem Thema `Körper` und `Sexualität` verknüpft ist.

      Neben Elfriede Jelinek ("Die Liebhaberinnen", 1975), Barbara Frischmuth ("Die Klosterschule", 1968) oder Marianne Fritz ("Die Schwerkraft der Verhältnisse", 1978) hat sich als eine der ersten Marie-Thérèse Kerschbaumer diesem Thema zugwandt. Bereits in ihrem 1982 erschienenem Gesellschaftroman "Schwestern" (dzt. vergriffen) zerstören Krankheit und Selbstmord das Leben der Protagonistinnen, wenn sie sich den herrschenden gesellschaftlichen Konventionen anpassen. Domestizierung in Form von Medikalisierung und Psychiatrisierung erwartet sie, wenn sie sich gegen diese ihre Identität vernichtenden Strukturen auflehnen. Bleibt in "Schwestern" der Weg weiblicher Subjektwerdung noch weitgehend verdeckt, so scheint er in Kerschbaumers Romanen "Die Fremde" (1992), "Ausfahrt" (1994) und "Ferne" (2.000), die als Entwicklungsromane bzw. als fiktive (Auto-)Biographien konzipiert sind, in den Vordergrund zu treten. Gezeigt wird der Aufbruch "Barbarinas", des fremden Kindes aus der exotische Welt der Karibik, aus Ich-Verlust, religiös motivierter Frauenverachtung und Körperfeindlichkeit, aus Sprachlosigkeit und aus sozialen und geschlechtsspezifischen Ausbeutungsverhältnissen im Österreich der Kriegs- und Nachkriegszeit. Lyrische Evokationen der Freiheit, des Glücks, der kurz aufblitzendenVersöhnung von Intellekt und Sinnlichkeit, des körperlichen und seelischen Einklangs in Liebesbeziehungen konterkarieren ihr Leiden am gewaltdurchsetzten Umfeld:
      Der dunkelhäutige Mann mit den schönen Zügen, dem glatten Gesicht, dem blauschwarzen Haar den bläulichen Lippen, dem wachen und zugleich gelassenen Blick, der junge, fremdländische Mann mit dem schönen und zugleich intelligenten Gesicht, in dem nichts Böses wohnte, der sanft und nicht weich war, gütig, nicht schwach, ein junges Gesicht, das vollkommen war, weil es beides in sich trug, Idee und Gestalt, Wunsch und Gewähren, Geist und Fleisch, dieser junge Mann bei dessen Anblick sie sogleich wußte "Indien", und "zu spät", und "jetzt", und "nicht versäumen", hat ihren Blick erwidert, hat ein wenig gelächelt, blieb mit ihr am Straßenrand stehen, sah ihr lange in die Augen, berührte sanft ihre Arme, ergriff ihre Tasche, legte den Arm um die Schultern und führte sie langsam und schweigend fort, schlenderte schweigend mit der am ganzen Leib von rasendem Herzklopfen bebenden Fremden zur Brücke, bog zum Fluß, setzte sich auf die Kaimauer, indes die im Traum Wandelnde sich lehnte an seine Knie. [...] Und dann fing er in einer fremden Sprache leise zu singen an. Er wiegte sich ein wenig, umarmte sie fester, unterbrach sich und begann zu erzählen: (Marie-Thérèse Kerschbaumer: Ausfahrt. Klagenfurt-Salzburg 1994. S. 231ff.)

      Diese Evokationen schließen die frühe paradisiesche Kindheit in der farbig-exotischen, von Gerüchen und Klängen durchsetzten sinnlichen Welt Mittelmerikas oder Indiens ebenso ein wie den Widerstand gegen Unmenschlichkeit oder die in Literatur und Kunst utopisch aufbewahrten Werte eines menschenwürdigen Lebens. Zu den bei Kerschbaumer vorgestellten Befreiungsversuchen, die sich vor allem als Begegnung mit der Kunst und als Aufhebung der sich für Frauen fatal auswirkenden Dichotomie von Intellekt und Sinnlichkeit manifestieren, gehört auch das Überschreiten der Heterosexualität.

      Auch das 1984 erschienene Erstlingswerk von Elisabeth Reichart "Februarschatten" reflektiert über die Darstellung von Körpererfahrungen weibliche Biographien und Sozialisationsformen. Seelische Empfindungen und körperliche Sinneswahrnehmungen wie `Kälte`, `Schatten` und `Dunkelheit`, von denen sich Hilde mit Alkohol abzuschotten sucht, führen sie von der Jetztzeit und ihrem unauffälligen Leben als Witwe in einer kleinbürgerlichen Wohnsiedlung in die Kindheit während der 30er Jahre und der Nazizeit zurück:
      Ich darf nicht zulassen, daß ich mir immer früher mit Wein in den Tag hineinhelfe.
      Wenn du mich so sehen würdest. wie ich schon am Vormittag eine neue Flasche aufmache.
      Aber du hast mich ja nie so gesehen. Wirst mich nie so sehen.
      Nur ich habe von klein auf solche Bilder sehen müssen. In diesem Loch, in dem ich aufgewachsen bind, wurde niemand geschont. Da mußte ich zusehen, wenn der Vater zum Frühstück Most trank. mußte ich zuhören, wie er in der Früh spuckte und spuckte. Da wurde mir der eigene Körper fremd. Noch bevor ich ihn kennenlernen konnte. (Elisabeth Reichart: Februarschatten. mit einem Nachwort von Christa Wolf. Berlin 1997 (=AtV). S. 36f.

      Indem sich Hilde ihre Ausgrenzung innerhalb der Familie, insbesondere ihre abgebrochene Kommunikation mit der Mutter und den Schwestern und die patriarchalen Gewaltverhältnisse, die soziale Marginalisierung der antinazistischen Arbeiterfamilie und die Verbrechen der NS-Zeit nochmals bewußt macht und diese auch aussprechen lernt, kann sie sich von den sie auch körperlich lähmenden `Schatten` dieser Vergangenheit befreien.

      Der Form des biographischen Erzählens in Zusammenhang mit Identitätsvergewisserungen von Frauenfiguren begegnen wir ferner im sehr erfolgreichen Roman "Die Züchtigung" (1985) von Anna Mitgutsch. In "Die Züchtigung" löst die rückerinnernde Begegnung der Tochter mit ihrer gewalttätigen und autoritären, später an Krebs sterbenden Mutter namens Marie die Reflexion ihrer eigenen, auf Unterordnung und Sexualitätsverzicht ausgerichteten Sozialisation aus. Thematisiert werden zum einen die Elterngeneration, zum anderen die in den Nachkriegsjahren geborene Generation und ihre Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Lebensmustern. Mitgutschs Text zeigt, daß der fanatisch betriebene und beinahe auch gelingende Versuch Maries, sich und die Tochter in die neue kleinbürgerliche Ordnung einzufügen und deren Normen zu übernehmen, Ausdruck einer gegen sich selbst kehrenden Rebellion aufgrund erlittener Verletzungen ist. Marie ist Opfer des von sprachloser Gewalt, Fremden- und Frauenfeindlichkeit geprägten ländlich-bäuerlichen Umfeldes, das Frauen nur als Arbeitstiere und Gebärmaschinen ohne Anspruch auf Bildung betrachtet und in dem das Recht des körperlich und ökonomisch Stärkeren herrscht. Maries Kampf gegen Demütigung und Deklassierung äußert sich im Sexualitätsverzicht und in der Verleugnung jeder Körperlichkeit, in der keine Entbehrung scheuenden Anpassung an städtisch-kleinbürgerliche Normen und in der psychischen und physischen Disziplinierung der Tochter, die zum Kunstwerk der Mutter gerät und das repräsentieren soll, was dieser versagt blieb.

      In diesen Texten fungiert der `Körper` vielfach als `Grenze`, als `Wand`, die die Figuren als Schutz gegen die Gesellschaft aufrichten, damit wird er aber auch verletzbar. Seine Verfaßtheit verweist zeichenhaft auf die erlittenen Zurichtungen und den Zustand der geschilderten Gesellschaft.

      Krankheitserfahrungen als Auslöser veränderter Wahrnehmungen des eigenen Körpers und der Umgebung stehen dagegen im Mittelpunkt von Evelyn Schlags Ich-Erzählungen "Stoffwechsel" und "Ein Dauertropf für die Wüste" aus dem Erzählband "Touché" (1994). Mit dem Erleben der Zuckerkrankheit der Mutter und der eigenen Erkrankung ist für die in ihre Jugend zurückblickende Ich-Erzählerin die Erfahrung der `Unordnung` verbunden. Diese Krankheitserfahrungen machen ihr die Zwänge und das Einschränkende äußerer Ordnungen, vor allem die rationale medizinische Ordnung des Vaters, der jede sinnliche Erfahrung fernzuhalten und den `Körper` in ein Korsett von Regeln einzuspannen sucht, noch offensichtlicher. Sie setzen die Ich-Figur nach außen und nach innen dem Konflikt zwischen Anpassung an diese Regeln und Auflehnung gegen diese Regeln, aber auch gegen die Krankheit aus.

      In Elfriede Kerns Roman "Kopfstücke" (1997) ist dagegen Yolande von ihrem Bruder eine schwere Kopfverletzungen, ein Loch im Kopf, zugefügt worden. Die aus der Perspektive Yolandes geschilderte Flucht in ein abgeschlossenes Tal und von dort aus hin zum Meer enthüllen in der Folge prozeßhaft ein geschlossenes System von Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, auf das zeichenhaft Yolandes Kopfverletzung hinweist:
      Das Licht ist grell in den Raum gefallen. Ich habe den Kopf gesenkt. Der Mann ist vor mir gestanden und hat von oben auf meinen Kopf geschaut. So was habe ich noch nie gesehen, hat er nach einer Weile mit veränderter Stimme gesagt und die Luft durch die Zähne gezogen. Läßt du dich normalerweise für Geld sehen? hat er gefragt. Ich habe die Augen gehoben und mir angeschaut, mit wem ich es zu tun habe. (Elfriede Kern: Kopfstücke. Salzburg 1997. S. 12f.)

      Das Netz von Herrschaftsbeziehungen, in dem Yolande agiert, das sie auch bedient und aus dem sie sich vergeblich zu befreien sucht, ist geprägt vom Versuch der männlichen Figuren, ihren `Körper` verfügbar zu machen, ihn zu kontrollieren, sich ihn anzueignen: Yolandes `Loch` erweckt ihr sexuelles und ihr medizinisches Interesse. Yolandes Flucht zu Cora - der weiblichen Gegenfigur - mündet jedoch ebenso ins Nichts, denn auch sie ist nur an Yolandes Körper, diesmal aus wirtschaftlichen Eigennutz und in Hinblick auf seine Verwertbarkeit, interessiert. Körperlich schwer versehrt bleibt Yolande allein zurück.

      Wiederum aus einer anderer Perspektive nähert sich Evelyn Schlag im Roman "Die göttliche Ordnung der Begierden" (1998) dem Thema `Körper` und `Macht`. Hier wird sich der Priester Ulrich in der betont nüchternen alle Emotionen zurückhaltenden Reflexion seiner Beziehung zu Cordula und zu seinem homosexuellen Freund und einstigen Mitseminaristen Johannes der Leib- und damit auch der Lebensfeindlichkeit der katholischen Kirche bewußt; er erkennt in ihren `Körper`-Ikonen Frauenhaß und männlichen Sadomasochismus, in der Orientierung der Kirchenvertreter auf ein Abstrakt-Göttliches und in den kirchlichen Ritualen ein verführerisches, von Männern geschaffenes Macht- und Herrschaftsinstrument, das das Individuum zum Objekt eines Systems degradiert. Die Negierung der Vielfalt der `Körper`-Erfahrungen und der Sexualität - so die Erkenntnis Ulrichs - führt in die Erstarrung und wirkt persönlichkeitszerstörend.

      Eine Zuspitzung erfährt das Thema `Körper`, `Macht` und `Geschlecht` in den Texten Elfriede Jelineks (u.a. in "Die Liebhaberinnen" 1975; "Die Ausgesperrten" 1980; "Die Klavierspielerin" 1983; "Lust" oder "Die Kinder der Toten", 1995), in Elisabth Reicharts Erzählung "Fotze" (1993) und in den Romanen Elfriede Czurdas ("Kerner" 1987, "Die Giftmörderinnen" 1991, und "Die Schläferin" 1997), denn sie beziehen auch die Gewalt der `Sprache` und die Macht der Diskurse in bezug auf die Körperwahrnehmung ein.

      Wie schon in den "Liebhaberinnen" desavouiert Jelineks Roman "Die Ausgesperrten" nicht nur die die Klassenschranken außer Acht lassenden Redeweisen vom möglichen gesellschaftlichen Aufstieg für jedermann. Die vorgeführten Sprachschablonen der Figuren legen auch offen, daß der Kampf um sozialen Aufstieg vor allem über den `Körper` der Geschlechter geführt wird. Das Kapital `Körper`, das die männlichen und weiblichen Figuren in diesem Machtspiel einsetzen, erweist sich allerdings nicht als etwas Vordiskursives, es ist vielmehr Produkt des Mythos `Sport`, der mythenproduzierenden Unterhaltungsindustrie mit ihren stereotypen und die Geschlechterhierarchie stabilisierenden Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern, der (auch pornographischen) Literatur oder der abendländischen Geschlechter-Philosophie, die die Geschlechterdifferenz über die Dichotomie von `Geist`/`Kopf` und `Geschlecht`/`Sexualität` konstruiert.

      Im Roman "Die Klavierspielerin" hat sich der soziale Machtkampf scheinbar ins Private verlagert, denn das Handlungsgerüst bildet jetzt eine Mutter-Tochter Beziehung. Die Tochter Erika durchquert im Handlungsverlauf sämtliche Stationen der geschlechtlichen Ausdifferenzierung, wie sie die Psychoanalyse beschreibt. Sie erlebt den traumatischen Blick auf das männliche Geschlecht und den nicht weniger traumatischen Blick auf das eigene weibliche Geschlecht (allerdings in Übernahme der phallischen Position), den Blick auf den Geschlechtsakt, die inzestuöse Bindung an die Mutter bei gleichzeitigem Wunsch, sich von ihr abzulösen oder die narzistische Prägung, die sich in ihrem manischen Kleiderkauf äußert. Alle Versuche Erikas sexuelle Identität zu erlangen, die Versteinerungen und Panzerungen ihres Leibes und die damit verbundene Empfindungslosigkeit gegen Lust und Schmerz, den sexuellen Tod, das Nichts, das die Frau im psychoanalytischen Diskurs und in der philosophischen Tradition des Abendlands ist, aufzuheben, scheitern. Sie scheitern, weil Erika zum einen in der Figur des sportlich durchtrainierten, die `Natur` liebenden Klemmer das personifizierte Patriarchat entgegentritt, das die Frau nur als `Körper`-Maschine oder als zu bezwingendes `Natur`-Objekt auf dem Weg zum `Gipfelsieg` wahrnimmt:
      Herr Klemmer will so gern Erikas Freund werden. Dieser formlose Kadaver, diese Klavierlehrerin, der man den Beruf ansieht, kann sich schließlich noch entwickeln, denn zu alt ist er gar nicht, dieser schlaffe Gewebesack. Dieses krankhaft verkrümmte, am Idealen hängende Witzwesen, veridiotet und verschwärmt, nur geistig lebend, wird von diesem jungen Mann auf das diesseits umgepolt werden. Die Freude der Liebe wird sie genießen, warte nur! Walter Klemmer fährt im Sommer und schon im Frühjahr auf Wildwassern Paddelboot, sogar Tore umrundet er dabei. Er bezwingt ein Element, und Erika Kohut, seine Lehrerin, wird er auch noch unterwerfen. (Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 1986 (=rororo 1290). S. 67.)

      Die Verknüpfung von `Natur`, `Körper`, `Sport` und `Frau` in Klemmers Redeweisen entlarven die kulturelle Verklärung der `Natur` und damit implizit auch der Frau als Verschleierung patriarchaler Herrschaftverhältnisse. Diese Verklärung verdeckt, daß auch das scheinbar `Natürlichste` - die Sexualität - der alle Bereiche der Gesellschaft bestimmenden Kauf- und Tauschordnung unterliegt. Jede phallische Anmaßung der Frau, zu der ökonomische Überlegenheit und materielles Begehren ebenso gehören wie die bewußte Inszenierung einer sadomasochistischer Sexualität durch Erika, die auf diese Weise ihren Objektstatus überwinden möchte, wird mit der Vernichtung der Frau bestraft: im Roman mit der Vergewaltigung Erikas durch Klemmer.

      Jelinek setzt Diskurse verschiedener diskursiver Praxen in Szene und unterwandert diese, vielfältige Schreibtechniken einsetzend, in satirischer Absicht, um ihren herrschaftsstiftenden Charakter zu entlarven. Dieses Verfahren ist auch für den die Sprache der Pornographie inszenierenden Roman "Lust" oder für den Roman "Die Kinder der Toten" bestimmend. Die Durchquerung der verschiedenen Diskurse seitens der weiblichen Figuren gerät dabei zu einer Durchquerung des Todes: neben den Diskursen der Philosophie oder der katholischen Religion sind es vor allem `Krieg`, `Sport`, `Mode` und in enger Verbindung damit die modernen Medien, die `Körper`-Bilder kreieren und Stereotypien der Geschlechterdifferenz transportieren, die auf die Vernichtung des (männlichen und weiblichen) `Körpers` ausgerichtet sind.

      Auch Elfriede Czurdas Roman "Die Schläferin" arbeitet mit abstrahierenden und typisierenden Stilmitteln. Über die Figurenperspektive werden stationenartig Redeweisen über die Geschlechterbeziehung vorgeführt und in Zusammenhang damit Körpererfahrungen der Protaginistin mitgeteilt. Magdalena führt einen aussichtslosen Abwehrkrieg gegen ihren `Körper`, dem sexuelle Gewalt eingeschrieben worden ist. Ihr Versuch, sich von ihren traumatischen Kindheitserfahrungen durch Schlaf und Essen abzutrennen und eine kleinbürgerliche Idylle als glücklich verheiratete Ehefrau mit klassischer Rollenverteilung aufzubauen, wird jedoch sukzessive unterminiert: zum einen, weil Magdalenas Leib den "Riß" nicht vergißt und sich durch Eß- und Brechsucht gegen ihre Disziplinierungsversuche kehrt, zum anderen, weil ihre Wunschvorstellungen von einer gelungenen Ich-Identität als glücklich Verheiratete sich als Illusion erweisen und zerbrechen. Die die Figurenreden und den Erzählerbericht bestimmenden und miteinander verwobenen Wortfelder "Natur", "Gefühle", "Ordnung", "Krieg", "Messer"/"Schnitte" verweisen einerseits auf die Ich-Dissoziation der Figur, andererseits auf die unüberbrückbare Kluft zwischen den idealisierten vorgeprägten Geschlechtsrollenmuster, wie sie der Chor der Nachbarn zum Ausdruck bringt, und ihrer Realität im vermeintlich privaten Raum:

      Zur Zeit errichtet Magdalena viele innere Mauern aus Thunfisch und Schokolade. Aber die halten nur kurz. Irgendwie ist alles um Magdalena brüchig zur Zeit.
      Magdalena erbricht die eben errichteten innern Mauern gleich wieder. Sie würgt sie aus. Sie magert ab, das versteht sie nicht. Bei allem, was sie ißt! Sie ist nervös. Schreckhaft. [...] Ihr scharfes Messer, Gefährte und Trost, wenn Magdalena wach ist, schneidet sie zurück in ein labiles Gleichgewicht, zurück in ein Leben mit Jakob. Nur mit ihremFreund, ihrem Messer, findet Magdalena zu einer gewissen Muße zurück, zu einem Gleichmut, der sich am Klappern der Schneide auf dem Buchenbrett erwärmt. (Elfriede Czurda: Die Schläferin. Reinbek bei Hamburg 1997. S. 48f.)

      Nur die Flucht in die Krankheit, dann die Ermordung des Partners, seine Enthauptung und Zerstückelung, und schließlich der Selbstmord, die Selbstvernichtung rettet Magdalenas Illusion vom kleinbürgerlichen Glück in trauter Zweisamkeit und ihre sich am romantischen Liebes-Ideal orientierende Sehnsucht nach einer alle Begrenzungen aufhebenden Liebesbeziehung.

      Czurda führt in diesem Roman, wie schon zuvor in den "Giftmörderinnen", die Gesellschaftlichkeit des vermeintlich Privaten vor und zeichnet nach, welche Muster `Mörderinnen` produzieren. Damit schreibt sie auch gegen eine literarische Tradition an, die entweder nur die gewaltsam getöte, weil ausschließlich sexuell bestimmte Frau (vgl. Oskar Kokoschkas Drama "Mörder, Hoffnung der Frauen", 1910) oder nur die in einer Sphäre des `Natürlichen` agierende und nach dem Kopf des Mannes trachtende dämonisierte Frauengestalt wie Salome kennt.

      Diese kulturell vorgeprägten Muster von Geschlechterbeziehungen hat auch Margit Hahn in ihren Texten - exemplarisch sei der Band "Entgleisungen" (1996) genannt - im Visier. Zusammengehalten werden die Kurztexte, die Schemata der Kriminalliteratur aufgreifen, durch das Motiv der `Eisenbahnfahrt`. Auf den verschiedenen Zugreisen der Protagonistinnen kommt es dabei immer wieder zu sexuellen und moralischen `Entgleisungen`, wobei Muster sexueller Begegnungen ironisch `dekonstruiert` werden: Die Frauenfiguren erliegen nicht mehr männlichen Verführungskünsten, sie sind auch nicht mehr willenlose Opfer von Übergriffen, sondern sie sind selbst Täterinnen und werden auch zu Mörderinnen, vor allem, weil sie sich nicht scheuen, selbstbewußt ihren `Körper`, ihre Sexualität im Kampf der Geschlechter einzusetzen und ihrer Wut über männliches Imponiergehabe Ausdruck zu verleihen. Hahns Frauenfiguren haben die Spielregeln des bislang ungleichen Kampfes erkannt und subvertieren sie, indem sie souverän auf der Klaviatur der `Männerphantasien` spielen, die sich gegen die männlichen Figuren selbst kehren. Das Ausgeliefertsein der männlichen Figuren an diese Phantasien läßt die Fassade wohlkontrollierter Anständigkeit und vornehmer Zurückhaltung zerbröckeln, ihre Reaktionen gleichen letztlich jenen von Automaten.

      Sprachkritisch nähern sich dem Körper-Thema vor allem jüngere Autorinnen: so Sissi Tax, die im Text "Die Finger davon lassen" aus dem von Elfriede Jelinek und Brigitte Landes herausgegebenen Band "Jelineks Wahl" (1998) scheinbar unververfängliche, feste Redensarten (wie `die Hände in den Schoß legen`; `die Finger verbrennen` usw.) so miteinander kombiniert, daß sexuelle Konnotationen entstehen und auf diese Weise hinter dem Verschlüsselten und Verhüllenden die sexuelle Aufgeladenheit der Sprache bloßgelegt wird oder auch Margit Kreidl ("Schnelle Schüsse", o.J.), die die stereotypen und unverhohlen sexuell unterlegten `Körper`-Bilder der `Heimat`-Literatur aufs `Korn` nimmt:
      Die Kniebundlederhose mit der weißen Stickerei. Das blütenweiße Hemd ist sauber aufgekrempelt. Das blaue Halstuch wird von einem Hirschhornring zusammengehalten. Wastl ist über beide Ohrwascheln verliebt. Wastl zieht die junge Sennerin in seine Arme. Wastl ist gamsig. Wir heiraten nach dem Almabtrieb. Nach Ostern, sagt die junge Sennerin. Wastl fährt sich mit den Fingern durch den dichten Haarschopf. Herrschaftszeiten! Vor der Almhütte steht ein alter Holzbrunnen, aus dem klares Gebirgswasser fließt. Wastl steckt den Kopf in das eiskalte Gebirgswasser. Nach dem Almabtrieb oder gar nicht! Wastl ist grantig. Gar nicht, sagt die junge Sennerin. Ein Schuß. (Margit Kreidl. Wien o.J.S. 11)

      Wenngleich über die Darstellung von `Körper`-Erfahrungen in mehreren Arbeiten Wege hin zu sexueller Erfüllung und sexueller Identitätsfindung geschildert werden wie in Evelyn Schlags Erzählung "Alle deine Himbeersträucher" aus dem Band "Touché" oder in Karin Ricks "Cote d`Azur" (1993), die eine lesbischen Liebesbeziehung vor der die Sinne anregenden Kulisse einer mediterranen Landschaft beschreibt, bleiben aus weiblicher Perspektive auch in den späten 90er Jahren körperliche Entfremdungserfahrungen bestimmend: "Im Lauf der Zeit waren die Orgasmen zu belanglosen kleinen Wellen geworden" - heißt es in Marlene Streeruwitz Roman "Lisa`s Liebe" (1997), der weibliche Lebenszusammenhänge mit den Mustern des Kolportageromans erzählt. Über die Erzählperspektive der Außensicht und das Stilmittel der Wiederholung demaskiert Streeruwitz das Machverhältnis zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft der 90er Jahre als vergeblichen Kampf gegen das Immergleiche. Dazu gehören auch die stets nach bekannten Mustern inszenierten Verführungen, die immer gleich ablaufenden sexuellen Beziehungen. Hinter der glatten Fassade mittelständischer Wohlsituiertheit mit Fitneß, Sonnenstudio und gern zur Schau getragenem `Körper`-Bewußtseins verbirgt sich letztlich Leere und Banalität, die Lisa immer mehr einschnüren und lähmen. Veränderungen signalisiert in diesem Umfeld höchstens ihr Körper. Unkontrollierte Eßattacken und daran anschließende Hungerkuren wechseln einander ab.

      Mit der Erfahrung der körperlichen Entfremdung der weiblichen Hauptfiguren korrespondiert in den 1998 erschienenen Romanen "Das vergessene Lächeln der Amaterasu" (1998) von Elisabeth Reichart und "Die Schrift des Freundes" (1998) die Erfahrung der Kälte und der Beziehungslosigkeit in einer der rationalen Kontrolle unterworfenen und durch neue Technologien perfektionierten Welt. Die Kunst, die nicht nur die Erinnerung an Verbrechen wachzuhalten vermag, sondern auch Seele/Geist und Sinne versöhnen kann, wird in beiden Prosaarbeiten einer enthumanisierten Gesellschaft als Utopie entgegengehalten.

      Die Wiedergewinnung des `Körpers` stand von Beginn an im Zentrum feministischer Theorie-Bildung. Wenn im Zuge des Poststrukturalismus jetzt auf der Theorie-Ebene diskutiert wird, ob nach dem `Subjekt` auch der `Körper` ein Produkt von Diskursen sei und er jeglicher Materialität entbehre, so scheint es auf literarischer Ebene Parallelen dazu in den Texten Elfriede Jelineks und Elfriede Czurdas zu geben. Im Unterschied zu Marie-Thérèse Kerschbaumer, Anna Mitgutsch oder Evelyn Schlag, die die Aufhebung der vor allem durch den Katholizismus verbreiteten frauenfeindlichen Dichotomie von Intellekt und Sinnlichkeit einklagen und über eine biographische Schreibweise Entwicklungsprozesse hin zu sexueller Identitätsfindung nachzeichnen, gehen Elfriede Jelinek und Elfriede Czurdas auf die Macht der Diskurse bei der Konstruktion und Wahrnehmung von `Körper` und `Geschlecht` ein. Allerdings bleibt der `Körper` bei Jelinek und Czurda nicht in einem ahistorischen Sprachraum gefangen, sondern er figuriert als kulturelles Gedächtnis; er ist Zeichen-Träger jener gesellschaftlichen und diskursiven Machtmechanismen, die mit der Vernichtung und Auslöschung des `Körpers` der Frau verbunden sind. Letzteres manifestiert sich auch bei Elfriede Kern.

      In einer Zeit, in der Bild-Welten dominieren und die Ästhetisierung der Lebenswelt voranschreitet, kommt der ironisch-satirischen Destruktion schöner Körper-Bilder, die die Herrschaftsbeziehungen in der Gesellschaft und zwischen den Geschlechtern verschleiern, eine besondere Bedeutung zu. Das Offenlegen der weiblichen Nicht-Identität auf der Ebene des Sexuellen, das Schweigen über ihren prädiskursiven `Körper`, negiert diesen allerdings noch nicht, sondern hält ihn gleichsam aus der Negation heraus als Utopie wach.

      Eine weiter Verbindung zwischen Theorie und literarischem Text sehe ich u.a. in den Texten von Margit Hahn. Sie unterlaufen die kulturell vorgeprägte Geschlechtsidentitäten parodististisch und setzen den Aufruf Judith Butlers, Geschlechterordnungen über Geschlechter-Parodien zu dekonstriueren, literarisch um. Bleiben diese Parodien ohne Rückbezug auf bestimmte geschichtliche Situationen oder gesellschaftliche Entwicklungen, so laufen sie m.E. allerdings sehr bald Gefahr, zu einem beliebig wiederholbaren Zeichen-Spiel zu werden.
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      schrieb am 14.04.01 20:08:17
      Beitrag Nr. 56 ()
      S. Klettenhammer

      Körperschriften
      "Für das postmoderne Subjekt ist, im Gegensatz zu seinem cartesianischen Vorläufer, der Körper ein integraler Bestandteil seiner Identität. Von Bachtin bis Bodyshop, von Lyotard bis Leotardtrikots ist der Körper tatsächlich zu einem Hauptanliegen postmodernen Denkens geworden." Dies konstatiert der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton in seinem Essay "Subjekte" (in: ders.: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Stuttgart-Weimar 1997. S. 93) und er fährt fort: "von Berkeley bis Brighton gibt es nichts, was" gegenwärtig "mehr sexy wäre als der Sex". (ebd.) Eagleton, der sich einem aufklärerisch-sozialistischen Denken verpflichtet weiß, begegnet dieser Hinwendung zum `Körper`, die u.a. durch die Arbeiten Jacques Lacans oder Michel Foucaults eingeleitet wurde, allerdings mit Skepsis und Kritik. Den gegenwärtigen Körper- und Sexualitätsdiskursen wirft er vor, daß sie das Subjekt in seiner Handlungsfähigkeit lähmten, weil sie negierten, daß dieses zwischen den cartesianischen Polen `Körper` und `Geist` eingespannt bleibe und in dieser Aporie leben müsse.
      Die Kritik Eagletons am Kulturalismus der Postmoderne, d. h. an der Vorstellung, daß auch der `Körper` kulturell überformt und Produkt der Sprache sei und sich seit der Moderne eine zunehmende Entfremdung vom Kreatürlichen feststellen lasse, welche gleichzeitig den Wunsch nach einer `Widerkehr des Körpers` nähre und damit Gefahr laufe, in Biologismus und Irrationalismus zurückzufallen, fokussiert sich im Satz: "Es ist nicht wahr, daß ich einen Körper habe, und es ist auch nicht richtig, daß ich ein Körper bin". (ebd., S. 100)

      Bezieht man die Kategorie `Geschlecht` in die Reflexionen um die gegenwärtige `Auferstehung des Körpers` mit ein, so wird deutlich, daß der mit dem Subjekt-Diskurs untrennbar verbundene `Körper`-Diskurs nach wie vor gesellschaftspolitisch brisant ist und keineswegs als Naturalisierung des Politischen interpretiert werden kann.

      Der `Körper` als Schnittstelle zwischen `Natur` und `Kultur` ist spätestens seit Simone de Beauvoir erkannt und als Feld patriarchaler Herrschafts- und Machtausübung beschrieben worden. Dem verdrängten weiblichen `Körper` eine Sprache zu geben und die Schrift des weiblichen `Körpers` aufzuzeichnen, gehörte im Zuge der Emanzipationsbewegung in den 70er Jahren zu den zentralen Anliegen der Neuen Frauenbewegung. Auf theoretischer Ebene, insbesondere in den sich kritisch auf die Psychoanalyse beziehenden literaturtheoretischen Schriften der französischen Poststrukturalistinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva rückte das Kreatürliche und die Materialität (auch der Sprache) in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um Nicht-Subjektivität bzw. Subjektstatus der Frau in einer Gesellschaft, deren Geschlechterordnung auf ausschließenden Dichotomien beruht.

      Auch in literarischen Texten von Autorinnen begegnet der `Körper` vielfach als Schreibfläche, in der unauslöschbar die gesellschaftlichen Zurichtungen und die Spuren patriarchaler Gewalt eingeritzt sind - so vor allem bei Anne Duden ("Übergang", 1982) oder Ingeborg Bachmann ("Malina", 1971; "Der Fall Franza", veröff. 1978). Die Zerstörungsprozesse, die der Kampf der weiblichen Figuren gegen die von der Gesellschaft und ihrer Geschlechterordnung erzwungenen Sozialisationsformen im und am weiblichen `Körper` auslöst bzw. ausgelöst hat, sind wiederholt Gegenstand der literarischen Darstellung.

      Im folgenden werde ich exemplarisch einige Prosaarbeiten österreichischer Autorinnen aus den 80er und 90er Jahren vorstellen, in denen die `Subjekt`-Frage vielgestaltig mit dem Thema `Körper` und `Sexualität` verknüpft ist.

      Neben Elfriede Jelinek ("Die Liebhaberinnen", 1975), Barbara Frischmuth ("Die Klosterschule", 1968) oder Marianne Fritz ("Die Schwerkraft der Verhältnisse", 1978) hat sich als eine der ersten Marie-Thérèse Kerschbaumer diesem Thema zugwandt. Bereits in ihrem 1982 erschienenem Gesellschaftroman "Schwestern" (dzt. vergriffen) zerstören Krankheit und Selbstmord das Leben der Protagonistinnen, wenn sie sich den herrschenden gesellschaftlichen Konventionen anpassen. Domestizierung in Form von Medikalisierung und Psychiatrisierung erwartet sie, wenn sie sich gegen diese ihre Identität vernichtenden Strukturen auflehnen. Bleibt in "Schwestern" der Weg weiblicher Subjektwerdung noch weitgehend verdeckt, so scheint er in Kerschbaumers Romanen "Die Fremde" (1992), "Ausfahrt" (1994) und "Ferne" (2.000), die als Entwicklungsromane bzw. als fiktive (Auto-)Biographien konzipiert sind, in den Vordergrund zu treten. Gezeigt wird der Aufbruch "Barbarinas", des fremden Kindes aus der exotische Welt der Karibik, aus Ich-Verlust, religiös motivierter Frauenverachtung und Körperfeindlichkeit, aus Sprachlosigkeit und aus sozialen und geschlechtsspezifischen Ausbeutungsverhältnissen im Österreich der Kriegs- und Nachkriegszeit. Lyrische Evokationen der Freiheit, des Glücks, der kurz aufblitzendenVersöhnung von Intellekt und Sinnlichkeit, des körperlichen und seelischen Einklangs in Liebesbeziehungen konterkarieren ihr Leiden am gewaltdurchsetzten Umfeld:
      Der dunkelhäutige Mann mit den schönen Zügen, dem glatten Gesicht, dem blauschwarzen Haar den bläulichen Lippen, dem wachen und zugleich gelassenen Blick, der junge, fremdländische Mann mit dem schönen und zugleich intelligenten Gesicht, in dem nichts Böses wohnte, der sanft und nicht weich war, gütig, nicht schwach, ein junges Gesicht, das vollkommen war, weil es beides in sich trug, Idee und Gestalt, Wunsch und Gewähren, Geist und Fleisch, dieser junge Mann bei dessen Anblick sie sogleich wußte "Indien", und "zu spät", und "jetzt", und "nicht versäumen", hat ihren Blick erwidert, hat ein wenig gelächelt, blieb mit ihr am Straßenrand stehen, sah ihr lange in die Augen, berührte sanft ihre Arme, ergriff ihre Tasche, legte den Arm um die Schultern und führte sie langsam und schweigend fort, schlenderte schweigend mit der am ganzen Leib von rasendem Herzklopfen bebenden Fremden zur Brücke, bog zum Fluß, setzte sich auf die Kaimauer, indes die im Traum Wandelnde sich lehnte an seine Knie. [...] Und dann fing er in einer fremden Sprache leise zu singen an. Er wiegte sich ein wenig, umarmte sie fester, unterbrach sich und begann zu erzählen: (Marie-Thérèse Kerschbaumer: Ausfahrt. Klagenfurt-Salzburg 1994. S. 231ff.)

      Diese Evokationen schließen die frühe paradisiesche Kindheit in der farbig-exotischen, von Gerüchen und Klängen durchsetzten sinnlichen Welt Mittelmerikas oder Indiens ebenso ein wie den Widerstand gegen Unmenschlichkeit oder die in Literatur und Kunst utopisch aufbewahrten Werte eines menschenwürdigen Lebens. Zu den bei Kerschbaumer vorgestellten Befreiungsversuchen, die sich vor allem als Begegnung mit der Kunst und als Aufhebung der sich für Frauen fatal auswirkenden Dichotomie von Intellekt und Sinnlichkeit manifestieren, gehört auch das Überschreiten der Heterosexualität.

      Auch das 1984 erschienene Erstlingswerk von Elisabeth Reichart "Februarschatten" reflektiert über die Darstellung von Körpererfahrungen weibliche Biographien und Sozialisationsformen. Seelische Empfindungen und körperliche Sinneswahrnehmungen wie `Kälte`, `Schatten` und `Dunkelheit`, von denen sich Hilde mit Alkohol abzuschotten sucht, führen sie von der Jetztzeit und ihrem unauffälligen Leben als Witwe in einer kleinbürgerlichen Wohnsiedlung in die Kindheit während der 30er Jahre und der Nazizeit zurück:
      Ich darf nicht zulassen, daß ich mir immer früher mit Wein in den Tag hineinhelfe.
      Wenn du mich so sehen würdest. wie ich schon am Vormittag eine neue Flasche aufmache.
      Aber du hast mich ja nie so gesehen. Wirst mich nie so sehen.
      Nur ich habe von klein auf solche Bilder sehen müssen. In diesem Loch, in dem ich aufgewachsen bind, wurde niemand geschont. Da mußte ich zusehen, wenn der Vater zum Frühstück Most trank. mußte ich zuhören, wie er in der Früh spuckte und spuckte. Da wurde mir der eigene Körper fremd. Noch bevor ich ihn kennenlernen konnte. (Elisabeth Reichart: Februarschatten. mit einem Nachwort von Christa Wolf. Berlin 1997 (=AtV). S. 36f.

      Indem sich Hilde ihre Ausgrenzung innerhalb der Familie, insbesondere ihre abgebrochene Kommunikation mit der Mutter und den Schwestern und die patriarchalen Gewaltverhältnisse, die soziale Marginalisierung der antinazistischen Arbeiterfamilie und die Verbrechen der NS-Zeit nochmals bewußt macht und diese auch aussprechen lernt, kann sie sich von den sie auch körperlich lähmenden `Schatten` dieser Vergangenheit befreien.

      Der Form des biographischen Erzählens in Zusammenhang mit Identitätsvergewisserungen von Frauenfiguren begegnen wir ferner im sehr erfolgreichen Roman "Die Züchtigung" (1985) von Anna Mitgutsch. In "Die Züchtigung" löst die rückerinnernde Begegnung der Tochter mit ihrer gewalttätigen und autoritären, später an Krebs sterbenden Mutter namens Marie die Reflexion ihrer eigenen, auf Unterordnung und Sexualitätsverzicht ausgerichteten Sozialisation aus. Thematisiert werden zum einen die Elterngeneration, zum anderen die in den Nachkriegsjahren geborene Generation und ihre Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Lebensmustern. Mitgutschs Text zeigt, daß der fanatisch betriebene und beinahe auch gelingende Versuch Maries, sich und die Tochter in die neue kleinbürgerliche Ordnung einzufügen und deren Normen zu übernehmen, Ausdruck einer gegen sich selbst kehrenden Rebellion aufgrund erlittener Verletzungen ist. Marie ist Opfer des von sprachloser Gewalt, Fremden- und Frauenfeindlichkeit geprägten ländlich-bäuerlichen Umfeldes, das Frauen nur als Arbeitstiere und Gebärmaschinen ohne Anspruch auf Bildung betrachtet und in dem das Recht des körperlich und ökonomisch Stärkeren herrscht. Maries Kampf gegen Demütigung und Deklassierung äußert sich im Sexualitätsverzicht und in der Verleugnung jeder Körperlichkeit, in der keine Entbehrung scheuenden Anpassung an städtisch-kleinbürgerliche Normen und in der psychischen und physischen Disziplinierung der Tochter, die zum Kunstwerk der Mutter gerät und das repräsentieren soll, was dieser versagt blieb.

      In diesen Texten fungiert der `Körper` vielfach als `Grenze`, als `Wand`, die die Figuren als Schutz gegen die Gesellschaft aufrichten, damit wird er aber auch verletzbar. Seine Verfaßtheit verweist zeichenhaft auf die erlittenen Zurichtungen und den Zustand der geschilderten Gesellschaft.

      Krankheitserfahrungen als Auslöser veränderter Wahrnehmungen des eigenen Körpers und der Umgebung stehen dagegen im Mittelpunkt von Evelyn Schlags Ich-Erzählungen "Stoffwechsel" und "Ein Dauertropf für die Wüste" aus dem Erzählband "Touché" (1994). Mit dem Erleben der Zuckerkrankheit der Mutter und der eigenen Erkrankung ist für die in ihre Jugend zurückblickende Ich-Erzählerin die Erfahrung der `Unordnung` verbunden. Diese Krankheitserfahrungen machen ihr die Zwänge und das Einschränkende äußerer Ordnungen, vor allem die rationale medizinische Ordnung des Vaters, der jede sinnliche Erfahrung fernzuhalten und den `Körper` in ein Korsett von Regeln einzuspannen sucht, noch offensichtlicher. Sie setzen die Ich-Figur nach außen und nach innen dem Konflikt zwischen Anpassung an diese Regeln und Auflehnung gegen diese Regeln, aber auch gegen die Krankheit aus.

      In Elfriede Kerns Roman "Kopfstücke" (1997) ist dagegen Yolande von ihrem Bruder eine schwere Kopfverletzungen, ein Loch im Kopf, zugefügt worden. Die aus der Perspektive Yolandes geschilderte Flucht in ein abgeschlossenes Tal und von dort aus hin zum Meer enthüllen in der Folge prozeßhaft ein geschlossenes System von Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, auf das zeichenhaft Yolandes Kopfverletzung hinweist:
      Das Licht ist grell in den Raum gefallen. Ich habe den Kopf gesenkt. Der Mann ist vor mir gestanden und hat von oben auf meinen Kopf geschaut. So was habe ich noch nie gesehen, hat er nach einer Weile mit veränderter Stimme gesagt und die Luft durch die Zähne gezogen. Läßt du dich normalerweise für Geld sehen? hat er gefragt. Ich habe die Augen gehoben und mir angeschaut, mit wem ich es zu tun habe. (Elfriede Kern: Kopfstücke. Salzburg 1997. S. 12f.)

      Das Netz von Herrschaftsbeziehungen, in dem Yolande agiert, das sie auch bedient und aus dem sie sich vergeblich zu befreien sucht, ist geprägt vom Versuch der männlichen Figuren, ihren `Körper` verfügbar zu machen, ihn zu kontrollieren, sich ihn anzueignen: Yolandes `Loch` erweckt ihr sexuelles und ihr medizinisches Interesse. Yolandes Flucht zu Cora - der weiblichen Gegenfigur - mündet jedoch ebenso ins Nichts, denn auch sie ist nur an Yolandes Körper, diesmal aus wirtschaftlichen Eigennutz und in Hinblick auf seine Verwertbarkeit, interessiert. Körperlich schwer versehrt bleibt Yolande allein zurück.

      Wiederum aus einer anderer Perspektive nähert sich Evelyn Schlag im Roman "Die göttliche Ordnung der Begierden" (1998) dem Thema `Körper` und `Macht`. Hier wird sich der Priester Ulrich in der betont nüchternen alle Emotionen zurückhaltenden Reflexion seiner Beziehung zu Cordula und zu seinem homosexuellen Freund und einstigen Mitseminaristen Johannes der Leib- und damit auch der Lebensfeindlichkeit der katholischen Kirche bewußt; er erkennt in ihren `Körper`-Ikonen Frauenhaß und männlichen Sadomasochismus, in der Orientierung der Kirchenvertreter auf ein Abstrakt-Göttliches und in den kirchlichen Ritualen ein verführerisches, von Männern geschaffenes Macht- und Herrschaftsinstrument, das das Individuum zum Objekt eines Systems degradiert. Die Negierung der Vielfalt der `Körper`-Erfahrungen und der Sexualität - so die Erkenntnis Ulrichs - führt in die Erstarrung und wirkt persönlichkeitszerstörend.

      Eine Zuspitzung erfährt das Thema `Körper`, `Macht` und `Geschlecht` in den Texten Elfriede Jelineks (u.a. in "Die Liebhaberinnen" 1975; "Die Ausgesperrten" 1980; "Die Klavierspielerin" 1983; "Lust" oder "Die Kinder der Toten", 1995), in Elisabth Reicharts Erzählung "Fotze" (1993) und in den Romanen Elfriede Czurdas ("Kerner" 1987, "Die Giftmörderinnen" 1991, und "Die Schläferin" 1997), denn sie beziehen auch die Gewalt der `Sprache` und die Macht der Diskurse in bezug auf die Körperwahrnehmung ein.

      Wie schon in den "Liebhaberinnen" desavouiert Jelineks Roman "Die Ausgesperrten" nicht nur die die Klassenschranken außer Acht lassenden Redeweisen vom möglichen gesellschaftlichen Aufstieg für jedermann. Die vorgeführten Sprachschablonen der Figuren legen auch offen, daß der Kampf um sozialen Aufstieg vor allem über den `Körper` der Geschlechter geführt wird. Das Kapital `Körper`, das die männlichen und weiblichen Figuren in diesem Machtspiel einsetzen, erweist sich allerdings nicht als etwas Vordiskursives, es ist vielmehr Produkt des Mythos `Sport`, der mythenproduzierenden Unterhaltungsindustrie mit ihren stereotypen und die Geschlechterhierarchie stabilisierenden Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern, der (auch pornographischen) Literatur oder der abendländischen Geschlechter-Philosophie, die die Geschlechterdifferenz über die Dichotomie von `Geist`/`Kopf` und `Geschlecht`/`Sexualität` konstruiert.

      Im Roman "Die Klavierspielerin" hat sich der soziale Machtkampf scheinbar ins Private verlagert, denn das Handlungsgerüst bildet jetzt eine Mutter-Tochter Beziehung. Die Tochter Erika durchquert im Handlungsverlauf sämtliche Stationen der geschlechtlichen Ausdifferenzierung, wie sie die Psychoanalyse beschreibt. Sie erlebt den traumatischen Blick auf das männliche Geschlecht und den nicht weniger traumatischen Blick auf das eigene weibliche Geschlecht (allerdings in Übernahme der phallischen Position), den Blick auf den Geschlechtsakt, die inzestuöse Bindung an die Mutter bei gleichzeitigem Wunsch, sich von ihr abzulösen oder die narzistische Prägung, die sich in ihrem manischen Kleiderkauf äußert. Alle Versuche Erikas sexuelle Identität zu erlangen, die Versteinerungen und Panzerungen ihres Leibes und die damit verbundene Empfindungslosigkeit gegen Lust und Schmerz, den sexuellen Tod, das Nichts, das die Frau im psychoanalytischen Diskurs und in der philosophischen Tradition des Abendlands ist, aufzuheben, scheitern. Sie scheitern, weil Erika zum einen in der Figur des sportlich durchtrainierten, die `Natur` liebenden Klemmer das personifizierte Patriarchat entgegentritt, das die Frau nur als `Körper`-Maschine oder als zu bezwingendes `Natur`-Objekt auf dem Weg zum `Gipfelsieg` wahrnimmt:
      Herr Klemmer will so gern Erikas Freund werden. Dieser formlose Kadaver, diese Klavierlehrerin, der man den Beruf ansieht, kann sich schließlich noch entwickeln, denn zu alt ist er gar nicht, dieser schlaffe Gewebesack. Dieses krankhaft verkrümmte, am Idealen hängende Witzwesen, veridiotet und verschwärmt, nur geistig lebend, wird von diesem jungen Mann auf das diesseits umgepolt werden. Die Freude der Liebe wird sie genießen, warte nur! Walter Klemmer fährt im Sommer und schon im Frühjahr auf Wildwassern Paddelboot, sogar Tore umrundet er dabei. Er bezwingt ein Element, und Erika Kohut, seine Lehrerin, wird er auch noch unterwerfen. (Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 1986 (=rororo 1290). S. 67.)

      Die Verknüpfung von `Natur`, `Körper`, `Sport` und `Frau` in Klemmers Redeweisen entlarven die kulturelle Verklärung der `Natur` und damit implizit auch der Frau als Verschleierung patriarchaler Herrschaftverhältnisse. Diese Verklärung verdeckt, daß auch das scheinbar `Natürlichste` - die Sexualität - der alle Bereiche der Gesellschaft bestimmenden Kauf- und Tauschordnung unterliegt. Jede phallische Anmaßung der Frau, zu der ökonomische Überlegenheit und materielles Begehren ebenso gehören wie die bewußte Inszenierung einer sadomasochistischer Sexualität durch Erika, die auf diese Weise ihren Objektstatus überwinden möchte, wird mit der Vernichtung der Frau bestraft: im Roman mit der Vergewaltigung Erikas durch Klemmer.

      Jelinek setzt Diskurse verschiedener diskursiver Praxen in Szene und unterwandert diese, vielfältige Schreibtechniken einsetzend, in satirischer Absicht, um ihren herrschaftsstiftenden Charakter zu entlarven. Dieses Verfahren ist auch für den die Sprache der Pornographie inszenierenden Roman "Lust" oder für den Roman "Die Kinder der Toten" bestimmend. Die Durchquerung der verschiedenen Diskurse seitens der weiblichen Figuren gerät dabei zu einer Durchquerung des Todes: neben den Diskursen der Philosophie oder der katholischen Religion sind es vor allem `Krieg`, `Sport`, `Mode` und in enger Verbindung damit die modernen Medien, die `Körper`-Bilder kreieren und Stereotypien der Geschlechterdifferenz transportieren, die auf die Vernichtung des (männlichen und weiblichen) `Körpers` ausgerichtet sind.

      Auch Elfriede Czurdas Roman "Die Schläferin" arbeitet mit abstrahierenden und typisierenden Stilmitteln. Über die Figurenperspektive werden stationenartig Redeweisen über die Geschlechterbeziehung vorgeführt und in Zusammenhang damit Körpererfahrungen der Protaginistin mitgeteilt. Magdalena führt einen aussichtslosen Abwehrkrieg gegen ihren `Körper`, dem sexuelle Gewalt eingeschrieben worden ist. Ihr Versuch, sich von ihren traumatischen Kindheitserfahrungen durch Schlaf und Essen abzutrennen und eine kleinbürgerliche Idylle als glücklich verheiratete Ehefrau mit klassischer Rollenverteilung aufzubauen, wird jedoch sukzessive unterminiert: zum einen, weil Magdalenas Leib den "Riß" nicht vergißt und sich durch Eß- und Brechsucht gegen ihre Disziplinierungsversuche kehrt, zum anderen, weil ihre Wunschvorstellungen von einer gelungenen Ich-Identität als glücklich Verheiratete sich als Illusion erweisen und zerbrechen. Die die Figurenreden und den Erzählerbericht bestimmenden und miteinander verwobenen Wortfelder "Natur", "Gefühle", "Ordnung", "Krieg", "Messer"/"Schnitte" verweisen einerseits auf die Ich-Dissoziation der Figur, andererseits auf die unüberbrückbare Kluft zwischen den idealisierten vorgeprägten Geschlechtsrollenmuster, wie sie der Chor der Nachbarn zum Ausdruck bringt, und ihrer Realität im vermeintlich privaten Raum:

      Zur Zeit errichtet Magdalena viele innere Mauern aus Thunfisch und Schokolade. Aber die halten nur kurz. Irgendwie ist alles um Magdalena brüchig zur Zeit.
      Magdalena erbricht die eben errichteten innern Mauern gleich wieder. Sie würgt sie aus. Sie magert ab, das versteht sie nicht. Bei allem, was sie ißt! Sie ist nervös. Schreckhaft. [...] Ihr scharfes Messer, Gefährte und Trost, wenn Magdalena wach ist, schneidet sie zurück in ein labiles Gleichgewicht, zurück in ein Leben mit Jakob. Nur mit ihremFreund, ihrem Messer, findet Magdalena zu einer gewissen Muße zurück, zu einem Gleichmut, der sich am Klappern der Schneide auf dem Buchenbrett erwärmt. (Elfriede Czurda: Die Schläferin. Reinbek bei Hamburg 1997. S. 48f.)

      Nur die Flucht in die Krankheit, dann die Ermordung des Partners, seine Enthauptung und Zerstückelung, und schließlich der Selbstmord, die Selbstvernichtung rettet Magdalenas Illusion vom kleinbürgerlichen Glück in trauter Zweisamkeit und ihre sich am romantischen Liebes-Ideal orientierende Sehnsucht nach einer alle Begrenzungen aufhebenden Liebesbeziehung.

      Czurda führt in diesem Roman, wie schon zuvor in den "Giftmörderinnen", die Gesellschaftlichkeit des vermeintlich Privaten vor und zeichnet nach, welche Muster `Mörderinnen` produzieren. Damit schreibt sie auch gegen eine literarische Tradition an, die entweder nur die gewaltsam getöte, weil ausschließlich sexuell bestimmte Frau (vgl. Oskar Kokoschkas Drama "Mörder, Hoffnung der Frauen", 1910) oder nur die in einer Sphäre des `Natürlichen` agierende und nach dem Kopf des Mannes trachtende dämonisierte Frauengestalt wie Salome kennt.

      Diese kulturell vorgeprägten Muster von Geschlechterbeziehungen hat auch Margit Hahn in ihren Texten - exemplarisch sei der Band "Entgleisungen" (1996) genannt - im Visier. Zusammengehalten werden die Kurztexte, die Schemata der Kriminalliteratur aufgreifen, durch das Motiv der `Eisenbahnfahrt`. Auf den verschiedenen Zugreisen der Protagonistinnen kommt es dabei immer wieder zu sexuellen und moralischen `Entgleisungen`, wobei Muster sexueller Begegnungen ironisch `dekonstruiert` werden: Die Frauenfiguren erliegen nicht mehr männlichen Verführungskünsten, sie sind auch nicht mehr willenlose Opfer von Übergriffen, sondern sie sind selbst Täterinnen und werden auch zu Mörderinnen, vor allem, weil sie sich nicht scheuen, selbstbewußt ihren `Körper`, ihre Sexualität im Kampf der Geschlechter einzusetzen und ihrer Wut über männliches Imponiergehabe Ausdruck zu verleihen. Hahns Frauenfiguren haben die Spielregeln des bislang ungleichen Kampfes erkannt und subvertieren sie, indem sie souverän auf der Klaviatur der `Männerphantasien` spielen, die sich gegen die männlichen Figuren selbst kehren. Das Ausgeliefertsein der männlichen Figuren an diese Phantasien läßt die Fassade wohlkontrollierter Anständigkeit und vornehmer Zurückhaltung zerbröckeln, ihre Reaktionen gleichen letztlich jenen von Automaten.

      Sprachkritisch nähern sich dem Körper-Thema vor allem jüngere Autorinnen: so Sissi Tax, die im Text "Die Finger davon lassen" aus dem von Elfriede Jelinek und Brigitte Landes herausgegebenen Band "Jelineks Wahl" (1998) scheinbar unververfängliche, feste Redensarten (wie `die Hände in den Schoß legen`; `die Finger verbrennen` usw.) so miteinander kombiniert, daß sexuelle Konnotationen entstehen und auf diese Weise hinter dem Verschlüsselten und Verhüllenden die sexuelle Aufgeladenheit der Sprache bloßgelegt wird oder auch Margit Kreidl ("Schnelle Schüsse", o.J.), die die stereotypen und unverhohlen sexuell unterlegten `Körper`-Bilder der `Heimat`-Literatur aufs `Korn` nimmt:
      Die Kniebundlederhose mit der weißen Stickerei. Das blütenweiße Hemd ist sauber aufgekrempelt. Das blaue Halstuch wird von einem Hirschhornring zusammengehalten. Wastl ist über beide Ohrwascheln verliebt. Wastl zieht die junge Sennerin in seine Arme. Wastl ist gamsig. Wir heiraten nach dem Almabtrieb. Nach Ostern, sagt die junge Sennerin. Wastl fährt sich mit den Fingern durch den dichten Haarschopf. Herrschaftszeiten! Vor der Almhütte steht ein alter Holzbrunnen, aus dem klares Gebirgswasser fließt. Wastl steckt den Kopf in das eiskalte Gebirgswasser. Nach dem Almabtrieb oder gar nicht! Wastl ist grantig. Gar nicht, sagt die junge Sennerin. Ein Schuß. (Margit Kreidl. Wien o.J.S. 11)

      Wenngleich über die Darstellung von `Körper`-Erfahrungen in mehreren Arbeiten Wege hin zu sexueller Erfüllung und sexueller Identitätsfindung geschildert werden wie in Evelyn Schlags Erzählung "Alle deine Himbeersträucher" aus dem Band "Touché" oder in Karin Ricks "Cote d`Azur" (1993), die eine lesbischen Liebesbeziehung vor der die Sinne anregenden Kulisse einer mediterranen Landschaft beschreibt, bleiben aus weiblicher Perspektive auch in den späten 90er Jahren körperliche Entfremdungserfahrungen bestimmend: "Im Lauf der Zeit waren die Orgasmen zu belanglosen kleinen Wellen geworden" - heißt es in Marlene Streeruwitz Roman "Lisa`s Liebe" (1997), der weibliche Lebenszusammenhänge mit den Mustern des Kolportageromans erzählt. Über die Erzählperspektive der Außensicht und das Stilmittel der Wiederholung demaskiert Streeruwitz das Machverhältnis zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft der 90er Jahre als vergeblichen Kampf gegen das Immergleiche. Dazu gehören auch die stets nach bekannten Mustern inszenierten Verführungen, die immer gleich ablaufenden sexuellen Beziehungen. Hinter der glatten Fassade mittelständischer Wohlsituiertheit mit Fitneß, Sonnenstudio und gern zur Schau getragenem `Körper`-Bewußtseins verbirgt sich letztlich Leere und Banalität, die Lisa immer mehr einschnüren und lähmen. Veränderungen signalisiert in diesem Umfeld höchstens ihr Körper. Unkontrollierte Eßattacken und daran anschließende Hungerkuren wechseln einander ab.

      Mit der Erfahrung der körperlichen Entfremdung der weiblichen Hauptfiguren korrespondiert in den 1998 erschienenen Romanen "Das vergessene Lächeln der Amaterasu" (1998) von Elisabeth Reichart und "Die Schrift des Freundes" (1998) die Erfahrung der Kälte und der Beziehungslosigkeit in einer der rationalen Kontrolle unterworfenen und durch neue Technologien perfektionierten Welt. Die Kunst, die nicht nur die Erinnerung an Verbrechen wachzuhalten vermag, sondern auch Seele/Geist und Sinne versöhnen kann, wird in beiden Prosaarbeiten einer enthumanisierten Gesellschaft als Utopie entgegengehalten.

      Die Wiedergewinnung des `Körpers` stand von Beginn an im Zentrum feministischer Theorie-Bildung. Wenn im Zuge des Poststrukturalismus jetzt auf der Theorie-Ebene diskutiert wird, ob nach dem `Subjekt` auch der `Körper` ein Produkt von Diskursen sei und er jeglicher Materialität entbehre, so scheint es auf literarischer Ebene Parallelen dazu in den Texten Elfriede Jelineks und Elfriede Czurdas zu geben. Im Unterschied zu Marie-Thérèse Kerschbaumer, Anna Mitgutsch oder Evelyn Schlag, die die Aufhebung der vor allem durch den Katholizismus verbreiteten frauenfeindlichen Dichotomie von Intellekt und Sinnlichkeit einklagen und über eine biographische Schreibweise Entwicklungsprozesse hin zu sexueller Identitätsfindung nachzeichnen, gehen Elfriede Jelinek und Elfriede Czurdas auf die Macht der Diskurse bei der Konstruktion und Wahrnehmung von `Körper` und `Geschlecht` ein. Allerdings bleibt der `Körper` bei Jelinek und Czurda nicht in einem ahistorischen Sprachraum gefangen, sondern er figuriert als kulturelles Gedächtnis; er ist Zeichen-Träger jener gesellschaftlichen und diskursiven Machtmechanismen, die mit der Vernichtung und Auslöschung des `Körpers` der Frau verbunden sind. Letzteres manifestiert sich auch bei Elfriede Kern.

      In einer Zeit, in der Bild-Welten dominieren und die Ästhetisierung der Lebenswelt voranschreitet, kommt der ironisch-satirischen Destruktion schöner Körper-Bilder, die die Herrschaftsbeziehungen in der Gesellschaft und zwischen den Geschlechtern verschleiern, eine besondere Bedeutung zu. Das Offenlegen der weiblichen Nicht-Identität auf der Ebene des Sexuellen, das Schweigen über ihren prädiskursiven `Körper`, negiert diesen allerdings noch nicht, sondern hält ihn gleichsam aus der Negation heraus als Utopie wach.

      Eine weiter Verbindung zwischen Theorie und literarischem Text sehe ich u.a. in den Texten von Margit Hahn. Sie unterlaufen die kulturell vorgeprägte Geschlechtsidentitäten parodististisch und setzen den Aufruf Judith Butlers, Geschlechterordnungen über Geschlechter-Parodien zu dekonstriueren, literarisch um. Bleiben diese Parodien ohne Rückbezug auf bestimmte geschichtliche Situationen oder gesellschaftliche Entwicklungen, so laufen sie m.E. allerdings sehr bald Gefahr, zu einem beliebig wiederholbaren Zeichen-Spiel zu werden.
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      schrieb am 14.04.01 20:08:39
      Beitrag Nr. 57 ()
      Menschlichkeit und Computer
      (Warum ist MS-Windows besser als Linux)
      Um vorab alle Informatikgewandte zu beruhigen, muß ich erklären, daß selbstverständlich Linux (ein nicht komerzieles Computer Operations System) unter fast jedem technischen Aspekt besser als Windows ist. Warum also der Titel? Ich habe bestimmt nicht vor, die einzelnen Systeme auseinander zu nehmen und nacheinander aufzuzählen, wie gut oder wie schlecht jede OS ist. Solche Aufzählungen bringen doch schließlich nicht weiter und, was seltsam ist, sind sie in der Lage so die Gemüter zu bewegen, daß es nur politischen Auseinandersetzungen gleichen kann. Das bringt mich auf Gedanken. Warum gibt es eigentlich Leute die sich für ein System so eifrig und ohne einen sichtbaren Nutzen einsetzen, als ob es die Frage ihrer Ehre wäre? Werden die Menschen irgendwann noch zusätzlich auf die Windows und Linux Benutzer geteilt?
      Es scheint so, was einzig dieses unvernünftige Verhalten erklären könnte, daß ein Computer, sein OS und bestimmte Programme zu "Pseudofreunden" der Menschen werden. Menschliche Züge werden ihnen gegeben und eine Trennung von denen für Benutzer sichtbar schmerzhaft ist und vermieden wird. Diese These ist sicherlich gewagt, weil doch bekannt ist, daß jeder das Seine lobt; Opel und VW Besitzer sind auch nur auf ihre Autos fixiert. Das Verhältnis Mensch Computer hat trotzdem einige andere Aspekte. Das übersteigt die gewöhnliche Gebundheit der Menschen mit Dingen oder ihre Abneigung zu Veränderungen. Das müßten schon viele Unternehmer zu spüren bekommen, als sie es versuchten ein neues System oder Programmpaket einzuführen. Die Mitarbeiter haben oft fast mit einem Aufstand reagiert. Die Techniker werden zu meist gehaßten Personen, die nur darauf lauern, den Arbeitsprozeß und Unternehmensfrieden zu zerstören.

      Wahrscheinlich haben das die großen Softwarefirmen schon lange herausgefunden. Mit dem Kennzahlen und Informatik Zauberwörtern wie Multitasking wird schon lange keine Werbung gemacht. Werbeagenturen versuchen zu vermitteln, daß die Benutzung bestimmten Programmen zu Weltanschaungsache wird. Macintosh hat vor kurzen mit Motto: "Sei anders benutze Macintosh" geworben. Auf dem Werbespott könnte man solche Freidenker wie Martin Luther King oder Lech Walensa erkennen. Was hat aber eigentlich ein Kampf um Frieden mit einem Koputersystem zu tun? Microsoft, von Gegner "M$" geschrieben, macht Werbung mit einen fast mystischen Satz "Where do you want to go today?". Wer kann solche fragen stellen? ein näher Freund, besorgt und mitfühlend. Doch zurück zum Thema. Windows hat die Welt erobert, fast alle benutzen es, es ist ein Standard geworden. Vielleicht sollten die Linuxaner nicht erzählen "Linux ist absturzsicher" aber gleich verkünden "Linux liebt dich, er läßt dich nicht im Stich".

      Warum gibt man den Computer menschliche Züge und erwartet von denen Menschlichkeit. Die Tatsache, daß sie in manchen die geistliche Möglichkeiten der Menschen übertreffen reicht doch nicht, um ihnen solche Eigenschaften wie Denken, Empfinden, Wahrnehmen zuzuschreiben. Meist die Leute, die erst mit Computer arbeiten angefangen haben, können es nicht lassen den Computer als bißchen mehr als schnelles Taschenrechner zu betrachten. Das deutsche Wort "Rechner" ist in dem Sinne völlig passend aber es hat nicht die Marketing-Durchschlagskraft des Wortes "Computer". Ein Computer kann Wille haben, boshaft und hinterlistig sein. Es ist ein Phänomen, der vielleicht nur für Psychologen oder Soziologen interessant sein könnte. Aber auch für einen Techniker muß es begreiflich sein, daß Menschen zu Menschen neigen. Mensch ist ein soziales Wesen. Darum ist sogar ein Hauch an Humanität am Computer besser aufgenommen als gar keine. Bei Word97 hat man einen kleinen animierten Assistenten (Helfer) eingebaut, der verschiedene Grimassen schneidet und blockiert zeitweise den Rechnerfortschritt. Für einen normalen Benutzer, macht es aber die ein paar Abstürze wett und hinterläßt einen guten Eindruck. Die Leute werden gelernt. "Bist du gut zu einen Computer (Benutze MS) ist er auch dein Freund" Solches Verhalten wird normalerweise den Kindern zu Mitmenschen gelernt. Ich persönlich sehe solche Humanisierung als gefährlich. Ich mag nicht wenn Tiere oder Maschinen wie Menschen behandelt werden und Menschen wie Dinge. Ein Computer ist eine Maschine, die extrem schnell rechnen kann. Ein Werkzeug in dem Sinne.

      Die oft gestellten Fragen, wann wird ein Computer den Menschen übertreffen oder was für ein Prototyp zu erst einen Turingtest schafft. Der Turing Test halte ich selbst für unsinnig. Ein Computer sollte durch eine Konversation nicht von einen Menschen zu unterscheiden sein. Ja, aber das hängt offensichtlich davon wie intelligent der Mensch ist, der sich mit dem Computer unterhält.

      Von ein paar Jahren haben sich ein paar Studenten einen Scherz mit ihren Professor erlaubt. Sie sagten sie haben ein Programm, das für ein Turingtest bereit ist. Sie unterhielten sich mit Hilfe von Tastaturen und Bildschirmen. Es sollten ein paar Personen und ein Computer Programm auf die Fragen von Professor antworten. Der Professor hat nach ein paar Fragen ein paar Studenten als eine Maschine entpuppt. Dieses Programm gab es aber nicht.

      Die Biologen und Informatiker haben schon längst festgestellt, daß Computerrechnen mit menschlichen Denken nichts zu tun hat. Es handelt sich scheinbar um zwei völlig unterschiedliche Arten von Prozessen. Der Computer ist dem Menschlichen Gehirn sehr primitiv. Hier hilft seine Rechnerkapazität nicht. Interessant ist aber, daß obwohl vielleicht ein Computer ein menschliches Gehirn irgendwann simulieren könnte, der umgekehrte Weg nicht möglich ist. Kein Mensch könnte einen Computer simulieren oder versuchen Sie gezielt ein paar Millionen Additionen in einer Sekunden durchzuführen. (Vielleicht macht unseres Gehirn so was wie Additionen und das parallel aber es ist nicht bewußt zu steuern). Wenn ein Computer ein Schachspiel mit Kasparow gewinnt, kann man nur staunen wie perfekt Kasparow Gehirn funktioniert, daß es für einen Riesenrechner so schlecht zu schlagen ist. Wie ein Schachprogramm funktioniert wissen Alle (Informatiker), fragen Sie aber Kasparow wie er eigentlich Schach spielt.

      Man sollte aber nicht die enorme Rechenkapazität der Computer unterschätzen. Es ist zwar wahr, daß wir jeden Rechnerschritt des Computer nachvollziehen können, da wir ihn doch selbst gebaut haben, aber bei Milliarden von Rechnerschritten, ist die Weltexistenz zu kurz, um per Hand die Richtigkeit der Ergebnisse nachzuprüfen. Stellen wir uns vor, daß ein Mensch von einer komplizierten Entscheidung (z.B. politischer oder wirtschaftlicher Natur) steht. Weil für die Entscheidung viele Umstände berücksichtigt werden müssen, benutzt der Mensch einen Analyseprogramm, daß mit Hilfe von Milliarden von Operationen alle Umstände abwiegt und schließlich einen Vorschlag als Ergebnis liefert. Die Korrektheit des Ergebnissen kann aufgrund der Komplexität der Berechnungen nur mit Hilfe von anderen Computer nachgeprüft werden und obwohl das letzt Wort zu Menschen gehört, kann man nicht sagen, daß er die Entscheidung gefallen hat. Was wollte ich durch dieses Beispiel zeigen. Die Computer brauchen gar nicht menschlich "Inteligent" zu werden und die Entscheidungen (also auch Freiheit) von Homosapiens zu nehmen.

      Welcher OS ist schließlich besser Windows oder Linux. Das ist egal solange sie funktionieren und ihre Aufgaben erfüllen und das überlasse ich jedem selbst auszufinden.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:09:49
      Beitrag Nr. 58 ()
      :laugh::laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:09:49
      Beitrag Nr. 59 ()
      ... Ausgehend von diesen Erwägungen wurden von uns bereits in der 2. Hälfte der 70er Jahre z. B. in sog. Trockenböden, den teilweise bis zu 1,00 m hohen Deckenauffüllungen in den Obergeschossen von Fachwerkbauten, regelrechte Ausgrabungen durchgeführt, die auf die zum Teil bis zu den Dachrinnen mit Schutt und Abfällen aufgefüllten schmalen Traufgängen zwischen den Gebäuden ausgedehnt wurden.

      Eine systematische Erprobung der Methoden stand dann Mitte der 80er Jahre an, als das Zisterzienserinnenkloster Heydau in Altmorschen, Nordhessen, als Modellvorhaben des Hessischen Landesamtes für Denkmalpflege durch Voruntersuchungen auf eine sachgerechte Sanierung vorbereitet werden sollte. Eingeleitet wurden zunächst Beratungen, deren Zweck es war, die zu beteiligten geistes-, natur- und ingenieurwissenschaftlichen Gewerke so zu koordinieren und auf einen verbindlichen Dokumentationsstandard zu heben, daß die durchaus eigenständigen Fragestellungen dennoch nicht isoliert voneinander bearbeitet, sondern auf das Gesamtobjekt bezogen integriert und vor allen Dingen verwertbare Ergebnisse auch und gerade für Planung und Durchführung zukünftiger Sanierungsmaßnahmen liefern.

      Die ersten Schritte in diese Richtung bestanden dann zunächst - notwendigerweise - in gewissen formellen Festlegungen, auf die sich alle Beteiligten zu beziehen hatten, so daß umgekehrt deren Ergebnisse auch im Nachhinein und vor allen Dingen, wenn möglicherweise die Autoren nicht mehr befragt werden können, aufeinander zu beziehen sind. Dies erfolgte durch eine für alle verbindliche Gliederung des sich auf knapp 3000 m2 verteilenden Gebäudekomplexes, die einerseits dessen individuellen Gegebenheiten bezüglich seiner räumlichen Struktur, der unterschiedlichen Wandflächen und Geschosse etc. Rechnung trägt, zum anderen gewährleistet, daß gewissermaßen auf einer weiteren Ebene der Abstraktion die Einzelphänomene wieder zusammengefügt werden können. Diese Grundvoraussetzungen für eine kompatible zeichnerische und schriftliche Dokumentation bestehen einerseits in einem Orientierungssystem, andererseits in einem einheitlichen Meßsystem.

      Letzteres bestand aus einem dreidimensionalen, orthogonalen Koordinatensystem, welches, als lokales Meßnetz eingerichtet, jederzeit etwa auf die Gauß/Krüger-Koordinaten bezogen werden kann. Es existierte, gewissermaßen materiell, im Erdgeschoß, aber auch in den Obergeschossen, in Form von fest eingelassenen Hauptpunkten und vermaßten Achsen. Mit großer homogener Meßgenauigkeit erstellt, verband es bereits unter formalen Gesichtspunkten das "und" durch ein unendliches Bündel von Z-Koordinaten miteinander, wies also jedem Befund seinen unverrückbaren Platz in der zeichnerischen Dokumentation durch den Koordinatenausdruck (x/y/z) zu, durch den er zugleich mit jedem anderen in ein räumlich definiertes Verhältnis gesetzt war. Eine solche eher formell erscheinende Festlegung erhält durchaus eine inhaltliche Dimension, etwa, wenn archäologische Dokumentationen im Erdgeschoß tatsächlich - sei es als Reflex der Ausbildung oder Ergebnis einer fachfremden, nämlich juristischen Definition - an der Oberkante der Grasnarbe enden: Versehen mit den entsprechenden Raumkoordinaten sind sie dann ohne Probleme auf die entsprechend vermaßten "oberirdischen" Dokumentationen zu beziehen. Darüber hinaus gewährleistet ein das gesamte Gebäude von den Fundamenten bis zum First einspannende Koordinatenraster, daß z. B. Schnitte mit ihren zu dokumentierenden Profilen in allen Geschossen bis hin zum Dachwerk exakt übereinander liegen, auch dort, wo Gewölbe eine auch nur durch ein herunterhängendes Lot herzustellende Verbindung verhindern.

      Diese meßtechnische Exaktheit mag zwar nicht unbedingt für bauhistorisch/archäologische Aussagen unumgänglich sein, erweist sich jedoch für die Analysen z. B. der Statiker als äußerst hilfreich. Wiewohl nun sämtliche Befunde, auch in ihrer räumlichen Dimension, dargestellt werden können, was insbesondere für die zeichnerische Dokumentation unumgänglich ist, erweist sich allein die Operation mit Koordinatenausdrücken für die schriftliche Dokumentation der Befunde zwar praktikabel, aber etwas unhandlich, so daß zusätzlich ein Orientierungssystem eingeführt wurde, welches sich prinzipiell an den von Architekten entwickelten Raumbüchern orientiert, jedoch bezüglich der zu erwartenden Differenzierung der Befunde noch feinere Strukturierungen erlauben sollte. Klar war, daß eine fortlaufende Befundnumerierung, wie sie durchaus auch bei Großgrabungen sich mittlerweile eingebürgert hat, aufgrund der vielen, sich auf unterschiedlichsten Ebenen des Gebäudes liegenden und zunächst durchaus getrennt voneinander arbeitenden Gewerken angelegten Untersuchungs- und Grabungsschnitten sich nicht so ohne weiteres als Praktikabel erweisen würde.

      Ersteres hätte zur Folge, daß man eine zentrale "Verwaltungsstelle" hätte einrichten müssen, die eine fortlaufende Liste der Befundnummern führend, jeweils bei neu auftretenden für deren Vergabe zuständig wäre. Statt dessen wurde eine gegliederte Befundnumerierung eingeführt, die, vom großen zum kleinen herabschreitend, mit der Kennzeichnung der in sich geschlossenen Bauteile (Klosterflügel) beginnt (mit Großbuchstaben gekennzeichnet), dann die Höhenlage durch Kennzeichnung der Geschosse (-1 = Keller, 0 = Erdgeschoß, 1 = Obergeschoß etc.), gefolgt von der Raumnummer, eine erste Orientierung erlaubt. Die nächste Stelle kennzeichnet die raumbegrenzende Fläche, wozu natürlich auch der Fußboden mit den über den Gewölben oder in den Deckenauffüllungen vorhandenen Befunden zählt, ebenso wie im Erdgeschoß jene rezenten Laufflächen, von denen aus archäologische Grabungen abgetieft wurden.

      Dieses vierstellige Grobraster ist dann je nach Bedarf zu unterteilen, etwa in Untersuchungsflächen der Restauratoren an den Wänden sowie Grabungsschnitte, bzw. ergänzend dazu oder je nach Situation sie ersetzend, eine durchlaufende Befundnumerierung pro Fläche oder Raum. Auf diese Weise konnte innerhalb der einzelnen Untersuchungsschnitte mit relativ kleinen Befundnummern gearbeitet werden, lediglich in der Einleitung zu den jeweiligen Einzeldokumentationen oder den Kopfzeilen von Befundbögen erscheint die generelle Lokalisation. Gleiches gilt für die auf die Untersuchungsstelle bezogene, gewissermaßen interne stratigraphische Matrix, lediglich bei zusammenfassenden, Räume und Geschosse übergreifenden Analysen mußte auf die komplexeren Ausdrücke zurückgegriffen werden. Die Erfahrungen, die u. a. auch beim Kloster Heydau mit einer Dokumentationssystematik gewonnenen wurden, mündeten schließlich in einem "Leitfaden zur systematischen Dokumentation", welcher 1996 von der Architektenkammer Hessen in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Landesamt für Denkmalpflege herausgegeben wurde. Das Orientierungssystem ist auf der Seite 46 ff. dargestellt. Einheitliche, sämtliche generellen Angaben auch bzgl. des Orientierungssystems enthaltene Kopfzeilen, vom einfachen Befundbogen bis hin zur analytischen Auswertung, gültig für alle Beteiligten, wie sie in dieser Broschüre vorgeschlagen sind, existierten damals in Heydau zwar noch nicht, sind aber bei derartig umfangreichen Maßnahmen auf jeden Fall zu empfehlen.

      Nach Festlegung der dokumentationstechnischen Grundlagen stellte sich die Frage, wie das Kloster unter baugeschichtlich archäologischen, aber auch im weitesten Sinne unter kulturhistorischen Gesichtspunkten als historische Quelle erschlossen werden konnte. Prinzipiell wurden die Untersuchungsschritte nach dem Charakter des jeweiligen Substanzverlustes gegliedert, nämlich jene ohne Eingriffe in die Bausubstanz, zu denen die Beurteilung gewissermaßen der Oberfläche der rezenten Architektur gehörte, ebenso wie die Aufarbeitung des in den Archiven bewahrten Schrift- und Bildquellenmateriales, mit geringen Eingriffen, zu denen bereits die Bohrprobenentnahme einer dendrochronologischen Untersuchung oder die auf eine kleine Fläche beschränkte Befundtreppe des Restaurators zählte, sowie schließlich die Untersuchung mit größeren Eingriffen in die Bausubstanz, eine Kategorie, die prinzipiell sämtliche archäologischen Eingriffe umfaßte.

      Für die Positionierung letzterer gab es zwei Kriterien: 1. Sie liegen dort, wo für die Beantwortung statischer oder bauphysikalischer Fragen der Eingriff unumgänglich ist, und 2. dort, wo nach der Auswertung dieses Materials durch die Ingenieure der Eingriff von angesetzten Reparaturmaßnahmen diktiert ist. Diese Vorgehensweise mag zunächst als eine Vergewaltigung der "freien" historischen Forschung durch denkmalpflegerische Vorgaben erscheinen, doch zeigte sich im Verlaufe der Untersuchungen, daß umgekehrt die Beschränkung auf ausgewählte Bereiche mit entsprechend subtilen Fragestellungen, die durchaus auch die Bauarchäologie berücksichtigten, zu sehr weitgehenden Ergebnissen führten. Eine Auskofferung des Untergrundes im Erdgeschoß, ebenso wie, was durchaus möglich gewesen wäre, in den Obergeschossen in Form von reinen "Lustgrabungen", war auf jeden Fall nicht angestrebt.

      Um einen ersten Überblick über die Befundlage in dem durch bis zu 40,00 m lange Bauten gebildeten Klostergeviert zu erhalten, entschloß man sich zunächst, ganz abstrakt zwei rechtwinklig aufeinanderstehende Schnittebenen zu definieren, die das Areal in etwa in dessen Mittelachsen durchteilten, in entfernter Analogie etwa zur Ermittlung der Schichtenverhältnisse in einem Hügelgrab. Dadurch sollten einerseits Zufälligkeiten ausgeschlossen, andererseits der individuellen Erscheinungsform der einzelnen Baukörper Rechnung getragen werden. Längs dieser Achsen wurden dann sämtliche Untersuchungsmethoden sowohl der Ingenieur- und Naturwissenschaften als auch die Schnitte des Restauratoren und Archäologen/Bauforscher in Anschlag gebracht, stets unter dem o. g. denkmalpflegerischen Gesichtspunkt mit möglichst geringen Eingriffen, unter weitgehender Wahrung der Substanz, ein Höchstmaß an Erkenntnis zu gewinnen. Die Größen der Freilegungsschnitte wurden deswegen so gewählt, daß sie einerseits am oberen Limit dessen lagen, was denkmalpflegerisch vertretbar ist, andererseits unter grabungstechnischem Gesichtspunkt unter Gewinnung tragfähiger Ergebnisse noch effizient erschienen - also maximal zwischen 1,00 m und 1,50 m breit waren. Bei entsprechender Befundlage konnten diese Sondierungen dann ggf. flächig erweitert werden. Unter grabungstechnischem Gesichtspunkt ergaben sich, gerade bei Untersuchungsflächen oberhalb von Gewölben, keinerlei Unterschiede zur Archäologie im freien Felde, näher noch derjenigen in Sakralbauten: In beiden Fällen sorgt die Überdachung der Befunde für eine relativ hohe Trockenheit der Sedimente, welche ähnliche Erhaltungsbedingungen für organische Substanzen bietet, wie weitgehend luftabgeschlossene Feuchtböden (z. B. Fäkaliengruben). Der Unterschied besteht lediglich im "natürlichen" Prozeß der Konservierung, einmal die anaerobe Feuchtigkeitssättigung, über den Gewölben dann eher das Gegenteil, nämlich eine Form der Lufttrocknung bis hin zur Mumifizierung von Nagetieren oder Katzen, deren Leben unter den Dielen in einem dieser Sedimente endete. So stellt denn auch die Restaurierung solcher Funde mangels weiterreichender Oxidationsprozesse kaum Anforderungen an die Restauratoren, falls der Untersuchungsschnitt nicht in der Nähe einer modernen Toilette oder eines Badezimmers liegt.

      Verblüffend einfach ist auch die praktische Stratifizierung dieser Sedimente im Verlauf einer Ausgrabung, etwa im Unterschied zu mäßig durchfeuchteten, der Witterung ausgesetzten Böden, wie unterhalb der Kreuzgänge oder im Innenhof des Klosters: Während hier bei gewissen Materialgattungen der Sedimente eine Verschleifung der Schichtgrenzen etwa durch sekundäre Umwelteinflüsse wie Feuchtigkeit etc. durchaus zu interpretatorischen Schwierigkeiten bei der Scheidung der Straten voneinander führen kann, sind die Materialgrenzen dort in der Regel eindeutig: Der gestampfte Lehmestrich behält seine Konsistenz und gleicht sich nicht mit der aus dem selben Material bestehenden Auffüllung aus dem Abbruchschutt etwa von Gefachen an, und das Regenwasser verändert den losen Abbruchmörtel keineswegs so, daß er kaum mehr vom verbackenen Fallmörtel einer Baumaßnahme zu unterscheiden wäre.

      So haben auch diese zumeist relativ lockeren Sedimente ihre Tücken insbesondere in der zeitlichen Ansprache durch datierende Kleinfunde: Auch hier nämlich können unter gewissen Umständen "Materialwanderungen" stattfinden, sei es, daß Materialpartikel durch Risse in Estrichen in darunterliegende Auffülllungen rieseln, durch Ritzen von - mittlerweile möglicherweise längst verschwundenen - Dielenböden eingewanderte Fundstücke der in einem einheitlichen Arbeitsgang einplanierten Dielenbettung einen merkwürdig langen Entstehungszeitraum zuschanzen. Und nicht zu unterschätzen ist die emsige Tätigkeit von Nagern, die ihre Behausung als gemütliche "Zeitkapsel" ausgestattet haben und mit dem auf Datierung erpichten Forscher ein Verwirrspiel treiben, vorausgesetzt natürlich der von ihnen geschaffene Hohlraum ist eingestürzt und im umgebenden Material nicht mehr als solcher zu identifizieren.

      Der geschilderte Charakter der Sedimente in den Obergeschossen erleichtert insofern auch das Graben in natürlichen Schichten, ja die erhaltenen Feinstratigraphien, bedingt durch differenzierteste Nutzungsspuren, fordert sie regelrecht, und der Staubsauger ist, im wahrsten Sinne des Wortes, das adäquate Instrument zum Abheben feiner Sedimente oder der Freipräparierung der Oberfläche von Lehmestrichen, auf denen sich Nutzungsspuren eingeschliffen haben. Doch auch bei der Benutzung dieses Gerätes ist in der Welt der Trockenböden durchaus Vorsicht geboten: So zeigten sich an vielen Untersuchungsstellen im Kloster Heydau weniger als 1 cm mächtigte Kehrichtschichten, die ihrerseits wiederum in bis zu 15 lamelligen Lagen unterschiedlicher Materialien strukturiert waren, die durchaus, gewissermaßen im mikroskopischen Bereich untersucht, Hinweise auf Aktivitäten in den Räumen geben können. Hier nähert sich im praktischen Bereich die Arbeit des Archäologen derjenigen des Restaurators, der mit dem Skalpell Wandfassungen und Putzschichten freipräpariert.

      Besonders spannend wird es dann - und das auch unter interdisziplinärem Gesichtspunkt -, wenn Fußboden-Stratigraphien mit ihren Kehrichtschichten sich mit den Stratigraphien der Wandfläche verzahnen und so Bau- und Nutzungsabfolgen und deren Periodisierung dreidimensional bestimmt werden können. Die stratigraphische Verknüpfung erfolgt natürlich auch vom Obergeschoß über die Mauern oder Fachwerkkonstruktionen mit den an ihn haftenden Putz- und Bemalungsstratigraphien hinunter in das Tätigkeitsfeld des Bodenarchäologen mit denselben Verknüpfungsmöglichkeiten. Spätestens an dieser Stelle wird der Wert einer fachübergreifenden einheitlichen, unter stratigraphischem Gesichtspunkt erstellten Befundkodierung deutlich: Was nutzt nämlich eine noch subtil durchgeführte restauratorische Untersuchung, wenn sie nicht in Hinsicht auf die Belange der Bauforschung und Bauarchäologie erstellt wurde und umgekehrt, wenn doch der fundleere Bauhorizont des Archäologen durch Anlagerung an einen Putz mit Renaissancebemalung und die nicht weiter zu charakterisierende weiße Farbfassung mit Hilfe von Keramikfunden zu datieren ist.

      Auf den Charakter der notwendigen zeichnerischen, fotografischen und schriftlichen Befunddokumentation muß nicht weiter eingegangen werden: Im o. g. Sinne der Ist-Form-Kartierung durchgeführt, unterscheidet sich hierbei Bau und Boden in keiner Weise. Wichtig ist nur, daß alle Bestandteile so aufeinander bezogen und abgelegt sind, daß alle Beteiligten sie je nach ihren Fragestellungen benutzen und kombinieren können, egal, ob das Ganze in Form des traditionellen Aktenordners oder computergestützt erfolgt, was letztendlich lediglich ein formaler, arbeitstechnischer Unterschied ist.

      Ausgehend von den o. g. Schnittebenen, deren Wahl aufgrund der relativen Unkenntnis des Objektes noch eine gewisse Beliebigkeit anhaftete, konnten in den folgenden Jahren, ausgehend von den sich allmählich akkumulierenden Erkenntnissen, insbesondere auch kombiniert mit den Aussagen der mittlerweile Schritt für Schritt ausgewerteten und auf den architektonischen Bestand bezogenen Archivalien, gezielt weitere Grabungsflächen aufgedeckt werden. Der insbesondere durch die in der frühen Neuzeit einsetzenden schriftlichen Inventare und Baurechnungen faßbare gestalterische Zustand sowie die weitgehend aus dieser Zeit erhaltene Raumdisposition konnten, auch wenn dessen Spuren mehr und mehr rudimentär wurden, bis in das Hochmittelalter, zur Zeit der Gründung des Klosters, zurückgeschrieben werden. Die oben geschilderte Vorgehensweise hatte zur Folge, daß einerseits auch noch der kleinste Drainagegraben nicht von einer Baufirma, sondern von Archäologen oder Bauhistorikern ausgeschachtet wurde, andererseits lieferte dieses lediglich ausschnitthafte, nicht großflächige Vorgehen mit zum Teil nur sehr kleinen "Erkenntnisflächen" lediglich mosaikartig Neuigkeiten. Notwendigerweise stellte bei diesen isolierten Untersuchungsflächen nicht der unmittelbare stratigraphische Zusammenhang die Verknüpfung dar, sondern in der Tat die aufgehende Bausubstanz des Gesamtgebäudes.

      Schließlich sei auf einen weiteren, nicht unwesentlichen Gesichtspunkt der bauhistorischen Untersuchungen hingewiesen. Neben den architektur- und kulturhistorischen Fragestellungen, die es zu beantworten galt, waren es immer wieder die bautechnischen Gewerke, die sich von den archäologischen Untersuchungen Antworten versprachen, diese gar forderten und durch gezielt angelegte Untersuchungsschnitte bedient wurden. Nicht nur die Fragen nach der Tragfähigkeit des Untergrundes und dem Charakter der Fundamente konnten so beantwortet werden, sondern sogar die Genese von Bauschäden, ihre Ursachen, der Zeitpunkt ihres Auftretens und ihre Fortdauer oder ihr Stillstand ermittelt werden. Der Schnitt durch den westlichen Kreuzgang zeigt z. B. eine nicht zu übersehende Neigung der den Schub der Gewölbe aufnehmenden Strebpfeiler zum Innenhof hin. Aufgrund der durch diese Schrägstellung verursachten Rißbildung in bestimmten Fußbodenestrichen bzw. datierten Bauhorizonten im Verhältnis zum Fehlen solcher Risse in jüngeren Fußböden konnte einerseits der Zeitpunkt des Bauschadens ermittelt werden, andererseits dessen zeitlicher Ablauf und mögliche ältere Sicherungsmaßnahmen bestimmt werden.

      Es handelte sich in diesem Fall um das Ergebnis einer Renovierungsmaßnahme des Klosters unter Landgraf Moritz von Hessen, der es nach der Profanierung im 1. Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts in ein Jagdschloß umgestaltete. Hierbei wurden, wie Baufugen zum älteren Mauerwerk zeigen, die gotischen Strebpfeiler partiell durch neue ersetzt und die bereits bestehende Fachwerkkonstruktion des Obergeschosses durch den neuen Pfeilerköpfen aufgelegte Balken mit auf diesen ruhenden, vorkragenden Konsolsteinen unterfangen, eine Maßnahme, die offensichtlich zur Erhöhung des Fußbodenniveaus dienen sollte. Hierfür wurde eine 0,30 m hohe Schuttschicht einplaniert, wobei offensichtlich die neue Auflast mit ihrem Schub für ein Abknicken der gotischen Arkatur mit den neuen Strebpfeilern sorgte, wobei jedoch, wie die archäologischen Grabungen zeigten, die älteren Fundamente durchaus auf festem Boden gegründet waren, die Abknickung also oberhalb des Erdreiches erfolgte. Während die älteren, vor dieser Baumaßnahme eingebrachten Schichten der wohl abrupt erfolgten Neigung entsprechend gerissen waren, zeigte demgegenüber der als Abschluß der Baumaßnahme aufgebrachte Gipsestrich im 1. Obergeschoß nur noch geringe Haarrisse: Der auch heute noch dramatisch aussehende, wohl durch die Baumaßnahme erzeugte Schaden war spontan zur Ruhe gekommen und zeigte auch bei jüngeren aufgebrachten Fußböden nur noch unbedeutende Rißbilder.

      Durch die archäologische Untersuchung erhielt also das aktuelle Schadensbild eine historische Komponente, die durchaus folgenden Erwägungen Raum bot: Muß dieser festgestellte Mangel, der längst zur "Ruhe" gekommen war und keine weiteren Konsequenzen für den Bau mehr zeigte als einfach zu existieren; überhaupt noch behoben werden? Konnte überhaupt noch etwas passieren, wenn die Pfeiler sich 300 Jahre nicht mehr bewegt haben? Bauforschung und Archäologie werden hier also zusätzlich zur Beantwortung ihrer immanenten Fragestellungen zur Hilfswissenschaft für die Planer einer Sanierungsmaßnahme, was ihnen gar nicht peinlich sein muß; im Gegenteil! Unter diesem Gesichtspunkt scheint es, so meine ich, durchaus fruchtbar, einmal in sich zu gehen und zu prüfen, inwieweit die eigenen Forschungen für andere hilfreich sind, oder, besser gesagt, wie weit man für deren Fragestellungen hilfreich sein möchte. Denn von dieser Überlegung hängt nicht unwesentlich der Charakter der oben angedeuteten Dokumentationsformen ab, und vor allen Dingen auch, inwieweit ein Gebäude mit seiner zuweilen nicht geringen Komplexität überhaupt als historische Quelle im o. g. Sinne erschlossen werden kann.

      Nicht die Frage nach der Existenzberechtigung des einen oder anderen, möglicherweise noch so obskur erscheinenden forschenden Interesses ist hier gestellt, sondern ob es sich seinem Gegenstand adäquat zuwendet, denn es unterliegt allemal der Willkür aller Beteiligten, ob und in welchem Umfang eine "Sache" auch als Mittel für neue historische Erkenntnisse definiert und genutzt wird.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:10:17
      Beitrag Nr. 60 ()
      Hör zu Otilein,
      Du hast Deine Threads, indenen kannst Du tun und lassen was Du willst!
      Aber hör auf hier rum zu spammen.

      Ist das ok für Dich?
      Kann mir kaum vorstellen, daß Du in einem Atemzug mit Jagger und co genantt werden willst.

      Also ciao.
      Hier gehts um Fußball.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:11:57
      Beitrag Nr. 61 ()
      Aktuell: Aufsätze
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      Wiesbaden, Oktober 1999
      Informationsdefizite zur Medizinprodukte- Betreiberverordnung müssen
      beseitigt werden

      von Joachim M. Schmitt

      Die Medizinprodukte-Betreiberverordnung ist vor über einem Jahr, genau gesagt am 7. Juli 1998, in Kraft getreten. Die Verordnung schreibt in Verbindung mit dem Medizinproduktegesetz, das es seit 1995 gibt, neue Pflichten zur Meldung von Vorkommnissen, zur Instandhaltung und zur Überwachung von Medizinprodukten vor.

      Mehr als ein Jahr nach dem Inkrafttreten der Medizinprodukte- Betreiberverordnung gibt es insbesondere bei den Betreibern und Anwendern von Medizinprodukten in den Krankenhäusern und Arztpraxen noch immer erhebliche Informationsdefizite über die neuen Anforderungen.

      Durch die Betreiberverordnung ist nicht nur die Eigenverantwortung der Hersteller, sondern auch der Betreiber und Anwender erheblich erhöht worden. Ziel ist es vor allem, durch die Pflichten für Betreiber und Anwender den Patientenschutz zu verbessern.

      In welchen Bereichen herrscht nun Unkenntnis bei den Betreibern und Anwendern von Medizinprodukten? Zwei Beispiele:

      Betreiber oder Anwender übernehmen die Verantwortung, wenn das Medizinprodukt außerhalb der vom Hersteller mitgeteilten Zweckbestimmung verwendet wird. Dies gewinnt beispielsweise bei der Wiederaufbereitung von Einmalprodukten an Bedeutung. Hat der Hersteller das Medizinprodukt nach den eingehenden Untersuchungen vor der Markteinführung als "Einmalprodukt" gekennzeichnet, so trägt der Betreiber und Anwender die alleinige Verantwortung, wenn er dieses Einmalprodukt wieder aufbereiten lässt und wieder verwendet. Im Sinne des Vorrangs des Patientenschutzes und des Schutzes der Betreiber und Anwender ist deshalb zu empfehlen, medizinische Produkte zur Einmalverwendung nicht wieder zu verwenden.
      Betreiber oder Anwender von Medizinprodukten sind verpflichtet, u.a. jede Funktionsstörung oder Leistungsänderung eines Medizinproduktes zu melden, die zum Tode oder zu einer schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes einer Person führte (Vorkommnisse) oder hätte führen können (Beinahe-Vorkommnisse). Die Meldung muss an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (www.bfarm.de) erfolgen. Wir empfehlen, die Meldung gleichzeitig auch an den Hersteller des Medizinproduktes zu senden, damit die erforderlichen Untersuchungen und Maßnahmen so schnell wie möglich eingeleitet werden können.
      Das ärztliche und pflegerische Personal ist oftmals nicht über diese Aufgaben, Pflichten und rechtlichen Folgen informiert. Man ist noch immer die alte Medizingeräteverordnung (MedGV) gewöhnt, obwohl diese - bis auf wenige Ausnahmen - von der Betreiberverordnung fast vollständig abgelöst worden ist. Aufgabe aller Beteiligten im Gesundheitswesen muss es deshalb sein, die vorhandenen Informationsdefizite zu beseitigen. Der BVMed tut dies beispielsweise mit regelmäßig stattfindenden Informationsveranstaltungen und zahlreichen Informationsbroschüren.
      So hat der BVMed zu den Meldepflichten für Betreiber und Anwender, die sich aus der Betreiberverordnung ergeben, eine Informationskarte erarbeitet, die von Krankenhäusern und Arztpraxen kostenlos angefordert werden kann. Die Informationen befinden sich auch auf den BVMed-Internetseiten unter www.bvmed.de. Dort können auch der Wiesbadener Kommentar zum Medizinproduktegesetz (WiKo) und eine Broschürenreihe zum Medizinprodukterecht bestellt werden.

      Wiesbaden, Oktober 1999

      Joachim M. Schmitt
      Geschäftsführer BVMed -
      Bundesfachverband Medizinprodukteindustrie
      Wiesbaden
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:12:15
      Beitrag Nr. 62 ()
      :laugh::laugh::laugh:

      Hasi, ich dachte du wärst weg, Volltrottel! Aber was sollst du aber auch draussen? Laufen ja wieder nur die Mädels weg!
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:12:28
      Beitrag Nr. 63 ()
      Die verlorene Ehre der deutschen Geographie
      Bis heute wird die Mittaeterschaft der akademischen Vaeter am Voelkermord der Nationalsozialisten verdraengt

      Von Michael Fahlbusch

      Liegt es am Misstrauen gegenueber unserer Zukunft? Jedenfalls nimmt gesellschaftliche Verantwortungsbereitschaft einen breiten Raum im Bewusstsein deutscher Geographen ein, die sich in Hamburg ab dem heutigen Samstag zum letzten Mal in diesem Jahrhundert treffen. Unter dem Schlagwort "Geographie und Globalisierung" setzen sie sich fuer das 21. Jahrhundert oeffentlich in Szene. Dabei betont diese Profession wieder einmal ihre gesellschaftspolitische Relevanz: Doch fragt man deutsche Geographen nach ihrer Vergangenheit, herrscht Schweigen.

      Als letztes Hochschulfach verdraengt die Geographie bis heute die Mittaeterschaft ihrer akademischen Vaeter am Voelkermord. Emil Meynen, Karl Stumpp, Friedrich Metz oder Hugo Hassinger gelten bis heute als Pioniere ihrer Disziplin. Tatsaechlich hatten sie ihr Handwerk in den Jahren zwischen 1933 und 1945 besonders perfektioniert, als sie im Auftrag der Reichsministerien und der SS landeskundliche und siedlungsgeographische Studien anstellten, um die juedische Bevoelkerung zu "selektieren". Trotzdem gelang diesen Fachvertretern eine glanzvolle Nachkriegskarriere.

      Selbst die in den 90er Jahren veroeffentlichten Arbeiten ueber die Geschichte der Geographie tragen zur Verharmlosung bei. So bezeichnet der Fachdidaktiker Hans-Dietrich Schultz, der immerhin in den 80er-Jahren noch durch kritisch-historische Studien hervorgetreten ist, die ethnopolitische Geographie Emil Meynens und Hugo Hassingers in Anlehnung an ihre Selbstbezeichnungen als "radikal ethnisch-kulturelle" Geographie, ohne ihre politische Funktion zu erfassen. Sie stehe in der Tradition Johann Gottfried Herders. Schultz uebergeht mit dieser Bruecke zur Aufklaerungsphilosophie des 18-ten Jahrhunderts eloquent die Verstrickung fuehrender Geographen der bundesdeutschen Nachkriegszeit mit dem Nationalsozialismus.

      Das Bagatellisieren hat Tradition. Ältere Geographen wie Eugen Wirth und Eugen Reinhard verklaerten das Wirken von Friedrich Metz. Dieser wurde 1934, nach dem Juli-Putsch, wegen seiner NS-Aktivitaeten aus Österreich ausgewiesen. Als Rektor der Universitaet Freiburg denunzierte er "juedisch-versippte" Kollegen und verjagte sie aus dem Amt. Trotzdem wird Metz in den Nachrufen und Festschriften ein durchgaengig politisch tadelloses Zeugnis fuer die Zeit zwischen 1933 und 1945 ausgestellt. Augenscheinlich verdraengte eine ganze Generation von Geographen in den fuenfziger und sechziger Jahren den politischen Impetus der voelkischen Geographie.

      Dabei nahm die Ethnogeographie nach dem Abschluss des Versailler Vertrages einen ungeahnten Aufschwung: Der Friedensplan der Siegermaechte von 1918, der die Entstehung neuer Nationalstaaten in Ostmitteleuropa erlaubte, war das Resultat eines geopolitischen Schachzuges. Die "Unabhaengigkeit" der Voelker erlaubte die Zerschlagung der alten Reichsgrenzen und die Assimilierung der deutschen Minderheiten. Die Pufferzone kleiner unabhaengiger Staaten in Osteuropa bot den Alliierten hingegen einen doppelten Nutzen. Sie ermoeglichte einen Cordon sanitaire gegen das kommunistische Russland, und sie schwaechte Deutschland.

      Damals erkannten die Geographen Albrecht Penck, Wilhelm Volz und Vertreter voelkischer Verbaende als erste die Bedeutung der Ethnopolitik der Alliierten. Sie kooperierten hinfort mit Karl Christian Loesch, dem Ehrenvorsitzenden der Frankfurter Geographischen Gesellschaft. Loesch war einer der radikalsten, aber nichtsdestotrotz einflussreichsten Revisionisten. Mit seinen Kontakten sogar zu Gustav Stresemann unterhoehlte er bestaendig die Vermittlungsversuche des Voelkerbundes. 1924 verschrieb sich Penck dem Chefkartographen des Deutschen Schutzbundes, Arnold Hillen-Ziegfeld. Dieser war aktiver Nazi. Zusammen entwickelten sie die beruechtigte Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens.

      Eine sogenannte deutsche Siedlungsbruecke im Osten war schraffiert eingezeichnet, als waere die polnische oder weissrussische Bevoelkerung nicht existent. Die Grenzen des deutschen Kulturbodens suggerierten, Deutschland sei wesentlich groesser als seine politischen Grenzen. Aus diesem Grund stieg die ethnogeographische Kartenproduktion zu einem der wichtigsten Vorhaben der deutschen Geographie auf. Die amtliche deutsche Kulturpropaganda berief sich auf ethnographische Karten von Mitteleuropa vor allem deshalb, weil die Revision der Grenzen "wissenschaftlich" untermauert schien: Wo der Deutsche seine Sprache spricht, da ist sein Raum, lautete die Doktrin.

      Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 fuehlten sich Penck, Metz, Hassinger und Meynen am Ziel ihres politischen Strebens angekommen. Sie kooperierten hinfort mit der SS, der NSDAP und den "gleichgeschalteten" Reichsministerien. Sie bereiteten die Grundlagen fuer die deutsche Volksgruppenpolitik vor. Ihrer voelkischen Logik zufolge sollten nur jene Voelker den Status der Schutzwuerdigkeit zugewiesen bekommen, die "bodenstaendig" waren. Juden und Zigeuner erhielten diesen Status nicht. Sie wurden gemaess der Nuernberger Rassengesetze fuer vogelfrei erklaert.

      Wie intensiv sich die voelkischen Geographen schuldig gemacht haben, zeigt ihre Mitwirkung an den Umsiedlungsplaenen der Nationalsozialisten. Nachdem Hitler bereit war, Suedtirol an Italien abzutreten, um die Achse Berlin-Rom zu staerken, sollte die deutschsprachige Bevoelkerung geschlossen nach Polen deportiert werden. Obwohl die Umsiedlung der Suedtiroler intern umstritten war - es handelte sich schliesslich um bodenstaendige "Volksgenossen" -, fertigte Hugo Hassinger im Auftrag der SS eine Machbarkeitsstudie an. Die deutschen Doerfer sollten geschlossen umgesiedelt werden, fuer die er zwei Bedingungen anfuehrte: Erstens seien die urspruenglichen sozialen und oekonomischen Strukturen zu erhalten, zweitens sei nur der "Kern der ganzen Volksgruppe" in der Lage, die dort lebenden Polen zu verdraengen.

      Voelkische Geographen beteiligten sich im Krieg nicht nur am Kulturgutraub, sondern auch an der Vernichtung der juedischen Bevoelkerung in der Ukraine. Die erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion unter Leitung Emil Meynens gegruendete "Publikationsstelle Ost" unterstand im Ostministerium direkt Georg Leibbrandt. Er war Teilnehmer der Wannsee-Konferenz. Der gebuertige Russlanddeutsche war im Auftrag Alfred Rosenbergs mit der Umsetzung der NS-Volksgruppenpolitik beschaeftigt. Unter seiner Direktive nahm das Sonderkommando "Dr. Karl Stumpp" seine speziellen Dorfuntersuchungen vor. Dabei wurden deutsche, juedische und ukrainische Bevoelkerungsgruppen von Gehoeft zu Gehoeft und von Dorf zu Dorf erfasst, bevor der juedische Teil erschossen wurde.

      Dass Stumpp seine siedlungsgeographischen Berichte an die Dienststelle Emil Meynens in Berlin uebermittelte, waere aus der heutigen Perspektive vielleicht als "angewandte" Geographie zu bezeichnen. Aber die Arbeitsergebnisse dienten dem Zweck, Gesamtstatistiken von ethnischen Mischungsverhaeltnissen herzustellen. Was konnte damit angefangen werden? Wie die terminale Selektion der Ehepartner von deutsch-juedischen oder juedisch-ukrainischen Mischehen funktionierte, konnte man bereits 1984 in der von deutschen Wissenschaftlern weitgehend unbeachteten Arbeit des israelischen Historikers Meir Buchsweiler nachlesen.

      Abgesehen von der Rolle als unmittelbare Tathelfer der voelkischen Geographen kann aus zweierlei Gruenden die Gutheissung der Judenvernichtung, wie sie in den Berichten der Dienststelle Meynens immer wieder angesprochen wurde, heute kaum mehr als "radikal ethnisch-kulturelle" Geographie verklaert werden. Dieser ueberkommene Denkstil beinhaltet eine Herabsetzung des Andenkens an den Aufklaerer Herder, fuer den Voelkerverstaendigung eine oberste Maxime politischen Handelns gewesen ist. Sie ist aber auch ein Beispiel fuer die Banalisierung des Boesen. Die Geographie will auf dem internationalen Parkett mitspielen, aber sie kann sich auf diese Weise nicht aus der historischen Verantwortung stehlen.

      Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Geograph in Basel. Juengste Veroeffentlichung: "Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften von 1931 bis 1945", Nomos Verlag, Baden-Baden 1999.



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      Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

      From:fifa <fifa@swissonline.ch>
      Subject: Deutsche Geographen im Dritten Reich
      Date: 07.10.99
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:14:11
      Beitrag Nr. 64 ()
      VORBEMERKUNG
      Der nachfolgende Aufsatz war in einer geringfügig kürzeren Version vorgesehen, in den Band aufgenommen zu werden, den die katholisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen ihrem Kollegen Walter Kasper als Festgabe anläßlich seiner Bischofsweihe (17.Juni 1989) überreichte. Überreicht wurde zunächst - wegen der zu kurzen Produktionszeit - ein Blindband mit Inhaltsverzeichnis. Als die Produktion anstand, der Verfasser im Juli 1989 geheiratet und der neue Bischof die Entfernung des ehem. Kollegen aus der Fakultät betrieben hatte, empfanden die verbliebenen Professoren der katholisch-theologischen Fakultät den Beitrag "Was leistet das Wort Wahrheit?" als nicht mehr opportun und eliminierten ihn aus dem Sammelband.
      H.S.
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      Was leistet das Wort "Wahrheit"?
      Anmerkungen eines Linguisten
      - Harald Schweizer -
      Sich mit Wort und Begriff der "Wahrheit" zu beschäftigen, ist aus vielen Gründen heikel und nur zu rechtfertigen, wenn die Thematik klar eingegrenzt wird. Schließlich führt schon ein einfacher Lexikonartikel in ein Gestrüpp von spezifizierten Wahrheitsbegriffen, aus dem man sich so leicht kaum wieder befreien kann. Erkenntniswahrheit wird neben die Seinswahrheit gestellt (von den einen als ontologische, den anderen als ontische Wahrheit bezeichnet). Göttliche Wahrheit und sittliche Wahrheit, existentielle und logische Wahrheit begegnen. Jeder weiß zudem, daß es verschiedene Wahrheitstheorien gibt, abhängig von verschiedenen philosophischen Konzepten der Erkenntnistheorie. Noch unerwähnt ist, daß auch in dogmatischen Abhandlungen nicht selten Argumentationen nicht nur "im Namen der Wahrheit" geführt, sondern durch Rekurs auf "die Wahrheit" entschieden werden.

      Ein linguistisch orientierter Exeget ist nun sicher nicht die Entscheidungsinstanz in all diesen Problemfeldern. Daher möchte ich bei "meinen Leisten bleiben". Der gemeinsame Nenner all der unterschiedlichen Konzeptionen ist ja, daß die Vertreter ihre Auffassungen im Medium der Sprache vortragen. Eine gewiß formale, äußerliche und banale Einsicht. Aber diese Banalität - so denke ich - ist auch einiges an Reflexion wert. Denn nicht erst die "Sachproblematik" beim Thema Wahrheit ist ein Problem; vielmehr ist das Vehikel, mit dem ich mich der Sachproblematik zu nähern versuche, die Sprache also, zunächst das große Problem. Mir scheint sogar, daß nur relativ selten darüber reflektiert wird, was denn die Sprache leistet, leisten kann bzw. nicht leisten kann. Oft genug wird stattdessen zum "Sachthema" geredet und argumentiert, als ob die Sprache kein Problem sei. Meine Behauptung demgegenüber ist, daß man sich manche Ziele der Argumentation, manches darauf aufbauende Handeln, konfliktreiches Ausgrenzen, sparen könnte, wenn man sich über das Funktionieren der Sprache etwas mehr Gedanken machen würde. - Dem Aspekt allein aus dem großen Gesamtproblem sollen die folgenden Reflexionen dienen.

      Daß im Streit um die "Wahrheit" schon zahllose verbale und kriegerische Kämpfe geführt wurden, weiß jeder. Insofern wird die "Wahrheit" schnell zu einem heißen Eisen. Das mag aus der jüngsten kirchlichen Vergangenheit der Disput zwischen dem deutschen Moraltheologen Bernhard Häring und dem römischen Theologen Caffara bezeugen. Als Häring dem Römer vorwarf, ihm fehle es an der Demut vor den Menschen, antwortete dieser, daß er vielleicht nicht die Demut vor den Menschen habe, dafür aber im Besitz der Wahrheit sei. "Wahrheit" also als Kampfbegriff, den man in Opposition zur "Demut vor den Menschen" setzen kann?

      1. Vorklärungen
      1.1 Wenn wir unseren alltäglichen Sprachgebrauch kritisch beleuchten, so drängt sich schnell der Eindruck auf, daß Oppositionen wie "Ich und Umwelt" oder "Kirche und Welt" illusionäre Abgrenzungen darstellen. Zweifellos kann man sich mit solchen Begriffspaaren verständlich machen und meist werden sie nicht weiter befragt. In kritischer Beleuchtung aber zeigt sich sehr schnell die Unmöglichkeit, das Ich nicht nur begrifflich sondern auch "sachlich" von seiner Umwelt abzugrenzen oder die Kirche als distinkt von der "Welt" zu sehen. Entweder der jeweilige sprachliche Ausdruck ist falsch oder - was natürlich ebenfalls häufig der Fall ist - die sprachlichen Ausdrücke meinen etwas anderes als sie im wörtlichen Sinn aussagen. Würde man auf dem Wortsinn etwa von "Kirche und Welt" beharren, würde man sich geradezu einer gnostischen Häresie schuldig machen.

      Es kann also "sachlich" nur darum gehen, das jeweilige Person-Ich in der Welt zu sehen, in seiner Mitwelt. Das Ich ist natürlich Bestandteil der Gesamtwelt. Ebenso verhält es sich mit der Kirche: Sie ist Element dieses Kosmos, ist völlig in ihn hineinverwoben auch dann, wenn sie kritische Distanz "zur Welt" reklamiert.

      1.2 Diese so verstandene Gesamtrealität ist derart vielschichtig, daß sie von mir nicht überblickt werden kann. Ich scheue mich zwar, derartige Banalitäten aufzuschreiben. Mir scheint aber, daß die Erinnerung an sie dann, wenn man darauf aufbauen will, nicht unnütz ist. Was kann also diese Ziff. 1.2 heißen? Darin steckt zunächst, daß keiner beanspruchen kann, sich selber vollständig zu kennen. Wer ist je schon in alle Winkel und Ecken seiner unbewußten Motive, Regungen, Verdrängungen hinuntergestiegen? Seit FREUD setzt sich die Erkenntnis durch, daß der auf seine Vernunft pochende Mensch nicht fraglos "Herr im eigenen Haus" ist.[1] - Erst recht weiß ich nur sehr wenig von den mir begegnenden Gesprächspartnern, auch wenn sie mir quantitativ sehr vieles erzählen. Allein schon die Realitäten einer Universität oder einer Diözese sind so vielschichtig, daß es allenfalls möglich ist, einige Strukturen und einige dazugehörige Personen grob zu kennen. Zur Mitwelt gehört auch das Wissen, das man etwa in den Millionen Bänden der Universitätsbibliothek gespeichert findet. Auch der fleißigste Kopfarbeiter muß angesichts dieser Vielschichtigkeit kapitulieren. Zur Mitwelt gehört, was die Fische im Neckar gerade treiben. Ich weiß es nicht. Zur Mitwelt gehören die Gifte in der Luft, die auf dem frischen Grün von Milliarden von Blättern unselig wirken. Zur Mitwelt gehört der Palästinenseraufstand im Westjordanland. Es sind ja nur dürre Zahlen, die uns täglich über erschossene Palästinenser erreichen. Das ganze damit verbundene Leid entgeht uns. Täglich sind Millionen von Menschen am Rande des Existenzminimums, am Verhungern. Dürre Ziffern. Sicher werden in verschiedenen Fabriken gegenwärtig atomare Kurzstreckenwaffen gebaut und getestet.

      Jeder weiß selber, daß mit diesen Beispielen nur minimale Punkte einer Lebens- und Weltwirklichkeit herausgegriffen wurden, die von uns gar nie be-griffen, nicht auf den angemessenen Begriff gebracht werden kann.[2]

      1.3 Aber nur das, was ich angemessen auf den Begriff bringen kann, steht mir auch zur Verfügung, kann von mir beherrscht werden. Jedoch ist diese geläufige Einsicht noch zu wenig. Denn sprachkritisch gesehen muß ich verschiedene Abstraktionsebenen beachten.[3]

      1.3.1 Die erste Abstraktionsstufe meint die sogenannten "Konkreta", die Benennung individueller Dinge und Personen. Wir befinden uns hierbei - sprachlich - im Rahmen der unmittelbar vorstellbaren Welt. Dabei ist es kein Widersinn, auch die "Konkreta" schon zu einer "Abstraktionsstufe" zu zählen, denn die eine konkret klingende Benennung (z.B. "Auto, Baum, Haus, Frau, Bischof") ist durchaus schon eine Abstraktion. So ist etwa das eine Wort "Tisch" geeignet, 50 und mehr unterschiedliche Tischformen, individuelle Tische, zu bezeichnen. Aber insgesamt gilt doch, daß Substantive dieser Abstraktionsstufe uns am schnellsten auf eine anschauliche Realität verweisen.

      1.3.2 Beim zweiten Abstraktionsgrad haben wir es auch mit Realitäten zu tun, die in Raum und Zeit vorkommen, die aber nicht identisch mit individuellen Dingen oder Personen sind. Am leichtesten vorstellbar sind Beispiele, wenn man an die Nominalisierung von Verben denkt. Es geht also um statische oder dynamische Bezeichnungen von Realitäten, die durchaus mit individuellen Dingen verbunden, die aber nicht identisch mit Dingen sind. So ist z.B. der "Straßenverkehr" sehr wohl eine Realität in unserem Alltag. Aber das, was mit dem Wort gemeint ist, ist nicht mit einer Ansammlung von Autos identisch. Stattdessen ist diese Realität zusätzlich geprägt durch die Struktur von Straßenzügen, technischen Installationen (Ampeln), durch Verhaltensweisen von Millionen von Autofahrern, durch umfangreiche gesetzliche Regelungen, durch eine noch umfangreichere Rechtssprechungspraxis; die Realität "Straßenverkehr" hat eminente Auswirkungen in die Sozialstruktur hinein (Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt). Mit diesem Wort ist also eine äußerst komplexe dynamische Realität gemeint, in Raum und Zeit, durchaus steuerbar durch Politiker und Polizei, aber - im Unterschied zur ersten Abstraktionsstufe - viel weniger gut faßbar, weil nicht direkt rückgebunden an abgegrenzte Dinge oder Personen. - Ähnliches kann man in statischer Hinsicht zu einem Wort wie "Wohlbefinden" sagen: Es ist abhängig von vielen Faktoren (differenziertes Gleichgewicht - medizinisch gesehen - in meinem Körper; passende Kleidung; gute äußere klimatische Bedingungen; soziale Absicherung; partnerschaftliche Stimmigkeit usw.).

      1.3.3 Der dritte und höchste Abstraktionsgrad ist dagegen Wörtern zugemessen, von denen auch nicht mehr gesagt werden kann, sie seien in Raum und Zeit fraglos eingebunden. Das "Sein" ist hier anzuführen. Auch die "Wahrheit", die "Liebe". Aus religiösem Sprachgebrauch ist hier "Gott" zu nennen. Zwar wird von Gott in vielen Texten personifiziert gesprochen. Damit wird der Anschein der Konkretion erweckt. Aber kritisch befragt - eine alte Theologenerkenntnis - gilt, daß "Gott" auf keinen Fall in unsere Welt der Dinge und Personen eingebunden werden kann, so als gebe es keine Differenz. - Häufig begegnen auf dieser Abstraktionsebene Nominalisierungen von Modal-Realitäten, also innere Einstellungen, Bewertungen, Haltungen, geistige Aktivitäten, substantiviert und sprachlich damit zu einer eigenen Entität gemacht (z.B. "Wille zur Macht"). Im Grunde sind es Paradoxa: Wir haben es mit Wörtern zu tun, die äußerlich, morphologisch, so funktionieren, wie etwa Wörter der ersten Abstraktionsstufe auch. Mit diesen Wörtern ist eine - meist als sehr wichtig angesehene - Bedeutung (= Begriff) verbunden.[4] Damit wird sprachlich der Anschein erweckt, als könne mit diesem "Begriff" auch die gemeinte Realität "umgriffen werden". Aber - wie wir sahen - jene gemeinte Realität ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht-abgegrenzt ist. Wir müssen jene Begriffe also als "absolute Begriffe" verstehen - eigentlich ein Widerspruch in sich selbst.

      Strenggenommen kann ich mit Begriffen der dritten Abstraktionsstufe nicht sprachlich hantieren. Haben doch schon die Wörter der zweiten Ebene einen komplexen und äußerst schwierigen Realitätsbezug. Auf keinen Fall sind wir nun aber in der Lage, die Denkkategorien von Raum und Zeit zu verlassen; das jedoch wäre nötig, wenn wir die Begriffe der dritten Abstraktionsebene angemessen verwenden wollten.[5]

      Wir selber leben nur - es geht nicht anders - äußerlich in der Welt der Konkreta und auch sprachlich ist die Verständigung am leichtesten auf der ersten Abstraktionsstufe, also dort, wo von vorstellbaren Dingen, von Menschen aus Fleisch und Blut die Rede ist. Dies ist ja in aller Regel der Vorzug der Poesie. Wenn sich dagegen theologische Traktate bevorzugt auf der zweiten oder dritten Abstraktionsebene sprachlich ansiedeln - was die Regel ist -, dann ist das ihr ebenso bekannter kommunikativer Nachteil: Die "Schwierigkeit", die ihnen gelegentlich anhaftet, rührt nicht nur von intellektuell anspruchsvoller Gedankenverknüpfung her; vielmehr führt die Dominanz von Abstraktionsebene zwei und drei schnell und berechtigt zur Frage, ob denn die vorgetragenen Gedanken noch "Bodenhaftung" (=Ebene eins) haben, realitätshaltig sind oder sich bereits zu einem raffinierten Glasperlenspiel verselbständigt haben.

      Angesichts dieser komplexen, nicht auf den Begriff zu bringenden Wirklichkeit sind auf der Ebene der inneren Einstellung verschiedene Reaktionen vorstellbar. Der einzelne könnte resignieren. Aber das wäre vielleicht nur Ausdruck eines Allmachtswahns, weil er dem Wahn verfallen ist, er müsse eigentlich doch in der Lage sein, diese Realität ganz zu erfassen. Man kann die Komplexität der Realität natürlich auch verdrängen. Aber das dürfte auch kein überzeugender Lösungsweg sein, da weltfremde Naivität das Ergebnis ist, die auch in höchst intellektuellem Gewande möglich ist. Wird diese Komplexität dagegen belassen und "wahr"genommen, so scheint mir daraus fast zwangsläufig die Haltung der Demut zu resultieren, auch eine Lust zu Wissen und die Bereitschaft zu Veränderung.

      2. Ort der Sprache

      Nicht nur der Mensch, sondern viele weitere Lebewesen können sich über ihre jeweilige Wirklichkeit verständigen, Informationen austauschen. Was die Mitwelt bietet, kann so erkannt und durch Handeln beeinflußt werden. Ein entsprechender Tanz der Bienen teilt den anderen mit, wo es ertragreiche Blüten gibt. Delphine und Wale verfügen offenbar über eine Sprache im Medium der Akustik. Uns interessiert hier das wohl differenzierteste Sprachsystem, das des Menschen.

      2.1 Gegenüber der Welt, in der er sich vorfindet und die ihre Eigendynamik hat, kann der Mensch eine "zweite Welt" aufbauen, auf geistiger Ebene, im Kopf. Die äußere Welt kümmert sich dabei um meine "Kopfwelt" nicht.[6] Der Jahreszeitenwechsel verläuft, ob ich dem zustimme oder nicht.[7]

      2.2 Sprache ist nur denkbar als Gemeinschaftsprodukt.[8] Ganz sicher gibt es von einem jeden einzelnen sprachliche Marotten. Es gibt aber nicht die Sprache eines einzelnen. Von daher ist ein autistisches Gestammel nicht als Sprache zu definieren. Sprache, die nicht verstehbar ist, verdient nicht den Namen "Sprache". Sprache kann also als Instrument gesehen werden, das zwischen vielen Kopfwelten eine Verbindung und Verständigung herstellt. Dieses Instrument ist auch mehrschichtig, es hat physische und rein geistige Anteile. Die Physis ist zwar sehr wichtig (optisches Signal, Lautbild), weil sonst der Prozeß der Verständigung gar nicht in Gang käme. Der Hauptakzent liegt aber auf geistiger Ebene: bei der Konstruktion der Bedeutungen bzw. bei ihrer Rekonstruktion im Dekodierungsvorgang.[9]

      Der kommunikationstheoretisch aufgewiesene Gemeinschaftsbezug hat sich - darin liegt nur eine weitere Verlängerung dieses Ansatzes - im sog. sprachlichen Relativitätsprinzip niedergeschlagen, in der bekannten Hypothese von B.L. WHORF: "Er war
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:14:15
      Beitrag Nr. 65 ()
      VORBEMERKUNG
      Der nachfolgende Aufsatz war in einer geringfügig kürzeren Version vorgesehen, in den Band aufgenommen zu werden, den die katholisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen ihrem Kollegen Walter Kasper als Festgabe anläßlich seiner Bischofsweihe (17.Juni 1989) überreichte. Überreicht wurde zunächst - wegen der zu kurzen Produktionszeit - ein Blindband mit Inhaltsverzeichnis. Als die Produktion anstand, der Verfasser im Juli 1989 geheiratet und der neue Bischof die Entfernung des ehem. Kollegen aus der Fakultät betrieben hatte, empfanden die verbliebenen Professoren der katholisch-theologischen Fakultät den Beitrag "Was leistet das Wort Wahrheit?" als nicht mehr opportun und eliminierten ihn aus dem Sammelband.
      H.S.
      --------------------------------------------------------------------------------

      Was leistet das Wort "Wahrheit"?
      Anmerkungen eines Linguisten
      - Harald Schweizer -
      Sich mit Wort und Begriff der "Wahrheit" zu beschäftigen, ist aus vielen Gründen heikel und nur zu rechtfertigen, wenn die Thematik klar eingegrenzt wird. Schließlich führt schon ein einfacher Lexikonartikel in ein Gestrüpp von spezifizierten Wahrheitsbegriffen, aus dem man sich so leicht kaum wieder befreien kann. Erkenntniswahrheit wird neben die Seinswahrheit gestellt (von den einen als ontologische, den anderen als ontische Wahrheit bezeichnet). Göttliche Wahrheit und sittliche Wahrheit, existentielle und logische Wahrheit begegnen. Jeder weiß zudem, daß es verschiedene Wahrheitstheorien gibt, abhängig von verschiedenen philosophischen Konzepten der Erkenntnistheorie. Noch unerwähnt ist, daß auch in dogmatischen Abhandlungen nicht selten Argumentationen nicht nur "im Namen der Wahrheit" geführt, sondern durch Rekurs auf "die Wahrheit" entschieden werden.

      Ein linguistisch orientierter Exeget ist nun sicher nicht die Entscheidungsinstanz in all diesen Problemfeldern. Daher möchte ich bei "meinen Leisten bleiben". Der gemeinsame Nenner all der unterschiedlichen Konzeptionen ist ja, daß die Vertreter ihre Auffassungen im Medium der Sprache vortragen. Eine gewiß formale, äußerliche und banale Einsicht. Aber diese Banalität - so denke ich - ist auch einiges an Reflexion wert. Denn nicht erst die "Sachproblematik" beim Thema Wahrheit ist ein Problem; vielmehr ist das Vehikel, mit dem ich mich der Sachproblematik zu nähern versuche, die Sprache also, zunächst das große Problem. Mir scheint sogar, daß nur relativ selten darüber reflektiert wird, was denn die Sprache leistet, leisten kann bzw. nicht leisten kann. Oft genug wird stattdessen zum "Sachthema" geredet und argumentiert, als ob die Sprache kein Problem sei. Meine Behauptung demgegenüber ist, daß man sich manche Ziele der Argumentation, manches darauf aufbauende Handeln, konfliktreiches Ausgrenzen, sparen könnte, wenn man sich über das Funktionieren der Sprache etwas mehr Gedanken machen würde. - Dem Aspekt allein aus dem großen Gesamtproblem sollen die folgenden Reflexionen dienen.

      Daß im Streit um die "Wahrheit" schon zahllose verbale und kriegerische Kämpfe geführt wurden, weiß jeder. Insofern wird die "Wahrheit" schnell zu einem heißen Eisen. Das mag aus der jüngsten kirchlichen Vergangenheit der Disput zwischen dem deutschen Moraltheologen Bernhard Häring und dem römischen Theologen Caffara bezeugen. Als Häring dem Römer vorwarf, ihm fehle es an der Demut vor den Menschen, antwortete dieser, daß er vielleicht nicht die Demut vor den Menschen habe, dafür aber im Besitz der Wahrheit sei. "Wahrheit" also als Kampfbegriff, den man in Opposition zur "Demut vor den Menschen" setzen kann?

      1. Vorklärungen
      1.1 Wenn wir unseren alltäglichen Sprachgebrauch kritisch beleuchten, so drängt sich schnell der Eindruck auf, daß Oppositionen wie "Ich und Umwelt" oder "Kirche und Welt" illusionäre Abgrenzungen darstellen. Zweifellos kann man sich mit solchen Begriffspaaren verständlich machen und meist werden sie nicht weiter befragt. In kritischer Beleuchtung aber zeigt sich sehr schnell die Unmöglichkeit, das Ich nicht nur begrifflich sondern auch "sachlich" von seiner Umwelt abzugrenzen oder die Kirche als distinkt von der "Welt" zu sehen. Entweder der jeweilige sprachliche Ausdruck ist falsch oder - was natürlich ebenfalls häufig der Fall ist - die sprachlichen Ausdrücke meinen etwas anderes als sie im wörtlichen Sinn aussagen. Würde man auf dem Wortsinn etwa von "Kirche und Welt" beharren, würde man sich geradezu einer gnostischen Häresie schuldig machen.

      Es kann also "sachlich" nur darum gehen, das jeweilige Person-Ich in der Welt zu sehen, in seiner Mitwelt. Das Ich ist natürlich Bestandteil der Gesamtwelt. Ebenso verhält es sich mit der Kirche: Sie ist Element dieses Kosmos, ist völlig in ihn hineinverwoben auch dann, wenn sie kritische Distanz "zur Welt" reklamiert.

      1.2 Diese so verstandene Gesamtrealität ist derart vielschichtig, daß sie von mir nicht überblickt werden kann. Ich scheue mich zwar, derartige Banalitäten aufzuschreiben. Mir scheint aber, daß die Erinnerung an sie dann, wenn man darauf aufbauen will, nicht unnütz ist. Was kann also diese Ziff. 1.2 heißen? Darin steckt zunächst, daß keiner beanspruchen kann, sich selber vollständig zu kennen. Wer ist je schon in alle Winkel und Ecken seiner unbewußten Motive, Regungen, Verdrängungen hinuntergestiegen? Seit FREUD setzt sich die Erkenntnis durch, daß der auf seine Vernunft pochende Mensch nicht fraglos "Herr im eigenen Haus" ist.[1] - Erst recht weiß ich nur sehr wenig von den mir begegnenden Gesprächspartnern, auch wenn sie mir quantitativ sehr vieles erzählen. Allein schon die Realitäten einer Universität oder einer Diözese sind so vielschichtig, daß es allenfalls möglich ist, einige Strukturen und einige dazugehörige Personen grob zu kennen. Zur Mitwelt gehört auch das Wissen, das man etwa in den Millionen Bänden der Universitätsbibliothek gespeichert findet. Auch der fleißigste Kopfarbeiter muß angesichts dieser Vielschichtigkeit kapitulieren. Zur Mitwelt gehört, was die Fische im Neckar gerade treiben. Ich weiß es nicht. Zur Mitwelt gehören die Gifte in der Luft, die auf dem frischen Grün von Milliarden von Blättern unselig wirken. Zur Mitwelt gehört der Palästinenseraufstand im Westjordanland. Es sind ja nur dürre Zahlen, die uns täglich über erschossene Palästinenser erreichen. Das ganze damit verbundene Leid entgeht uns. Täglich sind Millionen von Menschen am Rande des Existenzminimums, am Verhungern. Dürre Ziffern. Sicher werden in verschiedenen Fabriken gegenwärtig atomare Kurzstreckenwaffen gebaut und getestet.

      Jeder weiß selber, daß mit diesen Beispielen nur minimale Punkte einer Lebens- und Weltwirklichkeit herausgegriffen wurden, die von uns gar nie be-griffen, nicht auf den angemessenen Begriff gebracht werden kann.[2]

      1.3 Aber nur das, was ich angemessen auf den Begriff bringen kann, steht mir auch zur Verfügung, kann von mir beherrscht werden. Jedoch ist diese geläufige Einsicht noch zu wenig. Denn sprachkritisch gesehen muß ich verschiedene Abstraktionsebenen beachten.[3]

      1.3.1 Die erste Abstraktionsstufe meint die sogenannten "Konkreta", die Benennung individueller Dinge und Personen. Wir befinden uns hierbei - sprachlich - im Rahmen der unmittelbar vorstellbaren Welt. Dabei ist es kein Widersinn, auch die "Konkreta" schon zu einer "Abstraktionsstufe" zu zählen, denn die eine konkret klingende Benennung (z.B. "Auto, Baum, Haus, Frau, Bischof") ist durchaus schon eine Abstraktion. So ist etwa das eine Wort "Tisch" geeignet, 50 und mehr unterschiedliche Tischformen, individuelle Tische, zu bezeichnen. Aber insgesamt gilt doch, daß Substantive dieser Abstraktionsstufe uns am schnellsten auf eine anschauliche Realität verweisen.

      1.3.2 Beim zweiten Abstraktionsgrad haben wir es auch mit Realitäten zu tun, die in Raum und Zeit vorkommen, die aber nicht identisch mit individuellen Dingen oder Personen sind. Am leichtesten vorstellbar sind Beispiele, wenn man an die Nominalisierung von Verben denkt. Es geht also um statische oder dynamische Bezeichnungen von Realitäten, die durchaus mit individuellen Dingen verbunden, die aber nicht identisch mit Dingen sind. So ist z.B. der "Straßenverkehr" sehr wohl eine Realität in unserem Alltag. Aber das, was mit dem Wort gemeint ist, ist nicht mit einer Ansammlung von Autos identisch. Stattdessen ist diese Realität zusätzlich geprägt durch die Struktur von Straßenzügen, technischen Installationen (Ampeln), durch Verhaltensweisen von Millionen von Autofahrern, durch umfangreiche gesetzliche Regelungen, durch eine noch umfangreichere Rechtssprechungspraxis; die Realität "Straßenverkehr" hat eminente Auswirkungen in die Sozialstruktur hinein (Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt). Mit diesem Wort ist also eine äußerst komplexe dynamische Realität gemeint, in Raum und Zeit, durchaus steuerbar durch Politiker und Polizei, aber - im Unterschied zur ersten Abstraktionsstufe - viel weniger gut faßbar, weil nicht direkt rückgebunden an abgegrenzte Dinge oder Personen. - Ähnliches kann man in statischer Hinsicht zu einem Wort wie "Wohlbefinden" sagen: Es ist abhängig von vielen Faktoren (differenziertes Gleichgewicht - medizinisch gesehen - in meinem Körper; passende Kleidung; gute äußere klimatische Bedingungen; soziale Absicherung; partnerschaftliche Stimmigkeit usw.).

      1.3.3 Der dritte und höchste Abstraktionsgrad ist dagegen Wörtern zugemessen, von denen auch nicht mehr gesagt werden kann, sie seien in Raum und Zeit fraglos eingebunden. Das "Sein" ist hier anzuführen. Auch die "Wahrheit", die "Liebe". Aus religiösem Sprachgebrauch ist hier "Gott" zu nennen. Zwar wird von Gott in vielen Texten personifiziert gesprochen. Damit wird der Anschein der Konkretion erweckt. Aber kritisch befragt - eine alte Theologenerkenntnis - gilt, daß "Gott" auf keinen Fall in unsere Welt der Dinge und Personen eingebunden werden kann, so als gebe es keine Differenz. - Häufig begegnen auf dieser Abstraktionsebene Nominalisierungen von Modal-Realitäten, also innere Einstellungen, Bewertungen, Haltungen, geistige Aktivitäten, substantiviert und sprachlich damit zu einer eigenen Entität gemacht (z.B. "Wille zur Macht"). Im Grunde sind es Paradoxa: Wir haben es mit Wörtern zu tun, die äußerlich, morphologisch, so funktionieren, wie etwa Wörter der ersten Abstraktionsstufe auch. Mit diesen Wörtern ist eine - meist als sehr wichtig angesehene - Bedeutung (= Begriff) verbunden.[4] Damit wird sprachlich der Anschein erweckt, als könne mit diesem "Begriff" auch die gemeinte Realität "umgriffen werden". Aber - wie wir sahen - jene gemeinte Realität ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht-abgegrenzt ist. Wir müssen jene Begriffe also als "absolute Begriffe" verstehen - eigentlich ein Widerspruch in sich selbst.

      Strenggenommen kann ich mit Begriffen der dritten Abstraktionsstufe nicht sprachlich hantieren. Haben doch schon die Wörter der zweiten Ebene einen komplexen und äußerst schwierigen Realitätsbezug. Auf keinen Fall sind wir nun aber in der Lage, die Denkkategorien von Raum und Zeit zu verlassen; das jedoch wäre nötig, wenn wir die Begriffe der dritten Abstraktionsebene angemessen verwenden wollten.[5]

      Wir selber leben nur - es geht nicht anders - äußerlich in der Welt der Konkreta und auch sprachlich ist die Verständigung am leichtesten auf der ersten Abstraktionsstufe, also dort, wo von vorstellbaren Dingen, von Menschen aus Fleisch und Blut die Rede ist. Dies ist ja in aller Regel der Vorzug der Poesie. Wenn sich dagegen theologische Traktate bevorzugt auf der zweiten oder dritten Abstraktionsebene sprachlich ansiedeln - was die Regel ist -, dann ist das ihr ebenso bekannter kommunikativer Nachteil: Die "Schwierigkeit", die ihnen gelegentlich anhaftet, rührt nicht nur von intellektuell anspruchsvoller Gedankenverknüpfung her; vielmehr führt die Dominanz von Abstraktionsebene zwei und drei schnell und berechtigt zur Frage, ob denn die vorgetragenen Gedanken noch "Bodenhaftung" (=Ebene eins) haben, realitätshaltig sind oder sich bereits zu einem raffinierten Glasperlenspiel verselbständigt haben.

      Angesichts dieser komplexen, nicht auf den Begriff zu bringenden Wirklichkeit sind auf der Ebene der inneren Einstellung verschiedene Reaktionen vorstellbar. Der einzelne könnte resignieren. Aber das wäre vielleicht nur Ausdruck eines Allmachtswahns, weil er dem Wahn verfallen ist, er müsse eigentlich doch in der Lage sein, diese Realität ganz zu erfassen. Man kann die Komplexität der Realität natürlich auch verdrängen. Aber das dürfte auch kein überzeugender Lösungsweg sein, da weltfremde Naivität das Ergebnis ist, die auch in höchst intellektuellem Gewande möglich ist. Wird diese Komplexität dagegen belassen und "wahr"genommen, so scheint mir daraus fast zwangsläufig die Haltung der Demut zu resultieren, auch eine Lust zu Wissen und die Bereitschaft zu Veränderung.

      2. Ort der Sprache

      Nicht nur der Mensch, sondern viele weitere Lebewesen können sich über ihre jeweilige Wirklichkeit verständigen, Informationen austauschen. Was die Mitwelt bietet, kann so erkannt und durch Handeln beeinflußt werden. Ein entsprechender Tanz der Bienen teilt den anderen mit, wo es ertragreiche Blüten gibt. Delphine und Wale verfügen offenbar über eine Sprache im Medium der Akustik. Uns interessiert hier das wohl differenzierteste Sprachsystem, das des Menschen.

      2.1 Gegenüber der Welt, in der er sich vorfindet und die ihre Eigendynamik hat, kann der Mensch eine "zweite Welt" aufbauen, auf geistiger Ebene, im Kopf. Die äußere Welt kümmert sich dabei um meine "Kopfwelt" nicht.[6] Der Jahreszeitenwechsel verläuft, ob ich dem zustimme oder nicht.[7]

      2.2 Sprache ist nur denkbar als Gemeinschaftsprodukt.[8] Ganz sicher gibt es von einem jeden einzelnen sprachliche Marotten. Es gibt aber nicht die Sprache eines einzelnen. Von daher ist ein autistisches Gestammel nicht als Sprache zu definieren. Sprache, die nicht verstehbar ist, verdient nicht den Namen "Sprache". Sprache kann also als Instrument gesehen werden, das zwischen vielen Kopfwelten eine Verbindung und Verständigung herstellt. Dieses Instrument ist auch mehrschichtig, es hat physische und rein geistige Anteile. Die Physis ist zwar sehr wichtig (optisches Signal, Lautbild), weil sonst der Prozeß der Verständigung gar nicht in Gang käme. Der Hauptakzent liegt aber auf geistiger Ebene: bei der Konstruktion der Bedeutungen bzw. bei ihrer Rekonstruktion im Dekodierungsvorgang.[9]

      Der kommunikationstheoretisch aufgewiesene Gemeinschaftsbezug hat sich - darin liegt nur eine weitere Verlängerung dieses Ansatzes - im sog. sprachlichen Relativitätsprinzip niedergeschlagen, in der bekannten Hypothese von B.L. WHORF: "Er war besonders durch das Studium des Hopi, der Sprache eines kleinen Stammes von Pueblo-Indianern in Arizona, und den Vergleich mit den Standardsprachen Europas zu der Einsicht gelangt, daß Sprachverschiedenheit auch Denk- und Geistesverschiedenheit bedeutet."[10]

      Meine "Kopfwelt" bzw. - in französischer Manier gesprochen - meine "Enzyklopädie", also alles, was ich weiß, kommt durch meine Erfahrungen, durch mein lebenslanges Lernen zustande. Angesichts der umfassenden Wirklichkeit, in die ich mich hineingestellt sehe, kann die Antwort auch nur lauten, daß meine Kopfwelt immer nur Stückwerk ist. Ebenfalls eine alte Erkenntnis. Vielleicht ist Gott allwissend.[11] Wir sind es nie.

      3. Das Verhältnis von Kopfwelt und äußerer Wirklichkeit

      3.1 Im Rahmen des Zeichen- und Kommunikationsmodells müssen viele und differenzierte Bezüge angenommen werden.[12] Einer davon ist die sogenannte "Referenz". Damit ist die Bezogenheit eines Namens oder meiner sprachlichen Operationen auf ein Ding oder eine komplexere Realität der äußeren Wirklichkeit gemeint.[13] Dadurch, daß dieser Begriff im Rahmen einer Terminologie eingerichtet wird, ist nicht zugleich auch geklärt, wie denn dieser Bezug von der geistigen Ebene zur Dingwelt zu denken sei. Um dieses Problem soll es hier in Ziff.3 gehen.

      3.2 Nicht in linguistischer sondern in philosophischer Sprache ist das Problem formuliert in der Definition: "WAHRHEIT im allgemeinsten Sinn besagt eine Gleichheit, Übereinstimmung zwischen Geist (geistiger Erkenntnis) u Sein (adäquatio intellectus et rei), im höchsten Sinn ein völliges Sich-durch-dringen von Geist u Sein".[14] - Aber auch nach dieser Definition ist noch offen, wie der Bezug zwischen Kopfwelt und äußerer Wirklichkeit zu beschreiben ist. Inwiefern ist "Wahrheit" bei dieser Definition mehr als ein attraktives Postulat? Wie kann der Bezug überprüft werden? Wo liegt - linguistisch betrachtet - die Schwachstelle dieser Definition?

      Die Frage der Überprüfung eines solchen Wahrheitsverständnisses ist wieder nach den oben vorgestellten Abstraktionsebenen zu differenzieren. Im Bereich der Konkreta (erster Abstraktionsgrad) ist - in einem zugegeben etwas naiven Sinn - eine Überprüfung dadurch möglich, daß nicht sprachlich, sondern äußerlich gehandelt wird. Wer im Hörsaal erfährt: "Hinter dem Kupferbau ist ein U-Boot", kann sich aufmachen und hinter das Gebäude gehen, um die Behauptung zu überprüfen.[15] - Schon recht schwierig wird die Überprüfung bei Entitäten der zweiten Abstraktionsebene. Ein Satz wie: "Die schriftliche Prüfung ist jetzt" ist - entgegen dem ersten Anschein - nicht leicht überprüfbar. Ich sehe allenfalls, daß Menschen am Schreiben sind. Ich sehe diesen Menschen aber nicht an, daß sie aktuell sich in der Prüfungssituation befinden. Sie könnten ja auch Gedichte schreiben. Denn in einer schriftlichen Prüfung ist der Prüfer nicht präsent. Zeugnisse sind nicht zu sehen. Das Bewerten ist im Kern ohnehin ein nicht-sichtbarer, innerer Vorgang. Nur das Schreiben allein reicht nicht, um den Satz auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu bestätigen. - Vollends fehlt uns die Überprüfbarkeit bei der dritten Abstraktionsebene. Die Aussage: "Gott ist die Liebe" kann man glauben oder nicht. Jedenfalls läßt sie sich nicht überprüfen. Hier potenzieren sich die oben schon erwähnten Probleme der eingeschränkten Leistungsfähigkeit der Sprache.[16]

      Ist also nach wie vor offen, wie bei der referentiellen Wahrheitsdefinition der Charakter dieser Referenz näher beschrieben oder gar überprüft werden soll, so liegt der Haupteinwand gegen dieses Verständnis darin, daß diese Wahrheitsdefinition den Anschein erweckt, als gebe es eine Wahrheitsdefinition ohne Rekurs auf die Sprachgemeinschaft, so, als genüge es, ein Sprachzeichen mit einer Sache zu verbinden[17] (ein immer noch nicht ausgerottetes Zeichenverständnis).[18] Wir sahen aber oben, daß Sprache ohne Gemeinschaft nicht ist. Folglich muß die Gemeinschaft der Sprachbenutzer auch ihren Platz im Rahmen einer Wahrheitsdefinition haben.[19]

      3.3 Damit kommen wir zur Behauptung, daß eine referentielle Wahrheitsdefinition nicht mit Sprachreflexion vereinbar ist.[20] Anders gesagt: Man kann keine Brücke aus der Sprache heraus zur äußeren Wirklichkeit hin bauen. Meine Kopfwelt (das gilt auch für kollektives Verständnis) ist eine Sache,[21] die Gesamtwirklichkeit, in der ich stehe, eine andere. Beide sind qualitativ getrennt - so sehr meine Kopfwelt Element der Gesamtwirklichkeit ist.[22]

      3.4 Selbstverständlich ist meine Kopfwelt - und darum bemühen wir uns ja ein Leben lang - bildbar in Analogie zur äußeren Wirklichkeit. Wenn ich selber an einer Treppenstufe fünfmal gestolpert bin, bin ich in der Lage, für andere ein Warnschild zu schreiben, sie sprachlich zu warnen. Ich habe für mich selber eine zutreffende Erkenntnis gewonnen und kann im Rahmen der Sprachgemeinschaft diese auch weitervermitteln. Ebenso kann ein anderer mir - sprachlich - zusätzlich den Tip geben, Schuhe mit weniger rutschender Sohle anzuziehen. Er hat mir - sprachlich - einen Teil seiner Erfahrungen zur Verfügung gestellt. Meine Kopfwelt ist also bildbar aufgrund eigener und fremder Erfahrung. Dabei spielt die sprachliche Vermittlung die entscheidende Rolle. Es tut sich hier kein Weg auf, der aus der Sprache herausführen würde. Der Anstoß zum Lernen mag von außen kommen. Das Lernen selbst vollzieht sich dadurch, daß ich meine Wahrnehmung mit den bisherigen - codifizierten(!) - Wahrnehmungen vergleiche, also mit einem "System von Erwartungen".[23] Nehme ich auf dieser kulturell-geistigen Ebene Differenzen wahr, habe ich etwas hinzugelernt; bleiben Differenzen aus, interpretiere ich sie als Verstärkungen, Bestätigungen.[24]

      3.5 Sprachlich sehen richtige und falsche Aussagen gleich aus. Ich kann sagen: "Im Mikrophon ist Strom" oder "im Mikrophon ist Wasser".[25] Auf der Ebene der sprachlichen Äußerung ist die Richtigkeit oder Falschheit solcher Aussagen irrelevant. Stattdessen läuft beim Hören solcher Sätze ein spontaner Vergleich mit dem gespeicherten Wissen ab, mit den gespeicherten Erfahrungen. Es geht hier vor allem um ein Wissen, das auch andere teilen, das so weitgehend akzeptiert ist, daß es sogar Eingang in Lehrbücher der Physik fand. Und aufgrund dessen erfolgt dann die Beurteilung: "Der eine Satz ist falsch, der andere richtig". Aber auch in all dem kann ich zunächst nur geistig-sprachliche Operationen erkennen, keine Brücke aus der Sprache heraus zur Realität.[26]

      3.6 Noch komplexer verläuft die Wahrheitsprüfung, wenn wir geistige Modelle und Hypothesen zur Anwendung bringen. Die Parallelschaltung meiner Kopfwelt mit der äußeren Wirklichkeit nimmt sehr häufig komplexe Formen an. Wenn z.B. ein Detektiv einen Toten vorfindet, Fußabdrücke auf dem Teppich. Wenn der Teppichflor zwei Stunden nach der Tat in 45 % Neigung steht, so würde Sherlock Holmes wohl daraus folgern, daß der Täter 1,70 m groß ist, 75 kg schwer und blond. Eine geistig-sprachliche Hypothese in der Kopfwelt des Detektivs. Nichts anderes bei den Naturwissenschaften: Die Sonne dreht sich um die Erde. Nachdem sich gezeigt hat, daß einige wahrgenommene Fakten nicht in das geistige Modell integriert werden können, versucht man das ganze Modell umzudrehen: Die Erde dreht sich um die Sonne. Auch das eine rein geistig-sprachliche Operation. Der äußeren Wirklichkeit sind solche geistigen Umkehrungen, die doch eine geistige Revolution bedeuten, völlig gleichgültig. Setzt sich das Licht aus Partikeln oder aus Wellen zusammen? Für beides gibt es Beweise. Also scheint beides zu stimmen. Da aber nach dem Satz der Identität etwas nicht zugleich auch sein Gegenteil sein kann, muß ein anderer Aspekt relativiert werden. Da bleibt nur die Betrachterperspektive. Man kann also von der Hypothese ausgehen, ob denn vielleicht von ihr abhängt, ob das Licht sich als Partikel oder als Welle zeigt. Damit kommen wir in den Bereich der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik. Auch dies sprachlich-geistige Operationen, zu Anfang unseres Jahrhunderts ein intellektueller Streit unter Physikern. Dem Licht der Außenwelt ist dieses sprachliche Ringen gleichgültig.

      Differenzierte geistige Modelle können also - zumindest annäherungsweise - beanspruchen, der äußeren Wirklichkeit gerecht zu werden. Trifft dies zu, geht ein Modell nicht völlig in die Irre, so wird dann der Mörder tatsächlich gefangen, bzw. die weitere Erforschung der Planeten erschlossen, bzw. Atomphysik wird möglich.

      4. "Was ist Wahrheit?"

      4.1 Nochmals: Es geht nicht um philosophisch-dogmatische Definitionsfragen. Diese bleiben hier ausgeklammert. Stattdessen ist die Frage, was Sprache leisten kann und was nicht. So gesehen erscheint mir das Wort "Wahrheit" ein defizitäres Plakat zu sein. Es ist das Gegenteil von einem differenzierten geistigen Modell, wie es unter Ziff.3 skizziert wurde. Zur Problemlösung taugen derartige Modelle. Wort und Begriff "Wahrheit" dagegen lassen keine Differenzierung erkennen. Stattdessen - morphologisch betrachtet - ist "Wahrheit" ein Substantiv. Durch diese Wortform wird der sprachlich vermittelte Eindruck erweckt, es handle sich um etwas Substanz-haltiges, um ein Ding oder Objekt, etwas Sicheres, weil Identifizierbares. Diesen Eindruck vermitteln eben Substantive generell. Hier müssen wir aber sofort korrigieren (und nicht immer wird dies in Argumentationen getan), daß natürlich "Wahrheit" kein Objekt sei. Folglich bleibt der konnotierte Anschein von Sicherheit ein Anschein. Sprachkritisches Bewußtsein wird sich davon nicht beeindrucken lassen. - Ein drittes Defizit: Der Begriff "Wahrheit" ist ein rein formaler Begriff. Er ruft nach weiteren Informationen, die er selbst nicht bietet. Zumindest ist zu fragen nach der Wahrheit wessen, wovon? Nur von "Wahrheit" zu reden, ist eine Verkürzung. - Wir sahen, daß der Begriff "Wahrheit" entgegen dem grammatikalisch erweckten Eindruck kein Ding ist. Stattdessen handelt es sich um eine Abstraktion dritten Grades. Ab-straktion, d.h. daß Informationen "ab-gezogen" wurden, die zum Verständnis des Wortes wichtig wären. Folglich ist es ein leichtes, solche Abstraktionen rückgängig zu machen. Man braucht sie sprachlich nur in die dazugehörige Prädikation zurückzuverwandeln. Und in unserem Fall heißt die dazugehörige Prädikation: "X hält Y für wahr". Daß wir das Y nicht haben (= "Wahrheit wovon?"), wurde schon festgestellt. Bei dieser Rückverwandlung kommt nun aber auch das X in den Blick, das Subjekt, das für-wahr-hält. Nun ist also "Wahrheit" plötzlich keine subjektlose Entität mehr. Die Sichtbarmachung der Implikationen[27] bringt das einschätzende, denkende Subjekt wieder in den Blick.[28] Bei einem Satz wie: "Die Wahrheit wird euch frei machen" müßte also - damit er verstanden werden kann - präzisiert werden: "Wessen Wahrheit worüber wird euch ..., wessen Ansicht, wessen Urteil, wessen Einstellung zu welchem Sachverhalt ...".

      4.2 Wenn aber das Wort "Wahrheit" im Sprachgebrauch solche Defizite mit sich schleppt, warum wird es dann doch verwendet? Mir scheint, daß der Grund in dem erwähnten Anschein
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:14:21
      Beitrag Nr. 66 ()
      VORBEMERKUNG
      Der nachfolgende Aufsatz war in einer geringfügig kürzeren Version vorgesehen, in den Band aufgenommen zu werden, den die katholisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen ihrem Kollegen Walter Kasper als Festgabe anläßlich seiner Bischofsweihe (17.Juni 1989) überreichte. Überreicht wurde zunächst - wegen der zu kurzen Produktionszeit - ein Blindband mit Inhaltsverzeichnis. Als die Produktion anstand, der Verfasser im Juli 1989 geheiratet und der neue Bischof die Entfernung des ehem. Kollegen aus der Fakultät betrieben hatte, empfanden die verbliebenen Professoren der katholisch-theologischen Fakultät den Beitrag "Was leistet das Wort Wahrheit?" als nicht mehr opportun und eliminierten ihn aus dem Sammelband.
      H.S.
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      Was leistet das Wort "Wahrheit"?
      Anmerkungen eines Linguisten
      - Harald Schweizer -
      Sich mit Wort und Begriff der "Wahrheit" zu beschäftigen, ist aus vielen Gründen heikel und nur zu rechtfertigen, wenn die Thematik klar eingegrenzt wird. Schließlich führt schon ein einfacher Lexikonartikel in ein Gestrüpp von spezifizierten Wahrheitsbegriffen, aus dem man sich so leicht kaum wieder befreien kann. Erkenntniswahrheit wird neben die Seinswahrheit gestellt (von den einen als ontologische, den anderen als ontische Wahrheit bezeichnet). Göttliche Wahrheit und sittliche Wahrheit, existentielle und logische Wahrheit begegnen. Jeder weiß zudem, daß es verschiedene Wahrheitstheorien gibt, abhängig von verschiedenen philosophischen Konzepten der Erkenntnistheorie. Noch unerwähnt ist, daß auch in dogmatischen Abhandlungen nicht selten Argumentationen nicht nur "im Namen der Wahrheit" geführt, sondern durch Rekurs auf "die Wahrheit" entschieden werden.

      Ein linguistisch orientierter Exeget ist nun sicher nicht die Entscheidungsinstanz in all diesen Problemfeldern. Daher möchte ich bei "meinen Leisten bleiben". Der gemeinsame Nenner all der unterschiedlichen Konzeptionen ist ja, daß die Vertreter ihre Auffassungen im Medium der Sprache vortragen. Eine gewiß formale, äußerliche und banale Einsicht. Aber diese Banalität - so denke ich - ist auch einiges an Reflexion wert. Denn nicht erst die "Sachproblematik" beim Thema Wahrheit ist ein Problem; vielmehr ist das Vehikel, mit dem ich mich der Sachproblematik zu nähern versuche, die Sprache also, zunächst das große Problem. Mir scheint sogar, daß nur relativ selten darüber reflektiert wird, was denn die Sprache leistet, leisten kann bzw. nicht leisten kann. Oft genug wird stattdessen zum "Sachthema" geredet und argumentiert, als ob die Sprache kein Problem sei. Meine Behauptung demgegenüber ist, daß man sich manche Ziele der Argumentation, manches darauf aufbauende Handeln, konfliktreiches Ausgrenzen, sparen könnte, wenn man sich über das Funktionieren der Sprache etwas mehr Gedanken machen würde. - Dem Aspekt allein aus dem großen Gesamtproblem sollen die folgenden Reflexionen dienen.

      Daß im Streit um die "Wahrheit" schon zahllose verbale und kriegerische Kämpfe geführt wurden, weiß jeder. Insofern wird die "Wahrheit" schnell zu einem heißen Eisen. Das mag aus der jüngsten kirchlichen Vergangenheit der Disput zwischen dem deutschen Moraltheologen Bernhard Häring und dem römischen Theologen Caffara bezeugen. Als Häring dem Römer vorwarf, ihm fehle es an der Demut vor den Menschen, antwortete dieser, daß er vielleicht nicht die Demut vor den Menschen habe, dafür aber im Besitz der Wahrheit sei. "Wahrheit" also als Kampfbegriff, den man in Opposition zur "Demut vor den Menschen" setzen kann?

      1. Vorklärungen
      1.1 Wenn wir unseren alltäglichen Sprachgebrauch kritisch beleuchten, so drängt sich schnell der Eindruck auf, daß Oppositionen wie "Ich und Umwelt" oder "Kirche und Welt" illusionäre Abgrenzungen darstellen. Zweifellos kann man sich mit solchen Begriffspaaren verständlich machen und meist werden sie nicht weiter befragt. In kritischer Beleuchtung aber zeigt sich sehr schnell die Unmöglichkeit, das Ich nicht nur begrifflich sondern auch "sachlich" von seiner Umwelt abzugrenzen oder die Kirche als distinkt von der "Welt" zu sehen. Entweder der jeweilige sprachliche Ausdruck ist falsch oder - was natürlich ebenfalls häufig der Fall ist - die sprachlichen Ausdrücke meinen etwas anderes als sie im wörtlichen Sinn aussagen. Würde man auf dem Wortsinn etwa von "Kirche und Welt" beharren, würde man sich geradezu einer gnostischen Häresie schuldig machen.

      Es kann also "sachlich" nur darum gehen, das jeweilige Person-Ich in der Welt zu sehen, in seiner Mitwelt. Das Ich ist natürlich Bestandteil der Gesamtwelt. Ebenso verhält es sich mit der Kirche: Sie ist Element dieses Kosmos, ist völlig in ihn hineinverwoben auch dann, wenn sie kritische Distanz "zur Welt" reklamiert.

      1.2 Diese so verstandene Gesamtrealität ist derart vielschichtig, daß sie von mir nicht überblickt werden kann. Ich scheue mich zwar, derartige Banalitäten aufzuschreiben. Mir scheint aber, daß die Erinnerung an sie dann, wenn man darauf aufbauen will, nicht unnütz ist. Was kann also diese Ziff. 1.2 heißen? Darin steckt zunächst, daß keiner beanspruchen kann, sich selber vollständig zu kennen. Wer ist je schon in alle Winkel und Ecken seiner unbewußten Motive, Regungen, Verdrängungen hinuntergestiegen? Seit FREUD setzt sich die Erkenntnis durch, daß der auf seine Vernunft pochende Mensch nicht fraglos "Herr im eigenen Haus" ist.[1] - Erst recht weiß ich nur sehr wenig von den mir begegnenden Gesprächspartnern, auch wenn sie mir quantitativ sehr vieles erzählen. Allein schon die Realitäten einer Universität oder einer Diözese sind so vielschichtig, daß es allenfalls möglich ist, einige Strukturen und einige dazugehörige Personen grob zu kennen. Zur Mitwelt gehört auch das Wissen, das man etwa in den Millionen Bänden der Universitätsbibliothek gespeichert findet. Auch der fleißigste Kopfarbeiter muß angesichts dieser Vielschichtigkeit kapitulieren. Zur Mitwelt gehört, was die Fische im Neckar gerade treiben. Ich weiß es nicht. Zur Mitwelt gehören die Gifte in der Luft, die auf dem frischen Grün von Milliarden von Blättern unselig wirken. Zur Mitwelt gehört der Palästinenseraufstand im Westjordanland. Es sind ja nur dürre Zahlen, die uns täglich über erschossene Palästinenser erreichen. Das ganze damit verbundene Leid entgeht uns. Täglich sind Millionen von Menschen am Rande des Existenzminimums, am Verhungern. Dürre Ziffern. Sicher werden in verschiedenen Fabriken gegenwärtig atomare Kurzstreckenwaffen gebaut und getestet.

      Jeder weiß selber, daß mit diesen Beispielen nur minimale Punkte einer Lebens- und Weltwirklichkeit herausgegriffen wurden, die von uns gar nie be-griffen, nicht auf den angemessenen Begriff gebracht werden kann.[2]

      1.3 Aber nur das, was ich angemessen auf den Begriff bringen kann, steht mir auch zur Verfügung, kann von mir beherrscht werden. Jedoch ist diese geläufige Einsicht noch zu wenig. Denn sprachkritisch gesehen muß ich verschiedene Abstraktionsebenen beachten.[3]

      1.3.1 Die erste Abstraktionsstufe meint die sogenannten "Konkreta", die Benennung individueller Dinge und Personen. Wir befinden uns hierbei - sprachlich - im Rahmen der unmittelbar vorstellbaren Welt. Dabei ist es kein Widersinn, auch die "Konkreta" schon zu einer "Abstraktionsstufe" zu zählen, denn die eine konkret klingende Benennung (z.B. "Auto, Baum, Haus, Frau, Bischof") ist durchaus schon eine Abstraktion. So ist etwa das eine Wort "Tisch" geeignet, 50 und mehr unterschiedliche Tischformen, individuelle Tische, zu bezeichnen. Aber insgesamt gilt doch, daß Substantive dieser Abstraktionsstufe uns am schnellsten auf eine anschauliche Realität verweisen.

      1.3.2 Beim zweiten Abstraktionsgrad haben wir es auch mit Realitäten zu tun, die in Raum und Zeit vorkommen, die aber nicht identisch mit individuellen Dingen oder Personen sind. Am leichtesten vorstellbar sind Beispiele, wenn man an die Nominalisierung von Verben denkt. Es geht also um statische oder dynamische Bezeichnungen von Realitäten, die durchaus mit individuellen Dingen verbunden, die aber nicht identisch mit Dingen sind. So ist z.B. der "Straßenverkehr" sehr wohl eine Realität in unserem Alltag. Aber das, was mit dem Wort gemeint ist, ist nicht mit einer Ansammlung von Autos identisch. Stattdessen ist diese Realität zusätzlich geprägt durch die Struktur von Straßenzügen, technischen Installationen (Ampeln), durch Verhaltensweisen von Millionen von Autofahrern, durch umfangreiche gesetzliche Regelungen, durch eine noch umfangreichere Rechtssprechungspraxis; die Realität "Straßenverkehr" hat eminente Auswirkungen in die Sozialstruktur hinein (Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt). Mit diesem Wort ist also eine äußerst komplexe dynamische Realität gemeint, in Raum und Zeit, durchaus steuerbar durch Politiker und Polizei, aber - im Unterschied zur ersten Abstraktionsstufe - viel weniger gut faßbar, weil nicht direkt rückgebunden an abgegrenzte Dinge oder Personen. - Ähnliches kann man in statischer Hinsicht zu einem Wort wie "Wohlbefinden" sagen: Es ist abhängig von vielen Faktoren (differenziertes Gleichgewicht - medizinisch gesehen - in meinem Körper; passende Kleidung; gute äußere klimatische Bedingungen; soziale Absicherung; partnerschaftliche Stimmigkeit usw.).

      1.3.3 Der dritte und höchste Abstraktionsgrad ist dagegen Wörtern zugemessen, von denen auch nicht mehr gesagt werden kann, sie seien in Raum und Zeit fraglos eingebunden. Das "Sein" ist hier anzuführen. Auch die "Wahrheit", die "Liebe". Aus religiösem Sprachgebrauch ist hier "Gott" zu nennen. Zwar wird von Gott in vielen Texten personifiziert gesprochen. Damit wird der Anschein der Konkretion erweckt. Aber kritisch befragt - eine alte Theologenerkenntnis - gilt, daß "Gott" auf keinen Fall in unsere Welt der Dinge und Personen eingebunden werden kann, so als gebe es keine Differenz. - Häufig begegnen auf dieser Abstraktionsebene Nominalisierungen von Modal-Realitäten, also innere Einstellungen, Bewertungen, Haltungen, geistige Aktivitäten, substantiviert und sprachlich damit zu einer eigenen Entität gemacht (z.B. "Wille zur Macht"). Im Grunde sind es Paradoxa: Wir haben es mit Wörtern zu tun, die äußerlich, morphologisch, so funktionieren, wie etwa Wörter der ersten Abstraktionsstufe auch. Mit diesen Wörtern ist eine - meist als sehr wichtig angesehene - Bedeutung (= Begriff) verbunden.[4] Damit wird sprachlich der Anschein erweckt, als könne mit diesem "Begriff" auch die gemeinte Realität "umgriffen werden". Aber - wie wir sahen - jene gemeinte Realität ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht-abgegrenzt ist. Wir müssen jene Begriffe also als "absolute Begriffe" verstehen - eigentlich ein Widerspruch in sich selbst.

      Strenggenommen kann ich mit Begriffen der dritten Abstraktionsstufe nicht sprachlich hantieren. Haben doch schon die Wörter der zweiten Ebene einen komplexen und äußerst schwierigen Realitätsbezug. Auf keinen Fall sind wir nun aber in der Lage, die Denkkategorien von Raum und Zeit zu verlassen; das jedoch wäre nötig, wenn wir die Begriffe der dritten Abstraktionsebene angemessen verwenden wollten.[5]

      Wir selber leben nur - es geht nicht anders - äußerlich in der Welt der Konkreta und auch sprachlich ist die Verständigung am leichtesten auf der ersten Abstraktionsstufe, also dort, wo von vorstellbaren Dingen, von Menschen aus Fleisch und Blut die Rede ist. Dies ist ja in aller Regel der Vorzug der Poesie. Wenn sich dagegen theologische Traktate bevorzugt auf der zweiten oder dritten Abstraktionsebene sprachlich ansiedeln - was die Regel ist -, dann ist das ihr ebenso bekannter kommunikativer Nachteil: Die "Schwierigkeit", die ihnen gelegentlich anhaftet, rührt nicht nur von intellektuell anspruchsvoller Gedankenverknüpfung her; vielmehr führt die Dominanz von Abstraktionsebene zwei und drei schnell und berechtigt zur Frage, ob denn die vorgetragenen Gedanken noch "Bodenhaftung" (=Ebene eins) haben, realitätshaltig sind oder sich bereits zu einem raffinierten Glasperlenspiel verselbständigt haben.

      Angesichts dieser komplexen, nicht auf den Begriff zu bringenden Wirklichkeit sind auf der Ebene der inneren Einstellung verschiedene Reaktionen vorstellbar. Der einzelne könnte resignieren. Aber das wäre vielleicht nur Ausdruck eines Allmachtswahns, weil er dem Wahn verfallen ist, er müsse eigentlich doch in der Lage sein, diese Realität ganz zu erfassen. Man kann die Komplexität der Realität natürlich auch verdrängen. Aber das dürfte auch kein überzeugender Lösungsweg sein, da weltfremde Naivität das Ergebnis ist, die auch in höchst intellektuellem Gewande möglich ist. Wird diese Komplexität dagegen belassen und "wahr"genommen, so scheint mir daraus fast zwangsläufig die Haltung der Demut zu resultieren, auch eine Lust zu Wissen und die Bereitschaft zu Veränderung.

      2. Ort der Sprache

      Nicht nur der Mensch, sondern viele weitere Lebewesen können sich über ihre jeweilige Wirklichkeit verständigen, Informationen austauschen. Was die Mitwelt bietet, kann so erkannt und durch Handeln beeinflußt werden. Ein entsprechender Tanz der Bienen teilt den anderen mit, wo es ertragreiche Blüten gibt. Delphine und Wale verfügen offenbar über eine Sprache im Medium der Akustik. Uns interessiert hier das wohl differenzierteste Sprachsystem, das des Menschen.

      2.1 Gegenüber der Welt, in der er sich vorfindet und die ihre Eigendynamik hat, kann der Mensch eine "zweite Welt" aufbauen, auf geistiger Ebene, im Kopf. Die äußere Welt kümmert sich dabei um meine "Kopfwelt" nicht.[6] Der Jahreszeitenwechsel verläuft, ob ich dem zustimme oder nicht.[7]

      2.2 Sprache ist nur denkbar als Gemeinschaftsprodukt.[8] Ganz sicher gibt es von einem jeden einzelnen sprachliche Marotten. Es gibt aber nicht die Sprache eines einzelnen. Von daher ist ein autistisches Gestammel nicht als Sprache zu definieren. Sprache, die nicht verstehbar ist, verdient nicht den Namen "Sprache". Sprache kann also als Instrument gesehen werden, das zwischen vielen Kopfwelten eine Verbindung und Verständigung herstellt. Dieses Instrument ist auch mehrschichtig, es hat physische und rein geistige Anteile. Die Physis ist zwar sehr wichtig (optisches Signal, Lautbild), weil sonst der Prozeß der Verständigung gar nicht in Gang käme. Der Hauptakzent liegt aber auf geistiger Ebene: bei der Konstruktion der Bedeutungen bzw. bei ihrer Rekonstruktion im Dekodierungsvorgang.[9]

      Der kommunikationstheoretisch aufgewiesene Gemeinschaftsbezug hat sich - darin liegt nur eine weitere Verlängerung dieses Ansatzes - im sog. sprachlichen Relativitätsprinzip niedergeschlagen, in der bekannten Hypothese von B.L. WHORF: "Er war besonders durch das Studium des Hopi, der Sprache eines kleinen Stammes von Pueblo-Indianern in Arizona, und den Vergleich mit den Standardsprachen Europas zu der Einsicht gelangt, daß Sprachverschiedenheit auch Denk- und Geistesverschiedenheit bedeutet."[10]

      Meine "Kopfwelt" bzw. - in französischer Manier gesprochen - meine "Enzyklopädie", also alles, was ich weiß, kommt durch meine Erfahrungen, durch mein lebenslanges Lernen zustande. Angesichts der umfassenden Wirklichkeit, in die ich mich hineingestellt sehe, kann die Antwort auch nur lauten, daß meine Kopfwelt immer nur Stückwerk ist. Ebenfalls eine alte Erkenntnis. Vielleicht ist Gott allwissend.[11] Wir sind es nie.

      3. Das Verhältnis von Kopfwelt und äußerer Wirklichkeit

      3.1 Im Rahmen des Zeichen- und Kommunikationsmodells müssen viele und differenzierte Bezüge angenommen werden.[12] Einer davon ist die sogenannte "Referenz". Damit ist die Bezogenheit eines Namens oder meiner sprachlichen Operationen auf ein Ding oder eine komplexere Realität der äußeren Wirklichkeit gemeint.[13] Dadurch, daß dieser Begriff im Rahmen einer Terminologie eingerichtet wird, ist nicht zugleich auch geklärt, wie denn dieser Bezug von der geistigen Ebene zur Dingwelt zu denken sei. Um dieses Problem soll es hier in Ziff.3 gehen.

      3.2 Nicht in linguistischer sondern in philosophischer Sprache ist das Problem formuliert in der Definition: "WAHRHEIT im allgemeinsten Sinn besagt eine Gleichheit, Übereinstimmung zwischen Geist (geistiger Erkenntnis) u Sein (adäquatio intellectus et rei), im höchsten Sinn ein völliges Sich-durch-dringen von Geist u Sein".[14] - Aber auch nach dieser Definition ist noch offen, wie der Bezug zwischen Kopfwelt und äußerer Wirklichkeit zu beschreiben ist. Inwiefern ist "Wahrheit" bei dieser Definition mehr als ein attraktives Postulat? Wie kann der Bezug überprüft werden? Wo liegt - linguistisch betrachtet - die Schwachstelle dieser Definition?

      Die Frage der Überprüfung eines solchen Wahrheitsverständnisses ist wieder nach den oben vorgestellten Abstraktionsebenen zu differenzieren. Im Bereich der Konkreta (erster Abstraktionsgrad) ist - in einem zugegeben etwas naiven Sinn - eine Überprüfung dadurch möglich, daß nicht sprachlich, sondern äußerlich gehandelt wird. Wer im Hörsaal erfährt: "Hinter dem Kupferbau ist ein U-Boot", kann sich aufmachen und hinter das Gebäude gehen, um die Behauptung zu überprüfen.[15] - Schon recht schwierig wird die Überprüfung bei Entitäten der zweiten Abstraktionsebene. Ein Satz wie: "Die schriftliche Prüfung ist jetzt" ist - entgegen dem ersten Anschein - nicht leicht überprüfbar. Ich sehe allenfalls, daß Menschen am Schreiben sind. Ich sehe diesen Menschen aber nicht an, daß sie aktuell sich in der Prüfungssituation befinden. Sie könnten ja auch Gedichte schreiben. Denn in einer schriftlichen Prüfung ist der Prüfer nicht präsent. Zeugnisse sind nicht zu sehen. Das Bewerten ist im Kern ohnehin ein nicht-sichtbarer, innerer Vorgang. Nur das Schreiben allein reicht nicht, um den Satz auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu bestätigen. - Vollends fehlt uns die Überprüfbarkeit bei der dritten Abstraktionsebene. Die Aussage: "Gott ist die Liebe" kann man glauben oder nicht. Jedenfalls läßt sie sich nicht überprüfen. Hier potenzieren sich die oben schon erwähnten Probleme der eingeschränkten Leistungsfähigkeit der Sprache.[16]

      Ist also nach wie vor offen, wie bei der referentiellen Wahrheitsdefinition der Charakter dieser Referenz näher beschrieben oder gar überprüft werden soll, so liegt der Haupteinwand gegen dieses Verständnis darin, daß diese Wahrheitsdefinition den Anschein erweckt, als gebe es eine Wahrheitsdefinition ohne Rekurs auf die Sprachgemeinschaft, so, als genüge es, ein Sprachzeichen mit einer Sache zu verbinden[17] (ein immer noch nicht ausgerottetes Zeichenverständnis).[18] Wir sahen aber oben, daß Sprache ohne Gemeinschaft nicht ist. Folglich muß die Gemeinschaft der Sprachbenutzer auch ihren Platz im Rahmen einer Wahrheitsdefinition haben.[19]

      3.3 Damit kommen wir zur Behauptung, daß eine referentielle Wahrheitsdefinition nicht mit Sprachreflexion vereinbar ist.[20] Anders gesagt: Man kann keine Brücke aus der Sprache heraus zur äußeren Wirklichkeit hin bauen. Meine Kopfwelt (das gilt auch für kollektives Verständnis) ist eine Sache,[21] die Gesamtwirklichkeit, in der ich stehe, eine andere. Beide sind qualitativ getrennt - so sehr meine Kopfwelt Element der Gesamtwirklichkeit ist.[22]

      3.4 Selbstverständlich ist meine Kopfwelt - und darum bemühen wir uns ja ein Leben lang - bildbar in Analogie zur äußeren Wirklichkeit. Wenn ich selber an einer Treppenstufe fünfmal gestolpert bin, bin ich in der Lage, für andere ein Warnschild zu schreiben, sie sprachlich zu warnen. Ich habe für mich selber eine zutreffende Erkenntnis gewonnen und kann im Rahmen der Sprachgemeinschaft diese auch weitervermitteln. Ebenso kann ein anderer mir - sprachlich - zusätzlich den Tip geben, Schuhe mit weniger rutschender Sohle anzuziehen. Er hat mir - sprachlich - einen Teil seiner Erfahrungen zur Verfügung gestellt. Meine Kopfwelt ist also bildbar aufgrund eigener und fremder Erfahrung. Dabei spielt die sprachliche Vermittlung die entscheidende Rolle. Es tut sich hier kein Weg auf, der aus der Sprache herausführen würde. Der Anstoß zum Lernen mag von außen kommen. Das Lernen selbst vollzieht sich dadurch, daß ich meine Wahrnehmung mit den bisherigen - codifizierten(!) - Wahrnehmungen vergleiche, also mit einem "System von Erwartungen".[23] Nehme ich auf dieser kulturell-geistigen Ebene Differenzen wahr, habe ich etwas hinzugelernt; bleiben Differenzen aus, interpretiere ich sie als Verstärkungen, Bestätigungen.[24]

      3.5 Sprachlich sehen richtige und falsche Aussagen gleich aus. Ich kann sagen: "Im Mikrophon ist Strom" oder "im Mikrophon ist Wasser".[25] Auf der Ebene der sprachlichen Äußerung ist die Richtigkeit oder Falschheit solcher Aussagen irrelevant. Stattdessen läuft beim Hören solcher Sätze ein spontaner Vergleich mit dem gespeicherten Wissen ab, mit den gespeicherten Erfahrungen. Es geht hier vor allem um ein Wissen, das auch andere teilen, das so weitgehend akzeptiert ist, daß es sogar Eingang in Lehrbücher der Physik fand. Und aufgrund dessen erfolgt dann die Beurteilung: "Der eine Satz ist falsch, der andere richtig". Aber auch in all dem kann ich zunächst nur geistig-sprachliche Operationen erkennen, keine Brücke aus der Sprache heraus zur Realität.[26]

      3.6 Noch komplexer verläuft die Wahrheitsprüfung, wenn wir geistige Modelle und Hypothesen zur Anwendung bringen. Die Parallelschaltung meiner Kopfwelt mit der äußeren Wirklichkeit nimmt sehr häufig komplexe Formen an. Wenn z.B. ein Detektiv einen Toten vorfindet, Fußabdrücke auf dem Teppich. Wenn der Teppichflor zwei Stunden nach der Tat in 45 % Neigung steht, so würde Sherlock Holmes wohl daraus folgern, daß der Täter 1,70 m groß ist, 75 kg schwer und blond. Eine geistig-sprachliche Hypothese in der Kopfwelt des Detektivs. Nichts anderes bei den Naturwissenschaften: Die Sonne dreht sich um die Erde. Nachdem sich gezeigt hat, daß einige wahrgenommene Fakten nicht in das geistige Modell integriert werden können, versucht man das ganze Modell umzudrehen: Die Erde dreht sich um die Sonne. Auch das eine rein geistig-sprachliche Operation. Der äußeren Wirklichkeit sind solche geistigen Umkehrungen, die doch eine geistige Revolution bedeuten, völlig gleichgültig. Setzt sich das Licht aus Partikeln oder aus Wellen zusammen? Für beides gibt es Beweise. Also scheint beides zu stimmen. Da aber nach dem Satz der Identität etwas nicht zugleich auch sein Gegenteil sein kann, muß ein anderer Aspekt relativiert werden. Da bleibt nur die Betrachterperspektive. Man kann also von der Hypothese ausgehen, ob denn vielleicht von ihr abhängt, ob das Licht sich als Partikel oder als Welle zeigt. Damit kommen wir in den Bereich der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik. Auch dies sprachlich-geistige Operationen, zu Anfang unseres Jahrhunderts ein intellektueller Streit unter Physikern. Dem Licht der Außenwelt ist dieses sprachliche Ringen gleichgültig.

      Differenzierte geistige Modelle können also - zumindest annäherungsweise - beanspruchen, der äußeren Wirklichkeit gerecht zu werden. Trifft dies zu, geht ein Modell nicht völlig in die Irre, so wird dann der Mörder tatsächlich gefangen, bzw. die weitere Erforschung der Planeten erschlossen, bzw. Atomphysik wird möglich.

      4. "Was ist Wahrheit?"

      4.1 Nochmals: Es geht nicht um philosophisch-dogmatische Definitionsfragen. Diese bleiben hier ausgeklammert. Stattdessen ist die Frage, was Sprache leisten kann und was nicht. So gesehen erscheint mir das Wort "Wahrheit" ein defizitäres Plakat zu sein. Es ist das Gegenteil von einem differenzierten geistigen Modell, wie es unter Ziff.3 skizziert wurde. Zur Problemlösung taugen derartige Modelle. Wort und Begriff "Wahrheit" dagegen lassen keine Differenzierung erkennen. Stattdessen - morphologisch betrachtet - ist "Wahrheit" ein Substantiv. Durch diese Wortform wird der sprachlich vermittelte Eindruck erweckt, es handle sich um etwas Substanz-haltiges, um ein Ding oder Objekt, etwas Sicheres, weil Identifizierbares. Diesen Eindruck vermitteln eben Substantive generell. Hier müssen wir aber sofort korrigieren (und nicht immer wird dies in Argumentationen getan), daß natürlich "Wahrheit" kein Objekt sei. Folglich bleibt der konnotierte Anschein von Sicherheit ein Anschein. Sprachkritisches Bewußtsein wird sich davon nicht beeindrucken lassen. - Ein drittes Defizit: Der Begriff "Wahrheit" ist ein rein formaler Begriff. Er ruft nach weiteren Informationen, die er selbst nicht bietet. Zumindest ist zu fragen nach der Wahrheit wessen, wovon? Nur von "Wahrheit" zu reden, ist eine Verkürzung. - Wir sahen, daß der Begriff "Wahrheit" entgegen dem grammatikalisch erweckten Eindruck kein Ding ist. Stattdessen handelt es sich um eine Abstraktion dritten Grades. Ab-straktion, d.h. daß Informationen "ab-gezogen" wurden, die zum Verständnis des Wortes wichtig wären. Folglich ist es ein leichtes, solche Abstraktionen rückgängig zu machen. Man braucht sie sprachlich nur in die dazugehörige Prädikation zurückzuverwandeln. Und in unserem Fall heißt die dazugehörige Prädikation: "X hält Y für wahr". Daß wir das Y nicht haben (= "Wahrheit wovon?"), wurde schon festgestellt. Bei dieser Rückverwandlung kommt nun aber auch das X in den Blick, das Subjekt, das für-wahr-hält. Nun ist also "Wahrheit" plötzlich keine subjektlose Entität mehr. Die Sichtbarmachung der Implikationen[27] bringt das einschätzende, denkende Subjekt wieder in den Blick.[28] Bei einem Satz wie: "Die Wahrheit wird euch frei machen" müßte also - damit er verstanden werden kann - präzisiert werden: "Wessen Wahrheit worüber wird euch ..., wessen Ansicht, wessen Urteil, wessen Einstellung zu welchem Sachverhalt ...".

      4.2 Wenn aber das Wort "Wahrheit" im Sprachgebrauch solche Defizite mit sich schleppt, warum wird es dann doch verwendet? Mir scheint, daß der Grund in dem erwähnten Anschein einer subjektlosen Objektivität liegt. Die substantivische Verwendung vermittelt Sicherheit. Sie verschleiert den subjektgebundenen Wahrnehmungsakt.[29] Der konnotierte Eindruck, es handle sich um ein abgeschlossenes Objekt,[30] vermittelt auch den Eindruck, es sei von der "vollen, ganzen Wahrheit" die Rede. Die Leerstelle beim Objekt (was wird wahrgenommen?) und der hohe Abstraktionsgrad verleiten, spontan alles hier unterzubringen, also genau dem zu erliegen, was oben schon (vgl. Ziff. 1.3.3) als sprachlicher Omnipotenzwahn beschrieben wurde.[31] Wie gesagt, das sind Effekte, die der Sprachgebrauch mit sich bringt, Effekte, die nicht speziell am Wort "Wahrheit" entwickelt wurden, die vielmehr basieren auf der Beobachtung unseres alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauchs (vgl. die Theorie von den "Pragmatischen Wortarten"). Diese Effekte können natürlich vermieden werden, indem reflex darauf Bezug genommen wird. Nur geschieht das - meinem Eindruck nach - nicht allzu häufig. Wortart und Sprachgebrauch verführen also den, der nicht darüber reflektiert, zur referentiellen Wahrheitsdefinition, die wir oben als nicht haltbar dargestellt haben. Stattdessen muß ein bewußter Umgang mit diesem Wort hervorheben, daß die sprachtheoretische Reflexion sich nur verträgt mit einem Wahrheitsverständnis, das die Sprachgemeinschaft ebenso berücksichtigt wie den Charakter der immer nur fragmentarisch möglichen Erkenntnis. Einzig ein Konzept, wie es Habermas entworfen hat, ist mit diesen Faktoren kompatibel, also ein Ringen von mehreren Subjekten um eine Thematik, frei von versteckten Nebenabsichten, im sogenannten "herrschaftsfreien Dialog".

      4.3 Nun mag einer einwenden: Wer sich des Wortes "Wahrheit" bedient, der ist ja gerade nicht an Herrschaft, sondern an Wissen und Erkenntnis interessiert. "Wahrheit" ist - wie wir sahen - ein epistemologischer Begriff.[32] Wer somit nur an Wahrheit interessiert ist, will gar nicht nach außen in großem Umfang handeln, schon gar nicht negativ gegen andere. Insofern ist das Stichwort "Wahrheit" mit - dem ersten Anschein nach - sympathischen Implikationen behaftet. Bei näherem Zusehen sieht das jedoch anders aus: "Jeder, der etwas wissen möchte, möchte es wissen, um etwas zu tun. Behauptet er, er möchte es nur wissen, um `zu wissen` und nicht, um `zu tun`, so bedeutet das, daß er es wissen möchte, um nichts zu tun, und das ist in Wahrheit eine versteckte Art, etwas zu tun, nämlich die Welt so zu lassen, wie sie ist (und - wie er durch sein Verhalten zu erkennen gibt - seiner Meinung nach auch sein sollte)."[33] Somit entpuppt sich auch dieser "sanfte", scheinbar absichtslose Rekurs auf die "Wahrheit" als potentiell ausgesprochen gewalttätig, weil verdeckt-emphatisch gegen verändern-wollende Zeitgenossen gerichtet.

      4.4 Ursprünglich auf die Literaturgeschichte bezogene Reflexionen[34] - entsprechend appliziert - besagen: Jede Äußerung ist eine Antwort auf eine Frage, auch wenn letztere unausgesprochen ist; zudem teilen Sprecher und Empfänger gemeinsame Wissensvoraussetzungen, die nicht problematisiert werden. Stellt nun ein Sprecher das Wort "Wahrheit" in seiner Äußerung heraus, problematisiert es also, so kann dies Reaktion auf die gemeinsame Wissensvoraussetzung sein, daß "Lüge" im Spiel ist. In der Alltagskommunikation spielt das Lexem "Wahrheit" keine große Rolle, da das Zusammenleben ohnehin verlangt, daß man sich in seinen Äußerungen möglichst realitätsgerecht verhält. Ohne diese selbstverständliche Grundvoraussetzung jeglicher Kommunikation[35] wäre ein äußeres und geistiges Zusammenleben nicht vorstellbar. Verwendet einer nun das Wort "Wahrheit", so problematisiert er etwas, was eigentlich selbstverständlich ist. Explizit von "Wahrheit" zu reden, muß somit durch irgendwelche Erfahrungen, dem Wissen um Verdächtigungen, Infragestellungen, veranlaßt, erzwungen sein. Das zeigt einerseits - von einer anderen Seite her -, daß das Wort "Wahrheit" genuin ein Kampfbegriff ist. Mehr psychologisch, auf die Opposition: bewußt vs. unbewußt anspielend, kann die Verwendung des Wortes auch so motiviert sein: Man gebraucht das Lexem "Wahrheit", weil man unbewußt weiß, daß man in Unwahrheit verstrickt ist. Davon aber soll - emphatisch - abgelenkt werden. Die Beteuerung der Wahrheit hat schließlich eine lange Tradition in der Lügenliteratur. Man sollte bei Verwendung des Wortes also zumindest die Gefahr sehen, daß die Rezipienten es instinktiv so verstehen, daß nun besonders große Lügen folgen. - Wenn das Wort jedoch besagen soll, daß "neue", "tiefere", bislang nicht-gekannte Wahrheiten zu erwarten sind, dann ist dafür Sorge zu tragen, daß durch entsprechende Erläuterung dieses zweite Verständnis sichergestellt und das erste umgangen wird. Aus sich heraus leistet das Wort "Wahrheit" dieses zweite Verständnis nicht.

      4.5 Sind also Bedingungen des "herrschaftsfreien Dialogs" nicht gegeben, so wird "Wahrheit" sehr schnell zum rein polemischen Begriff. Er lebt ja - so wie alles in der Sprache von der Differenz lebt - von der Opposition, d.h. der Begriff "Wahrheit" hat nur Sinn, wenn irgendwo "Unwahrheit" vermutet wird.[36] In dem skizzierten Globalsinn kann "Wahrheit" zu einer aktuellen Problemlösung nichts beitragen. Dafür ist der Begriff - wie erkannt - viel zu leer. In einem solchen Verständnis paßt dann der Begriff auch vorzüglich in den Kontext von Herrschaftsausübung (im direkten Gegensatz zum Verständnis von Habermas). Die Subjektgebundenheit jeder Erkenntnis (und sei dieses Subjekt - kirchlich gesprochen - ein ganzes Konzil) wird verschleiert, der Fragmentcharakter jeglicher Erkenntnis wird in dieser Verwendung verschleiert. Und schließlich werden "Kopfwelt" und außersprachliche Wirklichkeit zusammengesehen. Man redet in solcher Verwendung nicht mehr von der Möglichkeit, daß meine Kopfwelt, meine Sprache, meine Sprachregelungen möglicherweise an der außersprachlichen Wirklichkeit vorbeigehen könnten. Vielmehr ist es genau das Wesenselement in jedem Herrschaftssystem, daß behauptet wird, die eigene Sprache/Sprachregelung treffe genau die Wirklichkeit. Wer dagegen auf der Differenz besteht, auf eigenen, abweichenden Formulierungen, eigenen Erfahrungen und Einsichten, findet sich sehr schnell in der Rolle des Systemkritikers, des Ausgestoßenen wieder.[37]

      Angesichts solcher möglicher Formen von Mißbrauch des Wortes "Wahrheit" ist es ständig unsere Aufgabe, unsere Subjektivität positiv zu akzeptieren[38] und ebenso, daß Wirklichkeit und sprachlich gefaßte Meinung nie zusammenfallen. "Wahrheit" ist folglich kein Objekt, das der eine besitzt, der andere nicht. Da Wahrheit auf allen Seiten fragmentarisch ist, ist der einzige Weg weiterzukommen der repressionsfreie Dialog. Gerade in der Kirche eine oft utopische Hoffnung. Aber ich will diese Hoffnung verstärken und nicht etwa beiseiteräumen.

      Genau das ist auch mein Wunsch an den neuen Bischof: Er möge seinen Wahlspruch ("Veritatem in caritate") so interpretieren, daß die caritas dominiert. Tut sie das, dann ist die veritas nicht suspendiert. Nur in einem isolierten, kalten Sinn ist sie überflüssig. Durch die caritas kann aber die veritas eine neue Qualität bekommen, eine jesuanische Menschenfreundlichkeit.[39] Wer solches erkannt hat, - ich komme auf die Einleitung zurück - kann nicht "Demut" und "Wahrheitsbesitz" gegeneinander ausspielen.



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      1. Ergänzend kann man beobachten, "wie in großen Werken der Dichtung die Spannungen kultiviert werden zwischen der eigenen Unfähigkeit, das `unergründlich Vieldeutige` der eigenen Person zu erschließen, aber auch der `Angst..., restlos verstanden zu werden,` und der Bereitschaft, der fortwährend gegenwärtigen Wirksamkeit der Wahrheit im Unbestimmten, selbst in Betrug und Lüge zu folgen", WELKER,M, Wahrheit in: H.P. Müller (ed.), Was ist Wahrheit? Stuttgart 1989. S.106.

      2. "Die Kontinuität der Geschichte ist durch die Wirkmacht der menschlichen Natur, die notwendig allgemein verbindliche Momente in sich schließt, gewährleistet. Jede andere Betrachtungsweise kommt, wenn sie sich selbst ernst nimmt, zu einer Atomisierung des Lebens", MÖLLER, J, Geschichtlichkeit und Ungeschichtlichkeit der Wahrheit. In: Kath.-theol. Fakultät an der Universität Tübingen (Hrsg.), Theologie im Wandel (Festschrift), München 1967, S.15-40. - "Atomisierung" klingt pejorativ; ob eine "Kontinuität", die erst mit Hilfe einer hypostasierten Theorie sichtbar wird, dem Menschen aus Fleisch und Blut gerecht werden kann?

      3. Vgl. SCHWEIZER, H, Metaphorische Grammatik. Wege zur Integration von Grammatik und Textinterpretation in der Exegese. ATS 15. St.Ottilien 1981. S.224ff; ders. Biblische Texte verstehen. Arbeitsbuch zur Hermeneutik und Methodik der Bibelinterpretation. Stuttgart 1986. S.90ff zum Thema "Pragmatische Wortarten"

      4. Daher eignen sich Wörter dieser Abstraktionsebene bestens für pathetische Rede.

      5. Was die Wörter dieser Abstraktionsebene bezeichnen (=ihr Begriff), beansprucht uneingegrenzte All-Gültigkeit.

      6. "What else is knowledge but naming things and then talking about the names?", FRAWLEY,W, Text and Epistemology. Norwood 1987. S.XI.

      7. Vgl. die Beispiele zur "Segmentierung des semantischen Feldes" bei ECO, U, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. Supplemente 5. München 1987. S.113ff, mit denen E. erläutert, daß die Art, wie sich eine Gemeinschaft sprachlich zur äußeren Wirklichkeit verhält, immer durch kulturelle Bedingungen und "kulturelle Einheiten" bestimmt ist. Nie kann eine direkte Verbindung: Sprache => außersprachlicher Sachverhalt unterstellt werden. Vgl. auch MACKENSEN, L, Verführung durch Sprache. Manipulation als Versuchung. München 1973. S.26.

      8. ECO 40: "Der erste Arzt, der eine Art von konstantem Zusammenhang zwischen einer bestimmten Art roter Flecken auf dem Gesicht des Patienten und einer Krankheit (Masern) entdeckte, zog einen Schluß: Ist dieser Zusammenhang aber konventionell bestimmt und in medizinischen Werken als solcher registriert, so ist auch eine semiotische Konvention gesetzt worden. Ein Zeichen liegt immer dann vor, wenn eine menschliche Gruppe beschließt, etwas als Vehikel von etwas anderem zu benutzen und anzuerkennen."

      9. Vgl. in ThQ 169 (III/1989) die Beiträge von S.J.SCHMIDT und L.PANIER.

      10. H. GIPPER, Wahrheit als Sprachproblem, in: MÜLLER (1989) S.68-88, hier: 73. Demzufolge arbeitet G. heraus, daß Wort-für-Wort-Übertragungen unmöglich sind. Vielmehr kann es sich beim Übersetzen "nur um ein Transformieren, um ein Transponieren aus einer Weltsicht in eine andere handeln" (72). - Dem müßte allerdings weiter nachgegangen werden. Denn (a) kann es nicht darum gehen, jegliche freie Paraphrase als angemessene Übersetzung anzuerkennen; (b) kann oft ein hoher Prozentsatz tatsächlich und mi
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:14:28
      Beitrag Nr. 67 ()
      VORBEMERKUNG
      Der nachfolgende Aufsatz war in einer geringfügig kürzeren Version vorgesehen, in den Band aufgenommen zu werden, den die katholisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen ihrem Kollegen Walter Kasper als Festgabe anläßlich seiner Bischofsweihe (17.Juni 1989) überreichte. Überreicht wurde zunächst - wegen der zu kurzen Produktionszeit - ein Blindband mit Inhaltsverzeichnis. Als die Produktion anstand, der Verfasser im Juli 1989 geheiratet und der neue Bischof die Entfernung des ehem. Kollegen aus der Fakultät betrieben hatte, empfanden die verbliebenen Professoren der katholisch-theologischen Fakultät den Beitrag "Was leistet das Wort Wahrheit?" als nicht mehr opportun und eliminierten ihn aus dem Sammelband.
      H.S.
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      Was leistet das Wort "Wahrheit"?
      Anmerkungen eines Linguisten
      - Harald Schweizer -
      Sich mit Wort und Begriff der "Wahrheit" zu beschäftigen, ist aus vielen Gründen heikel und nur zu rechtfertigen, wenn die Thematik klar eingegrenzt wird. Schließlich führt schon ein einfacher Lexikonartikel in ein Gestrüpp von spezifizierten Wahrheitsbegriffen, aus dem man sich so leicht kaum wieder befreien kann. Erkenntniswahrheit wird neben die Seinswahrheit gestellt (von den einen als ontologische, den anderen als ontische Wahrheit bezeichnet). Göttliche Wahrheit und sittliche Wahrheit, existentielle und logische Wahrheit begegnen. Jeder weiß zudem, daß es verschiedene Wahrheitstheorien gibt, abhängig von verschiedenen philosophischen Konzepten der Erkenntnistheorie. Noch unerwähnt ist, daß auch in dogmatischen Abhandlungen nicht selten Argumentationen nicht nur "im Namen der Wahrheit" geführt, sondern durch Rekurs auf "die Wahrheit" entschieden werden.

      Ein linguistisch orientierter Exeget ist nun sicher nicht die Entscheidungsinstanz in all diesen Problemfeldern. Daher möchte ich bei "meinen Leisten bleiben". Der gemeinsame Nenner all der unterschiedlichen Konzeptionen ist ja, daß die Vertreter ihre Auffassungen im Medium der Sprache vortragen. Eine gewiß formale, äußerliche und banale Einsicht. Aber diese Banalität - so denke ich - ist auch einiges an Reflexion wert. Denn nicht erst die "Sachproblematik" beim Thema Wahrheit ist ein Problem; vielmehr ist das Vehikel, mit dem ich mich der Sachproblematik zu nähern versuche, die Sprache also, zunächst das große Problem. Mir scheint sogar, daß nur relativ selten darüber reflektiert wird, was denn die Sprache leistet, leisten kann bzw. nicht leisten kann. Oft genug wird stattdessen zum "Sachthema" geredet und argumentiert, als ob die Sprache kein Problem sei. Meine Behauptung demgegenüber ist, daß man sich manche Ziele der Argumentation, manches darauf aufbauende Handeln, konfliktreiches Ausgrenzen, sparen könnte, wenn man sich über das Funktionieren der Sprache etwas mehr Gedanken machen würde. - Dem Aspekt allein aus dem großen Gesamtproblem sollen die folgenden Reflexionen dienen.

      Daß im Streit um die "Wahrheit" schon zahllose verbale und kriegerische Kämpfe geführt wurden, weiß jeder. Insofern wird die "Wahrheit" schnell zu einem heißen Eisen. Das mag aus der jüngsten kirchlichen Vergangenheit der Disput zwischen dem deutschen Moraltheologen Bernhard Häring und dem römischen Theologen Caffara bezeugen. Als Häring dem Römer vorwarf, ihm fehle es an der Demut vor den Menschen, antwortete dieser, daß er vielleicht nicht die Demut vor den Menschen habe, dafür aber im Besitz der Wahrheit sei. "Wahrheit" also als Kampfbegriff, den man in Opposition zur "Demut vor den Menschen" setzen kann?

      1. Vorklärungen
      1.1 Wenn wir unseren alltäglichen Sprachgebrauch kritisch beleuchten, so drängt sich schnell der Eindruck auf, daß Oppositionen wie "Ich und Umwelt" oder "Kirche und Welt" illusionäre Abgrenzungen darstellen. Zweifellos kann man sich mit solchen Begriffspaaren verständlich machen und meist werden sie nicht weiter befragt. In kritischer Beleuchtung aber zeigt sich sehr schnell die Unmöglichkeit, das Ich nicht nur begrifflich sondern auch "sachlich" von seiner Umwelt abzugrenzen oder die Kirche als distinkt von der "Welt" zu sehen. Entweder der jeweilige sprachliche Ausdruck ist falsch oder - was natürlich ebenfalls häufig der Fall ist - die sprachlichen Ausdrücke meinen etwas anderes als sie im wörtlichen Sinn aussagen. Würde man auf dem Wortsinn etwa von "Kirche und Welt" beharren, würde man sich geradezu einer gnostischen Häresie schuldig machen.

      Es kann also "sachlich" nur darum gehen, das jeweilige Person-Ich in der Welt zu sehen, in seiner Mitwelt. Das Ich ist natürlich Bestandteil der Gesamtwelt. Ebenso verhält es sich mit der Kirche: Sie ist Element dieses Kosmos, ist völlig in ihn hineinverwoben auch dann, wenn sie kritische Distanz "zur Welt" reklamiert.

      1.2 Diese so verstandene Gesamtrealität ist derart vielschichtig, daß sie von mir nicht überblickt werden kann. Ich scheue mich zwar, derartige Banalitäten aufzuschreiben. Mir scheint aber, daß die Erinnerung an sie dann, wenn man darauf aufbauen will, nicht unnütz ist. Was kann also diese Ziff. 1.2 heißen? Darin steckt zunächst, daß keiner beanspruchen kann, sich selber vollständig zu kennen. Wer ist je schon in alle Winkel und Ecken seiner unbewußten Motive, Regungen, Verdrängungen hinuntergestiegen? Seit FREUD setzt sich die Erkenntnis durch, daß der auf seine Vernunft pochende Mensch nicht fraglos "Herr im eigenen Haus" ist.[1] - Erst recht weiß ich nur sehr wenig von den mir begegnenden Gesprächspartnern, auch wenn sie mir quantitativ sehr vieles erzählen. Allein schon die Realitäten einer Universität oder einer Diözese sind so vielschichtig, daß es allenfalls möglich ist, einige Strukturen und einige dazugehörige Personen grob zu kennen. Zur Mitwelt gehört auch das Wissen, das man etwa in den Millionen Bänden der Universitätsbibliothek gespeichert findet. Auch der fleißigste Kopfarbeiter muß angesichts dieser Vielschichtigkeit kapitulieren. Zur Mitwelt gehört, was die Fische im Neckar gerade treiben. Ich weiß es nicht. Zur Mitwelt gehören die Gifte in der Luft, die auf dem frischen Grün von Milliarden von Blättern unselig wirken. Zur Mitwelt gehört der Palästinenseraufstand im Westjordanland. Es sind ja nur dürre Zahlen, die uns täglich über erschossene Palästinenser erreichen. Das ganze damit verbundene Leid entgeht uns. Täglich sind Millionen von Menschen am Rande des Existenzminimums, am Verhungern. Dürre Ziffern. Sicher werden in verschiedenen Fabriken gegenwärtig atomare Kurzstreckenwaffen gebaut und getestet.

      Jeder weiß selber, daß mit diesen Beispielen nur minimale Punkte einer Lebens- und Weltwirklichkeit herausgegriffen wurden, die von uns gar nie be-griffen, nicht auf den angemessenen Begriff gebracht werden kann.[2]

      1.3 Aber nur das, was ich angemessen auf den Begriff bringen kann, steht mir auch zur Verfügung, kann von mir beherrscht werden. Jedoch ist diese geläufige Einsicht noch zu wenig. Denn sprachkritisch gesehen muß ich verschiedene Abstraktionsebenen beachten.[3]

      1.3.1 Die erste Abstraktionsstufe meint die sogenannten "Konkreta", die Benennung individueller Dinge und Personen. Wir befinden uns hierbei - sprachlich - im Rahmen der unmittelbar vorstellbaren Welt. Dabei ist es kein Widersinn, auch die "Konkreta" schon zu einer "Abstraktionsstufe" zu zählen, denn die eine konkret klingende Benennung (z.B. "Auto, Baum, Haus, Frau, Bischof") ist durchaus schon eine Abstraktion. So ist etwa das eine Wort "Tisch" geeignet, 50 und mehr unterschiedliche Tischformen, individuelle Tische, zu bezeichnen. Aber insgesamt gilt doch, daß Substantive dieser Abstraktionsstufe uns am schnellsten auf eine anschauliche Realität verweisen.

      1.3.2 Beim zweiten Abstraktionsgrad haben wir es auch mit Realitäten zu tun, die in Raum und Zeit vorkommen, die aber nicht identisch mit individuellen Dingen oder Personen sind. Am leichtesten vorstellbar sind Beispiele, wenn man an die Nominalisierung von Verben denkt. Es geht also um statische oder dynamische Bezeichnungen von Realitäten, die durchaus mit individuellen Dingen verbunden, die aber nicht identisch mit Dingen sind. So ist z.B. der "Straßenverkehr" sehr wohl eine Realität in unserem Alltag. Aber das, was mit dem Wort gemeint ist, ist nicht mit einer Ansammlung von Autos identisch. Stattdessen ist diese Realität zusätzlich geprägt durch die Struktur von Straßenzügen, technischen Installationen (Ampeln), durch Verhaltensweisen von Millionen von Autofahrern, durch umfangreiche gesetzliche Regelungen, durch eine noch umfangreichere Rechtssprechungspraxis; die Realität "Straßenverkehr" hat eminente Auswirkungen in die Sozialstruktur hinein (Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt). Mit diesem Wort ist also eine äußerst komplexe dynamische Realität gemeint, in Raum und Zeit, durchaus steuerbar durch Politiker und Polizei, aber - im Unterschied zur ersten Abstraktionsstufe - viel weniger gut faßbar, weil nicht direkt rückgebunden an abgegrenzte Dinge oder Personen. - Ähnliches kann man in statischer Hinsicht zu einem Wort wie "Wohlbefinden" sagen: Es ist abhängig von vielen Faktoren (differenziertes Gleichgewicht - medizinisch gesehen - in meinem Körper; passende Kleidung; gute äußere klimatische Bedingungen; soziale Absicherung; partnerschaftliche Stimmigkeit usw.).

      1.3.3 Der dritte und höchste Abstraktionsgrad ist dagegen Wörtern zugemessen, von denen auch nicht mehr gesagt werden kann, sie seien in Raum und Zeit fraglos eingebunden. Das "Sein" ist hier anzuführen. Auch die "Wahrheit", die "Liebe". Aus religiösem Sprachgebrauch ist hier "Gott" zu nennen. Zwar wird von Gott in vielen Texten personifiziert gesprochen. Damit wird der Anschein der Konkretion erweckt. Aber kritisch befragt - eine alte Theologenerkenntnis - gilt, daß "Gott" auf keinen Fall in unsere Welt der Dinge und Personen eingebunden werden kann, so als gebe es keine Differenz. - Häufig begegnen auf dieser Abstraktionsebene Nominalisierungen von Modal-Realitäten, also innere Einstellungen, Bewertungen, Haltungen, geistige Aktivitäten, substantiviert und sprachlich damit zu einer eigenen Entität gemacht (z.B. "Wille zur Macht"). Im Grunde sind es Paradoxa: Wir haben es mit Wörtern zu tun, die äußerlich, morphologisch, so funktionieren, wie etwa Wörter der ersten Abstraktionsstufe auch. Mit diesen Wörtern ist eine - meist als sehr wichtig angesehene - Bedeutung (= Begriff) verbunden.[4] Damit wird sprachlich der Anschein erweckt, als könne mit diesem "Begriff" auch die gemeinte Realität "umgriffen werden". Aber - wie wir sahen - jene gemeinte Realität ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht-abgegrenzt ist. Wir müssen jene Begriffe also als "absolute Begriffe" verstehen - eigentlich ein Widerspruch in sich selbst.

      Strenggenommen kann ich mit Begriffen der dritten Abstraktionsstufe nicht sprachlich hantieren. Haben doch schon die Wörter der zweiten Ebene einen komplexen und äußerst schwierigen Realitätsbezug. Auf keinen Fall sind wir nun aber in der Lage, die Denkkategorien von Raum und Zeit zu verlassen; das jedoch wäre nötig, wenn wir die Begriffe der dritten Abstraktionsebene angemessen verwenden wollten.[5]

      Wir selber leben nur - es geht nicht anders - äußerlich in der Welt der Konkreta und auch sprachlich ist die Verständigung am leichtesten auf der ersten Abstraktionsstufe, also dort, wo von vorstellbaren Dingen, von Menschen aus Fleisch und Blut die Rede ist. Dies ist ja in aller Regel der Vorzug der Poesie. Wenn sich dagegen theologische Traktate bevorzugt auf der zweiten oder dritten Abstraktionsebene sprachlich ansiedeln - was die Regel ist -, dann ist das ihr ebenso bekannter kommunikativer Nachteil: Die "Schwierigkeit", die ihnen gelegentlich anhaftet, rührt nicht nur von intellektuell anspruchsvoller Gedankenverknüpfung her; vielmehr führt die Dominanz von Abstraktionsebene zwei und drei schnell und berechtigt zur Frage, ob denn die vorgetragenen Gedanken noch "Bodenhaftung" (=Ebene eins) haben, realitätshaltig sind oder sich bereits zu einem raffinierten Glasperlenspiel verselbständigt haben.

      Angesichts dieser komplexen, nicht auf den Begriff zu bringenden Wirklichkeit sind auf der Ebene der inneren Einstellung verschiedene Reaktionen vorstellbar. Der einzelne könnte resignieren. Aber das wäre vielleicht nur Ausdruck eines Allmachtswahns, weil er dem Wahn verfallen ist, er müsse eigentlich doch in der Lage sein, diese Realität ganz zu erfassen. Man kann die Komplexität der Realität natürlich auch verdrängen. Aber das dürfte auch kein überzeugender Lösungsweg sein, da weltfremde Naivität das Ergebnis ist, die auch in höchst intellektuellem Gewande möglich ist. Wird diese Komplexität dagegen belassen und "wahr"genommen, so scheint mir daraus fast zwangsläufig die Haltung der Demut zu resultieren, auch eine Lust zu Wissen und die Bereitschaft zu Veränderung.

      2. Ort der Sprache

      Nicht nur der Mensch, sondern viele weitere Lebewesen können sich über ihre jeweilige Wirklichkeit verständigen, Informationen austauschen. Was die Mitwelt bietet, kann so erkannt und durch Handeln beeinflußt werden. Ein entsprechender Tanz der Bienen teilt den anderen mit, wo es ertragreiche Blüten gibt. Delphine und Wale verfügen offenbar über eine Sprache im Medium der Akustik. Uns interessiert hier das wohl differenzierteste Sprachsystem, das des Menschen.

      2.1 Gegenüber der Welt, in der er sich vorfindet und die ihre Eigendynamik hat, kann der Mensch eine "zweite Welt" aufbauen, auf geistiger Ebene, im Kopf. Die äußere Welt kümmert sich dabei um meine "Kopfwelt" nicht.[6] Der Jahreszeitenwechsel verläuft, ob ich dem zustimme oder nicht.[7]

      2.2 Sprache ist nur denkbar als Gemeinschaftsprodukt.[8] Ganz sicher gibt es von einem jeden einzelnen sprachliche Marotten. Es gibt aber nicht die Sprache eines einzelnen. Von daher ist ein autistisches Gestammel nicht als Sprache zu definieren. Sprache, die nicht verstehbar ist, verdient nicht den Namen "Sprache". Sprache kann also als Instrument gesehen werden, das zwischen vielen Kopfwelten eine Verbindung und Verständigung herstellt. Dieses Instrument ist auch mehrschichtig, es hat physische und rein geistige Anteile. Die Physis ist zwar sehr wichtig (optisches Signal, Lautbild), weil sonst der Prozeß der Verständigung gar nicht in Gang käme. Der Hauptakzent liegt aber auf geistiger Ebene: bei der Konstruktion der Bedeutungen bzw. bei ihrer Rekonstruktion im Dekodierungsvorgang.[9]

      Der kommunikationstheoretisch aufgewiesene Gemeinschaftsbezug hat sich - darin liegt nur eine weitere Verlängerung dieses Ansatzes - im sog. sprachlichen Relativitätsprinzip niedergeschlagen, in der bekannten Hypothese von B.L. WHORF: "Er war besonders durch das Studium des Hopi, der Sprache eines kleinen Stammes von Pueblo-Indianern in Arizona, und den Vergleich mit den Standardsprachen Europas zu der Einsicht gelangt, daß Sprachverschiedenheit auch Denk- und Geistesverschiedenheit bedeutet."[10]

      Meine "Kopfwelt" bzw. - in französischer Manier gesprochen - meine "Enzyklopädie", also alles, was ich weiß, kommt durch meine Erfahrungen, durch mein lebenslanges Lernen zustande. Angesichts der umfassenden Wirklichkeit, in die ich mich hineingestellt sehe, kann die Antwort auch nur lauten, daß meine Kopfwelt immer nur Stückwerk ist. Ebenfalls eine alte Erkenntnis. Vielleicht ist Gott allwissend.[11] Wir sind es nie.

      3. Das Verhältnis von Kopfwelt und äußerer Wirklichkeit

      3.1 Im Rahmen des Zeichen- und Kommunikationsmodells müssen viele und differenzierte Bezüge angenommen werden.[12] Einer davon ist die sogenannte "Referenz". Damit ist die Bezogenheit eines Namens oder meiner sprachlichen Operationen auf ein Ding oder eine komplexere Realität der äußeren Wirklichkeit gemeint.[13] Dadurch, daß dieser Begriff im Rahmen einer Terminologie eingerichtet wird, ist nicht zugleich auch geklärt, wie denn dieser Bezug von der geistigen Ebene zur Dingwelt zu denken sei. Um dieses Problem soll es hier in Ziff.3 gehen.

      3.2 Nicht in linguistischer sondern in philosophischer Sprache ist das Problem formuliert in der Definition: "WAHRHEIT im allgemeinsten Sinn besagt eine Gleichheit, Übereinstimmung zwischen Geist (geistiger Erkenntnis) u Sein (adäquatio intellectus et rei), im höchsten Sinn ein völliges Sich-durch-dringen von Geist u Sein".[14] - Aber auch nach dieser Definition ist noch offen, wie der Bezug zwischen Kopfwelt und äußerer Wirklichkeit zu beschreiben ist. Inwiefern ist "Wahrheit" bei dieser Definition mehr als ein attraktives Postulat? Wie kann der Bezug überprüft werden? Wo liegt - linguistisch betrachtet - die Schwachstelle dieser Definition?

      Die Frage der Überprüfung eines solchen Wahrheitsverständnisses ist wieder nach den oben vorgestellten Abstraktionsebenen zu differenzieren. Im Bereich der Konkreta (erster Abstraktionsgrad) ist - in einem zugegeben etwas naiven Sinn - eine Überprüfung dadurch möglich, daß nicht sprachlich, sondern äußerlich gehandelt wird. Wer im Hörsaal erfährt: "Hinter dem Kupferbau ist ein U-Boot", kann sich aufmachen und hinter das Gebäude gehen, um die Behauptung zu überprüfen.[15] - Schon recht schwierig wird die Überprüfung bei Entitäten der zweiten Abstraktionsebene. Ein Satz wie: "Die schriftliche Prüfung ist jetzt" ist - entgegen dem ersten Anschein - nicht leicht überprüfbar. Ich sehe allenfalls, daß Menschen am Schreiben sind. Ich sehe diesen Menschen aber nicht an, daß sie aktuell sich in der Prüfungssituation befinden. Sie könnten ja auch Gedichte schreiben. Denn in einer schriftlichen Prüfung ist der Prüfer nicht präsent. Zeugnisse sind nicht zu sehen. Das Bewerten ist im Kern ohnehin ein nicht-sichtbarer, innerer Vorgang. Nur das Schreiben allein reicht nicht, um den Satz auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu bestätigen. - Vollends fehlt uns die Überprüfbarkeit bei der dritten Abstraktionsebene. Die Aussage: "Gott ist die Liebe" kann man glauben oder nicht. Jedenfalls läßt sie sich nicht überprüfen. Hier potenzieren sich die oben schon erwähnten Probleme der eingeschränkten Leistungsfähigkeit der Sprache.[16]

      Ist also nach wie vor offen, wie bei der referentiellen Wahrheitsdefinition der Charakter dieser Referenz näher beschrieben oder gar überprüft werden soll, so liegt der Haupteinwand gegen dieses Verständnis darin, daß diese Wahrheitsdefinition den Anschein erweckt, als gebe es eine Wahrheitsdefinition ohne Rekurs auf die Sprachgemeinschaft, so, als genüge es, ein Sprachzeichen mit einer Sache zu verbinden[17] (ein immer noch nicht ausgerottetes Zeichenverständnis).[18] Wir sahen aber oben, daß Sprache ohne Gemeinschaft nicht ist. Folglich muß die Gemeinschaft der Sprachbenutzer auch ihren Platz im Rahmen einer Wahrheitsdefinition haben.[19]

      3.3 Damit kommen wir zur Behauptung, daß eine referentielle Wahrheitsdefinition nicht mit Sprachreflexion vereinbar ist.[20] Anders gesagt: Man kann keine Brücke aus der Sprache heraus zur äußeren Wirklichkeit hin bauen. Meine Kopfwelt (das gilt auch für kollektives Verständnis) ist eine Sache,[21] die Gesamtwirklichkeit, in der ich stehe, eine andere. Beide sind qualitativ getrennt - so sehr meine Kopfwelt Element der Gesamtwirklichkeit ist.[22]

      3.4 Selbstverständlich ist meine Kopfwelt - und darum bemühen wir uns ja ein Leben lang - bildbar in Analogie zur äußeren Wirklichkeit. Wenn ich selber an einer Treppenstufe fünfmal gestolpert bin, bin ich in der Lage, für andere ein Warnschild zu schreiben, sie sprachlich zu warnen. Ich habe für mich selber eine zutreffende Erkenntnis gewonnen und kann im Rahmen der Sprachgemeinschaft diese auch weitervermitteln. Ebenso kann ein anderer mir - sprachlich - zusätzlich den Tip geben, Schuhe mit weniger rutschender Sohle anzuziehen. Er hat mir - sprachlich - einen Teil seiner Erfahrungen zur Verfügung gestellt. Meine Kopfwelt ist also bildbar aufgrund eigener und fremder Erfahrung. Dabei spielt die sprachliche Vermittlung die entscheidende Rolle. Es tut sich hier kein Weg auf, der aus der Sprache herausführen würde. Der Anstoß zum Lernen mag von außen kommen. Das Lernen selbst vollzieht sich dadurch, daß ich meine Wahrnehmung mit den bisherigen - codifizierten(!) - Wahrnehmungen vergleiche, also mit einem "System von Erwartungen".[23] Nehme ich auf dieser kulturell-geistigen Ebene Differenzen wahr, habe ich etwas hinzugelernt; bleiben Differenzen aus, interpretiere ich sie als Verstärkungen, Bestätigungen.[24]

      3.5 Sprachlich sehen richtige und falsche Aussagen gleich aus. Ich kann sagen: "Im Mikrophon ist Strom" oder "im Mikrophon ist Wasser".[25] Auf der Ebene der sprachlichen Äußerung ist die Richtigkeit oder Falschheit solcher Aussagen irrelevant. Stattdessen läuft beim Hören solcher Sätze ein spontaner Vergleich mit dem gespeicherten Wissen ab, mit den gespeicherten Erfahrungen. Es geht hier vor allem um ein Wissen, das auch andere teilen, das so weitgehend akzeptiert ist, daß es sogar Eingang in Lehrbücher der Physik fand. Und aufgrund dessen erfolgt dann die Beurteilung: "Der eine Satz ist falsch, der andere richtig". Aber auch in all dem kann ich zunächst nur geistig-sprachliche Operationen erkennen, keine Brücke aus der Sprache heraus zur Realität.[26]

      3.6 Noch komplexer verläuft die Wahrheitsprüfung, wenn wir geistige Modelle und Hypothesen zur Anwendung bringen. Die Parallelschaltung meiner Kopfwelt mit der äußeren Wirklichkeit nimmt sehr häufig komplexe Formen an. Wenn z.B. ein Detektiv einen Toten vorfindet, Fußabdrücke auf dem Teppich. Wenn der Teppichflor zwei Stunden nach der Tat in 45 % Neigung steht, so würde Sherlock Holmes wohl daraus folgern, daß der Täter 1,70 m groß ist, 75 kg schwer und blond. Eine geistig-sprachliche Hypothese in der Kopfwelt des Detektivs. Nichts anderes bei den Naturwissenschaften: Die Sonne dreht sich um die Erde. Nachdem sich gezeigt hat, daß einige wahrgenommene Fakten nicht in das geistige Modell integriert werden können, versucht man das ganze Modell umzudrehen: Die Erde dreht sich um die Sonne. Auch das eine rein geistig-sprachliche Operation. Der äußeren Wirklichkeit sind solche geistigen Umkehrungen, die doch eine geistige Revolution bedeuten, völlig gleichgültig. Setzt sich das Licht aus Partikeln oder aus Wellen zusammen? Für beides gibt es Beweise. Also scheint beides zu stimmen. Da aber nach dem Satz der Identität etwas nicht zugleich auch sein Gegenteil sein kann, muß ein anderer Aspekt relativiert werden. Da bleibt nur die Betrachterperspektive. Man kann also von der Hypothese ausgehen, ob denn vielleicht von ihr abhängt, ob das Licht sich als Partikel oder als Welle zeigt. Damit kommen wir in den Bereich der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik. Auch dies sprachlich-geistige Operationen, zu Anfang unseres Jahrhunderts ein intellektueller Streit unter Physikern. Dem Licht der Außenwelt ist dieses sprachliche Ringen gleichgültig.

      Differenzierte geistige Modelle können also - zumindest annäherungsweise - beanspruchen, der äußeren Wirklichkeit gerecht zu werden. Trifft dies zu, geht ein Modell nicht völlig in die Irre, so wird dann der Mörder tatsächlich gefangen, bzw. die weitere Erforschung der Planeten erschlossen, bzw. Atomphysik wird möglich.

      4. "Was ist Wahrheit?"

      4.1 Nochmals: Es geht nicht um philosophisch-dogmatische Definitionsfragen. Diese bleiben hier ausgeklammert. Stattdessen ist die Frage, was Sprache leisten kann und was nicht. So gesehen erscheint mir das Wort "Wahrheit" ein defizitäres Plakat zu sein. Es ist das Gegenteil von einem differenzierten geistigen Modell, wie es unter Ziff.3 skizziert wurde. Zur Problemlösung taugen derartige Modelle. Wort und Begriff "Wahrheit" dagegen lassen keine Differenzierung erkennen. Stattdessen - morphologisch betrachtet - ist "Wahrheit" ein Substantiv. Durch diese Wortform wird der sprachlich vermittelte Eindruck erweckt, es handle sich um etwas Substanz-haltiges, um ein Ding oder Objekt, etwas Sicheres, weil Identifizierbares. Diesen Eindruck vermitteln eben Substantive generell. Hier müssen wir aber sofort korrigieren (und nicht immer wird dies in Argumentationen getan), daß natürlich "Wahrheit" kein Objekt sei. Folglich bleibt der konnotierte Anschein von Sicherheit ein Anschein. Sprachkritisches Bewußtsein wird sich davon nicht beeindrucken lassen. - Ein drittes Defizit: Der Begriff "Wahrheit" ist ein rein formaler Begriff. Er ruft nach weiteren Informationen, die er selbst nicht bietet. Zumindest ist zu fragen nach der Wahrheit wessen, wovon? Nur von "Wahrheit" zu reden, ist eine Verkürzung. - Wir sahen, daß der Begriff "Wahrheit" entgegen dem grammatikalisch erweckten Eindruck kein Ding ist. Stattdessen handelt es sich um eine Abstraktion dritten Grades. Ab-straktion, d.h. daß Informationen "ab-gezogen" wurden, die zum Verständnis des Wortes wichtig wären. Folglich ist es ein leichtes, solche Abstraktionen rückgängig zu machen. Man braucht sie sprachlich nur in die dazugehörige Prädikation zurückzuverwandeln. Und in unserem Fall heißt die dazugehörige Prädikation: "X hält Y für wahr". Daß wir das Y nicht haben (= "Wahrheit wovon?"), wurde schon festgestellt. Bei dieser Rückverwandlung kommt nun aber auch das X in den Blick, das Subjekt, das für-wahr-hält. Nun ist also "Wahrheit" plötzlich keine subjektlose Entität mehr. Die Sichtbarmachung der Implikationen[27] bringt das einschätzende, denkende Subjekt wieder in den Blick.[28] Bei einem Satz wie: "Die Wahrheit wird euch frei machen" müßte also - damit er verstanden werden kann - präzisiert werden: "Wessen Wahrheit worüber wird euch ..., wessen Ansicht, wessen Urteil, wessen Einstellung zu welchem Sachverhalt ...".

      4.2 Wenn aber das Wort "Wahrheit" im Sprachgebrauch solche Defizite mit sich schleppt, warum wird es dann doch verwendet? Mir scheint, daß der Grund in dem erwähnten Anschein einer subjektlosen Objektivität liegt. Die substantivische Verwendung vermittelt Sicherheit. Sie verschleiert den subjektgebundenen Wahrnehmungsakt.[29] Der konnotierte Eindruck, es handle sich um ein abgeschlossenes Objekt,[30] vermittelt auch den Eindruck, es sei von der "vollen, ganzen Wahrheit" die Rede. Die Leerstelle beim Objekt (was wird wahrgenommen?) und der hohe Abstraktionsgrad verleiten, spontan alles hier unterzubringen, also genau dem zu erliegen, was oben schon (vgl. Ziff. 1.3.3) als sprachlicher Omnipotenzwahn beschrieben wurde.[31] Wie gesagt, das sind Effekte, die der Sprachgebrauch mit sich bringt, Effekte, die nicht speziell am Wort "Wahrheit" entwickelt wurden, die vielmehr basieren auf der Beobachtung unseres alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauchs (vgl. die Theorie von den "Pragmatischen Wortarten"). Diese Effekte können natürlich vermieden werden, indem reflex darauf Bezug genommen wird. Nur geschieht das - meinem Eindruck nach - nicht allzu häufig. Wortart und Sprachgebrauch verführen also den, der nicht darüber reflektiert, zur referentiellen Wahrheitsdefinition, die wir oben als nicht haltbar dargestellt haben. Stattdessen muß ein bewußter Umgang mit diesem Wort hervorheben, daß die sprachtheoretische Reflexion sich nur verträgt mit einem Wahrheitsverständnis, das die Sprachgemeinschaft ebenso berücksichtigt wie den Charakter der immer nur fragmentarisch möglichen Erkenntnis. Einzig ein Konzept, wie es Habermas entworfen hat, ist mit diesen Faktoren kompatibel, also ein Ringen von mehreren Subjekten um eine Thematik, frei von versteckten Nebenabsichten, im sogenannten "herrschaftsfreien Dialog".

      4.3 Nun mag einer einwenden: Wer sich des Wortes "Wahrheit" bedient, der ist ja gerade nicht an Herrschaft, sondern an Wissen und Erkenntnis interessiert. "Wahrheit" ist - wie wir sahen - ein epistemologischer Begriff.[32] Wer somit nur an Wahrheit interessiert ist, will gar nicht nach außen in großem Umfang handeln, schon gar nicht negativ gegen andere. Insofern ist das Stichwort "Wahrheit" mit - dem ersten Anschein nach - sympathischen Implikationen behaftet. Bei näherem Zusehen sieht das jedoch anders aus: "Jeder, der etwas wissen möchte, möchte es wissen, um etwas zu tun. Behauptet er, er möchte es nur wissen, um `zu wissen` und nicht, um `zu tun`, so bedeutet das, daß er es wissen möchte, um nichts zu tun, und das ist in Wahrheit eine versteckte Art, etwas zu tun, nämlich die Welt so zu lassen, wie sie ist (und - wie er durch sein Verhalten zu erkennen gibt - seiner Meinung nach auch sein sollte)."[33] Somit entpuppt sich auch dieser "sanfte", scheinbar absichtslose Rekurs auf die "Wahrheit" als potentiell ausgesprochen gewalttätig, weil verdeckt-emphatisch gegen verändern-wollende Zeitgenossen gerichtet.

      4.4 Ursprünglich auf die Literaturgeschichte bezogene Reflexionen[34] - entsprechend appliziert - besagen: Jede Äußerung ist eine Antwort auf eine Frage, auch wenn letztere unausgesprochen ist; zudem teilen Sprecher und Empfänger gemeinsame Wissensvoraussetzungen, die nicht problematisiert werden. Stellt nun ein Sprecher das Wort "Wahrheit" in seiner Äußerung heraus, problematisiert es also, so kann dies Reaktion auf die gemeinsame Wissensvoraussetzung sein, daß "Lüge" im Spiel ist. In der Alltagskommunikation spielt das Lexem "Wahrheit" keine große Rolle, da das Zusammenleben ohnehin verlangt, daß man sich in seinen Äußerungen möglichst realitätsgerecht verhält. Ohne diese selbstverständliche Grundvoraussetzung jeglicher Kommunikation[35] wäre ein äußeres und geistiges Zusammenleben nicht vorstellbar. Verwendet einer nun das Wort "Wahrheit", so problematisiert er etwas, was eigentlich selbstverständlich ist. Explizit von "Wahrheit" zu reden, muß somit durch irgendwelche Erfahrungen, dem Wissen um Verdächtigungen, Infragestellungen, veranlaßt, erzwungen sein. Das zeigt einerseits - von einer anderen Seite her -, daß das Wort "Wahrheit" genuin ein Kampfbegriff ist. Mehr psychologisch, auf die Opposition: bewußt vs. unbewußt anspielend, kann die Verwendung des Wortes auch so motiviert sein: Man gebraucht das Lexem "Wahrheit", weil man unbewußt weiß, daß man in Unwahrheit verstrickt ist. Davon aber soll - emphatisch - abgelenkt werden. Die Beteuerung der Wahrheit hat schließlich eine lange Tradition in der Lügenliteratur. Man sollte bei Verwendung des Wortes also zumindest die Gefahr sehen, daß die Rezipienten es instinktiv so verstehen, daß nun besonders große Lügen folgen. - Wenn das Wort jedoch besagen soll, daß "neue", "tiefere", bislang nicht-gekannte Wahrheiten zu erwarten sind, dann ist dafür Sorge zu tragen, daß durch entsprechende Erläuterung dieses zweite Verständnis sichergestellt und das erste umgangen wird. Aus sich heraus leistet das Wort "Wahrheit" dieses zweite Verständnis nicht.

      4.5 Sind also Bedingungen des "herrschaftsfreien Dialogs" nicht gegeben, so wird "Wahrheit" sehr schnell zum rein polemischen Begriff. Er lebt ja - so wie alles in der Sprache von der Differenz lebt - von der Opposition, d.h. der Begriff "Wahrheit" hat nur Sinn, wenn irgendwo "Unwahrheit" vermutet wird.[36] In dem skizzierten Globalsinn kann "Wahrheit" zu einer aktuellen Problemlösung nichts beitragen. Dafür ist der Begriff - wie erkannt - viel zu leer. In einem solchen Verständnis paßt dann der Begriff auch vorzüglich in den Kontext von Herrschaftsausübung (im direkten Gegensatz zum Verständnis von Habermas). Die Subjektgebundenheit jeder Erkenntnis (und sei dieses Subjekt - kirchlich gesprochen - ein ganzes Konzil) wird verschleiert, der Fragmentcharakter jeglicher Erkenntnis wird in dieser Verwendung verschleiert. Und schließlich werden "Kopfwelt" und außersprachliche Wirklichkeit zusammengesehen. Man redet in solcher Verwendung nicht mehr von der Möglichkeit, daß meine Kopfwelt, meine Sprache, meine Sprachregelungen möglicherweise an der außersprachlichen Wirklichkeit vorbeigehen könnten. Vielmehr ist es genau das Wesenselement in jedem Herrschaftssystem, daß behauptet wird, die eigene Sprache/Sprachregelung treffe genau die Wirklichkeit. Wer dagegen auf der Differenz besteht, auf eigenen, abweichenden Formulierungen, eigenen Erfahrungen und Einsichten, findet sich sehr schnell in der Rolle des Systemkritikers, des Ausgestoßenen wieder.[37]

      Angesichts solcher möglicher Formen von Mißbrauch des Wortes "Wahrheit" ist es ständig unsere Aufgabe, unsere Subjektivität positiv zu akzeptieren[38] und ebenso, daß Wirklichkeit und sprachlich gefaßte Meinung nie zusammenfallen. "Wahrheit" ist folglich kein Objekt, das der eine besitzt, der andere nicht. Da Wahrheit auf allen Seiten fragmentarisch ist, ist der einzige Weg weiterzukommen der repressionsfreie Dialog. Gerade in der Kirche eine oft utopische Hoffnung. Aber ich will diese Hoffnung verstärken und nicht etwa beiseiteräumen.

      Genau das ist auch mein Wunsch an den neuen Bischof: Er möge seinen Wahlspruch ("Veritatem in caritate") so interpretieren, daß die caritas dominiert. Tut sie das, dann ist die veritas nicht suspendiert. Nur in einem isolierten, kalten Sinn ist sie überflüssig. Durch die caritas kann aber die veritas eine neue Qualität bekommen, eine jesuanische Menschenfreundlichkeit.[39] Wer solches erkannt hat, - ich komme auf die Einleitung zurück - kann nicht "Demut" und "Wahrheitsbesitz" gegeneinander ausspielen.



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      1. Ergänzend kann man beobachten, "wie in großen Werken der Dichtung die Spannungen kultiviert werden zwischen der eigenen Unfähigkeit, das `unergründlich Vieldeutige` der eigenen Person zu erschließen, aber auch der `Angst..., restlos verstanden zu werden,` und der Bereitschaft, der fortwährend gegenwärtigen Wirksamkeit der Wahrheit im Unbestimmten, selbst in Betrug und Lüge zu folgen", WELKER,M, Wahrheit in: H.P. Müller (ed.), Was ist Wahrheit? Stuttgart 1989. S.106.

      2. "Die Kontinuität der Geschichte ist durch die Wirkmacht der menschlichen Natur, die notwendig allgemein verbindliche Momente in sich schließt, gewährleistet. Jede andere Betrachtungsweise kommt, wenn sie sich selbst ernst nimmt, zu einer Atomisierung des Lebens", MÖLLER, J, Geschichtlichkeit und Ungeschichtlichkeit der Wahrheit. In: Kath.-theol. Fakultät an der Universität Tübingen (Hrsg.), Theologie im Wandel (Festschrift), München 1967, S.15-40. - "Atomisierung" klingt pejorativ; ob eine "Kontinuität", die erst mit Hilfe einer hypostasierten Theorie sichtbar wird, dem Menschen aus Fleisch und Blut gerecht werden kann?

      3. Vgl. SCHWEIZER, H, Metaphorische Grammatik. Wege zur Integration von Grammatik und Textinterpretation in der Exegese. ATS 15. St.Ottilien 1981. S.224ff; ders. Biblische Texte verstehen. Arbeitsbuch zur Hermeneutik und Methodik der Bibelinterpretation. Stuttgart 1986. S.90ff zum Thema "Pragmatische Wortarten"

      4. Daher eignen sich Wörter dieser Abstraktionsebene bestens für pathetische Rede.

      5. Was die Wörter dieser Abstraktionsebene bezeichnen (=ihr Begriff), beansprucht uneingegrenzte All-Gültigkeit.

      6. "What else is knowledge but naming things and then talking about the names?", FRAWLEY,W, Text and Epistemology. Norwood 1987. S.XI.

      7. Vgl. die Beispiele zur "Segmentierung des semantischen Feldes" bei ECO, U, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. Supplemente 5. München 1987. S.113ff, mit denen E. erläutert, daß die Art, wie sich eine Gemeinschaft sprachlich zur äußeren Wirklichkeit verhält, immer durch kulturelle Bedingungen und "kulturelle Einheiten" bestimmt ist. Nie kann eine direkte Verbindung: Sprache => außersprachlicher Sachverhalt unterstellt werden. Vgl. auch MACKENSEN, L, Verführung durch Sprache. Manipulation als Versuchung. München 1973. S.26.

      8. ECO 40: "Der erste Arzt, der eine Art von konstantem Zusammenhang zwischen einer bestimmten Art roter Flecken auf dem Gesicht des Patienten und einer Krankheit (Masern) entdeckte, zog einen Schluß: Ist dieser Zusammenhang aber konventionell bestimmt und in medizinischen Werken als solcher registriert, so ist auch eine semiotische Konvention gesetzt worden. Ein Zeichen liegt immer dann vor, wenn eine menschliche Gruppe beschließt, etwas als Vehikel von etwas anderem zu benutzen und anzuerkennen."

      9. Vgl. in ThQ 169 (III/1989) die Beiträge von S.J.SCHMIDT und L.PANIER.

      10. H. GIPPER, Wahrheit als Sprachproblem, in: MÜLLER (1989) S.68-88, hier: 73. Demzufolge arbeitet G. heraus, daß Wort-für-Wort-Übertragungen unmöglich sind. Vielmehr kann es sich beim Übersetzen "nur um ein Transformieren, um ein Transponieren aus einer Weltsicht in eine andere handeln" (72). - Dem müßte allerdings weiter nachgegangen werden. Denn (a) kann es nicht darum gehen, jegliche freie Paraphrase als angemessene Übersetzung anzuerkennen; (b) kann oft ein hoher Prozentsatz tatsächlich und mit gutem Verstehen Wort für Wort übertragen werden (gutes Verstehen wegen stimmiger, nachvollziehbarer Bildhaftigkeit, bei lediglich in der eigenen Sprachgemeinschaft unüblichem Gebrauch dieser Ausdrucksweise).

      11. Die Relativierung rührt daher, daß mit einem solchen Ist-Satz unsere Aussagemöglichkeiten überfordert sind, vgl. auch oben Ziff.1.3.3.

      12. Vgl. ECO: "Die Untersuchung der semantischen Felder zeigt indessen, daß es (wenn man zum Beispiel von einer `Sprache` als einem Code spricht) erforderlich ist, eine große Zahl partieller Inhalts-Systeme (oder Felder) zu betrachten, die in unterschiedlicher Weise mit den Ausdruckseinheiten korreliert sind." (178f); "Es muß deshalb ein methodologisches Prinzip der semantischen Forschung bestehen, demzufolge in fast allen Fällen die Beschreibung von semantischen Feldern und Achsen nur dadurch zu erreichen ist, daß man die Kommunikationsbedingungen für eine bestimmte Botschaft untersucht."(183).

      13. Vgl. BUßMANN,H, Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart 1983: "Referenz. (1) Bezugnahme auf innersprachlichen und außersprachlichen Kontext durch sprachliche Mittel. (2) In der traditionellen Semantik Beziehung zwischen dem sprachlichen Ausdruck (Name, Wort) und dem Gegenstand der außersprachlichen Realität, auf den sich der Ausdruck bezieht"(428).

      14. W. BRUGGER, Philosophisches Wörterbuch. Freiburg 11.Aufl. 1964, 369.

      15. Ich klammere aus, daß ja auch bei dieser Aktion meine Kopfwelt in ihrem Erkenntnis- und Sprachvermögen ganz wesentlich gefordert ist. Letztlich kann eben ein in Frage stehendes Zeichen nur durch andere Zeichen erläutert werden, = nie abzuschließender Prozeß der Semiose.

      16. Stattdessen: "Wörter der höheren Abstraktionsebenen klingen so gut; sie können Werktagsüberdruß vertreiben; man nutzt sie für sich gern als seelisches Alibi", MACKENSEN, L (1973) 28.

      17. Eine solche Einstellung kennzeichnet jeglichen Fundamentalismus. FITZMYER,JA, Die Wahrheit der Evangelien. SBS 1. Stuttgart 1965. S.26, hebt hervor, daß die "Instructio de historica Evangeliorum veritate" vom 21. April 1964 in Abschnitt X dadurch eine nicht-fundamentalistische Position bezieht, daß die biblische Überlieferung nicht als bloße Weitergabe verstanden wird sondern als - je Überlieferungsphase - je neue Verkündigung (die es folglich differenziert und exegetisch aufwendig zu erheben gelte). Semiotisch (=antifundamentalistisch) gesprochen liegt darin nicht nur der Verweis auf die jeweilige Glaubens=Sprachgemeinschaft sondern auch das Wissen um die Veränderbarkeit des Inhalts der Sprachzeichen - je nach sozio-kulturellem Kontext.

      18. "Eine Zeichen-Funktion liegt immer dann vor, wenn es eine Möglichkeit zum Lügen gibt: das heißt, wenn man etwas signifizieren (und dann kommunizieren kann), dem kein realer Sachverhalt entspricht. Eine Theorie der Codes muß alles untersuchen, was man zum Lügen verwenden kann. Die Möglichkeit zum Lügen ist für die Semiose das proprium, so wie für die Scholastiker die Fähigkeit zum Lachen das proprium des Menschen als eines animal rationale war." ECO 89.

      19. Dagegen liest sich z.B. S.27 bei MÖLLER ganz individualistisch ("der Mensch denkt und plant in die Zukunft hinein, der Mensch blickt in die Vergangenheit zurück, der Mensch ist kulturschöpferisch, der Mensch ist ein sprechendes Wesen"). Selbst wenn man den Scheinsingular generisch versteht, so ist immer noch nicht der Gedanke der Interaktion dieser Subjekte, der hierbei erst sich bildenden Sprachwelt, ausgedrückt.

      20. ECO 91: "Doch vom Standpunkt des Funktionierens eines Codes (oder mehrerer Codes) aus muß der Referent (=außersprachlicher Sachverhalt, H.S.) als gefährlicher Eindringling ausgeschlossen werden, der die theoretische Reinheit der Theorie kompromittiert... (Es ist) daran festzuhalten, daß ein Ausdruck grundsätzlich keinen Gegenstand signifiziert, sondern vielmehr stets eine kulturelle Einheit übermittelt". - Das diametral entgegengesetzte Konzept einer Seinsunmittelbarkeit bei MÖLLER 32: "Wenn Wahrheit als Urteilswahrheit, als adaequatio intellectus et rei, überhaupt möglich sein soll, dann muß das Seiende, auf das unser Denken in der Aussage bezogen ist, zu uns hereinstehen. Damit aber das Seiende in der Aussage hereinstehen kann, muß der Mensch in seinem Verstehen das hereinstehende Seiende bereits grundsätzlich übergriffen haben."

      21. "Um die Geschichte der christlichen Theologie zu verstehen, muß man nicht wissen, ob dem Wort /Transsubstantiation/ ein spezifisches faktisches Phänomen entspricht (auch wenn für viele Menschen dieser Glaube von vitaler Bedeutung war). Aber man muß wissen, welche kulturelle Einheit ... dem Inhalt dieses Wortes korrespondierte...Die Tatsache, daß /Transsubstantiation/ für viele Menschen einem Ereignis oder Ding entsprach, läßt sich semiotisch dadurch erfassen, daß man sagt, dieses Ereignis oder Ding sei durch kulturelle Einheiten erklärbar gewesen. Sonst hätte es nämlich nie so etwas wie eine theologische Diskussion geben können, und die Gläubigen hätten weiter die Heilige Kommunion empfangen, ohne über die Menschen nachzudenken, die nicht daran glaubten. Vielmehr war es nötig, eine Welt zu konzipieren, die so aufgebaut war, daß eine kulturelle Einheit, die dieser /Transsubstantiation/ korrespondierte, einen Platz in ihr finden, das heißt ein präzise segmentiertes Stück des Inhalts eines bestimmten kulturellen Hintergrundes sein konnte." ECO 93.

      22. Vgl. das HJELSMLEV folgende hilfreiche Schema bei ECO 83.

      23. ECO 272, vgl. 276f.

      24. Vgl. WELKER,M in: MÜLLER (1989): "Pragmatisch helfen sich kompliziert und unübersichtlich gewordene Kulturen heute im schwieriger werdenden Umgang mit dem scheinbar so einfachen `Die-Wahrheit-Sagen` dadurch, daß sie die Formen individuellen Erlebens durch ein vielfältig standardisiertes Erziehungssystem hindurch kanalisieren und die erworbenen typischen Einstellungen zur Realität mit Hilfe der Massenmedienkommunikation täglich verstärken bzw. an ihnen nachbessern. Sie helfen sich gegenüber den konkreten Einzelfällen des trivialen Wahrheitsbedarfs mit einer überschwenglichen Vertrauensbereitschaft, einem enormen Kreditsystem der Wahrheit. Sie helfen sich schließlich mit hoher Privilegierung - oft in Form diffuser Hochachtung - der Personen und Institutionen, die die Pflege, Überprüfung und Korrektur der individuellen Bereitschaft und Fähigkeit, die Wahrheit zu sagen, übernommen haben" (102).

      25. "Der Code (=die Sprache, H.S.) hindert uns nicht, einen Satz zu verstehen, der allgemein für falsch gehalten wird. Er gestattet uns, ihn zu verstehen und zu verstehen, daß er `kulturell` falsch ist(95)...Man lacht, weil man das Signifikat des Satzes versteht, obwohl man erkennt, daß die Situation unwahrscheinlich ist." ECO 96.

      26. Dieser Unterschied scheint mir in ontologischer Diktion - vgl. MÖLLER 26 - verwischt zu werden.

      27. Zum methodischen Ort dieses Schritts vgl. SCHWEIZER (1986) 110f.

      28. Während in unserer Sicht dem der Sprachgemeinschaft angehörenden Subjekt eine entscheidende Rolle zukommt, wird in ontologischer Sicht "die Wahrheit" in hypostasierter Form selbst aktiv: "Der innere Bezug von solcher Freiheit zum Seienden als Seienden und damit zum Sein schlechthin läßt das Offenwerden von Sein als die ursprüngliche Weise der Wahrheit erscheinen, die sich im Menschen kundtut." MÖLLER 25.

      29. Vgl. WELKER: MÜLLER (1989) 103: "Die Wendung `Wahrheit ist Anverwandlung der Realität an das Menschgemäße, Assimilation der Umwelt zur menschlichen Eigenwelt` (H.-P. Müller) variiert die klassische Bestimmung, Wahrheit sei `adaequatio rei et intellectus`, sie sei `Anpassung von Sache und Vernunft`. Sie hebt Beschränkungen des Denkens und der Vorstellungskraft auf, die mit der klassischen Bestimmung verbunden waren und die viele enge, unzureichende und schiefe Auffassungen von `Wahrheit` mit sich brachten. Dabei handelt es sich vor allem um die unzureichende Vorstellung, `Wahrheit` sei angemessen zu erfassen und zu beschreiben im Blick auf die Vermittlung zweier Ebenen, nämlich einer außermentalen Gegenständlichkeit und des menschlichen Denkvermögens oder, noch irreführender, der `objektiven Gegenstände` und des `subjektiven menschlichen Denkens`." Es geht darum, "daß wir in vielfältiger Weise unsere Erlebens- und Erkenntnisweisen beständig aufeinander abstimmen und gegeneinander differenzieren" (105).

      30. Oder noch mehr verfremdet - in philosophischer Poesie - als personifizierte Größe (Anleihe bei der ägyptischen Göttin MAAT?): "In der Geschichtlichkeit des sich eröffnenden Seins zeigt sich uns die Lichtung und Verbergung der absoluten Wahrheit, die uns geschichtlich begegnet." MÖLLER 34f.

      31. "Übrigens: auch das Wort Wahrheit segelt heute genauso wie Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Treue, Ehre und viele andere unter der Quarantäneflagge, diese Begriffe sind samt und sonders verseucht - von Ideologie, Pragmatismus und Zwecklügen aller Art." (Stefan Andres), zitiert bei: WEINRICH,H, Linguistik der Lüge. Kann Sprache die Gedanken verbergen? Heidelberg 1974. S.35.

      32. Vgl. SCHWEIZER (1986) 59f: EPISTEMOLOGIE als wohl wichtigster Teilbereich im Rahmen der CODES/MODALITÄTEN, also der verschiedenen inneren Reaktionsmöglichkeiten des Menschen.

      33. ECO 55f.

      34. Von WEINRICH,H ( 1974) bes. 74.

      35. Vgl. den Verweis auf die "maxims of conversation" nach GRICE bei SCHWEIZER (1986) 81, speziell das "Qualitäts-Prinzip".

      36. Das ist ein genauso globaler sprachlicher Dualismus wie im Fall von "Negationen": Je wird die Welt in zwei Kategorien geteilt und zugleich bewertet. Darin liegt auch je mehr als nur eine intellektuelle Aussage; stattdessen liegen darin massive Appelle zur Solidarisierung, Handlungsaufforderungen und Warnungen. Vgl. SCHWEIZER (1986) 16-18.

      37. Vgl. SCHWEIZER,H "Anmerkungen zur Sprachverwendung in der Kirche": ThQ 166 (1986) 209-223 mit dem Hinweis auf ein Beispiel aus der DDR (210).

      38. Immerhin lädt das Grundbekenntnis der Inkarnation dazu ein. Mit diesem Ausblick schließt MÖLLER 40 auch seinen Beitrag.

      39. Mit unseren Reflexionen haben wir - nur in anderem, linguistischem Sprachspiel - eine Interpretation des Deuteropaulus (Eph 4,15) durch Paulus (1 Kor 13,8f) vollzogen: "Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden." - Es liegt also ein Beispiel dafür vor, daß inhaltliche Übereinstimmung (="Wahrheit" im kommunikativen Sinn) auch ohne vorfixierte äußere Sprachregelung möglich ist.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:14:52
      Beitrag Nr. 68 ()
      @Saarnuss

      Nö, ich halte mich nicht zurück. Mir geht das mit Tommmy so
      langsam wirklich auf den Geist. Dein Mann nutzt wirklich
      JEDE Gelegenheit um auf ihn einzuprügeln. Klar, Tommmy hat
      eine, nun sagen wir einmal, etwas seltaame Art. Ok,
      vielleicht hat er auch eine schleimige Art. Na und? Das
      muss man nicht mögen aber darum geht es auch nicht. Selbst
      Tommmy sagt ab und an mal was vernünftiges. Sowas ist mir
      allemal lieber als der offen vertretene Rassismus, den Dein
      Mann hier in der letzten Zeit an den Tag legt.



      @OTI Geh ficken ...


      agh
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:15:45
      Beitrag Nr. 69 ()
      Zur rechtlichen Zulässigkeit von e-Mail-Werbung (cold mailing?)

      Nachdem die Kommunikation per e-Mail sich im Wege der Entwicklung des WWW zunächst auf den privaten Bereich beschränkte, ist es heute auch in Deutschland durchaus üblich, dieses moderne Kommunikationsmittel auch im Geschäftsverkehr (B2B) zu nutzen.

      Insofern war es nur eine Frage der Zeit, wann findige Marketingabteilungen damit begannen, ihre Werbebotschaft per Mail zu versenden. Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der Zulässigkeit unerlaubt zugesandter Mails, d.h. der Absender steht in keinem geschäftlichen Kontakt zum Empfänger und verfügt auch nicht über dessen Erlaubnis.

      Dem Grunde nach ist die rechtliche Problematik keine andere als bei der Versendung eines Fax werbenden Inhalts. Insofern ist es verwunderlich, dass sich die Absender häufig überhaupt keine Gedanken über die Zulässigkeit ihres Handelns machen, obwohl sie um die Unzulässigkeit solcher Faxe wissen.

      Eine Frage der Zeit war es daher auch nur, bis sich das erste Gericht mit dieser Frage auseinanderzusetzen hatte. So entschied das Landgericht Traunstein in seinem Beschluss v. 18.12.97 (2 HKO 3755/97): "Die unverlangte Versendung von Werbung an private E-Mail-Anschlüsse ist wettbewerbswidrig". Das Gericht stützte seine Auffassung auf das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb, und dort auf § 1 UWG (Verstoss gegen die guten Sitten).

      Das Landgericht Berlin entschied dann in seinem Beschluss v. 14.5.1998 (16.O.301/98), dass diese Grundsätze auch dann gelten, wenn der Empfänger Freiberufler oder Gewerbetreibender ist. Diese Entscheidung wurde auch auf § 823 BGB gestützt. Danach ist auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geschützt.

      Diese Auffassung darf mittlerweile als herrschend bezeichnet werden. Abweichender Ansicht sind bislang die kürzlich getroffenen Entscheidungen des Amtsgerichts Kiel (Urteil v. 30.9.99 - 110 C 243/99) und des LG Braunschweig (Urt. v. 11.8.99 - 22 O 1683/99). Insbesondere das LG Braunschweig bezieht sich dabei auf die opt-out-Lösung der Fernabsatz-Richtlinie der EU (dazu unten unter "Annex").

      Für den Empfänger einer solchen e-Mail ergibt sich somit nach gegenwärtiger Rechtslage ein Unterlassungsanspruch. Ob die e-Mail genug Anlass dazu gibt, dem Absender eine Abmahnung zukommen zu lassen, ist Geschmackssache. Jedenfalls sollten Sie als Empfänger einer solchen Abmahnung nicht einfach wegschauen. Das wäre der schlechteste Rat, der erteilt werden könnte. Auch wenn Ihnen die Abmahnung suspekt und abwegig erscheint, sollten Sie sie ernst nehmen. Abmahnungen enthalten in diesem Fall eine strafbewehrte Unterlassungsverpflichtungserklärung, d.h. Sie gewährleisten mit Ihrer Unterschrift, dass sich ein solches Verhalten nicht wiederholt und verpflichten sich zur Kostenübernahme (Gerichts- und Anwaltskosten). Kommt der Absender dem Unterlassungsbegehren nicht nach, erlässt das Gericht auf Antrag des Empfängers eine einstweilige Verfügung. Dieser Beschluss ergeht i.d.R. ohne mündliche Verhandlung. Sie haben als Absender folglich keinen Einfluss auf die Entscheidung. Das Gericht stellt dann regelmässig fest, dass Sie es zu unterlassen haben, e-Mails werbenden Inhalts an den Empfänger zu senden, soweit kein geschäftlicher Kontakt oder eine Erlaubnis vorliegt. Dieser Tenor beeindruckt die wenigsten Absender solcher Mails. In der Praxis geht es daher dann auch regelmässig nur um die Kosten des Verfahrens. Der Wert einer e-Mail wird von den Gerichten mit DM 15.000,- beziffert. Im Falle gerichtlicher Inanspruchnahme können sich leicht DM 1.000,- an Kosten ergeben. Da stellt sich dann schon die Frage, ob das noch rentabel ist? Daran sollte man denken, will man den nächsten Spam rausschicken!

      Annex: die Fernabsatz-Richtlinie der europäischen Kommission geht auch in ihrer geänderten Fassung v. 23.7.99 für e-Mails davon aus, dass der Verbraucher mit diesem Medium angesprochen werden darf, solange er nicht seinen entgegenstehenden Willen bekundet hat (Art. 10 FARL), sog. opt-out-Lösung. Die zuvor beschriebene Rechtsprechung geht darüber hinaus (opt-in-Lösung) und wird daher bereits jetzt als richtlinienkonform angesehen.
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:16:54
      Beitrag Nr. 70 ()
      Dr_Hasenbein
      nein, bin kein Fan, habe nur auf Schalke gesetzt und meinen Einsatz verfünffacht
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:19:01
      Beitrag Nr. 71 ()
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      Calvin und die Demokratie
      Aufsatz für das Projekt "Religion und Freiheit" der A Lasco-Bibliothek in Emden
      1. Zum Problem des Themas | 2. Theologische Weichenstellung | 3. Die Gestalt der Kirche | 4. Das Verhältnis zum Staat | 5. Zusammenfassende Bemerkungen | Fußnoten


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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
      Dieses negative Urteil läßt sich wohl im einzelnen auch lockern - und das ist das Andere, was von der Forschung her zu sagen: Während eine Gruppe von Untersuchungen Calvin in der angedeuteten Weise als einen dezidierten Nicht- oder sogar Antidemokraten einschätzt, wird in einer andere Gruppe einiges dagegen geltend gemacht6, mit dem Resultat, daß Calvin doch so etwas wie eine "konservative Demokratie"7 bejaht oder akzeptiert habe, was heißen kann: eine "aristocracy tempered by democracy"8, oder umgekehrt: eine durch die Aristokratie "gemäßigte Demokratie"9, was aber wohl auf dasselbe hinausläuft. Das für unsere Thema eher negative Bild, wie es die Forschung zeigt, kann anscheinend nach der einen oder anderen Seite variiert, aber doch nur in einem ziemlich kleinen Spielraum variiert werden - solange wir uns darauf beschränken, hier nur Calvins unmittelbare Äußerungen zur Politik und sein praktisches Verhalten in dem damaligen Verhältnis von Christen- und Bürgergemeinde auszuwerten. Solange werden wir wahrscheinlich kaum etwas über die Grenzen dieses Spielraums Hinausweisendes sagen können und speziell nicht verstehen, inwiefern der sich demokratisch öffnende `Calvinismus` etwas mit Calvin zu tun hatte.
      Oder kann doch noch etwas darüber Hinausweisendes gesagt werden? Immerhin fällt auf, daß nicht wenige Forscher ihr in dieser Sache eher negatives Urteil zuletzt auch wieder einschränken können: Zwar habe Calvin "undemokratisch" gedacht, faktisch jedoch "stark auf demokratische Gedanken" hingewirkt und der Parole: Durch das Volk und für das Volk! Anerkennung verschafft.10 Zwar, "Calvin war kein Demokrat, kein Anwalt der Volkssouveränität ... Und doch fürchteten schon die Zeitgenossen die ... demokratisierende Wirkung des Genfer Calvinismus", und nicht zuunrecht, da er in Wahrheit "einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur künftigen Entwicklung freiheitlich-demokratischer Ideen geleistet hat"11. Zwar habe er Demokratie kaum gewollt und praktiziert, aber ihr gleichwohl durch seine "seeds of liberty"12 gründlich den Boden bereitet. Ob es wohl hinreicht, die da gesehene Spannung derart zu erklären, daß - ironischerweise - ein "System" Resultate zeitigen könne, die den Absichten seines Erfinders gänzlich entgegengesetzt sind13? Man kann und muß das ja wohl noch anders sagen in anbetracht dessen, daß man selbst bei dieser Deutung noch die Punkte angeben können müßte, die solche Wirkung hervorriefen - will man sie nicht als einen bloßen Gegenschlag ausgeben, was ja sicher unangemessen wäre. Sprechen wir also lieber die Vermutung aus, daß im `Denken` Calvins Türen geöffnet wurden, die er vielleicht nicht einmal oder noch nicht genau sah und durch die er jedenfalls noch nicht schritt, die dort aber doch geöffnet waren und durch die dann doch einmal geschritten werden konnte. Dabei mag es immerhin auch so sein, daß die, die dann durch sie hindurchschritten, zwar auch eine Konsequenz zogen, die er noch nicht gezogen hatte und die sie doch von ihm her ziehen konnten, aber daß sie dabei faktisch auch etwas preisgaben und verloren von dem, was er in seiner Ausgangsstellung noch an grundlegenden, überlegenen Einsichten hatte.

      2. Theologische Weichenstellung
      Im "Denken" Calvins! Wir haben uns vor allen Dingen klar zu machen, was in soviel Literatur zu unserem Thema nicht klar ist: daß Calvin in erster und entscheidender Linie nun einmal Theologe und nicht Politiker war und daß seine Stellung zur Politik ein Anhang, eine Zutat zu seiner Theologie ist. Aber in welchem Sinn? Nicht im Sinn einer Vermischung von Theologie und Politik - dagegen hat er sich sogar überdeutlich abgegrenzt (4, 20,1)14! Und darum auch nicht in dem Sinn, daß er seine politischen Ansichten dadurch, daß er sie als Theologe machte, sakrosankt machen wollte! Aber das bedeutete nun auch nicht, daß er bei seinen politischen Äußerungen das Gewand des Theologen ablegte, um es gegen das eines Politikers einzutauschen. Er war ja in Personalunion beides, Glied der Kirche Jesu Christi und Mitbürger eines Staats. Aber er war beides so, daß er zuerst das Eine und dann erst auch das Zweite war. Theologie und Politik war für ihn auch in dem präzisen Sinn zweierlei, daß er eben zuerst christlicher Theologe war und zwar so, daß er dann auch in seiner Stellung zur Politik nicht aufhörte, zuerst Theologe zu sein. Darum ist die erste Frage im Blick auf den Staat für ihn nicht die: Was ist der Staat? Was ist seine wünschbare Gestalt und Aufgabe? Und wie kann `ich` mich dabei einbringen? Seine erste Frage lautet: Was heißt Gehorsam gegen Gott angesichts dessen, daß es neben und außer der Kirche auch den Staat gibt und daß die Kirchenglieder auch noch Mitbürger eines Staates sind? "Es geht ihm nicht um den Staat, er denkt nicht vom Staat aus, sondern bei Anlaß des Staates und über ihn von Gott aus."15 Das wird durch den Titel unterstrichen, unter dem er in Buch IV seiner "Institutio" davon redet: De politica administratione. Während fast 95 Prozent des Buches IV von der Kirche handeln, und zwar unter dem Leitbegriff ihres Zeugnis gebenden "Dienstes" (ministerium) am Wort Gottes, steht seine knappe Behandlung des Staates eben unter dem Leitwort: ad-ministratio, was natürlich "Regierung" heißt, was aber auch deutlich an die wörtliche Bedeutung des Begriffs anspielt: Zu-Dienung, Hilfeleistung. Gemeint ist nicht das Plumpe, daß der Staat der Kirche zuzudienen habe (obwohl es zwar auch richtig ist, daß die Existenz des rechten Staates auch der Kirche einen Dienst erweist, den sie als solche nicht leisten kann und für den sie dankbar zu sein hat), aber dies, daß der Staat in einer zudienlichen Weise zu den "äußeren Mitteln und Beihilfen" gehört, "mit denen Gott (!) uns zur Gemeinde (societas) Christi einlädt und in ihr erhält" (so der Titel des ganzen Buches IV). Augenscheinlich interessiert sich Calvin am Staat vor allem insofern, als er solche "ad-ministratio" ist.
      Aber was heißt das? Etwa das? "Pour Calvin, Dieu est le seul souverain", und eben dadurch sei bei ihm schon im Ansatz der `demokratische` Gedanke ausgeschlossen, "que le peuple puisse etre considéré comme le Souverain dont émane tout pouvoir."16 Dieser Gedanke ist in der Forschung in einer bestimmten Weise so sehr Allgemeingut, daß H. Vahle angesichts der Literatur zu unserem Themas folgende Alternative formulieren konnte:
      "Wer ... demokratische Elemente bei den Calvinisten zu entdecken glaubte, der neigte dazu, die Souveränität Gottes dahingehend zu relativieren, daß die Regierungen (zwar) `von Gott` seien ..., daß aber letztlich immer die souveränen Völker die Herrscher einsetzen. Wer jedoch demokratische Elemente verneinte, der setzte stets das Theorem von der göttlichen Souveränität absolut."17

      Diese Sätze decken ja zunächst nur, aber wohl zutreffend eine Gesetzmäßigkeit in Interpretationen des Verhältnisses zwischen Calvin und "Calvinismus" einerseits und deren beider Beziehung zur Demokratie andererseits auf. Demnach kommt umso demokratie-freundlicher die Volkssouveränität zum Zuge, je mehr die (calvinische) Hervorhebung der Souveränität Gottes eingeschränkt wird - und umgekehrt. Diese Alternative ist die Anwendung einer auch sonst bis heute herrschenden Denkweise, daß sich die menschliche Freiheit umso mehr entfalten kann, je mehr Gott "relativ", um nicht zu sagen: schwach gedacht werde, während ein Ernstnehmen der unbedingten Souveränität Gottes zu Lasten der menschlichen Freiheit gehe. Es ist indes eine fundamentale Frage, ob die behauptete Alternative nicht einem Verstehen des anstehenden Sach
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      Calvin und die Demokratie
      Aufsatz für das Projekt "Religion und Freiheit" der A Lasco-Bibliothek in Emden
      1. Zum Problem des Themas | 2. Theologische Weichenstellung | 3. Die Gestalt der Kirche | 4. Das Verhältnis zum Staat | 5. Zusammenfassende Bemerkungen | Fußnoten


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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
      Dieses negative Urteil läßt sich wohl im einzelnen auch lockern - und das ist das Andere, was von der Forschung her zu sagen: Während eine Gruppe vo
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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
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      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
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      schrieb am 14.04.01 20:19:07
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      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
      Dieses negative Urteil läßt sich wohl im einzelnen auch lockern - und das ist das Andere, was von der Forschung her zu sagen: Während eine Gruppe von Untersuchungen Calvin in der angedeuteten Weise als einen dezidierten Nicht- oder sogar Antidemokraten einschätzt, wird in einer andere Gruppe einiges dagegen geltend gemacht6, mit dem Resultat, daß Calvin doch so etwas wie eine "konservative Demokratie"7 bejaht oder akzeptiert habe, was heißen kann: eine "aristocracy tempered by democracy"8, oder umgekehrt: eine durch die Aristokratie "gemäßigte Demokratie"9, was aber wohl auf dasselbe hinausläuft. Das für unsere Thema eher negative Bild, wie es die Forschung zeigt, kann anscheinend nach der einen oder anderen Seite variiert, aber doch nur in einem ziemlich kleinen Spielraum variiert werden - solange wir uns darauf beschränken, hier nur Calvins unmittelbare Äußerungen zur Politik und sein praktisches Verhalten in dem damaligen Verhältnis von Christen- und Bürgergemeinde auszuwerten. Solange werden wir wahrscheinlich kaum etwas über die Grenzen dieses Spielraums Hinausweisendes sagen können und speziell nicht verstehen, inwiefern der sich demokratisch öffnende `Calvinismus` etwas mit Calvin zu tun hatte.
      Oder kann doch noch etwas darüber Hinausweisendes gesagt werden? Immerhin fällt auf, daß nicht wenige Forscher ihr in dieser Sache eher negatives Urteil zuletzt auch wieder einschränken können: Zwar habe Calvin "undemokratisch" gedacht, faktisch jedoch "stark auf demokratische Gedanken" hingewirkt und der Parole: Durch das Volk und für das Volk! Anerkennung verschafft.10 Zwar, "Calvin war kein Demokrat, kein Anwalt der Volkssouveränität ... Und doch fürchteten schon die Zeitgenossen die ... demokratisierende Wirkung des Genfer Calvinismus", und nicht zuunrecht, da er in Wahrheit "einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur künftigen Entwicklung freiheitlich-demokratischer Ideen geleistet hat"11. Zwar habe er Demokratie kaum gewollt und praktiziert, aber ihr gleichwohl durch seine "seeds of liberty"12 gründlich den Boden bereitet. Ob es wohl hinreicht, die da gesehene Spannung derart zu erklären, daß - ironischerweise - ein "System" Resultate zeitigen könne, die den Absichten seines Erfinders gänzlich entgegengesetzt sind13? Man kann und muß das ja wohl noch anders sagen in anbetracht dessen, daß man selbst bei dieser Deutung noch die Punkte angeben können müßte, die solche Wirkung hervorriefen - will man sie nicht als einen bloßen Gegenschlag ausgeben, was ja sicher unangemessen wäre. Sprechen wir also lieber die Vermutung aus, daß im `Denken` Calvins Türen geöffnet wurden, die er vielleicht nicht einmal oder noch nicht genau sah und durch die er jedenfalls noch nicht schritt, die dort aber doch geöffnet waren und durch die dann doch einmal geschritten werden konnte. Dabei mag es immerhin auch so sein, daß die, die dann durch sie hindurchschritten, zwar auch eine Konsequenz zogen, die er noch nicht gezogen hatte und die sie doch von ihm her ziehen konnten, aber daß sie dabei faktisch auch etwas preisgaben und verloren von dem, was er in seiner Ausgangsstellung noch an grundlegenden, überlegenen Einsichten hatte.

      2. Theologische Weichenstellung
      Im "Denken" Calvins! Wir haben uns vor allen Dingen klar zu machen, was in soviel Literatur zu unserem Thema nicht klar ist: daß Calvin in erster und entscheidender Linie nun einmal Theologe und nicht Politiker war und daß seine Stellung zur Politik ein Anhang, eine Zutat zu seiner Theologie ist. Aber in welchem Sinn? Nicht im Sinn einer Vermischung von Theologie und Politik - dagegen hat er sich sogar überdeutlich abgegrenzt (4, 20,1)14! Und darum auch nicht in dem Sinn, daß er seine politischen Ansichten dadurch, daß er sie als Theologe machte, sakrosankt machen wollte! Aber das bedeutete nun auch nicht, daß er bei seinen politischen Äußerungen das Ge
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      schrieb am 14.04.01 20:19:09
      Beitrag Nr. 79 ()
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      Calvin und die Demokratie
      Aufsatz für das Projekt "Religion und Freiheit" der A Lasco-Bibliothek in Emden
      1. Zum Problem des Themas | 2. Theologische Weichenstellung | 3. Die Gestalt der Kirche | 4. Das Verhältnis zum Staat | 5. Zusammenfassende Bemerkungen | Fußnoten


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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
      Dieses negative Urteil läßt sich wohl im einzelnen auch lockern - und das ist das Andere, was von der Forschung her zu sagen: Während eine Gruppe vo
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      schrieb am 14.04.01 20:19:20
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      Calvin und die Demokratie
      Aufsatz für das Projekt "Religion und Freiheit" der A Lasco-Bibliothek in Emden
      1. Zum Problem des Themas | 2. Theologische Weichenstellung | 3. Die Gestalt der Kirche | 4. Das Verhältnis zum Staat | 5. Zusammenfassende Bemerkungen | Fußnoten


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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
      Dieses negative Urteil läßt sich wohl im einzelnen auch lockern - und das ist das Andere, was von der Forschung her zu sagen: Während eine Gruppe von Untersuchungen Calvin in der angedeuteten Weise als einen dezidierten Nicht- oder sogar Antidemokraten einschätzt, wird in einer andere Gruppe einiges dagegen geltend gemacht6, mit dem Resultat, daß Calvin doch so etwas wie eine "konservative Demokratie"7 bejaht oder akzeptiert habe, was heißen kann: eine "aristocracy tempered by democracy"8, oder umgekehrt: eine durch die Aristokratie "gemäßigte Demokratie"9, was aber wohl auf dasselbe hinausläuft. Das für unsere Thema eher negative Bild, wie es die Forschung zeigt, kann anscheinend nach der einen oder anderen Seite variiert, aber doch nur in einem ziemlich kleinen Spielraum variiert werden - solange wir uns darauf beschränken, hier nur Calvins unmittelbare Äußerungen zur Politik und sein praktisches Verhalten in dem damaligen Verhältnis von Christen- und Bürgergemeinde auszuwerten. Solange werden wir wahrscheinlich kaum etwas über die Grenzen dieses Spielraums Hinausweisendes sagen können und speziell nicht verstehen, inwiefern der sich demokratisch öffnende `Calvinismus` etwas mit Calvin zu tun hatte.
      Oder kann doch noch etwas darüber Hinausweisendes gesagt werden? Immerhin fällt auf, daß nicht wenige Forscher ihr in dieser Sache eher negatives Urteil zuletzt auch wieder einschränken können: Zwar habe Calvin "undemokratisch" gedacht, faktisch jedoch "stark auf demokratische Gedanken" hingewirkt und der Parole: Durch das Volk und für das Volk! Anerkennung verschafft.10 Zwar, "Calvin war kein Demokrat, kein Anwalt der Volkssouveränität ... Und doch fürchteten schon die Zeitgenossen die ... demokratisierende Wirkung des Genfer Calvinismus", und nicht zuunrecht, da er in Wahrheit "einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur künftigen Entwicklung freiheitlich-demokratischer Ideen geleistet hat"11. Zwar habe er Demokratie kaum gewollt und praktiziert, aber ihr gleichwohl durch seine "seeds of liberty"12 gründlich den Boden bereitet. Ob es wohl hinreicht, die da gesehene Spannung derart zu erklären, daß - ironischerweise - ein "System" Resultate zeitigen könne, die den Absichten seines Erfinders gänzlich entgegengesetzt sind13? Man kann und muß das ja wohl noch anders sagen in anbetracht dessen, daß man selbst bei dieser Deutung noch die Punkte angeben können müßte, die solche Wirkung hervorriefen - will man sie nicht als einen bloßen Gegenschlag ausgeben, was ja sicher unangemessen wäre. Sprechen wir also lieber die Vermutung aus, daß im `Denken` Calvins Türen geöffnet wurden, die er vielleicht nicht einmal oder noch nicht genau sah und durch die er jedenfalls noch nicht schritt, die dort aber doch geöffnet waren und durch die dann doch einmal geschritten werden konnte. Dabei mag es immerhin auch so sein, daß die, die dann durch sie hindurchschritten, zwar auch eine Konsequenz zogen, die er noch nicht gezogen hatte und die sie doch von ihm her ziehen konnten, aber daß sie dabei faktisch auch etwas preisgaben und verloren von dem, was er in seiner Ausgangsstellung noch an grundlegenden, überlegenen Einsichten hatte.

      2. Theologische Weichenstellung
      Im "Denken" Calvins! Wir haben uns vor allen Dingen klar zu machen, was in soviel Literatur zu unserem Thema nicht klar ist: daß Calvin in erster und entscheidender Linie nun einmal Theologe und nicht Politiker war und daß seine Stellung zur Politik ein Anhang, eine Zutat zu seiner Theologie ist. Aber in welchem Sinn? Nicht im Sinn einer Vermischung von Theologie und Politik - dagegen hat er sich sogar überdeutlich abgegrenzt (4, 20,1)14! Und darum auch nicht in dem Sinn, daß er seine politischen Ansichten dadurch, daß er sie als Theologe machte, sakrosankt machen wollte! Aber das bedeutete nun auch nicht, daß er bei seinen politischen Äußerungen das Gewand des Theologen ablegte, um es gegen das eines Politikers einzutauschen. Er war ja in Personalunion beides, Glied der Kirche Jesu Christi und Mitbürger eines Staats. Aber er war beides so, daß er zuerst das Eine und dann erst auch das Zweite war. Theologie und Politik war für ihn auch in dem präzisen Sinn zweierlei, daß er eben zuerst christlicher Theologe war und zwar so, daß er dann auch in seiner Stellung zur Politik nicht aufhörte, zuerst Theologe zu sein. Darum ist die erste Frage im Blick auf den Staat für ihn nicht die: Was ist der Staat? Was ist seine wünschbare Gestalt und Aufgabe? Und wie kann `ich` mich dabei einbringen? Seine erste Frage lautet: Was heißt Gehorsam gegen Gott angesichts dessen, daß es neben und außer der Kirche auch den Staat gibt und daß die Kirchenglieder auch noch Mitbürger eines Staates sind? "Es geht ihm nicht um den Staat, er denkt nicht vom Staat aus, sondern bei Anlaß des Staates und über ihn von Gott aus."15 Das wird durch den Titel unterstrichen, unter dem er in Buch IV seiner "Institutio" davon redet: De politica administratione. Während fast 95 Prozent des Buches IV von der Kirche handeln, und zwar unter dem Leitbegriff ihres Zeugnis gebenden "Dienstes" (ministerium) am Wort Gottes, steht seine knappe Behandlung des Staates eben unter dem Leitwort: ad-ministratio, was natürlich "Regierung" heißt, was aber auch deutlich an die wörtliche Bedeutung des Begriffs anspielt: Zu-Dienung, Hilfeleistung. Gemeint ist nicht das Plumpe, daß der Staat der Kirche zuzudienen habe (obwohl es zwar auch richtig ist, daß die Existenz des rechten Staates auch der Kirche einen Dienst erweist, den sie als solche nicht leisten kann und für den sie dankbar zu sein hat), aber dies, daß der Staat in einer zudienlichen Weise zu den "äußeren Mitteln und Beihilfen" gehört, "mit denen Gott (!) uns zur Gemeinde (societas) Christi einlädt und in ihr erhält" (so der Titel des ganzen Buches IV). Augenscheinlich interessiert sich Calvin am Staat vor allem insofern, als er solche "ad-ministratio" ist.
      Aber was heißt das? Etwa das? "Pour Calvin, Dieu est le seul souverain", und eben dadurch sei bei ihm schon im Ansatz der `demokratische` Gedanke ausgeschlossen, "que le peuple puisse etre considéré comme le Souverain dont émane tout pouvoir."16 Dieser Gedanke ist in der Forschung in einer bestimmten Weise so sehr Allgemeingut, daß H. Vahle angesichts der Literatur zu unserem Themas folgende Alternative formulieren konnte:
      "Wer ... demokratische Elemente bei den Calvinisten zu entdecken glaubte, der neigte dazu, die Souveränität Gottes dahingehend zu relativieren, daß die Regierungen (zwar) `von Gott` seien ..., daß aber letztlich immer die souveränen Völker die Herrscher einsetzen. Wer jedoch demokratische Elemente verneinte, der setzte stets das Theorem von der göttlichen Souveränität absolut."17

      Diese Sätze decken ja zunächst nur, aber wohl zutreffend eine Gesetzmäßigkeit in Interpretationen des Verhältnisses zwischen Calvin und "Calvinismus" einerseits und deren beider Beziehung zur Demokratie andererseits auf. Demnach kommt umso demokratie-freundlicher die Volkssouveränität zum Zuge, je mehr die (calvinische) Hervorhebung der Souveränität Gottes eingeschränkt wird - und umgekehrt. Diese Alternative ist die Anwendung einer auch sonst bis heute herrschenden Denkweise, daß sich die menschliche Freiheit umso mehr entfalten kann, je mehr Gott "relativ", um nicht zu sagen: schwach gedacht werde, während ein Ernstnehmen der unbedingten Souveränität Gottes zu Lasten der menschlichen Freiheit gehe. Es ist indes eine fundamentale Frage, ob die behauptete Alternative nicht einem Verstehen des anstehenden Sachverhalts im Wege steht. Es sei versucht, diese Frage etwas näher zu erläutern und zu bedenken.
      Wir könnten Calvins theologische Zentralerkenntnis hier für einmal auch mit der Formel der "Souveränität Gottes" bezeichnen.18 Sie steht ja schon hinter seiner inneren Nötigung, auch im Verhältnis zum Staat zuerst Christ und Theologe zu sein. Es bedarf zum Verständnis dieser Formel indes einiger Erläuterungen, um sehen zu können, daß die Souveränität Gottes und die Freiheit des Volks nicht notwendig einen Gegensatz bilden. Zunächst: Es geht bei Calvin um die Souveränität des Gottes des Evangeliums und darum in ihr nicht um eine abstrakte Überlegenheit und Mächtigkeit. Seine Theologie hat darum nicht einen, sondern zwei Brennpunkte: "Ehre Gottes" (seine gerechte Souveränität) und "Heil des Menschen" (seine "Erlösung" durch Gottes Barmherzigkeit).19 Beide stehen und bleiben wohl in Spannung zueinander20, aber beziehen sich auch aufeinander. Denn "Gott hat nach seiner unendlichen Güte alles so eingerichtet, daß nichts (!) zu seiner Verherrlichung dient, was nicht auch zugleich uns heilsam ist."21 Es sei schon angemerkt, daß sich in Calvins Sicht der inhaltlichen Aufgabe des staatlichen Regiments beides widerspiegelt: Sorge für die Gottesverehrung - sagen wir: Sorge für den äußeren Rechtsschutz des kirchlichen Gottesdienstes22 und Sorge für die gesellschaftliche humanitas, für das Gemeinwohl aller und für den Frieden (communis omnium salus et pax) (4,20.9.3). Indem Calvins Theologie mit dem erstem auch jenen zweiten Brennpunkt hat, ist mit der Souveränität Gottes nun doch keine schrankenlose, `absolute` Herrschaft gemeint - wohl seine ihm rechtmäßig zukommende, gerechte und gebieterische Macht, seine Macht, in der er nicht aufhören kann, sondern daran `gebunden` ist, in allem, was er tut, Gott zu sein, aber so auch seine Macht, die nicht im Widerspruch steht zu dem, was er faktisch in der und laut der biblisch bezeugten Geschichte tut, nicht im Widerspruch zu seinem tätigen, guten Willen zu Gunsten und zur Befreiung des Menschen. Aufgrund dieser Beziehung ist die Bedeutung der "Souveränität Gottes" konkret im Zusammenhang mit der Erkenntnis des ersten Gebots zu suchen, ohne die für Calvin uns auch Gottes Wohltat zum Heil des Menschen mißverständlich würde, nämlich so, als bestehe seine Wohltat in der Befriedigung (falscher) menschlicher Selbstliebe. In seiner Souveränität behauptet sich Gott - gemäß dem ersten Gebot - als der, dessen Geschöpf der Mensch und der nicht Geschöpf des Menschen ist. In ihr stellt Gott also klar, daß wir das "salus hominum" nicht uns selbst, sondern allein Gott verdanken.
      Jenen zwei Brennpunkten im Zentrum von Calvins Theologie entspricht bei ihm ein ebenfalls polares menschliches Gottesverhältnis: Dem Heil aus Gottes reiner Barmherzigkeit entspricht der Glaube an den Freispruch des Menschen aus Gnade ohne Rücksicht auf Verdienst und Würdigkeit; der frei-souveränen Ehre Gottes entspricht der Gehorsam des Menschen aufgrund dessen, daß wir, weil wir nicht Schöpfer Gottes, sondern Geschöpfe Gottes sind, ihm und nicht uns selbst gehören (nostri non sumus, sed Domini); darum haben die Menschen nicht "sich selbst zu gehorchen", sondern dem vorangehenden Gott (Dominum praeeuntem sequi) (3,7.1; vgl. 2,8.14; 4,10.7). Aber indem diese letztere Erkenntnis im Zusammenhang mit der des ersten Gebots zu verstehen ist, liegt der Ton dabei nicht einfach darauf, daß wir zu gehorchen, sondern darauf, daß wir Gott zu gehorchen haben. Das wirft die Frage auf, wem wir legitimerweise gehorchen? Die Antwort, daß wir legitimerweise allein Gott zu gehorchen haben, schließt die Erkenntnis in sich, daß aller Gehorsam gegen Menschen, der Gehorsam im Widerspruch zu Gott ist, illegitim ist. Es ist für reformiertes Denken von Anfang an überhaupt typisch, daß zwar im Blick auf das "Heil der Menschen" klar die Alternative gilt: erlöst nur aus Gottes Gnade und nicht aus Verdienst der Werke, aber im Blick auf das menschliche Handeln die andere Alternative: Gottes Gebot und nicht "menschliche Satzung"23. Für Calvin bedeutet das zwar keinen Freibrief zur Respektlosigkeit gegenüber menschlichen Autoritäten - indem wir sie respektieren, bekunden wir gewissermaßen dies, daß wir nicht "uns selbst" gehorchen, und anerkennen so, daß Gott an uns nicht handelt, ohne sich ihres "ministerium", ihres Dienstes zu bedienen. Aber er bedient sich ihrer, ohne ihnen "sein Recht und seine Ehre zu übertragen" (non ad eos ius suum honoremque transferendo) (4,3.1.). "Als ob Gott auf sein Recht verzichtet hätte zugunsten von Sterblichen, wenn er diesen die Leitung des menschlichen Geschlechts übertrug" (4,20.32)!24 Gott gegenüber sind auch sämtliche irdischen Herrscher, wie nach Calvin vor allem anderen (inprimis) zu beachten ist, nicht mehr als bloße Untertanen (ebd.). So wenig also das Gebot, Gott zu gehorchen, ein Freibrief zur Verwerfung irdischer Autoritäten ist, so wenig bedeutet deren Dienst, zu dem sie Gott einsetzt, deren Aufwertung zu einer göttlichen Autorität und eine Erlaubnis zur Vergewaltigung der Rechte des Volks - das ist es wohl, was Calvin die "Freiheit des Volks" (populi libertas - 4,20.31) nennt. Damit, daß alle, Regierende und Regierte, der Autorität Gottes `untertan` sind, werden irdische Autoritäten zwar nicht aufgehoben, aber auch nicht glorifiziert, sondern in einer Weise relativiert, die eine Identifizierung irdischer Autoritäten mit der Autorität Gottes ausschließt und verhindert, daß der Gehorsam gegen Gott psychologisch als Einübung allgemein in eine Untertanenmentalität, in eine blinde Folgsamkeit gegen `wen und was auch immer` verstanden werden kann. Vielmehr drängt der Gehorsam gegen Gott als solcher - nicht zu einer grundsätzlichen Negierung, aber zur grundsätzlichen Unterscheidung seines Anspruchs von allen anderen und so im Kern zu einem kritisch-prüfenden Umgang mit diesen anderen, nur irdisch-menschlichen Ansprüchen.25 Dem entspricht, daß die Teilhabe aller Christen am königlichen Amt Christi zentral in der "liberté de conscience"26, in der "Gewissensfreiheit" besteht: in der im Gehorsam gegen Gott begründeten Freiheit gegenüber allen irdischen Ansprüchen.
      Wenn Gottes heilsamer Wille zur befreienden Erlösung der Menschen und sein Anspruch auf ihren Gehorsam nicht einander widersprechen, dann ist dieser Gehorsam nun aber nicht bloß so zu verstehen, daß er in "christliche Freiheit" gegenüber anderen Gehorsamsansprüchen stellt. Dann könnte er solche Freiheit gegenüber diesen nicht sein, wenn nicht der Gehorsam gegenüber Gott auch als solcher so in der Verbindung mit der "christlichen Freiheit" stünde, daß er selbst nicht als blinde Unterwürfigkeit verstanden werden darf. In der Tat betont Calvin, daß überhaupt Gottes noch so bestimmendes Wirken an uns nicht unser verantwortliches Eigenwirken aufheben kann und will (1,17.3.5.; 1,18.2: optime conveniant hanc duo inter se). Darum legt er Wert darauf, daß Gottes Gebieten und unsere Aufgabe, ihm nachzukommen, normalerweise keinen Zwang bedeutet (2,8.14). Mit Zwang verwechselbarer oder erzwungener Gehorsam ist noch nicht der von Gott gewollte Gehorsam.27 Rechter Gehorsam gegen Gott ist somit gar nicht unmittelbar möglich, sondern nur in einem zuvor durch Liebe geschaffenen Vertrauensverhältnis. "Niemand wird sich frei und willig dem Gehorsam gegen Gott unterziehen, der nicht seine väterliche Liebe gekostet und dadurch bewegt wurde, ihn zu lieben und zu ehren" (1,5.3). Aber es geht dabei nicht um eine raffinierte Methode zur Herstellung des Gehorsams; sondern er ist so sehr selbst Gestalt der Liebe zu Gott, daß es erst dann bei uns zu rechtem Gehorsam gegen Gott gekommen ist, wenn wir ihm freiwillig gehorchen - in einem "freiwilligen Gehorsam" (voluntarium obsequium - 3,20.42f.), in der Lust und Freude zum Folgen (obsequendi alacritas - 3,3.15). Und so gehorcht unser Gewissen erst dann Gott und seinem Willen, wenn es das tut "nicht gleichsam durch eine gesetzliche Nötigung erzwungen, sondern freiwillig, befreit vom Joch des Gesetzes" (3,19.4). Es entspricht hier dem souveränen Gott zwar kein ebenso `souveräner` Mensch; es besteht nun einmal zwischen Gott und Mensch ein unumkehrbares Verhältnis, in dem Gott vorangeht und der Mensch folgt. Aber die Souveränität Gottes ist hier in einer Weise gefaßt, daß sie auch nicht als Verfügung zu blinder Unterwürfigkeit über den Menschen kommt, sondern als der von gesetzlichen Ansprüchen befreiende Anspruch zu "freiem Gehorsam". Wenn das Wort "frei" dabei ernstgemeint ist, dann besagt es anderes als die Zustimmung eines Geketteten zu seinen ohnehin nicht zu beseitigenden Ketten; dann bezeichnet es die eigene, einsichtige, verantwortliche Bejahung und Anerkennung der Legitimität jenes Verhältnisses, in dem Gott uns vorangeht und wir ihm folgen. Wo blinde Unterwerfung ist, da ist unverantwortliche Menschenmasse. Ist aber der rechte Gehorsam, der gegenüber Gott, freier Gehorsam, so ist er der Gehorsam eines verantwortlichen, mündigen Subjekts, ohne dessen Existenz ja auch jene für den Gehorsam gegen Gott wesentlich erforderliche Unterscheidung zwischen seinem Anspruch und anderen Ansprüchen nicht nachvollziehbar wäre.
      Nun erfährt die so zu verstehende `Souveränität Gottes` eine weitere Beleuchtung dadurch, daß durch sie speziell ein tiefgreifender Unterschied gesetzt wird zwischen einem "geistlichen Reich" (regnum spirituale) und der "bürgerlichen Einrichtung" (civilis ordinatio), bzw. dem "politischen Reich" (regnum politicum) (4,20.1; 3,19.15). Jenes, kann Calvin im Anschluß an paulinische Terminologie sagen, betreffe den "inneren", dieses den "äußeren Menschen". Aber zugleich sagt er, diese Terminologie wohl zutreffend deutend: Jenes beziehe sich auf das "zukünftige ewige Leben" (futuram aeternamque vitam) und dieses auf das "gegenwärtige vergehende Leben" (praesentem fluxamque vitam) (4,20.1). Calvin sagt sogar, daß wir es dabei, kraft dieses Unterschieds, gleichsam mit "zwei Welten" zu tun haben, "in denen verschiedene Herrscher und verschiedene Gesetze regieren können" (3,19.15). Aber was bedeutet diese Unterscheidung? Macht sie Christen zu Bürgern zweier Reiche, die sich innerlich-seelisch und äußerlich-leiblich je nach ganz anderen "Herrschern und Gesetzen" zu richten haben?
      Die Sache ist komplexer. Indem die Christen jedenfalls von jenem kommenden Reich wissen, bricht es bei ihnen schon in einem "gewissen geringen Anfang" (initia caelestis regni quaedam, 14,20.2) an. Aber dieser Anfang besteht darin, daß sie damit zu Hoffenden und in der Hoffnung auf dieses Reich zu aufbrechenden, mobilen Pilgrimen auf der Erde (peregrinari super terram, ebd.) werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie damit der Erde entfliehen können oder gar dürfen. Indem Gott selbst zwischen beiden "Reichen" den Unterschied setzt, qualifiziert er beide in bestimmter Weise, aber zieht er selbst sich nicht zurück von dem einen, um nur in dem anderen zu regieren. Er qualifiziert damit das "politische Reich" als ein zeitliches, vergehendes, als ein Provisorium; aber so läßt er es gelten und "löscht" nicht etwa "das gegenwärtige Leben aus" (ebd.). Nur als solches Provisorium will er es anerkennen. Aber so erkannt er es an, will es so auch von den Christen anerkannt wissen und will, daß es darin so menschlich zugehe, daß, wer es auslöschen wollte, die Menschlichkeit auslöschen würde; und er will also, daß, solange noch unsere irdische Pilgerschaft währt, in diesem "politischen Reich" - neben dem Schutz der äußeren Gestalt des Gottesdienstes - die Aufgabe angegriffen wird, daß "unser Leben zur menschlichen Gesellschaft gestaltet, unsere Sitte zur bürgerlichen Gerechtigkeit geformt wird, wir verträglich miteinander umgehen und ein allgemeiner Friede und öffentliche Ruhe herrsche" (ebd.). Indem Gott den Unterschied zwischen den beiden Reichen setzt und indem er in diesem Unterschied beide anerkennt, sind wir Menschen auch im politischen Reich nicht seinem Gebot, dem Gebot zur Wahrnehmung dieser Aufgabe entzogen. Christen können und sollen darum diese staatliche Aufgabe bejahen. Aber gerade sie wissen dabei auch, daß alle staatliche Bemühung einen grundsätzlich provisorischen Charakter hat, so daß darüber, in welcher Weise und Form der Staat dieser Aufgabe relativ am besten nachkommt, immer wieder frei und nie abschließend erwogen werden kann und muß. Dieselbe Erkenntnis hält aber auch für Christen die Frage offen, ob oder wie sie die faktische Handhabung des bürgerlichen Reichs durch seine verantwortlichen Leiter anerkennen und unterstützen oder notfalls sich ihr verweigern. Dieselbe Erkenntnis hindert jedoch die Christen auch an dem Wahn, "das Reich Christi unter den Elementen dieser Welt zu suchen oder einzuschließen" (4,20.1), d.h. an dem Wahn, als hätten ihre eigenen Vorschläge und Beiträge zur Handhabung der politischen Aufgabe mehr als eben auch nur einen provisorischen, relativen Charakter.
      Gewiß folgert Calvin nicht aus der "Souveränität Gottes" das Recht und die Pflicht einer Demokratie. Er folgert daraus überhaupt nicht die absolute Notwendigkeit einer bestimmten Staatsform. Aber - und das ist zunächst wichtig zu sehen: Es entspricht der "Souveränität Gottes" auch keine allgemeine Untertanenmentalität, auch keine religiöse Sanktionierung autoritärer politischer Herrschaft. Der "freie Gehorsam" gegenüber dem Anspruch Gottes bewährt sich ja gerade in der Nicht-Identifizierung göttlicher mit irgendwelchen irdischen Ansprüchen. Diese Nicht-Identifizierung bedeutet deren Relativierung. Würde man diese irdischen Ansprüche überhaupt aufheben (während wir noch im Pilgrimstand sind), um an ihrer Stelle jenes "geistliche Reich" zu errichten, so könnte das nur bedeuten, daß dann entweder dieses Reich zu etwas Zeitlich-Relativem gemacht oder umgekehrt ein Relatives `verabsolutiert` würde. Im Rahmen des Relativen, des Vorläufigen und Provisorischen hat der Staat eine legitime Aufgabe und haben seine Organe auch eine legitime Autorität, die christlich anzuerkennen ist, deren Ausübung aber eben darum zugleich auch grundsätzlich relativ, korrigierbar und überprüfbar ist. Ohne ihrerseits diesen Rahmen verlassen zu dürfen, haben Christen einen freien Spielraum, sich an der politischen Aufgabe zu beteiligen, sei es in der Unterstützung und Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung, sei es im Versuch zur Verbesserung seiner Gestalt und der Wahrnehmung seiner Aufgabe, sei es notfalls auch in Gestalt von bestimmten Verweigerungen. Der entscheidende Punkt ist bei dem allem die Anerkennung der politischen Aufgabe und der staatlichen Autorität unter der Voraussetzung ihrer Relativierung durch den `souveränen` Gott. Im Einschärfen dieses Punkts hat Calvin, wie er auch damals faktisch politisch votiert und agiert haben mag, eine Atmosphäre geschaffen, die einem sich gleichsam an Gottes Stelle setzenden Obrigkeitsstaat abträglich und der Vorbereitung eines `demokratischen` Denkens zuträglich war.


      3. Die Gestalt der Kirche
      Dem, daß Calvin zuerst Theologe und Christ und erst dann auch Bürger war, entspricht, daß wir nicht nicht von seinem Verhältnis zur Politik sprechen können, ohne zuvor nun auch von seiner Bemühung um die Kirche und ihre rechte Gestalt zu reden.28 In dieser Vorordnung der Frage nach der Kirche vor der nach dem Staat geht es nicht um die Wahrung eines Überlegenheits-Interesses, vielmehr um die Einsicht: Die Kirche treibt dann am besten auch `Politik`, wenn sie darum besorgt ist, daß sie - in ihrer Verkündigung und Gestalt - Kirche und als Kirche in Ordnung ist.Die Reformatoren waren sich darin einig, daß die sichtbare Kirche nicht ohne bestimmte Ordnung und Rechtsgestalt existieren kann. Im Protest gegen die römische Rechtskirche, in der einerseits die Bischöfe wie und als weltliche Herrscher auftreten konnten, in der andererseits das Kirchenrecht als "göttliches Recht" ausgegeben wurde, waren sich die lutherische und zwinglische Reformation überdies einig, daß die Kirche sich ihre Ordnung und äußere Gestalt von der `Obrigkeit` geben lassen soll und kann, weil es dabei ja nur um die äußerliche, weltlich-sichtbare Erscheinung der Kirche geht, weil sie aber auch faktisch mit einer `christlichen Obrigkeit` rechnen zu dürfen meinten. Calvin begann gegenüber dieser Lösung kritisch zu werden - wohl auch durch unliebsame Erfahrungen mit einem unliebsamen Hineinregieren des Staats in die Kirche bei einem `Staatskirchentum`29, aber auch angesichts der Notwendigkeit der hugenottischen Kirche, sich ohne oder gegen staatliche Einsprüche zu organisieren. Demgegenüber hat Calvin im Prinzip die Entscheidung gefällt, daß die Kirche ihre Ordnung sich selbst gibt - eine Entscheidung, deren Konsequenz er kaum ahnen konnte, weil sie letztlich zur Trennung der Kirche von einem `weltanschaulich neutralen` Staat führte. Diese Konsequenz wollte Calvin wohl nicht; er sah ja für den Staat auch die Aufgabe der Sorge für das Einhalten der ersten Tafel des Dekalogs, d.h. für den Schutz des Gottesdienstes vor. Gleichwohl hat er dieser Entscheidung die Bahn gebrochen. Ausschlaggebend war dafür wieder ein theologischer Grund: Jedenfalls die Kirche kann und soll die "Autorität Gottes" kennen und sich nach ihr richten. Darum hat sie dafür einzustehen, daß ihre "menschlichen Satzungen" (humanae constitutiones) in ihrer sichtbaren Gestalt - zuerst gerade nicht auf die sonst im sichtbaren, weltlichen (staatlichen) Raum geltenden Gesetze, sondern "auf die Autorität Gottes begründet und aus der Schrift genommen" sind. Und das so, daß diese ihre Satzungen dafür sorgen, daß sie eben Kirche ist und in ihrer äußeren Gestalt weder ein Anhängsel an den Staat noch ein Staat wie der weltliche Staat! Freilich, die Kirche ist jene noch auf Erden wandernde Pilgerschar. Darum sind ihre Ordnungen nicht "göttliches Recht" (ius divinum), sondern eben "menschliche Satzungen", nicht heilsnotwendig, keine unveränderliche Ordnungen, sondern zeitlich, variabel und korrigibel (4,10.30). Sie sind unter den jeweiligen Umständen zu fassen, aber so, daß sie jeweils beides in Einklang zu bringen versuchen: das Zusammenleben in Liebe und die Respektierung der Freiheit der Gewissen, um eben damit ihre Ausrichtung auf die "Autorität Gottes" bezeugen. Ob nicht in solcher Auffassung die Erwartung gehegt wurde, daß eine Kirchenordnung, die als "menschliche Satzung" das leistet, mit den entsprechenden Umsetzungen auch für die Gestaltung des bürgerlichen Gemeinwesens vorbildlich sein könnte?
      Zunächst, eine kirchliche Ordnung ist nach Calvin um der Gemeinschaft und der gegenseitigen Liebe willen nötig (ad communem usum - ut communi officio alatur inter nos charitas, 4,10.28). Es geht dabei um mehr als um das, was Calvin zwar auch nüchtern nennt: um eine gewisse Einschränkung der persönlichen Freiheit zugunsten eines untumultuösen, anständigen Auskommens miteinander. Es geht dabei vor allem um die Berücksichtigung der Liebe (charitatis ratio, 4,10.32). Die Gestalt der Kirche hat dem zu entsprechen, daß sie der gegenseitigen Liebe, der sozialen Kommunikation im Leben der Kirche Raum gibt.
      "Nach der Ordnung werden die Heiligen zur Gesellschaft (societas) Christi versammelt, daß sie die Wohltaten, die Gott ihnen gewährt, gegenseitig sich einander mitteilen (communicent) ... Es kann nämlich nicht anders zugehen, wenn sie überzeugt sind, daß Gott für sie alle der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, daß sie als solche, die in geschwisterlicher Liebe einander verbunden sind, einander gegenseitig das Ihre mitteilen" (4,1.3).

      Wenn wir ferner bedenken, daß für Calvin konkret die Abendmahlsfeier Ansatz für seine Fassung der Kirchenordnung war, so haben die Sätze Gewicht, mit denen er die Bedeutung des Mahls für das Zusammenleben der Gemeinde umschreibt:

      "Wir können nicht mit unseren Brüdern in Zwietracht leben, ohne zugleich mit Christus in Zwietracht zu sein. Wir können Christus nicht lieben, ohne daß wir ihn in unseren Brüdern lieben. Die Sorge, die wir um unseren Leib tragen, müssen wir auch an unsere Brüder wenden, die doch Glieder an unserem Leibe sind; und wie kein Stück unseres Leibes von irgendeinem Schmerzempfinden berührt wird, das sich nicht zugleich auf alle anderen übertragen wird, so können können wir es auch nicht ertragen, daß ein Bruder von irgendeinem Übel befallen wird, das wir nicht auch selbst durchlitten" (4,17.38).

      Es läßt sich von hier aus die These von Erik Wolf verstehen und vertreten: "Eine bruderschaftliche Verfassung ... muß jeder calvinistischen Sozialordnung als eine Grundforderung christlicher Lebensgemeinschaft erscheinen."30 Jedenfalls muß nach Calvin die Ordnung der Kirche durch die Dimension solidarischer Gemeinschaft und der Verantwortung füreinander ausgezeichnet sein.
      E. Wolf setzt hinzu, daß diese "bruderschaftliche Verfassung" bei Calvin "auf selbstverantwortliche Mitregierung jedes einzelnen Gemeindemitglieds ... gegründet ist." Nun, Calvin hat auch hier mehr nur eine Tür entdeckt, als daß er durch sie hindurchgeschritten wäre und dem organisatorisch Raum gegeben hätte.31 Aber richtig ist, daß er sich in dieser Richtung bewegt hat, indem für ihn die soziale Dimension der Kirche nicht auf Kosten der Freiheit ihrer Glieder hervorgehoben werden darf. Ist der "Befreier" (liberator) Christus ihr König, dann gilt: "Von dem Gesetz der Freiheit (libertatis lege), nämlich vom heiligen Wort des Evangeliums, müssen sie regiert werden (regantur) ...: keine Knechtschaft darf sie mehr festhalten, keine Fesseln dürfen sie mehr binden" (4,10.1). Aber wiederum kann diese `christliche Freiheit` nicht bloß als Vorbehalt gegenüber einer Kirchenordnung vestanden werden, sondern muß sie Gestalt und Ordnung der Kirche selbst bestimmen - und erst dann würden der Aspekt der Gemeinschaft und der Freiheit einander ergänzen und bedingen. Tatsächlich hat Calvin den Weg dafür geöffnet, indem für ihn jeder Christ kraft seines Glaubens (also nicht aufgrund der Einsetzung und Erlaubnis eines kirchlichen Amts und darum auch nicht als dessen Handlanger, nicht als `Mitarbeiter` des Pfarrers) am dreifachen Amt Christi - als König, Priester und Prophet - aktiv teilhat.32 In dieser Beziehung steht für ihn kein Christ über und keiner unter den anderen, sondern stehen alle in eigener Freiheit nebeneinander. "Die Kirche hat Christus zu ihrem einzigen Haupte, unter dessen Herrschaft wir alle miteinander verbunden sind." (4,6.9). Im Blick darauf kann man im Ansatz bis Calvin zurückverfolgen, was K. Barth über die synodale Tradition des Reformiertentums sagte: "Ihre formelle Aristokratie ist doch nur repräsentative Demokratie, Korrelat der Autokratie Christi. Kein Amt, kein Klerus darf sich hineinschieben zwischen den Imperator Christus im Himmel und die auf Erden souveräne christliche Landsgemeinde."33 Wie sehr für Calvin immerhin schon Christsein mündiges Christsein heißt, zeigt seine förmliche Definition der Kirchengliedschaft: Als "Glieder der Kirche" hätten die zu gelten, "die durch das Bekenntnis (confessione) des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und die durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen (profitentur)" (4,1.8). Das Gemeinte wird durch seinen Brief an wegen ihres Glaubenszeugnisses inhaftierte Frauen in Paris illustriert:

      "Und wenn sie aus dem Geschlecht oder äußeren Stand Anlaß nehmen, ganz besonders über uns herzufallen (wir sehen ja, wie sie über Frauen und einfache Handwerker spotten, als käme es denen nicht zu, von Gott zu reden und ihr Seelenheil zu kennen!), so müssen wir sehen, wie Gott täglich wirkt durch das Zeugnis von Frauen und seine Feinde bestürzt macht." "Da es ... Gott gefallen hat, Euch zu berufen so gut wie die Männer (denn vor ihm gilt nicht Mann noch Weib), so müßt Ihr auch Eure Pflicht tun ... und dürft ... nicht feige sein." "Da wir alle zusammen unser Heil haben in ihn, müssen wir einmütig, Männer wie Frauen, seine Sache führen."34

      Gewiß kennt und befürwortet Calvin auch eine Leitung der Gemeinde, doch strikt in der Klammer, daß Christus und sein Wort hier allein die "Regierung" (imperium) hat: "Er allein soll in der Kirche bestimmen und leiten (regere et regnare)" (4,3.1). Das hat zur Folge, daß die Kirchenleiter dann nicht als `Kirchenobere`, als `Amtsträger`, sondern als Diener (ministri) Christi zu verstehen sind. Konkretes Zeichen dafür ist, daß nach Calvin die Gemeindeleitung strikt nicht bloß einem Einzelnen, sondern einem Kollegium obliegt, und zwar einem, in dem das dreifache Amt Christi sich widerspiegelt in einer Auffächerung von drei verschiedenen, von einander getrennten Funktionen: Dem prophetischen Amt Christi entspricht die Verkündigungs- und Unterrichtsaufgabe, dem königlichen der kirchenleitende Dienst des Presbyteriums und dem priesterlichen Amt Christi die diakonische Armenfürsorge. Was die Gemeindeleitung in diesen drei Funktionen tut, kann den Gemeindegliedern aber darum keine fremde Herrschaft über sie sein, weil ja zugleich jeder Christ als solcher in der Teilhabe an Christus an allen drei Funktionen teilhat und sie in sich vereint. Wiederum, in der offiziellen Gestalt der Gemeindeleitung kommt es offenbar auf eine `Gewaltenteilung`35 oder vielmehr Funktionen-Auffächerung an und darauf, daß diese drei Aufgaben gerade nicht in einer Hand vereinigt sind. Die "formelle Aristokratie" der Gemeindeleitung ist somit faktisch in der Tat, als "Korrelat der Autokratie Christi", eine "repräsentative Demokratie".
      Diese These ist nicht weither geholt. Denn Calvin vollzog in seiner Ämterlehre bewußt eine tief greifende Korrektur am römischen `System`, in dem nach seiner Sicht im Papsttum als dem sichtbaren Stellvertreter Christi eben diese drei Funktionen in einer Hand vereint sind: das oberste Priesteramt (summum sacerdotium, 4,6.2), die Autorität zur Aufstellung von Glaubenssätzen (authoritas dogmatum tradendorum, 4,8.1) und die gesetzgebende Gewalt (potestas in legibus ferendis, Titel zu 4,10), also kurz, die Priester-, die Lehr- und die Rechts-Gewalt. Es war ein folgenschwerer Schritt, daß Calvin dagegen lehrte, daß diese dreifache "Gewalt" ausschließlich Christus und kein irdischer `Stellvertreter` innehat, doch so, daß alle im Glauben an Christus gleichermaßen an diesem dreifachen Amt Christi teilhaben - während er kategorisch bestritt, daß in der öffentlichen Repräsentation der Kirche in ihrer Leitung "ein einziger Mensch der ganzen Kirche vorstehe" (hominum unum praeesse). Eine solche "Monarchie" sei schon in der bürgerlichen Welt "vollkommen absurd" (absurdissimum), aber in der Kirche ein "Riesenunrecht" (insignis iniuria) gegen Christus (4,6.9). Sondern in ihrer öffentlichen Repräsentation - zum konkreten Zeichen dafür, daß sie Christus als das alleinige Haupt der Kirche nicht ersetzen kann, aber wohl auch dafür, daß sie die Freiheit aller Christen zu und in der Teilhabe am dreifachen Amt Christi nicht verdrängen darf - müssen jene drei Funktionen in mehrere Hände gelegt werden. Dadurch wandelt sich jenes `System` aber in bemerkenswerter Weise. Denn zum einen kann und soll die Ausübung jener drei Funktionen nun nicht mehr eigentlich als Ausübung von Gewalt verstanden werden. "Die Kirche hat nicht Macht, einen Zwang auszuüben (cogendi potestas), und soll sie auch nicht begehren (4,11.16). Zum anderen wandelt sich damit auch der inhaltliche Sinn jener drei Funktionen: Die Lehrgewalt zur Dogmen-Aufstellung wird zum Verkündigungsamt (samt der ihm zugeordneten Unterweisung), die Jurisdiktions-Gewalt wird zur Aufgabe der (vor allem seelsorgerlichen) Gemeindeaufsicht, damit "die Glieder des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden leben" (14,12.1); und die priesterliche Gewalt wird zum fürsorgerlichen Dienst an den schwächsten dieser `Glieder`36. So repräsentiert die Gemeindeleitung die Vielfalt des von Christus regierten Lebens seiner Gemeinde.
      Daß die Kirche sich ihre Ordnung selbst gibt, daß diese Ordnung aber nach den jeweiligen Umständen variabel ist, und das erst recht, indem sie sich ja als eine mobile Pilgerschaft versteht, daß ihre Gestalt jedoch bestimmt sein muß einerseits durch die Gemeinschaft gegenseitig verbundener Glieder, andererseits durch die Freiheit der Glieder in Betätigung ihrer Teilhabe am dreifachen Amt Christi, daß schließlich die Gemeindeleitung durch eine Aufteilung in verschiedenen Funktionen charakterisiert sein soll - alle diese Erkenntnisse fließen in einer weiteren Entscheidung zusammen, die das Gesicht des Reformiertentums bis heute prägt und sich in seiner schwer `unter einen Hut` zu bringenden Mannigfaltigkeit ausprägt. Diese ist keine zufällige, sondern eine absichtlich gewollte. Es zeigt sich ja in den eben genannten Erkenntnissen eine Sicht von Kirche, die sie zuerst und bevorzugt in einer konkret bei ihrer Verantwortung behaftbaren, darum lokal oder regional überblickbaren Schar erkennt. In der Tat betont Calvin, daß jede einzelne Gemeinde - nicht eine Filiale der Kirche ist, so daß `die` Kirche oberhalb der Einzelkirche läge oder erst durch den Zusammenschluß mit anderen Einzelgemeinden zur Kirche würde; sondern "eine jede Gemeinde hat mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche inne" (4,1.9). Calvin folgert das aus der gemeinreformatorischen Erkenntnis, daß die Kirche da sichtbar ist, "wo Gottes Wort rein verkündigt und (!) gehört wird, wo wir die Sakramente nach der Einrichtung Christi austeilt sehen" (ebd.). Eben daraus zieht er die Konsequenz, daß die konkret an einem Ort versammelte Kirche im Vollsinn Kirche ist. Gewiß kennt er auch "die universale Kirche": die Gesamtheit der Kirchen, die, räumlich getrennt, in der Wahrheit der göttlichen Lehre und durch die gleiche Gottesverehrung verbunden sind (ebd.). Diese Kirchen können und sollen in freiem, geschwisterlichen Kontakt stehen. Sie können darüber hinaus auch gemeinsame Beschlüsse fassen, aber - und das ist hier das Entscheidende - das nur durch das Zusammentreten von Delegierten aus Pfarramt und Presbyterium der Einzelgemeinden. Die Zusammensetzung eines solchen Zusammentritts aus Delegierten ist darum wesentlich nötig, weil nur so im Blick auf für alle Einzelgemeinden verbindliche Beschlüsse der Grundsatz durchführbar ist, den Calvin 1559 mit Bedacht an die Spitze der von ihm für die Hugenottenkirche verfaßten "Discipline ecclesiastique" setzte und der ja die genaue rechtliche Anwendung der Erkenntnis ist, daß jede Einzelkirche im Vollsinn Kirche ist: "Erstens gilt, daß keine Kirche sich Vorherrschaft und Beherrschung gegenüber einer anderen anmaßen darf".37 Das ist im Kern das `synodale Prinzip`, in dem es zu überörtlichen Verbindlichkeiten nur auf dem Weg eben von `Synoden` kommt, die `von unten`, von der Basis der einzelnen Ortsgemeinden beschickt sind. Hier ist die Wurzel für das typisch `reformierte` Mißtrauen gegen alles `Oben` zu sehen, gegen oberhalb der Gemeinden und außer ihrer Kontrolle sich bildende Machtzentren, die doch über sie befinden. Hier ist aber zugleich auch die Wurzel für die spezifisch `reformierte` ökumenische Offenheit, weil man dabei ja doch mit Anderen verkehren kann, ohne Angst davor, von ihnen beherrscht werden zu müssen, aber auch ohne die Bedingung, daß die Anderen zuvor unter das eigene Dach gebracht werden müssen.38 Hierher gehört auch das eigentümliche Faktum, daß die reformierte Familie selbst zwar in verschiedenen Regionen mannigfache Bekenntnisse und Kirchenordnungen hervorgebracht hat, doch bis heute unter Verzicht auf ein sie im ganzen umfassendes reformiertes Bekenntnis und auf eine einheitliche Kirchenordnung. Wahrscheinlich hat das alte Reformiertentum an keinem Punkt unmittelbarer ein demokratisches Denken und Verfahren befruchtet als durch diese, zuletzt auf Calvin zurückgehende Konzeption von synodaler Gestaltung der Kirche und durch die dadurch geprägte Mentalität.


      4. Das Verhältnis zum Staat
      Es ist nach allem klar - und man muß das bei der Behandlung dieses Gebiets vor Augen haben: daß die Frage des Verhältnisses zum politischen Raum für Calvin nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Bedeutung eines Bei-Läufigen hat. Es scheine, so beginnt er seine Ausführungen in der Institutio dazu (4,20.1), diese Frage sogar gar nichts zu tun haben mit der "Unterweisung im geistlichen Glauben, die zu behandeln ich unternommen habe". Wenn es dennoch dazu eine "Nötigung" gebe, dann zunächst nur wegen zwei im Blick darauf drohenden Gefahren, die allerdings diesen Glauben so berühren, daß ohne Widerspruch gegen sie "die Reinheit des Glaubens (fidei sinceritas) zugrunde gehen würde". Die eine geht von Christen aus, die unter Berufung auf Gott den Staat verwerfen - und sich damit vielmehr gegen Gott wenden. Die andere geht von staatlichen Herrschern aus, die ihre Macht so maßlos ausüben, daß sie damit in ihrer anderer Weise "dem Regiment Gottes selbst widerstehen" (Dei ipsius imperio opponere). Weil damit, so oder so, letztlich die "Reinheit des Glaubens" auf dem Spiel steht, darum ist nun allerdings die "Unterweisung im geistlichen Glauben" herausgefordert, sich auch zu dieser ganzen Frage zu äußern. Calvin tut das, indem er einen Doppelseatz aufstellt und im Grunde nur ihn immer wieder durchdekliniert: einen, der jene den Glauben antastende Doppelgefahr gründlich ausräumen soll.
      Zum ersten: Der Staat muß nicht anders sein, als er ist, damit Christen im Glauben Gott gehorsam sein können. Denn kein Staat, er mag sein und handeln, wie er will, kann sie ja an solchem Gehorsam hindern. Liest man Calvins in diesen Zusammenhang gehörigen Aussagen im Gefälle dieser Akzentuierung, dann ist von Anfang an klar, daß es dabei nicht um eine Legitimierung jedweden Staats geht, sondern um die vorrangige Sorge darum, daß Christen bei aller Beschäftigung auch mit dem Staat nicht ihre Christlichkeit verleugnen. Darum sollen sie selbst dann, wenn Staatslenker sich direkt gegen Gott stellen und damit auch ihren Gehorsam gegen Gott antasten, sich klar machen, "daß wir jenen Gehorsam, den der Herr verlangt, dann leisten, wenn wir lieber alles Erdenkliche leiden, als von der Frömmigkeit zu weichen" (4,20.32). Insofern haben wir in diesem Gehorsam dann zu leiden und auch dann nicht etwa gegen den Staat zu kämpfen und einen anderen herzustellen, als wir auch angesichts und inmitten eines Staates, der ist, wie er in diesem Extremfall ist, keinen Grund haben, vom Glaubensgehorsam gegen Gott zu weichen. Gerade in diesem Gehorsam dürfen wir nicht sagen: Erst wenn die und die politischen Bedingungen erfüllt sind und der Staat so und so gestaltet sein wird, wird solcher Gehorsam möglich sein. Keine staatlichen Zustände stellen dem Glaubensgehorsam solche Bedingungen. Er wird weder durch bessere Zustände ermöglicht noch durch schlechtere verunmöglicht. In dem Sinn hebt Calvin hervor, "daß Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind" (4,20.1). In dem Sinn sagt er sogar das Provozierende: "Geistliche Freiheit kann mit politischer Knechtschaft bestens bestehen" (ebd.) - was doch nicht das Dogma einer generellen Verträglichkeit und Kombinierbarkeit von innerer Freiheit und äußerlicher Sklaverei aufstellt, sondern sagt, daß auch solche Knechtschaft uns nicht die geistliche Freiheit zu rauben vermag, die wir im Gehorsam gegen Gott haben. Verdanken wir diese Freiheit nicht politischer Liberalität, so kann sie politische Illiberalität auch nicht verbieten. Denn das haben wir zu beachten, daß der erste Teil in jenem Doppelsatz eigentümlich oszilliert. Einerseits hat er wohl einen nüchtern-pragmatischen Aspekt, der erlaubt und auffordert, sich auf die jeweils gegebenen "Umstände" einzustellen, statt sie mit müßigen Disputationen darüber zu überspringen, "was der angenehmste politische Zustand an dem Ort, an dem wir leben, sein würde" (4,20.8). Andererseits hat er zugleich aber auch einen fundamental kritischen Aspekt, weil er nicht abstrakt eine Gleichgültigkeit des Glaubens gegenüber der Politik statuiert (alles Folgende stünde ja dann im Widerspruch dazu), sondern weil er eben aufgrund der Unterscheidung des "geistlichen Reichs Christi" von allen politischen Ordnungen dem politischen `status quo` keine religiöse Sanktionierung zuteil werden läßt, sondern sie ihm im Kern entzieht.

      Zum anderen ist komplementär zum ersten nun der zweite Satz hinzuzufügen: Aber angesichts und inmitten des Staates gilt es für Christen, Gott zu gehorchen, und zwar immer Gott mehr als den Menschen. Das gilt nach Calvin auch und gerade dann, wenn der Satz normalerweise besagt, daß wir auch Menschen zu gehorchen, sprich: staatliche Autoritäten anzuerkennen und ihren Gesetzen nachzukommen haben. Normalerweise! Denn der Gehorsam gegen Gott schließt den Respekt gegen staatliche Autoritäten nicht aus, sondern begründet ihn sogar. Calvin kann erneut provozierend von deren Würde reden: Sie sind zu "Dienern (ministri) der göttlichen Gerechtigkeit" eingesetzt, zum "Werkzeug (organum) der göttlichen Wahrheit", ja, zu "Gottes Stellvertretern (vicari)" oder "Abgesandten (legati)" (4,20.6). Also nun doch eine religiöse Sanktionierung der "politischen Administration"? Aber Vorsicht! Ein ähnliches Oszillieren wie bei jenem ersten Satz zeigt sich auch in dem zweiten. Auf der einen Seite ist deren göttliche Einsetzung als göttliche Wohltat (beneficium) dankbar zu ehren (4,20.9). Denn es ist Gottes guter Wille, daß wir, solange wir "Pilgrime auf Erden" sind und darum zum Nutzen dieser Pilgrimschaft solcher Hilfsmittel (subsidiis) bedürfen, im Dasein der "politischen Administration" solches "subsiduum", d.h. Hilfsmittel, Beistand, Schutz von Gott gewährt bekommen. Darum würden wir, wenn wir dieses "Hilfsmittel" verweigern und das staatliche Regiment beseitigen wollten, die "Menschlichkeit" selbst ausrotten (4,20.2). Man mag darum kritisch gegen die faktische Ausübung dieses Regiments sein, wie man will, man darf auch darin staatliches Regiment nicht nicht haben wollen, will man nicht die göttliche Wohltat in dessen Einsetzung zu solchem "Hilfsmittel" verachten. Aber auf der anderen Seite gilt zugleich: Nicht schon damit, daß wir irgendeiner staatlichen Autorität gehorchen, gehorchen wir Gott. Sondern immer nur umgekehrt: Weil wir Gott gehorchen, darum auch ihr - aber ihr "allein in ihm (nonnisi in ipso)" (4,20.32). "Ach, wenn das doch stets von uns beachtet würde, ... daß alles auf die Autorität Gottes und seines Gebots hin zu geschehen hat! Wenn sie allem vorgeht, dann kann niemals der rechte Weg verfehlt werden." (4,20.10) Das bedeutet für die staatlichen Regenten selbst, daß sie, sofern sie um ihre Stellung als "Gottes Vikare" wissen, sich nicht darauf zur Rechtfertigung ihrer Willkür, geschweige ihrer Untaten berufen können, sondern daß sie darum umgekehrt zu einem menschlichen Höchstmaß an "Integrität, Vorsicht, Milde, Maßhalten, Unschuld" herausgefordert sind - im Wissen darum, daß ihre Untaten dann nicht nur Menschenschinderei, sondern Gottesschändung sind (4,20.6). Das bedeutet wiederum für die Regierten, daß sie nur eine begrenzte und keine absolute Folgepflicht gegenüber den Regenten haben - und die Kirche macht, indem sie ja die Magistraten als "Vikare Gottes" erkennt, keinen unbefugten Übergriff in das weltliche Regiment, wenn sie allgemein oder je in einem konkreten Fall die Grenze dieser Pflicht einschärft: "Wenn sie etwas gegen ihn (Gott) befehlen, dann ist dem nicht stattzugeben noch zählt es; und wir dürfen hier in keiner Weise auf die Würde, die dem Magistrat zukommt, Rücksicht nehmen" (4.20,32).
      Jener umrissene Doppelsatz steht nun speziell hinter Calvins Anwendung einer Erkenntnis, die er, wie schon zuvor Zwingli39, von Plato und Aristoteles40 hier einfach übernehmen zu dürfen glaubte (4,20.8): Es gebe die drei Staatsformen: Königtum, Herrschaft der Besten (Aristokratie) und Volksherrschaft (Demokratie). Calvin knüpft daran seine persönliche Ansicht an, daß die zweite oder eine Mischung aus der zweiten und dritten Staatsform vorzuziehen sei, weil so die "Freiheit" des Volks eine gebührende "Lenkung" (moderatio) erfahre, ohne daß jedoch diese jene Freiheit "mindern", geschweige "verletzen" dürfe. Wichtiger für Calvin und, ich denke, sachlich weiterführender ist die Überlegung, daß jede dieser drei möglichen Staatsformen gemeingefährlich entarten könne: das Königtum zur Tyrannei, die Aristokratie zur Cliquenherrschaft, die Volksherrschaft zur sozialen Spaltung. Der Gedanke unterstreicht zunächst erneut den Satz, daß der Glaubensgehorsam in jeder Staatsform möglich ist, die nun einmal unter Gottes Vorsehung in den verschiedenen Regionen verschieden sein mag (ebd.). Der Gedanke entbirgt aber nun auch zugleich auch die in diesem Satz liegende kritische Kraft und treibt das Denken in die Richtung einer Einsicht, die, wie ich meine, der vornehmliche Beitrag Calvins zum Werden der modernen Demokratie ist: Er treibt dazu an, umso wachsamer das Augenmerk auf den - dann allerdings den Glaubensgehorsam herausfordernden - Punkt zu richten, wo die vorfindliche, erträgliche Staatsform zur unerträglichen Entartung wird: unerträglich, weil da die Wohltat Gottes in der Einsetzung des bürgerlichen Regiments pervertiert oder verleugnet wird, sei es durch seine Auflösung, sei es in seiner eigenen Absolutsetzung, sei es darum im Angriff auf die Gemeinschaft im Staat, sei es im Angriff auf die Freiheit in ihm.
      Aber was ist in diesem Fall dann zu tun? Weil dabei letztlich die Wohltat Gottes in der Einsetzung der "politischen Administration" bestritten wird, darum hat dazu die Kirche durchaus etwas zu sagen. Zu sagen! Mehr als das Wort steht ihr dabei nicht zu Gebote, weil sie als Kirche keine Machtmittel hat noch haben darf (s.o.). Aber zu sagen hat sie dann ein ganz Konkretes. Zwar ist theoretisch der Staat in jeder Staatsform gefährdet. Aber dieses Theoretische soll ja praktisch dafür wachsam machen, daß der Staat dann also jederzeit durch Entartung bedroht sein kann; und die Kirche hat dann, wenn das in einer je bestimmten Weise der Fall ist, - nicht eine allgemeine Staatstheorie zu vertreten, sondern gegen diese bestimmte, jeweils besondere Gefahr ihr Wort zu erheben. Es war aber zumindest beim älteren Calvin so - und das hat sich dem Reformiertentum gewiß so sehr eingeprägt wie seine allgemeinen Ausführungen in "De politica administratione" - , daß er, der angebliche Verächter des `Pöbels`, faktisch den Staat eben nicht von `unten` gefährdet sah, sondern aufs Bedrohlichste von `oben`, von den ihn Beherrschenden.
      Namentlich sein Daniel-Kommentar von 156141 ist unter der Text-Auslegung eine flammende Anklagerede wider die monarchistische Tyrannei. Er ruft gegen sie wohl nicht zum politischen Aufstand auf. Er entwickelt kein politisches Gegenprogramm. Er hofft angesicht dessen nur auf Gott und seinen Christus, der König der Welt ist, und darauf, daß er wie Gebeugte erheben, so Mächtige nicht nur einsetzen, sondern sehr wohl auch stürzen kann (385f., 394). Aber in diesem Licht deckt er schonungslos auf: die Macht, das Schreckensregiment der Herrscher - sie, die "ihrer Wut die Zügel schießen lassen und meinen, sie dürften sich alles erlauben", nach der Devise: "Erlaubt ist, was gefällt", über deren Schwelle man nicht treten kann, ohne daß es "mit der Freiheit vorbei" ist (378). Sie, die, geblendet vom "Glanz ihrer Größe", dem "Größenwahn" verfallen sind (400). Sie, die damit doch vielen Eindruck machen, so daß diese "einfach nach des Königs Pfeife" tanzen; "was dem König gefällt, dem stimmen sie alle zu, wenn nötig, mit lautem Beifall" (409). Sie, die über alle "Untertanen frei verfügen", nicht, weil sie es dürften, aber "weil es sich alle schweigend gefallen lassen" (452)42. Sie, die die "Heiligen", die dabei nicht mitmachen, belasten und belästigen "mit der Anklage auf Undank und Aufruhr" (412); denn "nichts ist für die Könige schwerer zu ertragen als Verachtung ihrer Befehle" (413). Sie, die schließlich bei dem allem die Religion nicht missen mögen, sondern noch so gern zur Festigung ihrer Macht in ihren Dienst stellen, die darum "mit großem Aufwand Tempel bauen"; und wenn "man sie fragt, was für eine Absicht sie dabei leite, so erfolgt sofort die Antwort: das tun wir zur Ehre Gottes! Dabei suchen sie allein ihren eigenen Ruhm und ihre eigene Ehre" (405). Es ist für Calvin klar, daß der kirchliche Widerspruch gegen sie gerade an dem letzteren Punkt ansetzen und ihnen so die religiöse Stütze ihres Machtgefüges entreißen muß. Es mußte darüber hinaus denen, die diese - geradezu von einem Freiheitspathos getragene und zugleich das Funktionieren von Macht scharfsichtig analysierende - Kritik Calvins lasen43, auch klar sein, daß auch Calvins Auszeichnung der staatlichen Magistraten als Gottes `Vikare` genau das: eine Machtkonzentration an der Staatsspitze, nicht meinte, sondern, rechtverstanden, sogar bestritt. Zudem ist deutlich: Gerade das Argument der Sünde, der "Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen" ist für Calvin kein Argument für den autoritären, mon-archischen Staat, sondern ein entscheidendes dafür, daß im Staat "mehrere das Steuerruder" zu halten haben (4,20.8).
      Aber nun drängte die These von der möglichen Korrumpierbarkeit jeder Staatsform zu einer weiteren, jetzt direkt politischen Überlegung, die eine praktische Handhabe gegen deren Korruption ermöglicht. Demnach ist im Staatswesen dreierlei fundamental zu unterscheiden: der Magistrat44, die bürgerlichen Gesetze (leges), nach denen er regiert, und das Volk, das den Gesetzen und insofern auch dem Magistrat Folge zu leisten hat (4,20.3). Mit dieser Differenzierung unterscheidet sich Calvin von jener lutherischen Tradition, die die `Obrigkeit` und den `äußerlichen Gebrauch des Gesetzes` (singularisch!) so eng zusammensieht, daß die Obrigkeit kraft ihrer Macht, das `zügellose` Volk an die Zügel zu nehmen, als solche schon das Gesetz (Gottes) äußerlich verkörpert. Es legte sich dabei nahe, den Sinn dieses "Gesetzes" (lex) wesentlich in seinem Zwangscharakter, in seiner Verbindung mit Gewaltausübung zu sehen. Daß Calvin die "Gesetze" (pluralisch!) als ein Eigenes, Drittes neben und gegenüber beiden, Magistrat und Volk, herausstellt, bedeutet eine entscheidende Weichenstellung, die in eine andere Richtung weist als jene Tradition. Diese Differenzierung hat zwei erhebliche Folgen.

      Zum einen: Indem der Magistrat zwar gemäß (secundum) den "Gesetzen" zu handeln hat (ebd.), aber sein Handeln nicht mit den "Gesetzen" identisch ist, stellt sich die Aufgabe einer inhaltlichen Bestimmung der Gesetze. Denn noch nicht deren Form - daß sie zwingen - macht sie zu Gesetzen, mit denen sich ein bürgerliches Gemeinwesen regieren und ein erträgliches Zusammenleben in ihm organisieren läßt, sondern ihre Zweckmäßigkeit hat sich an ihrem Inhalt zu erweisen. Das setzt voraus, daß diese Gesetze (leges) nicht mit dem göttlichen Gesetz (lex) zusammenfallen, sondern menschliche, darum prinzipiell korrigible Festlegungen sind, Versuche, diesem göttlichen Gesetz zu entsprechen. Aber eben, es kann dabei nicht genug sein, sie nur oder auch nur zuerst auf ihren formalen, negativen Charakter hin zu beachten, so daß in der Konsequenz entweder die Gesetze, gleich was sie gebieten, hinreichend sind, wenn sie nur von menschlicher Zügellosigkeit abschrecken, oder die Gesetze gar umso `besser` sind, je mehr sie abschreckend sind. Darum kommt es bei diesen Festlegungen oder Versuchen vielmehr darauf an, ihren positiven, der menschlichen Gemeinschaft zuträglichen Sinn herauszustellen. Sie sind ja "die kräftigsten Nerven des Gemeinwesens" (4,20.16) und sind darum so gut, wie sie denn auch tatsächlich dem Zusammenleben seiner Glieder dienlich sind, "dem Gemeinwohl und öffentlichen Frieden" (communi omnium saluti ac paci, 4,20.9). Der Grundbegriff, nach dem die bürgerlichen Gesetze festzulegen sind und an dem sie sich messen zu lassen haben, ist für Calvin schlicht der der "aequitas", das Tun dessen, was "recht und billig" ist (4,20.16), man könnte auch sagen: die nach der "ewigen Richtschnur der Gerechtigkeit" gebildete menschliche Gerechtigkeit (4,20.15). Diese ist für Calvin nach zwei Seiten geltend zu machen: so, "daß unter den Christen (!) eine öffentliche Gestalt des Gottesdienstes existiert und daß unter den Menschen (!) die Menschlichkeit (humanitas) Bestand hat" (4,20.3). Dabei bemißt sich die "Menschlichkeit" in der Bürgerschaft konkret daran: "daß den Armen und Bedürftigen das Recht zurückgegeben wird" und sie "der Hand des Unterdrückers entrissen werden" (4,20.9). Gerade in diesem Zusammenhang versteht Calvin auch den guten Sinn der dem Staat verliehenen "Gewalt": Er ist damit "gewappnet", damit seine Repräsentanten "die guten Leute vor den Ungerechtigkeiten der Bösen schützen und den Unterdrückten mit Hilfe und Schutz beistehen" (ebd.). Die Gewalt gehört also nicht zum Wesen der staatlichen Gesetze und deren politischer Handhabung, sondern ist dem Magistrat nur zu der bestimmten, aber begrenzten Funktion bei der Durchsetzung der "Gesetze" verliehen: um illegitime, vergewaltigende Gewalt einzuschränken. So leuchtet ein, daß ein Verzicht auf solche legitime staatliche Gewalt, gerade weil nicht "Härte" (asperitas), sondern "Milde" (clementia), also Humanität das Handeln des Magistrats auszeichnen soll, eine "höchst grausame Humanität (crudelissima humanitas)" wäre (4,20.10).

      Zum anderen - und an diesem für unser Thema entscheidenden Punkt laufen nun die zuvor gezeigten Linien zusammen: Wenn es denn so ist, daß ein bürgerliches Gemeinwesen faktisch am meisten von einer Machtkonzentration an seiner Spitze, von den Herrschenden bedroht ist und wenn diese Bedrohung darin besteht, daß "die Freiheit, zu deren Beschützern sie doch eingesetzt sind", vermindert oder gar verletzt wird (4,20.8), - wenn es ferner so ist, daß das in den "Gesetzen" verkörperte Recht als ein Drittes nicht nur über dem Volk, sondern auch über den Regenten steht, - und wenn es schließlich so ist, daß diese Gesetze an einem bestimmten, positiven Inhalt allgemein erkennbar sind und daß auch die staatliche Macht nicht an sich ein Recht auf Gewaltausübung hat, sondern nur ein klar bestimmtes, begrenztes Recht zur Gewaltverhinderung (Schutz der Schwachen vor den Starken), dann drängt sich unerbittlich die Frage einer Kontrolle aller Macht im Staat auf. Und zwar geht es nicht nur um eine Kontrolle des Volks durch den Magistrat und nicht nur um eine staatliche Kontrolle der Mächtigen in deren Verhalten zu den Schwachen im Staat, sondern auch um eine Kontrolle des die legitime Gewalt im Staat ausübenden Regiments selbst. Indem diese Konzeption einen solchen Rechtsstaat meint, in dem nach inhaltlich klar umrissenen, von allen erkennbaren `humanen` Gesetzen regiert wird, öffnet sie faktisch der bürgerlichen Mündigkeit die Möglichkeit, die Übereinstimmung des Regierungshandelns mit den staatlichen Gesetzen zu überprüfen. Sie weist damit in die Richtung der Demokratie, in der eben das Volk jene Kontrolle ausübt, mit dem legitimen Recht, Regierungen abzusetzen und darum dann ja auch einzusetzen. Calvin hat diese Konsequenz noch nicht gezogen45, sondern sich damit begnügt, angesichts jener sich doch schon ihm unerbittlich aufdrängenden Frage eine Lösung vorzuschlagen, die in den damaligen Umständen als angemessen erscheinen konnte, obwohl sie uns heute nur als eine Zwischenlösung erscheinen mag. Er meinte, daß "plures" (Mehrere, Verschiedene, Viele) das Staatsruder steuern sollten und daß so genügend "verschiedene Aufpasser und Aufseher" (plures censores ac magistri) da seien, um die Willkür eines unter ihnen im Zaum zu halten, der sich mehr als rechtens erhebt (4,20.8).
      Daß er dabei aber jedenfalls das Problem der Kontrolle der Regentenmacht klar vor Augen hatte, wird dadurch bestätigt, daß er sich nun auch Gedanken über eine Frage machen mußte, deren positive Beantwortung in besonderem Maß zur Brunnenstube moderner Demokratie wurde: über die Frage des Widerstandsrechts gegen ein unerträgliches Regiment, das die "Freiheit des Volkes", die kirchliche Gottesverehrung, die Ausübung des Rechts, den Schutz der Armen vor den Schwachen mit Füßen tritt (vgl. 4,20.29). Man hat zurecht bemerkt, daß Calvin sich an diesem Punkt zögerlich äußerte, eher nur in einer "Randbemerkung"46. Richtig ist aber auch, daß es von all den genannten Voraussetzungen her nur konsequent war, daß er sich dieser Frage stellte. Zwar hat er hier nicht mehr gesagt, als in seiner Zeit hier rechtlich möglich war. Aber er hat hier nicht nur in einer Art Konzession eine gegebene Rechtsmöglichkeit erwähnt, sondern hat auf diese Bezug genommen im Rahmen eines sich aus dem Zusammenhang seines ganzen Denkens grundsätzlich und notwendig aufwerfendes Problem: das der Kontrolle staatlicher Macht.
      Seine Zögerlichkeit erklärt sich aus zwei beachtlichen Gründen, die beide einschärfen, daß solch ein Widerstand selbst ein legitimer, ein Rechtsakt sein müsse und keinesfalls in einem Rechtsvakuum als Ausbruch beliebiger Willkür stattfinden dürfe. Zum einen steht hinter dem bürgerlichen Regiment ja die göttliche Einsetzung; darum haben wir angesichts eines unrechten Regiments zuerst auf Gott und nicht auf unseren `Arm` das Vertrauen zu sehen - auf den Gott, der nicht jedes Regiment stützt, aber auf ihn, weil zuerst er es ist, "der die Könige einsetzt und absetzt"47, aber wirklich auch absetzt, doch so, daß es dann keine Eigenmächtigkeit ist, wenn von ihm berufene "öffentliche Erretter" auftreten, "um eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das ... unterdrückte Volk zu befreien."48 Zum anderen entspricht diesem göttlichen Recht auch ein menschliches Recht zum Widerstand gegen ein unrechtes Regiment oder zu seiner Absetzung, aber ein Recht, das darum nicht auf eigene Faust zu betätigen ist, sondern von dazu Berechtigten49 - und das hieß für Calvin damals, "wie die Dinge heute liegen": von den jeweils untergeordneten politischen Behörden. Doch haben die nicht nur ein Recht, gegen das "maßlose Wüten und Schinden der kleinen Leute" (4,20.31) einzuschreiten, sondern sogar die Pflicht dazu, wenn sie nicht Betrug an der "Freiheit des Volks" (populi libertas) begehen wollen. Wenn hierbei, `wie die Dinge damals lagen`, nicht alle Einzelnen aktiv werden konnten, damit nämlich im Aufstand gegen das unerträgliche Regiment das Recht gewahrt bleibe, so bedeutet das nach Calvin indes nicht, daß sie bloß `passiv` bleiben dürften; sie haben dann ungerechten Befehlen einer ungerechten `Obrigkeit` den Gehorsam zu verweigern, koste es, was es wolle (4,20.32).
      Calvin hat auch diese kritische Gestalt der Kontrolle des Magistrats gewiß nicht im Rahmen einer Demokratie, sondern der damaligen ständischen Gestalt d
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      schrieb am 14.04.01 20:19:34
      Beitrag Nr. 81 ()
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      Calvin und die Demokratie
      Aufsatz für das Projekt "Religion und Freiheit" der A Lasco-Bibliothek in Emden
      1. Zum Problem des Themas | 2. Theologische Weichenstellung | 3. Die Gestalt der Kirche | 4. Das Verhältnis zum Staat | 5. Zusammenfassende Bemerkungen | Fußnoten


      ______________________________________________________________




      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
      Dieses negative Urteil läßt sich wohl im einzelnen auch lockern - und das ist das Andere, was von der Forschung her zu sagen: Während eine Gruppe von Untersuchungen Calvin in der angedeuteten Weise als einen dezidierten Nicht- oder sogar Antidemokraten einschätzt, wird in einer andere Gruppe einiges dagegen geltend gemacht6, mit dem Resultat, daß Calvin doch so etwas wie eine "konservative Demokratie"7 bejaht oder akzeptiert habe, was heißen kann: eine "aristocracy tempered by democracy"8, oder umgekehrt: eine durch die Aristokratie "gemäßigte Demokratie"9, was aber wohl auf dasselbe hinausläuft. Das für unsere Thema eher negative Bild, wie es die Forschung zeigt, kann anscheinend nach der einen oder anderen Seite variiert, aber doch nur in einem ziemlich kleinen Spielraum variiert werden - solange wir uns darauf beschränken, hier nur Calvins unmittelbare Äußerungen zur Politik und sein praktisches Verhalten in dem damaligen Verhältnis von Christen- und Bürgergemeinde auszuwerten. Solange werden wir wahrscheinlich kaum etwas über die Grenzen dieses Spielraums Hinausweisendes sagen können und speziell nicht verstehen, inwiefern der sich demokratisch öffnende `Calvinismus` etwas mit Calvin zu tun hatte.
      Oder kann doch noch etwas darüber Hinausweisendes gesagt werden? Immerhin fällt auf, daß nicht wenige Forscher ihr in dieser Sache eher negatives Urteil zuletzt auch wieder einschränken können: Zwar habe Calvin "undemokratisch" gedacht, faktisch jedoch "stark auf demokratische Gedanken" hingewirkt und der Parole: Durch das Volk und für das Volk! Anerkennung verschafft.10 Zwar, "Calvin war kein Demokrat, kein Anwalt der Volkssouveränität ... Und doch fürchteten schon die Zeitgenossen die ... demokratisierende Wirkung des Genfer Calvinismus", und nicht zuunrecht, da er in Wahrheit "einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur künftigen Entwicklung freiheitlich-demokratischer Ideen geleistet hat"11. Zwar habe er Demokratie kaum gewollt und praktiziert, aber ihr gleichwohl durch seine "seeds of liberty"12 gründlich den Boden bereitet. Ob es wohl hinreicht, die da gesehene Spannung derart zu erklären, daß - ironischerweise - ein "System" Resultate zeitigen könne, die den Absichten seines Erfinders gänzlich entgegengesetzt sind13? Man kann und muß das ja wohl noch anders sagen in anbetracht dessen, daß man selbst bei dieser Deutung noch die Punkte angeben können müßte, die solche Wirkung hervorriefen - will man sie nicht als einen bloßen Gegenschlag ausgeben, was ja sicher unangemessen wäre. Sprechen wir also lieber die Vermutung aus, daß im `Denken` Calvins Türen geöffnet wurden, die er vielleicht nicht einmal oder noch nicht genau sah und durch die er jedenfalls noch nicht schritt, die dort aber doch geöffnet waren und durch die dann doch einmal geschritten werden konnte. Dabei mag es immerhin auch so sein, daß die, die dann durch sie hindurchschritten, zwar auch eine Konsequenz zogen, die er noch nicht gezogen hatte und die sie doch von ihm her ziehen konnten, aber daß sie dabei faktisch auch etwas preisgaben und verloren von dem, was er in seiner Ausgangsstellung noch an grundlegenden, überlegenen Einsichten hatte.

      2. Theologische Weichenstellung
      Im "Denken" Calvins! Wir haben uns vor allen Dingen klar zu machen, was in soviel Literatur zu unserem Thema nicht klar ist: daß Calvin in erster und entscheidender Linie nun einmal Theologe und nicht Politiker war und daß seine Stellung zur Politik ein Anhang, eine Zutat zu seiner Theologie ist. Aber in welchem Sinn? Nicht im Sinn einer Vermischung von Theologie und Politik - dagegen hat er sich sogar überdeutlich abgegrenzt (4, 20,1)14! Und darum auch nicht in dem Sinn, daß er seine politischen Ansichten dadurch, daß er sie als Theologe machte, sakrosankt machen wollte! Aber das bedeutete nun auch nicht, daß er bei seinen politischen Äußerungen das Gewand des Theologen ablegte, um es gegen das eines Politikers einzutauschen. Er war ja in Personalunion beides, Glied der Kirche Jesu Christi und Mitbürger eines Staats. Aber er war beides so, daß er zuerst das Eine und dann erst auch das Zweite war. Theologie und Politik war für ihn auch in dem präzisen Sinn zweierlei, daß er eben zuerst christlicher Theologe war und zwar so, daß er dann auch in seiner Stellung zur Politik nicht aufhörte, zuerst Theologe zu sein. Darum ist die erste Frage im Blick auf den Staat für ihn nicht die: Was ist der Staat? Was ist seine wünschbare Gestalt und Aufgabe? Und wie kann `ich` mich dabei einbringen? Seine erste Frage lautet: Was heißt Gehorsam gegen Gott angesichts dessen, daß es neben und außer der Kirche auch den Staat gibt und daß die Kirchenglieder auch noch Mitbürger eines Staates sind? "Es geht ihm nicht um den Staat, er denkt nicht vom Staat aus, sondern bei Anlaß des Staates und über ihn von Gott aus."15 Das wird durch den Titel unterstrichen, unter dem er in Buch IV seiner "Institutio" davon redet: De politica administratione. Während fast 95 Prozent des Buches IV von der Kirche handeln, und zwar unter dem Leitbegriff ihres Zeugnis gebenden "Dienstes" (ministerium) am Wort Gottes, steht seine knappe Behandlung des Staates eben unter dem Leitwort: ad-ministratio, was natürlich "Regierung" heißt, was aber auch deutlich an die wörtliche Bedeutung des Begriffs anspielt: Zu-Dienung, Hilfeleistung. Gemeint ist nicht das Plumpe, daß der Staat der Kirche zuzudienen habe (obwohl es zwar auch richtig ist, daß die Existenz des rechten Staates auch der Kirche einen Dienst erweist, den sie als solche nicht leisten kann und für den sie dankbar zu sein hat), aber dies, daß der Staat in einer zudienlichen Weise zu den "äußeren Mitteln und Beihilfen" gehört, "mit denen Gott (!) uns zur Gemeinde (societas) Christi einlädt und in ihr erhält" (so der Titel des ganzen Buches IV). Augenscheinlich interessiert sich Calvin am Staat vor allem insofern, als er solche "ad-ministratio" ist.
      Aber was heißt das? Etwa das? "Pour Calvin, Dieu est le seul souverain", und eben dadurch sei bei ihm schon im Ansatz der `demokratische` Gedanke ausgeschlossen, "que le peuple puisse etre considéré comme le Souverain dont émane tout pouvoir."16 Dieser Gedanke ist in der Forschung in einer bestimmten Weise so sehr Allgemeingut, daß H. Vahle angesichts der Literatur zu unserem Themas folgende Alternative formulieren konnte:
      "Wer ... demokratische Elemente bei den Calvinisten zu entdecken glaubte, der neigte dazu, die Souveränität Gottes dahingehend zu relativieren, daß die Regierungen (zwar) `von Gott` seien ..., daß aber letztlich immer die souveränen Völker die Herrscher einsetzen. Wer jedoch demokratische Elemente verneinte, der setzte stets das Theorem von der göttlichen Souveränität absolut."17

      Diese Sätze decken ja zunächst nur, aber wohl zutreffend eine Gesetzmäßigkeit in Interpretationen des Verhältnisses zwischen Calvin und "Calvinismus" einerseits und deren beider Beziehung zur Demokratie andererseits auf. Demnach kommt umso demokratie-freundlicher die Volkssouveränität zum Zuge, je mehr die (calvinische) Hervorhebung der Souveränität Gottes eingeschränkt wird - und umgekehrt. Diese Alternative ist die Anwendung einer auch sonst bis heute herrschenden Denkweise, daß sich die menschliche Freiheit umso mehr entfalten kann, je mehr Gott "relativ", um nicht zu sagen: schwach gedacht werde, während ein Ernstnehmen der unbedingten Souveränität Gottes zu Lasten der menschlichen Freiheit gehe. Es ist indes eine fundamentale Frage, ob die behauptete Alternative nicht einem Verstehen des anstehenden Sachverhalts im Wege steht. Es sei versucht, diese Frage etwas näher zu erläutern und zu bedenken.
      Wir könnten Calvins theologische Zentralerkenntnis hier für einmal auch mit der Formel der "Souveränität Gottes" bezeichnen.18 Sie steht ja schon hinter seiner inneren Nötigung, auch im Verhältnis zum Staat zuerst Christ und Theologe zu sein. Es bedarf zum Verständnis dieser Formel indes einiger Erläuterungen, um sehen zu können, daß die Souveränität Gottes und die Freiheit des Volks nicht notwendig einen Gegensatz bilden. Zunächst: Es geht bei Calvin um die Souveränität des Gottes des Evangeliums und darum in ihr nicht um eine abstrakte Überlegenheit und Mächtigkeit. Seine Theologie hat darum nicht einen, sondern zwei Brennpunkte: "Ehre Gottes" (seine gerechte Souveränität) und "Heil des Menschen" (seine "Erlösung" durch Gottes Barmherzigkeit).19 Beide stehen und bleiben wohl in Spannung zueinander20, aber beziehen sich auch aufeinander. Denn "Gott hat nach seiner unendlichen Güte alles so eingerichtet, daß nichts (!) zu seiner Verherrlichung dient, was nicht auch zugleich uns heilsam ist."21 Es sei schon angemerkt, daß sich in Calvins Sicht der inhaltlichen Aufgabe des staatlichen Regiments beides widerspiegelt: Sorge für die Gottesverehrung - sagen wir: Sorge für den äußeren Rechtsschutz des kirchlichen Gottesdienstes22 und Sorge für die gesellschaftliche humanitas, für das Gemeinwohl aller und für den Frieden (communis omnium salus et pax) (4,20.9.3). Indem Calvins Theologie mit dem erstem auch jenen zweiten Brennpunkt hat, ist mit der Souveränität Gottes nun doch keine schrankenlose, `absolute` Herrschaft gemeint - wohl seine ihm rechtmäßig zukommende, gerechte und gebieterische Macht, seine Macht, in der er nicht aufhören kann, sondern daran `gebunden` ist, in allem, was er tut, Gott zu sein, aber so auch seine Macht, die nicht im Widerspruch steht zu dem, was er faktisch in der und laut der biblisch bezeugten Geschichte tut, nicht im Widerspruch zu seinem tätigen, guten Willen zu Gunsten und zur Befreiung des Menschen. Aufgrund dieser Beziehung ist die Bedeutung der "Souveränität Gottes" konkret im Zusammenhang mit der Erkenntnis des ersten Gebots zu suchen, ohne die für Calvin uns auch Gottes Wohltat zum Heil des Menschen mißverständlich würde, nämlich so, als bestehe seine Wohltat in der Befriedigung (falscher) menschlicher Selbstliebe. In seiner Souveränität behauptet sich Gott - gemäß dem ersten Gebot - als der, dessen Geschöpf der Mensch und der nicht Geschöpf des Menschen ist. In ihr stellt Gott also klar, daß wir das "salus hominum" nicht uns selbst, sondern allein Gott verdanken.
      Jenen zwei Brennpunkten im Zentrum von Calvins Theologie entspricht bei ihm ein ebenfalls polares menschliches Gottesverhältnis: Dem Heil aus Gottes reiner Barmherzigkeit entspricht der Glaube an den Freispruch des Menschen aus Gnade ohne Rücksicht auf Verdienst und Würdigkeit; der frei-souveränen Ehre Gottes entspricht der Gehorsam des Menschen aufgrund dessen, daß wir, weil wir nicht Schöpfer Gottes, sondern Geschöpfe Gottes sind, ihm und nicht uns selbst gehören (nostri non sumus, sed Domini); darum haben die Menschen nicht "sich selbst zu gehorchen", sondern dem vorangehenden Gott (Dominum praeeuntem sequi) (3,7.1; vgl. 2,8.14; 4,10.7). Aber indem diese letztere Erkenntnis im Zusammenhang mit der des ersten Gebots zu verstehen ist, liegt der Ton dabei nicht einfach darauf, daß wir zu gehorchen, sondern darauf, daß wir Gott zu gehorchen haben. Das wirft die Frage auf, wem wir legitimerweise gehorchen? Die Antwort, daß wir legitimerweise allein Gott zu gehorchen haben, schließt die Erkenntnis in sich, daß aller Gehorsam gegen Menschen, der Gehorsam im Widerspruch zu Gott ist, illegitim ist. Es ist für reformiertes Denken von Anfang an überhaupt typisch, daß zwar im Blick auf das "Heil der Menschen" klar die Alternative gilt: erlöst nur aus Gottes Gnade und nicht aus Verdienst der Werke, aber im Blick auf das menschliche Handeln die andere Alternative: Gottes Gebot und nicht "menschliche Satzung"23. Für Calvin bedeutet das zwar keinen Freibrief zur Respektlosigkeit gegenüber menschlichen Autoritäten - indem wir sie respektieren, bekunden wir gewissermaßen dies, daß wir nicht "uns selbst" gehorchen, und anerkennen so, daß Gott an uns nicht handelt, ohne sich ihres "ministerium", ihres Dienstes zu bedienen. Aber er bedient sich ihrer, ohne ihnen "sein Recht und seine Ehre zu übertragen" (non ad eos ius suum honoremque transferendo) (4,3.1.). "Als ob Gott auf sein Recht verzichtet hätte zugunsten von Sterblichen, wenn er diesen die Leitung des menschlichen Geschlechts übertrug" (4,20.32)!24 Gott gegenüber sind auch sämtliche irdischen Herrscher, wie nach Calvin vor allem anderen (inprimis) zu beachten ist, nicht mehr als bloße Untertanen (ebd.). So wenig also das Gebot, Gott zu gehorchen, ein Freibrief zur Verwerfung irdischer Autoritäten ist, so wenig bedeutet deren Dienst, zu dem sie Gott einsetzt, deren Aufwertung zu einer göttlichen Autorität und eine Erlaubnis zur Vergewaltigung der Rechte des Volks - das ist es wohl, was Calvin die "Freiheit des Volks" (populi libertas - 4,20.31) nennt. Damit, daß alle, Regierende und Regierte, der Autorität Gottes `untertan` sind, werden irdische Autoritäten zwar nicht aufgehoben, aber auch nicht glorifiziert, sondern in einer Weise relativiert, die eine Identifizierung irdischer Autoritäten mit der Autorität Gottes ausschließt und verhindert, daß der Gehorsam gegen Gott psychologisch als Einübung allgemein in eine Untertanenmentalität, in eine blinde Folgsamkeit gegen `wen und was auch immer` verstanden werden kann. Vielmehr drängt der Gehorsam gegen Gott als solcher - nicht zu einer grundsätzlichen Negierung, aber zur grundsätzlichen Unterscheidung seines Anspruchs von allen anderen und so im Kern zu einem kritisch-prüfenden Umgang mit diesen anderen, nur irdisch-menschlichen Ansprüchen.25 Dem entspricht, daß die Teilhabe aller Christen am königlichen Amt Christi zentral in der "liberté de conscience"26, in der "Gewissensfreiheit" besteht: in der im Gehorsam gegen Gott begründeten Freiheit gegenüber allen irdischen Ansprüchen.
      Wenn Gottes heilsamer Wille zur befreienden Erlösung der Menschen und sein Anspruch auf ihren Gehorsam nicht einander widersprechen, dann ist dieser Gehorsam nun aber nicht bloß so zu verstehen, daß er in "christliche Freiheit" gegenüber anderen Gehorsamsansprüchen stellt. Dann könnte er solche Freiheit gegenüber diesen nicht sein, wenn nicht der Gehorsam gegenüber Gott auch als solcher so in der Verbindung mit der "christlichen Freiheit" stünde, daß er selbst nicht als blinde Unterwürfigkeit verstanden werden darf. In der Tat betont Calvin, daß überhaupt Gottes noch so bestimmendes Wirken an uns nicht unser verantwortliches Eigenwirken aufheben kann und will (1,17.3.5.; 1,18.2: optime conveniant hanc duo inter se). Darum legt er Wert darauf, daß Gottes Gebieten und unsere Aufgabe, ihm nachzukommen, normalerweise keinen Zwang bedeutet (2,8.14). Mit Zwang verwechselbarer oder erzwungener Gehorsam ist noch nicht der von Gott gewollte Gehorsam.27 Rechter Gehorsam gegen Gott ist somit gar nicht unmittelbar möglich, sondern nur in einem zuvor durch Liebe geschaffenen Vertrauensverhältnis. "Niemand wird sich frei und willig dem Gehorsam gegen Gott unterziehen, der nicht seine väterliche Liebe gekostet und dadurch bewegt wurde, ihn zu lieben und zu ehren" (1,5.3). Aber es geht dabei nicht um eine raffinierte Methode zur Herstellung des Gehorsams; sondern er ist so sehr selbst Gestalt der Liebe zu Gott, daß es erst dann bei uns zu rechtem Gehorsam gegen Gott gekommen ist, wenn wir ihm freiwillig gehorchen - in einem "freiwilligen Gehorsam" (voluntarium obsequium - 3,20.42f.), in der Lust und Freude zum Folgen (obsequendi alacritas - 3,3.15). Und so gehorcht unser Gewissen erst dann Gott und seinem Willen, wenn es das tut "nicht gleichsam durch eine gesetzliche Nötigung erzwungen, sondern freiwillig, befreit vom Joch des Gesetzes" (3,19.4). Es entspricht hier dem souveränen Gott zwar kein ebenso `souveräner` Mensch; es besteht nun einmal zwischen Gott und Mensch ein unumkehrbares Verhältnis, in dem Gott vorangeht und der Mensch folgt. Aber die Souveränität Gottes ist hier in einer Weise gefaßt, daß sie auch nicht als Verfügung zu blinder Unterwürfigkeit über den Menschen kommt, sondern als der von gesetzlichen Ansprüchen befreiende Anspruch zu "freiem Gehorsam". Wenn das Wort "frei" dabei ernstgemeint ist, dann besagt es anderes als die Zustimmung eines Geketteten zu seinen ohnehin nicht zu beseitigenden Ketten; dann bezeichnet es die eigene, einsichtige, verantwortliche Bejahung und Anerkennung der Legitimität jenes Verhältnisses, in dem Gott uns vorangeht und wir ihm folgen. Wo blinde Unterwerfung ist, da ist unverantwortliche Menschenmasse. Ist aber der rechte Gehorsam, der gegenüber Gott, freier Gehorsam, so ist er der Gehorsam eines verantwortlichen, mündigen Subjekts, ohne dessen Existenz ja auch jene für den Gehorsam gegen Gott wesentlich erforderliche Unterscheidung zwischen seinem Anspruch und anderen Ansprüchen nicht nachvollziehbar wäre.
      Nun erfährt die so zu verstehende `Souveränität Gottes` eine weitere Beleuchtung dadurch, daß durch sie speziell ein tiefgreifender Unterschied gesetzt wird zwischen einem "geistlichen Reich" (regnum spirituale) und der "bürgerlichen Einrichtung" (civilis ordinatio), bzw. dem "politischen Reich" (regnum politicum) (4,20.1; 3,19.15). Jenes, kann Calvin im Anschluß an paulinische Terminologie sagen, betreffe den "inneren", dieses den "äußeren Menschen". Aber zugleich sagt er, diese Terminologie wohl zutreffend deutend: Jenes beziehe sich auf das "zukünftige ewige Leben" (futuram aeternamque vitam) und dieses auf das "gegenwärtige vergehende Leben" (praesentem fluxamque vitam) (4,20.1). Calvin sagt sogar, daß wir es dabei, kraft dieses Unterschieds, gleichsam mit "zwei Welten" zu tun haben, "in denen verschiedene Herrscher und verschiedene Gesetze regieren können" (3,19.15). Aber was bedeutet diese Unterscheidung? Macht sie Christen zu Bürgern zweier Reiche, die sich innerlich-seelisch und äußerlich-leiblich je nach ganz anderen "Herrschern und Gesetzen" zu richten haben?
      Die Sache ist komplexer. Indem die Christen jedenfalls von jenem kommenden Reich wissen, bricht es bei ihnen schon in einem "gewissen geringen Anfang" (initia caelestis regni quaedam, 14,20.2) an. Aber dieser Anfang besteht darin, daß sie damit zu Hoffenden und in der Hoffnung auf dieses Reich zu aufbrechenden, mobilen Pilgrimen auf der Erde (peregrinari super terram, ebd.) werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie damit der Erde entfliehen können oder gar dürfen. Indem Gott selbst zwischen beiden "Reichen" den Unterschied setzt, qualifiziert er beide in bestimmter Weise, aber zieht er selbst sich nicht zurück von dem einen, um nur in dem anderen zu regieren. Er qualifiziert damit das "politische Reich" als ein zeitliches, vergehendes, als ein Provisorium; aber so läßt er es gelten und "löscht" nicht etwa "das gegenwärtige Leben aus" (ebd.). Nur als solches Provisorium will er es anerkennen. Aber so erkannt er es an, will es so auch von den Christen anerkannt wissen und will, daß es darin so menschlich zugehe, daß, wer es auslöschen wollte, die Menschlichkeit auslöschen würde; und er will also, daß, solange noch unsere irdische Pilgerschaft währt, in diesem "politischen Reich" - neben dem Schutz der äußeren Gestalt des Gottesdienstes - die Aufgabe angegriffen wird, daß "unser Leben zur menschlichen Gesellschaft gestaltet, unsere Sitte zur bürgerlichen Gerechtigkeit geformt wird, wir verträglich miteinander umgehen und ein allgemeiner Friede und öffentliche Ruhe herrsche" (ebd.). Indem Gott den Unterschied zwischen den beiden Reichen setzt und indem er in diesem Unterschied beide anerkennt, sind wir Menschen auch im politischen Reich nicht seinem Gebot, dem Gebot zur Wahrnehmung dieser Aufgabe entzogen. Christen können und sollen darum diese staatliche Aufgabe bejahen. Aber gerade sie wissen dabei auch, daß alle staatliche Bemühung einen grundsätzlich provisorischen Charakter hat, so daß darüber, in welcher Weise und Form der Staat dieser Aufgabe relativ am besten nachkommt, immer wieder frei und nie abschließend erwogen werden kann und muß. Dieselbe Erkenntnis hält aber auch für Christen die Frage offen, ob oder wie sie die faktische Handhabung des bürgerlichen Reichs durch seine verantwortlichen Leiter anerkennen und unterstützen oder notfalls sich ihr verweigern. Dieselbe Erkenntnis hindert jedoch die Christen auch an dem Wahn, "das Reich Christi unter den Elementen dieser Welt zu suchen oder einzuschließen" (4,20.1), d.h. an dem Wahn, als hätten ihre eigenen Vorschläge und Beiträge zur Handhabung der politischen Aufgabe mehr als eben auch nur einen provisorischen, relativen Charakter.
      Gewiß folgert Calvin nicht aus der "Souveränität Gottes" das Recht und die Pflicht einer Demokratie. Er folgert daraus überhaupt nicht die absolute Notwendigkeit einer bestimmten Staatsform. Aber - und das ist zunächst wichtig zu sehen: Es entspricht der "Souveränität Gottes" auch keine allgemeine Untertanenmentalität, auch keine religiöse Sanktionierung autoritärer politischer Herrschaft. Der "freie Gehorsam" gegenüber dem Anspruch Gottes bewährt sich ja gerade in der Nicht-Identifizierung göttlicher mit irgendwelchen irdischen Ansprüchen. Diese Nicht-Identifizierung bedeutet deren Relativierung. Würde man diese irdischen Ansprüche überhaupt aufheben (während wir noch im Pilgrimstand sind), um an ihrer Stelle jenes "geistliche Reich" zu errichten, so könnte das nur bedeuten, daß dann entweder dieses Reich zu etwas Zeitlich-Relativem gemacht oder umgekehrt ein Relatives `verabsolutiert` würde. Im Rahmen des Relativen, des Vorläufigen und Provisorischen hat der Staat eine legitime Aufgabe und haben seine Organe auch eine legitime Autorität, die christlich anzuerkennen ist, deren Ausübung aber eben darum zugleich auch grundsätzlich relativ, korrigierbar und überprüfbar ist. Ohne ihrerseits diesen Rahmen verlassen zu dürfen, haben Christen einen freien Spielraum, sich an der politischen Aufgabe zu beteiligen, sei es in der Unterstützung und Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung, sei es im Versuch zur Verbesserung seiner Gestalt und der Wahrnehmung seiner Aufgabe, sei es notfalls auch in Gestalt von bestimmten Verweigerungen. Der entscheidende Punkt ist bei dem allem die Anerkennung der politischen Aufgabe und der staatlichen Autorität unter der Voraussetzung ihrer Relativierung durch den `souveränen` Gott. Im Einschärfen dieses Punkts hat Calvin, wie er auch damals faktisch politisch votiert und agiert haben mag, eine Atmosphäre geschaffen, die einem sich gleichsam an Gottes Stelle setzenden Obrigkeitsstaat abträglich und der Vorbereitung eines `demokratischen` Denkens zuträglich war.


      3. Die Gestalt der Kirche
      Dem, daß Calvin zuerst Theologe und Christ und erst dann auch Bürger war, entspricht, daß wir nicht nicht von seinem Verhältnis zur Politik sprechen können, ohne zuvor nun auch von seiner Bemühung um die Kirche und ihre rechte Gestalt zu reden.28 In dieser Vorordnung der Frage nach der Kirche vor der nach dem Staat geht es nicht um die Wahrung eines Überlegenheits-Interesses, vielmehr um die Einsicht: Die Kirche treibt dann am besten auch `Politik`, wenn sie darum besorgt ist, daß sie - in ihrer Verkündigung und Gestalt - Kirche und als Kirche in Ordnung ist.Die Reformatoren waren sich darin einig, daß die sichtbare Kirche nicht ohne bestimmte Ordnung und Rechtsgestalt existieren kann. Im Protest gegen die römische Rechtskirche, in der einerseits die Bischöfe wie und als weltliche Herrscher auftreten konnten, in der andererseits das Kirchenrecht als "göttliches Recht" ausgegeben wurde, waren sich die lutherische und zwinglische Reformation überdies einig, daß die Kirche sich ihre Ordnung und äußere Gestalt von der `Obrigkeit` geben lassen soll und kann, weil es dabei ja nur um die äußerliche, weltlich-sichtbare Erscheinung der Kirche geht, weil sie aber auch faktisch mit einer `christlichen Obrigkeit` rechnen zu dürfen meinten. Calvin begann gegenüber dieser Lösung kritisch zu werden - wohl auch durch unliebsame Erfahrungen mit einem unliebsamen Hineinregieren des Staats in die Kirche bei einem `Staatskirchentum`29, aber auch angesichts der Notwendigkeit der hugenottischen Kirche, sich ohne oder gegen staatliche Einsprüche zu organisieren. Demgegenüber hat Calvin im Prinzip die Entscheidung gefällt, daß die Kirche ihre Ordnung sich selbst gibt - eine Entscheidung, deren Konsequenz er kaum ahnen konnte, weil sie letztlich zur Trennung der Kirche von einem `weltanschaulich neutralen` Staat führte. Diese Konsequenz wollte Calvin wohl nicht; er sah ja für den Staat auch die Aufgabe der Sorge für das Einhalten der ersten Tafel des Dekalogs, d.h. für den Schutz des Gottesdienstes vor. Gleichwohl hat er dieser Entscheidung die Bahn gebrochen. Ausschlaggebend war dafür wieder ein theologischer Grund: Jedenfalls die Kirche kann und soll die "Autorität Gottes" kennen und sich nach ihr richten. Darum hat sie dafür einzustehen, daß ihre "menschlichen Satzungen" (humanae constitutiones) in ihrer sichtbaren Gestalt - zuerst gerade nicht auf die sonst im sichtbaren, weltlichen (staatlichen) Raum geltenden Gesetze, sondern "auf die Autorität Gottes begründet und aus der Schrift genommen" sind. Und das so, daß diese ihre Satzungen dafür sorgen, daß sie eben Kirche ist und in ihrer äußeren Gestalt weder ein Anhängsel an den Staat noch ein Staat wie der weltliche Staat! Freilich, die Kirche ist jene noch auf Erden wandernde Pilgerschar. Darum sind ihre Ordnungen nicht "göttliches Recht" (ius divinum), sondern eben "menschliche Satzungen", nicht heilsnotwendig, keine unveränderliche Ordnungen, sondern zeitlich, variabel und korrigibel (4,10.30). Sie sind unter den jeweiligen Umständen zu fassen, aber so, daß sie jeweils beides in Einklang zu bringen versuchen: das Zusammenleben in Liebe und die Respektierung der Freiheit der Gewissen, um eben damit ihre Ausrichtung auf die "Autorität Gottes" bezeugen. Ob nicht in solcher Auffassung die Erwartung gehegt wurde, daß eine Kirchenordnung, die als "menschliche Satzung" das leistet, mit den entsprechenden Umsetzungen auch für die Gestaltung des bürgerlichen Gemeinwesens vorbildlich sein könnte?
      Zunächst, eine kirchliche Ordnung ist nach Calvin um der Gemeinschaft und der gegenseitigen Liebe willen nötig (ad communem usum - ut communi officio alatur inter nos charitas, 4,10.28). Es geht dabei um mehr als um das, was Calvin zwar auch nüchtern nennt: um eine gewisse Einschränkung der persönlichen Freiheit zugunsten eines untumultuösen, anständigen Auskommens miteinander. Es geht dabei vor allem um die Berücksichtigung der Liebe (charitatis ratio, 4,10.32). Die Gestalt der Kirche hat dem zu entsprechen, daß sie der gegenseitigen Liebe, der sozialen Kommunikation im Leben der Kirche Raum gibt.
      "Nach der Ordnung werden die Heiligen zur Gesellschaft (societas) Christi versammelt, daß sie die Wohltaten, die Gott ihnen gewährt, gegenseitig sich einander mitteilen (communicent) ... Es kann nämlich nicht anders zugehen, wenn sie überzeugt sind, daß Gott für sie alle der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, daß sie als solche, die in geschwisterlicher Liebe einander verbunden sind, einander gegenseitig das Ihre mitteilen" (4,1.3).

      Wenn wir ferner bedenken, daß für Calvin konkret die Abendmahlsfeier Ansatz für seine Fassung der Kirchenordnung war, so haben die Sätze Gewicht, mit denen er die Bedeutung des Mahls für das Zusammenleben der Gemeinde umschreibt:

      "Wir können nicht mit unseren Brüdern in Zwietracht leben, ohne zugleich mit Christus in Zwietracht zu sein. Wir können Christus nicht lieben, ohne daß wir ihn in unseren Brüdern lieben. Die Sorge, die wir um unseren Leib tragen, müssen wir auch an unsere Brüder wenden, die doch Glieder an unserem Leibe sind; und wie kein Stück unseres Leibes von irgendeinem Schmerzempfinden berührt wird, das sich nicht zugleich auf alle anderen übertragen wird, so können können wir es auch nicht ertragen, daß ein Bruder von irgendeinem Übel befallen wird, das wir nicht auch selbst durchlitten" (4,17.38).

      Es läßt sich von hier aus die These von Erik Wolf verstehen und vertreten: "Eine bruderschaftliche Verfassung ... muß jeder calvinistischen Sozialordnung als eine Grundforderung christlicher Lebensgemeinschaft erscheinen."30 Jedenfalls muß nach Calvin die Ordnung der Kirche durch die Dimension solidarischer Gemeinschaft und der Verantwortung füreinander ausgezeichnet sein.
      E. Wolf setzt hinzu, daß diese "bruderschaftliche Verfassung" bei Calvin "auf selbstverantwortliche Mitregierung jedes einzelnen Gemeindemitglieds ... gegründet ist." Nun, Calvin hat auch hier mehr nur eine Tür entdeckt, als daß er durch sie hindurchgeschritten wäre und dem organisatorisch Raum gegeben hätte.31 Aber richtig ist, daß er sich in dieser Richtung bewegt hat, indem für ihn die soziale Dimension der Kirche nicht auf Kosten der Freiheit ihrer Glieder hervorgehoben werden darf. Ist der "Befreier" (liberator) Christus ihr König, dann gilt: "Von dem Gesetz der Freiheit (libertatis lege), nämlich vom heiligen Wort des Evangeliums, müssen sie regiert werden (regantur) ...: keine Knechtschaft darf sie mehr festhalten, keine Fesseln dürfen sie mehr binden" (4,10.1). Aber wiederum kann diese `christliche Freiheit` nicht bloß als Vorbehalt gegenüber einer Kirchenordnung vestanden werden, sondern muß sie Gestalt und Ordnung der Kirche selbst bestimmen - und erst dann würden der Aspekt der Gemeinschaft und der Freiheit einander ergänzen und bedingen. Tatsächlich hat Calvin den Weg dafür geöffnet, indem für ihn jeder Christ kraft seines Glaubens (also nicht aufgrund der Einsetzung und Erlaubnis eines kirchlichen Amts und darum auch nicht als dessen Handlanger, nicht als `Mitarbeiter` des Pfarrers) am dreifachen Amt Christi - als König, Priester und Prophet - aktiv teilhat.32 In dieser Beziehung steht für ihn kein Christ über und keiner unter den anderen, sondern stehen alle in eigener Freiheit nebeneinander. "Die Kirche hat Christus zu ihrem einzigen Haupte, unter dessen Herrschaft wir alle miteinander verbunden sind." (4,6.9). Im Blick darauf kann man im Ansatz bis Calvin zurückverfolgen, was K. Barth über die synodale Tradition des Reformiertentums sagte: "Ihre formelle Aristokratie ist doch nur repräsentative Demokratie, Korrelat der Autokratie Christi. Kein Amt, kein Klerus darf sich hineinschieben zwischen den Imperator Christus im Himmel und die auf Erden souveräne christliche Landsgemeinde."33 Wie sehr für Calvin immerhin schon Christsein mündiges Christsein heißt, zeigt seine förmliche Definition der Kirchengliedschaft: Als "Glieder der Kirche" hätten die zu gelten, "die durch das Bekenntnis (confessione) des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und die durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen (profitentur)" (4,1.8). Das Gemeinte wird durch seinen Brief an wegen ihres Glaubenszeugnisses inhaftierte Frauen in Paris illustriert:

      "Und wenn sie aus dem Geschlecht oder äußeren Stand Anlaß nehmen, ganz besonders über uns herzufallen (wir sehen ja, wie sie über Frauen und einfache Handwerker spotten, als käme es denen nicht zu, von Gott zu reden und ihr Seelenheil zu kennen!), so müssen wir sehen, wie Gott täglich wirkt durch das Zeugnis von Frauen und seine Feinde bestürzt macht." "Da es ... Gott gefallen hat, Euch zu berufen so gut wie die Männer (denn vor ihm gilt nicht Mann noch Weib), so müßt Ihr auch Eure Pflicht tun ... und dürft ... nicht feige sein." "Da wir alle zusammen unser Heil haben in ihn, müssen wir einmütig, Männer wie Frauen, seine Sache führen."34

      Gewiß kennt und befürwortet Calvin auch eine Leitung der Gemeinde, doch strikt in der Klammer, daß Christus und sein Wort hier allein die "Regierung" (imperium) hat: "Er allein soll in der Kirche bestimmen und leiten (regere et regnare)" (4,3.1). Das hat zur Folge, daß die Kirchenleiter dann nicht als `Kirchenobere`, als `Amtsträger`, sondern als Diener (ministri) Christi zu verstehen sind. Konkretes Zeichen dafür ist, daß nach Calvin die Gemeindeleitung strikt nicht bloß einem Einzelnen, sondern einem Kollegium obliegt, und zwar einem, in dem das dreifache Amt Christi sich widerspiegelt in einer Auffächerung von drei verschiedenen, von einander getrennten Funktionen: Dem prophetischen Amt Christi entspricht die Verkündigungs- und Unterrichtsaufgabe, dem königlichen der kirchenleitende Dienst des Presbyteriums und dem priesterlichen Amt Christi die diakonische Armenfürsorge. Was die Gemeindeleitung in diesen drei Funktionen tut, kann den Gemeindegliedern aber darum keine fremde Herrschaft über sie sein, weil ja zugleich jeder Christ als solcher in der Teilhabe an Christus an allen drei Funktionen teilhat und sie in sich vereint. Wiederum, in der offiziellen Gestalt der Gemeindeleitung kommt es offenbar auf eine `Gewaltenteilung`35 oder vielmehr Funktionen-Auffächerung an und darauf, daß diese drei Aufgaben gerade nicht in einer Hand vereinigt sind. Die "formelle Aristokratie" der Gemeindeleitung ist somit faktisch in der Tat, als "Korrelat der Autokratie Christi", eine "repräsentative Demokratie".
      Diese These ist nicht weither geholt. Denn Calvin vollzog in seiner Ämterlehre bewußt eine tief greifende Korrektur am römischen `System`, in dem nach seiner Sicht im Papsttum als dem sichtbaren Stellvertreter Christi eben diese drei Funktionen in einer Hand vereint sind: das oberste Priesteramt (summum sacerdotium, 4,6.2), die Autorität zur Aufstellung von Glaubenssätzen (authoritas dogmatum tradendorum, 4,8.1) und die gesetzgebende Gewalt (potestas in legibus ferendis, Titel zu 4,10), also kurz, die Priester-, die Lehr- und die Rechts-Gewalt. Es war ein folgenschwerer Schritt, daß Calvin dagegen lehrte, daß diese dreifache "Gewalt" ausschließlich Christus und kein irdischer `Stellvertreter` innehat, doch so, daß alle im Glauben an Christus gleichermaßen an diesem dreifachen Amt Christi teilhaben - während er kategorisch bestritt, daß in der öffentlichen Repräsentation der Kirche in ihrer Leitung "ein einziger Mensch der ganzen Kirche vorstehe" (hominum unum praeesse). Eine solche "Monarchie" sei schon in der bürgerlichen Welt "vollkommen absurd" (absurdissimum), aber in der Kirche ein "Riesenunrecht" (insignis iniuria) gegen Christus (4,6.9). Sondern in ihrer öffentlichen Repräsentation - zum konkreten Zeichen dafür, daß sie Christus als das alleinige Haupt der Kirche nicht ersetzen kann, aber wohl auch dafür, daß sie die Freiheit aller Christen zu und in der Teilhabe am dreifachen Amt Christi nicht verdrängen darf - müssen jene drei Funktionen in mehrere Hände gelegt werden. Dadurch wandelt sich jenes `System` aber in bemerkenswerter Weise. Denn zum einen kann und soll die Ausübung jener drei Funktionen nun nicht mehr eigentlich als Ausübung von Gewalt verstanden werden. "Die Kirche hat nicht Macht, einen Zwang auszuüben (cogendi potestas), und soll sie auch nicht begehren (4,11.16). Zum anderen wandelt sich damit auch der inhaltliche Sinn jener drei Funktionen: Die Lehrgewalt zur Dogmen-Aufstellung wird zum Verkündigungsamt (samt der ihm zugeordneten Unterweisung), die Jurisdiktions-Gewalt wird zur Aufgabe der (vor allem seelsorgerlichen) Gemeindeaufsicht, damit "die Glieder des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden leben" (14,12.1); und die priesterliche Gewalt wird zum fürsorgerlichen Dienst an den schwächsten dieser `Glieder`36. So repräsentiert die Gemeindeleitung die Vielfalt des von Christus regierten Lebens seiner Gemeinde.
      Daß die Kirche sich ihre Ordnung selbst gibt, daß diese Ordnung aber nach den jeweiligen Umständen variabel ist, und das erst recht, indem sie sich ja als eine mobile Pilgerschaft versteht, daß ihre Gestalt jedoch bestimmt sein muß einerseits durch die Gemeinschaft gegenseitig verbundener Glieder, andererseits durch die Freiheit der Glieder in Betätigung ihrer Teilhabe am dreifachen Amt Christi, daß schließlich die Gemeindeleitung durch eine Aufteilung in verschiedenen Funktionen charakterisiert sein soll - alle diese Erkenntnisse fließen in einer weiteren Entscheidung zusammen, die das Gesicht des Reformiertentums bis heute prägt und sich in seiner schwer `unter einen Hut` zu bringenden Mannigfaltigkeit ausprägt. Diese ist keine zufällige, sondern eine absichtlich gewollte. Es zeigt sich ja in den eben genannten Erkenntnissen eine Sicht von Kirche, die sie zuerst und bevorzugt in einer konkret bei ihrer Verantwortung behaftbaren, darum lokal oder regional überblickbaren Schar erkennt. In der Tat betont Calvin, daß jede einzelne Gemeinde - nicht eine Filiale der Kirche ist, so daß `die` Kirche oberhalb der Einzelkirche läge oder erst durch den Zusammenschluß mit anderen Einzelgemeinden zur Kirche würde; sondern "eine jede Gemeinde hat mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche inne" (4,1.9). Calvin folgert das aus der gemeinreformatorischen Erkenntnis, daß die Kirche da sichtbar ist, "wo Gottes Wort rein verkündigt und (!) gehört wird, wo wir die Sakramente nach der Einrichtung Christi austeilt sehen" (ebd.). Eben daraus zieht er die Konsequenz, daß die konkret an einem Ort versammelte Kirche im Vollsinn Kirche ist. Gewiß kennt er auch "die universale Kirche": die Gesamtheit der Kirchen, die, räumlich getrennt, in der Wahrheit der göttlichen Lehre und durch die gleiche Gottesverehrung verbunden sind (ebd.). Diese Kirchen können und sollen in freiem, geschwisterlichen Kontakt stehen. Sie können darüber hinaus auch gemeinsame Beschlüsse fassen, aber - und das ist hier das Entscheidende - das nur durch das Zusammentreten von Delegierten aus Pfarramt und Presbyterium der Einzelgemeinden. Die Zusammensetzung eines solchen Zusammentritts aus Delegierten ist darum wesentlich nötig, weil nur so im Blick auf für alle Einzelgemeinden verbindliche Beschlüsse der Grundsatz durchführbar ist, den Calvin 1559 mit Bedacht an die Spitze der von ihm für die Hugenottenkirche verfaßten "Discipline ecclesiastique" setzte und der ja die genaue rechtliche Anwendung der Erkenntnis ist, daß jede Einzelkirche im Vollsinn Kirche ist: "Erstens gilt, daß keine Kirche sich Vorherrschaft und Beherrschung gegenüber einer anderen anmaßen darf".37 Das ist im Kern das `synodale Prinzip`, in dem es zu überörtlichen Verbindlichkeiten nur auf dem Weg eben von `Synoden` kommt, die `von unten`, von der Basis der einzelnen Ortsgemeinden beschickt sind. Hier ist die Wurzel für das typisch `reformierte` Mißtrauen gegen alles `Oben` zu sehen, gegen oberhalb der Gemeinden und außer ihrer Kontrolle sich bildende Machtzentren, die doch über sie befinden. Hier ist aber zugleich auch die Wurzel für die spezifisch `reformierte` ökumenische Offenheit, weil man dabei ja doch mit Anderen verkehren kann, ohne Angst davor, von ihnen beherrscht werden zu müssen, aber auch ohne die Bedingung, daß die Anderen zuvor unter das eigene Dach gebracht werden müssen.38 Hierher gehört auch das eigentümliche Faktum, daß die reformierte Familie selbst zwar in verschiedenen Regionen mannigfache Bekenntnisse und Kirchenordnungen hervorgebracht hat, doch bis heute unter Verzicht auf ein sie im ganzen umfassendes reformiertes Bekenntnis und auf eine einheitliche Kirchenordnung. Wahrscheinlich hat das alte Reformiertentum an keinem Punkt unmittelbarer ein demokratisches Denken und Verfahren befruchtet als durch diese, zuletzt auf Calvin zurückgehende Konzeption von synodaler Gestaltung der Kirche und durch die dadurch geprägte Mentalität.


      4. Das Verhältnis zum Staat
      Es ist nach allem klar - und man muß das bei der Behandlung dieses Gebiets vor Augen haben: daß die Frage des Verhältnisses zum politischen Raum für Calvin nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Bedeutung eines Bei-Läufigen hat. Es scheine, so beginnt er seine Ausführungen in der Institutio dazu (4,20.1), diese Frage sogar gar nichts zu tun haben mit der "Unterweisung im geistlichen Glauben, die zu behandeln ich unternommen habe". Wenn es dennoch dazu eine "Nötigung" gebe, dann zunächst nur wegen zwei im Blick darauf drohenden Gefahren, die allerdings diesen Glauben so berühren, daß ohne Widerspruch gegen sie "die Reinheit des Glaubens (fidei sinceritas) zugrunde gehen würde". Die eine geht von Christen aus, die unter Berufung auf Gott den Staat verwerfen - und sich damit vielmehr gegen Gott wenden. Die andere geht von staatlichen Herrschern aus, die ihre Macht so maßlos ausüben, daß sie damit in ihrer anderer Weise "dem Regiment Gottes selbst widerstehen" (Dei ipsius imperio opponere). Weil damit, so oder so, letztlich die "Reinheit des Glaubens" auf dem Spiel steht, darum ist nun allerdings die "Unterweisung im geistlichen Glauben" herausgefordert, sich auch zu dieser ganzen Frage zu äußern. Calvin tut das, indem er einen Doppelseatz aufstellt und im Grunde nur ihn immer wieder durchdekliniert: einen, der jene den Glauben antastende Doppelgefahr gründlich ausräumen soll.
      Zum ersten: Der Staat muß nicht anders sein, als er ist, damit Christen im Glauben Gott gehorsam sein können. Denn kein Staat, er mag sein und handeln, wie er will, kann sie ja an solchem Gehorsam hindern. Liest man Calvins in diesen Zusammenhang gehörigen Aussagen im Gefälle dieser Akzentuierung, dann ist von Anfang an klar, daß es dabei nicht um eine Legitimierung jedweden Staats geht, sondern um die vorrangige Sorge darum, daß Christen bei aller Beschäftigung auch mit dem Staat nicht ihre Christlichkeit verleugnen. Darum sollen sie selbst dann, wenn Staatslenker sich direkt gegen Gott stellen und damit auch ihren Gehorsam gegen Gott antasten, sich klar machen, "daß wir jenen Gehorsam, den der Herr verlangt, dann leisten, wenn wir lieber alles Erdenkliche leiden, als von der Frömmigkeit zu weichen" (4,20.32). Insofern haben wir in diesem Gehorsam dann zu leiden und auch dann nicht etwa gegen den Staat zu kämpfen und einen anderen herzustellen, als wir auch angesichts und inmitten eines Staates, der ist, wie er in diesem Extremfall ist, keinen Grund haben, vom Glaubensgehorsam gegen Gott zu weichen. Gerade in diesem Gehorsam dürfen wir nicht sagen: Erst wenn die und die politischen Bedingungen erfüllt sind und der Staat so und so gestaltet sein wird, wird solcher Gehorsam möglich sein. Keine staatlichen Zustände stellen dem Glaubensgehorsam solche Bedingungen. Er wird weder durch bessere Zustände ermöglicht noch durch schlechtere verunmöglicht. In dem Sinn hebt Calvin hervor, "daß Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind" (4,20.1). In dem Sinn sagt er sogar das Provozierende: "Geistliche Freiheit kann mit politischer Knechtschaft bestens bestehen" (ebd.) - was doch nicht das Dogma einer generellen Verträglichkeit und Kombinierbarkeit von innerer Freiheit und äußerlicher Sklaverei aufstellt, sondern sagt, daß auch solche Knechtschaft uns nicht die geistliche Freiheit zu rauben vermag, die wir im Gehorsam gegen Gott haben. Verdanken wir diese Freiheit nicht politischer Liberalität, so kann sie politische Illiberalität auch nicht verbieten. Denn das haben wir zu beachten, daß der erste Teil in jenem Doppelsatz eigentümlich oszilliert. Einerseits hat er wohl einen nüchtern-pragmatischen Aspekt, der erlaubt und auffordert, sich auf die jeweils gegebenen "Umstände" einzustellen, statt sie mit müßigen Disputationen darüber zu überspringen, "was der angenehmste politische Zustand an dem Ort, an dem wir leben, sein würde" (4,20.8). Andererseits hat er zugleich aber auch einen fundamental kritischen Aspekt, weil er nicht abstrakt eine Gleichgültigkeit des Glaubens gegenüber der Politik statuiert (alles Folgende stünde ja dann im Widerspruch dazu), sondern weil er eben aufgrund der Unterscheidung des "geistlichen Reichs Christi" von allen politischen Ordnungen dem politischen `status quo` keine religiöse Sanktionierung zuteil werden läßt, sondern sie ihm im Kern entzieht.

      Zum anderen ist komplementär zum ersten nun der zweite Satz hinzuzufügen: Aber angesichts und inmitten des Staates gilt es für Christen, Gott zu gehorchen, und zwar immer Gott mehr als den Menschen. Das gilt nach Calvin auch und gerade dann, wenn der Satz normalerweise besagt, daß wir auch Menschen zu gehorchen, sprich: staatliche Autoritäten anzuerkennen und ihren Gesetzen nachzukommen haben. Normalerweise! Denn der Gehorsam gegen Gott schließt den Respekt gegen staatliche Autoritäten nicht aus, sondern begründet ihn sogar. Calvin kann erneut provozierend von deren Würde reden: Sie sind zu "Dienern (ministri) der göttlichen Gerechtigkeit" eingesetzt, zum "Werkzeug (organum) der göttlichen Wahrheit", ja, zu "Gottes Stellvertretern (vicari)" oder "Abgesandten (legati)" (4,20.6). Also nun doch eine religiöse Sanktionierung der "politischen Administration"? Aber Vorsicht! Ein ähnliches Oszillieren wie bei jenem ersten Satz zeigt sich auch in dem zweiten. Auf der einen Seite ist deren göttliche Einsetzung als göttliche Wohltat (beneficium) dankbar zu ehren (4,20.9). Denn es ist Gottes guter Wille, daß wir, solange wir "Pilgrime auf Erden" sind und darum zum Nutzen dieser Pilgrimschaft solcher Hilfsmittel (subsidiis) bedürfen, im Dasein der "politischen Administration" solches "subsiduum", d.h. Hilfsmittel, Beistand, Schutz von Gott gewährt bekommen. Darum würden wir, wenn wir dieses "Hilfsmittel" verweigern und das staatliche Regiment beseitigen wollten, die "Menschlichkeit" selbst ausrotten (4,20.2). Man mag darum kritisch gegen die faktische Ausübung dieses Regiments sein, wie man will, man darf auch darin staatliches Regiment nicht nicht haben wollen, will man nicht die göttliche Wohltat in dessen Einsetzung zu solchem "Hilfsmittel" verachten. Aber auf der anderen Seite gilt zugleich: Nicht schon damit, daß wir irgendeiner staatlichen Autorität gehorchen, gehorchen wir Gott. Sondern immer nur umgekehrt: Weil wir Gott gehorchen, darum auch ihr - aber ihr "allein in ihm (nonnisi in ipso)" (4,20.32). "Ach, wenn das doch stets von uns beachtet würde, ... daß alles auf die Autorität Gottes und seines Gebots hin zu geschehen hat! Wenn sie allem vorgeht, dann kann niemals der rechte Weg verfehlt werden." (4,20.10) Das bedeutet für die staatlichen Regenten selbst, daß sie, sofern sie um ihre Stellung als "Gottes Vikare" wissen, sich nicht darauf zur Rechtfertigung ihrer Willkür, geschweige ihrer Untaten berufen können, sondern daß sie darum umgekehrt zu einem menschlichen Höchstmaß an "Integrität, Vorsicht, Milde, Maßhalten, Unschuld" herausgefordert sind - im Wissen darum, daß ihre Untaten dann nicht nur Menschenschinderei, sondern Gottesschändung sind (4,20.6). Das bedeutet wiederum für die Regierten, daß sie nur eine begrenzte und keine absolute Folgepflicht gegenüber den Regenten haben - und die Kirche macht, indem sie ja die Magistraten als "Vikare Gottes" erkennt, keinen unbefugten Übergriff in das weltliche Regiment, wenn sie allgemein oder je in einem konkreten Fall die Grenze dieser Pflicht einschärft: "Wenn sie etwas gegen ihn (Gott) befehlen, dann ist dem nicht stattzugeben noch zählt es; und wir dürfen hier in keiner Weise auf die Würde, die dem Magistrat zukommt, Rücksicht nehmen" (4.20,32).
      Jener umrissene Doppelsatz steht nun speziell hinter Calvins Anwendung einer Erkenntnis, die er, wie schon zuvor Zwingli39, von Plato und Aristoteles40 hier einfach übernehmen zu dürfen glaubte (4,20.8): Es gebe die drei Staatsformen: Königtum, Herrschaft der Besten (Aristokratie) und Volksherrschaft (Demokratie). Calvin knüpft daran seine persönliche Ansicht an, daß die zweite oder eine Mischung aus der zweiten und dritten Staatsform vorzuziehen sei, weil so die "Freiheit" des Volks eine gebührende "Lenkung" (moderatio) erfahre, ohne daß jedoch diese jene Freiheit "mindern", geschweige "verletzen" dürfe. Wichtiger für Calvin und, ich denke, sachlich weiterführender ist die Überlegung, daß jede dieser drei möglichen Staatsformen gemeingefährlich entarten könne: das Königtum zur Tyrannei, die Aristokratie zur Cliquenherrschaft, die Volksherrschaft zur sozialen Spaltung. Der Gedanke unterstreicht zunächst erneut den Satz, daß der Glaubensgehorsam in jeder Staatsform möglich ist, die nun einmal unter Gottes Vorsehung in den verschiedenen Regionen verschieden sein mag (ebd.). Der Gedanke entbirgt aber nun auch zugleich auch die in diesem Satz liegende kritische Kraft und treibt das Denken in die Richtung einer Einsicht, die, wie ich meine, der vornehmliche Beitrag Calvins zum Werden der modernen Demokratie ist: Er treibt dazu an, umso wachsamer das Augenmerk auf den - dann allerdings den Glaubensgehorsam herausfordernden - Punkt zu richten, wo die vorfindliche, erträgliche Staatsform zur unerträglichen Entartung wird: unerträglich, weil da die Wohltat Gottes in der Einsetzung des bürgerlichen Regiments pervertiert oder verleugnet wird, sei es durch seine Auflösung, sei es in seiner eigenen Absolutsetzung, sei es darum im Angriff auf die Gemeinschaft im Staat, sei es im Angriff auf die Freiheit in ihm.
      Aber was ist in diesem Fall dann zu tun? Weil dabei letztlich die Wohltat Gottes in der Einsetzung der "politischen Administration" bestritten wird, darum hat dazu die Kirche durchaus etwas zu sagen. Zu sagen! Mehr als das Wort steht ihr dabei nicht zu Gebote, weil sie als Kirche keine Machtmittel hat noch haben darf (s.o.). Aber zu sagen hat sie dann ein ganz Konkretes. Zwar ist theoretisch der Staat in jeder Staatsform gefährdet. Aber dieses Theoretische soll ja praktisch dafür wachsam machen, daß der Staat dann also jederzeit durch Entartung bedroht sein kann; und die Kirche hat dann, wenn das in einer je bestimmten Weise der Fall ist, - nicht eine allgemeine Staatstheorie zu vertreten, sondern gegen diese bestimmte, jeweils besondere Gefahr ihr Wort zu erheben. Es war aber zumindest beim älteren Calvin so - und das hat sich dem Reformiertentum gewiß so sehr eingeprägt wie seine allgemeinen Ausführungen in "De politica administratione" - , daß er, der angebliche Verächter des `Pöbels`, faktisch den Staat eben nicht von `unten` gefährdet sah, sondern aufs Bedrohlichste von `oben`, von den ihn Beherrschenden.
      Namentlich sein Daniel-Kommentar von 156141 ist unter der Text-Auslegung eine flammende Anklagerede wider die monarchistische Tyrannei. Er ruft gegen sie wohl nicht zum politischen Aufstand auf. Er entwickelt kein politisches Gegenprogramm. Er hofft angesicht dessen nur auf Gott und seinen Christus, der König der Welt ist, und darauf, daß er wie Gebeugte erheben, so Mächtige nicht nur einsetzen, sondern sehr wohl auch stürzen kann (385f., 394). Aber in diesem Licht deckt er schonungslos auf: die Macht, das Schreckensregiment der Herrscher - sie, die "ihrer Wut die Zügel schießen lassen und meinen, sie dürften sich alles erlauben", nach der Devise: "Erlaubt ist, was gefällt", über deren Schwelle man nicht treten kann, ohne daß es "mit der Freiheit vorbei" ist (378). Sie, die, geblendet vom "Glanz ihrer Größe", dem "Größenwahn" verfallen sind (400). Sie, die damit doch vielen Eindruck machen, so daß diese "einfach nach des Königs Pfeife" tanzen; "was dem König gefällt, dem stimmen sie alle zu, wenn nötig, mit lautem Beifall" (409). Sie, die über alle "Untertanen frei verfügen", nicht, weil sie es dürften, aber "weil es sich alle schweigend gefallen lassen" (452)42. Sie, die die "Heiligen", die dabei nicht mitmachen, belasten und belästigen "mit der Anklage auf Undank und Aufruhr" (412); denn "nichts ist für die Könige schwerer zu ertragen als Verachtung ihrer Befehle" (413). Sie, die schließlich bei dem allem die Religion nicht missen mögen, sondern noch so gern zur Festigung ihrer Macht in ihren Dienst stellen, die darum "mit großem Aufwand Tempel bauen"; und wenn "man sie fragt, was für eine Absicht sie dabei leite, so erfolgt sofort die Antwort: das tun wir zur Ehre Gottes! Dabei suchen sie allein ihren eigenen Ruhm und ihre eigene Ehre" (405). Es ist für Calvin klar, daß der kirchliche Widerspruch gegen sie gerade an dem letzteren Punkt ansetzen und ihnen so die religiöse Stütze ihres Machtgefüges entreißen muß. Es mußte darüber hinaus denen, die diese - geradezu von einem Freiheitspathos getragene und zugleich das Funktionieren von Macht scharfsichtig analysierende - Kritik Calvins lasen43, auch klar sein, daß auch Calvins Auszeichnung der staatlichen Magistraten als Gottes `Vikare` genau das: eine Machtkonzentration an der Staatsspitze, nicht meinte, sondern, rechtverstanden, sogar bestritt. Zudem ist deutlich: Gerade das Argument der Sünde, der "Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen" ist für Calvin kein Argument für den autoritären, mon-archischen Staat, sondern ein entscheidendes dafür, daß im Staat "mehrere das Steuerruder" zu halten haben (4,20.8).
      Aber nun drängte die These von der möglichen Korrumpierbarkeit jeder Staatsform zu einer weiteren, jetzt direkt politischen Überlegung, die eine praktische Handhabe gegen deren Korruption ermöglicht. Demnach ist im Staatswesen dreierlei fundamental zu unterscheiden: der Magistrat44, die bürgerlichen Gesetze (leges), nach denen er regiert, und das Volk, das den Gesetzen und insofern auch dem Magistrat Folge zu leisten hat (4,20.3). Mit dieser Differenzierung unterscheidet sich Calvin von jener lutherischen Tradition, die die `Obrigkeit` und den `äußerlichen Gebrauch des Gesetzes` (singularisch!) so eng zusammensieht, daß die Obrigkeit kraft ihrer Macht, das `zügellose` Volk an die Zügel zu nehmen, als solche schon das Gesetz (Gottes) äußerlich verkörpert. Es legte sich dabei nahe, den Sinn dieses "Gesetzes" (lex) wesentlich in seinem Zwangscharakter, in seiner Verbindung mit Gewaltausübung zu sehen. Daß Calvin die "Gesetze" (pluralisch!) als ein Eigenes, Drittes neben und gegenüber beiden, Magistrat und Volk, herausstellt, bedeutet eine entscheidende Weichenstellung, die in eine andere Richtung weist als jene Tradition. Diese Differenzierung hat zwei erhebliche Folgen.

      Zum einen: Indem der Magistrat zwar gemäß (secundum) den "Gesetzen" zu handeln hat (ebd.), aber sein Handeln nicht mit den "Gesetzen" identisch ist, stellt sich die Aufgabe einer inhaltlichen Bestimmung der Gesetze. Denn noch nicht deren Form - daß sie zwingen - macht sie zu Gesetzen, mit denen sich ein bürgerliches Gemeinwesen regieren und ein erträgliches Zusammenleben in ihm organisieren läßt, sondern ihre Zweckmäßigkeit hat sich an ihrem Inhalt zu erweisen. Das setzt voraus, daß diese Gesetze (leges) nicht mit dem göttlichen Gesetz (lex) zusammenfallen, sondern menschliche, darum prinzipiell korrigible Festlegungen sind, Versuche, diesem göttlichen Gesetz zu entsprechen. Aber eben, es kann dabei nicht genug sein, sie nur oder auch nur zuerst auf ihren formalen, negativen Charakter hin zu beachten, so daß in der Konsequenz entweder die Gesetze, gleich was sie gebieten, hinreichend sind, wenn sie nur von menschlicher Zügellosigkeit abschrecken, oder die Gesetze gar umso `besser` sind, je mehr sie abschreckend sind. Darum kommt es bei diesen Festlegungen oder Versuchen vielmehr darauf an, ihren positiven, der menschlichen Gemeinschaft zuträglichen Sinn herauszustellen. Sie sind ja "die kräftigsten Nerven des Gemeinwesens" (4,20.16) und sind darum so gut, wie sie denn auch tatsächlich dem Zusammenleben seiner Glieder dienlich sind, "dem Gemeinwohl und öffentlichen Frieden" (communi omnium saluti ac paci, 4,20.9). Der Grundbegriff, nach dem die bürgerlichen Gesetze festzulegen sind und an dem sie sich messen zu lassen haben, ist für Calvin schlicht der der "aequitas", das Tun dessen, was "recht und billig" ist (4,20.16), man könnte auch sagen: die nach der "ewigen Richtschnur der Gerechtigkeit" gebildete menschliche Gerechtigkeit (4,20.15). Diese ist für Calvin nach zwei Seiten geltend zu machen: so, "daß unter den Christen (!) eine öffentliche Gestalt des Gottesdienstes existiert und daß unter den Menschen (!) die Menschlichkeit (humanitas) Bestand hat" (4,20.3). Dabei bemißt sich die "Menschlichkeit" in der Bürgerschaft konkret daran: "daß den Armen und Bedürftigen das Recht zurückgegeben wird" und sie "der Hand des Unterdrückers entrissen werden" (4,20.9). Gerade in diesem Zusammenhang versteht Calvin auch den guten Sinn der dem Staat verliehenen "Gewalt": Er ist damit "gewappnet", damit seine Repräsentanten "die guten Leute vor den Ungerechtigkeiten der Bösen schützen und den Unterdrückten mit Hilfe und Schutz beistehen" (ebd.). Die Gewalt gehört also nicht zum Wesen der staatlichen Gesetze und deren politischer Handhabung, sondern ist dem Magistrat nur zu der bestimmten, aber begrenzten Funktion bei der Durchsetzung der "Gesetze" verliehen: um illegitime, vergewaltigende Gewalt einzuschränken. So leuchtet ein, daß ein Verzicht auf solche legitime staatliche Gewalt, gerade weil nicht "Härte" (asperitas), sondern "Milde" (clementia), also Humanität das Handeln des Magistrats auszeichnen soll, eine "höchst grausame Humanität (crudelissima humanitas)" wäre (4,20.10).

      Zum anderen - und an diesem für unser Thema entscheidenden Punkt laufen nun die zuvor gezeigten Linien zusammen: Wenn es denn so ist, daß ein bürgerliches Gemeinwesen faktisch am meisten von einer Machtkonzentration an seiner Spitze, von den Herrschenden bedroht ist und wenn diese Bedrohung darin besteht, daß "die Freiheit, zu deren Beschützern sie doch eingesetzt sind", vermindert oder gar verletzt wird (4,20.8), - wenn es ferner so ist, daß das in den "Gesetzen" verkörperte Recht als ein Drittes nicht nur über dem Volk, sondern auch über den Regenten steht, - und wenn es schließlich so ist, daß diese Gesetze an einem bestimmten, positiven Inhalt allgemein erkennbar sind und daß auch die staatliche Macht nicht an sich ein Recht auf Gewaltausübung hat, sondern nur ein klar bestimmtes, begrenztes Recht zur Gewaltverhinderung (Schutz der Schwachen vor den Starken), dann drängt sich unerbittlich die Frage einer Kontrolle aller Macht im Staat auf. Und zwar geht es nicht nur um eine Kontrolle des Volks durch den Magistrat und nicht nur um eine staatliche Kontrolle der Mächtigen in deren Verhalten zu den Schwachen im Staat, sondern auch um eine Kontrolle des die legitime Gewalt im Staat ausübenden Regiments selbst. Indem diese Konzeption einen solchen Rechtsstaat meint, in dem nach inhaltlich klar umrissenen, von allen erkennbaren `humanen` Gesetzen regiert wird, öffnet sie faktisch der bürgerlichen Mündigkeit die Möglichkeit, die Übereinstimmung des Regierungshandelns mit den staatlichen Gesetzen zu überprüfen. Sie weist damit in die Richtung der Demokratie, in der eben das Volk jene Kontrolle ausübt, mit dem legitimen Recht, Regierungen abzusetzen und darum dann ja auch einzusetzen. Calvin hat diese Konsequenz noch nicht gezogen45, sondern sich damit begnügt, angesichts jener sich doch schon ihm unerbittlich aufdrängenden Frage eine Lösung vorzuschlagen, die in den damaligen Umständen als angemessen erscheinen konnte, obwohl sie uns heute nur als eine Zwischenlösung erscheinen mag. Er meinte, daß "plures" (Mehrere, Verschiedene, Viele) das Staatsruder steuern sollten und daß so genügend "verschiedene Aufpasser und Aufseher" (plures censores ac magistri) da seien, um die Willkür eines unter ihnen im Zaum zu halten, der sich mehr als rechtens erhebt (4,20.8).
      Daß er dabei aber jedenfalls das Problem der Kontrolle der Regentenmacht klar vor Augen hatte, wird dadurch bestätigt, daß er sich nun auch Gedanken über eine Frage machen mußte, deren positive Beantwortung in besonderem Maß zur Brunnenstube moderner Demokratie wurde: über die Frage des Widerstandsrechts gegen ein unerträgliches Regiment, das die "Freiheit des Volkes", die kirchliche Gottesverehrung, die Ausübung des Rechts, den Schutz der Armen vor den Schwachen mit Füßen tritt (vgl. 4,20.29). Man hat zurecht bemerkt, daß Calvin sich an diesem Punkt zögerlich äußerte, eher nur in einer "Randbemerkung"46. Richtig ist aber auch, daß es von all den genannten Voraussetzungen her nur konsequent war, daß er sich dieser Frage stellte. Zwar hat er hier nicht mehr gesagt, als in seiner Zeit hier rechtlich möglich war. Aber er hat hier nicht nur in einer Art Konzession eine gegebene Rechtsmöglichkeit erwähnt, sondern hat auf diese Bezug genommen im Rahmen eines sich aus dem Zusammenhang seines ganzen Denkens grundsätzlich und notwendig aufwerfendes Problem: das der Kontrolle staatlicher Macht.
      Seine Zögerlichkeit erklärt sich aus zwei beachtlichen Gründen, die beide einschärfen, daß solch ein Widerstand selbst ein legitimer, ein Rechtsakt sein müsse und keinesfalls in einem Rechtsvakuum als Ausbruch beliebiger Willkür stattfinden dürfe. Zum einen steht hinter dem bürgerlichen Regiment ja die göttliche Einsetzung; darum haben wir angesichts eines unrechten Regiments zuerst auf Gott und nicht auf unseren `Arm` das Vertrauen zu sehen - auf den Gott, der nicht jedes Regiment stützt, aber auf ihn, weil zuerst er es ist, "der die Könige einsetzt und absetzt"47, aber wirklich auch absetzt, doch so, daß es dann keine Eigenmächtigkeit ist, wenn von ihm berufene "öffentliche Erretter" auftreten, "um eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das ... unterdrückte Volk zu befreien."48 Zum anderen entspricht diesem göttlichen Recht auch ein menschliches Recht zum Widerstand gegen ein unrechtes Regiment oder zu seiner Absetzung, aber ein Recht, das darum nicht auf eigene Faust zu betätigen ist, sondern von dazu Berechtigten49 - und das hieß für Calvin damals, "wie die Dinge heute liegen": von den jeweils untergeordneten politischen Behörden. Doch haben die nicht nur ein Recht, gegen das "maßlose Wüten und Schinden der kleinen Leute" (4,20.31) einzuschreiten, sondern sogar die Pflicht dazu, wenn sie nicht Betrug an der "Freiheit des Volks" (populi libertas) begehen wollen. Wenn hierbei, `wie die Dinge damals lagen`, nicht alle Einzelnen aktiv werden konnten, damit nämlich im Aufstand gegen das unerträgliche Regiment das Recht gewahrt bleibe, so bedeutet das nach Calvin indes nicht, daß sie bloß `passiv` bleiben dürften; sie haben dann ungerechten Befehlen einer ungerechten `Obrigkeit` den Gehorsam zu verweigern, koste es, was es wolle (4,20.32).
      Calvin hat auch diese kritische Gestalt der Kontrolle des Magistrats gewiß nicht im Rahmen einer Demokratie, sondern der damaligen ständischen Gestalt d
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      schrieb am 14.04.01 20:19:47
      Beitrag Nr. 82 ()
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      Calvin und die Demokratie
      Aufsatz für das Projekt "Religion und Freiheit" der A Lasco-Bibliothek in Emden
      1. Zum Problem des Themas | 2. Theologische Weichenstellung | 3. Die Gestalt der Kirche | 4. Das Verhältnis zum Staat | 5. Zusammenfassende Bemerkungen | Fußnoten


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      1. Zum Problem des Themas
      Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den `Calvinismus`, daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der `Calvinismus` verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt. 1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch `zügellos` seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären `Obrigkeit` genommen werde. 2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits `zügellos` leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die `Calvinisten`, die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat `zersetzende` Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?
      Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem `Calvinismus` zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des `Calvinismus`3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten `Calvinismus` als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5
      Dieses negative Urteil läßt sich wohl im einzelnen auch lockern - und das ist das Andere, was von der Forschung her zu sagen: Während eine Gruppe von Untersuchungen Calvin in der angedeuteten Weise als einen dezidierten Nicht- oder sogar Antidemokraten einschätzt, wird in einer andere Gruppe einiges dagegen geltend gemacht6, mit dem Resultat, daß Calvin doch so etwas wie eine "konservative Demokratie"7 bejaht oder akzeptiert habe, was heißen kann: eine "aristocracy tempered by democracy"8, oder umgekehrt: eine durch die Aristokratie "gemäßigte Demokratie"9, was aber wohl auf dasselbe hinausläuft. Das für unsere Thema eher negative Bild, wie es die Forschung zeigt, kann anscheinend nach der einen oder anderen Seite variiert, aber doch nur in einem ziemlich kleinen Spielraum variiert werden - solange wir uns darauf beschränken, hier nur Calvins unmittelbare Äußerungen zur Politik und sein praktisches Verhalten in dem damaligen Verhältnis von Christen- und Bürgergemeinde auszuwerten. Solange werden wir wahrscheinlich kaum etwas über die Grenzen dieses Spielraums Hinausweisendes sagen können und speziell nicht verstehen, inwiefern der sich demokratisch öffnende `Calvinismus` etwas mit Calvin zu tun hatte.
      Oder kann doch noch etwas darüber Hinausweisendes gesagt werden? Immerhin fällt auf, daß nicht wenige Forscher ihr in dieser Sache eher negatives Urteil zuletzt auch wieder einschränken können: Zwar habe Calvin "undemokratisch" gedacht, faktisch jedoch "stark auf demokratische Gedanken" hingewirkt und der Parole: Durch das Volk und für das Volk! Anerkennung verschafft.10 Zwar, "Calvin war kein Demokrat, kein Anwalt der Volkssouveränität ... Und doch fürchteten schon die Zeitgenossen die ... demokratisierende Wirkung des Genfer Calvinismus", und nicht zuunrecht, da er in Wahrheit "einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur künftigen Entwicklung freiheitlich-demokratischer Ideen geleistet hat"11. Zwar habe er Demokratie kaum gewollt und praktiziert, aber ihr gleichwohl durch seine "seeds of liberty"12 gründlich den Boden bereitet. Ob es wohl hinreicht, die da gesehene Spannung derart zu erklären, daß - ironischerweise - ein "System" Resultate zeitigen könne, die den Absichten seines Erfinders gänzlich entgegengesetzt sind13? Man kann und muß das ja wohl noch anders sagen in anbetracht dessen, daß man selbst bei dieser Deutung noch die Punkte angeben können müßte, die solche Wirkung hervorriefen - will man sie nicht als einen bloßen Gegenschlag ausgeben, was ja sicher unangemessen wäre. Sprechen wir also lieber die Vermutung aus, daß im `Denken` Calvins Türen geöffnet wurden, die er vielleicht nicht einmal oder noch nicht genau sah und durch die er jedenfalls noch nicht schritt, die dort aber doch geöffnet waren und durch die dann doch einmal geschritten werden konnte. Dabei mag es immerhin auch so sein, daß die, die dann durch sie hindurchschritten, zwar auch eine Konsequenz zogen, die er noch nicht gezogen hatte und die sie doch von ihm her ziehen konnten, aber daß sie dabei faktisch auch etwas preisgaben und verloren von dem, was er in seiner Ausgangsstellung noch an grundlegenden, überlegenen Einsichten hatte.

      2. Theologische Weichenstellung
      Im "Denken" Calvins! Wir haben uns vor allen Dingen klar zu machen, was in soviel Literatur zu unserem Thema nicht klar ist: daß Calvin in erster und entscheidender Linie nun einmal Theologe und nicht Politiker war und daß seine Stellung zur Politik ein Anhang, eine Zutat zu seiner Theologie ist. Aber in welchem Sinn? Nicht im Sinn einer Vermischung von Theologie und Politik - dagegen hat er sich sogar überdeutlich abgegrenzt (4, 20,1)14! Und darum auch nicht in dem Sinn, daß er seine politischen Ansichten dadurch, daß er sie als Theologe machte, sakrosankt machen wollte! Aber das bedeutete nun auch nicht, daß er bei seinen politischen Äußerungen das Gewand des Theologen ablegte, um es gegen das eines Politikers einzutauschen. Er war ja in Personalunion beides, Glied der Kirche Jesu Christi und Mitbürger eines Staats. Aber er war beides so, daß er zuerst das Eine und dann erst auch das Zweite war. Theologie und Politik war für ihn auch in dem präzisen Sinn zweierlei, daß er eben zuerst christlicher Theologe war und zwar so, daß er dann auch in seiner Stellung zur Politik nicht aufhörte, zuerst Theologe zu sein. Darum ist die erste Frage im Blick auf den Staat für ihn nicht die: Was ist der Staat? Was ist seine wünschbare Gestalt und Aufgabe? Und wie kann `ich` mich dabei einbringen? Seine erste Frage lautet: Was heißt Gehorsam gegen Gott angesichts dessen, daß es neben und außer der Kirche auch den Staat gibt und daß die Kirchenglieder auch noch Mitbürger eines Staates sind? "Es geht ihm nicht um den Staat, er denkt nicht vom Staat aus, sondern bei Anlaß des Staates und über ihn von Gott aus."15 Das wird durch den Titel unterstrichen, unter dem er in Buch IV seiner "Institutio" davon redet: De politica administratione. Während fast 95 Prozent des Buches IV von der Kirche handeln, und zwar unter dem Leitbegriff ihres Zeugnis gebenden "Dienstes" (ministerium) am Wort Gottes, steht seine knappe Behandlung des Staates eben unter dem Leitwort: ad-ministratio, was natürlich "Regierung" heißt, was aber auch deutlich an die wörtliche Bedeutung des Begriffs anspielt: Zu-Dienung, Hilfeleistung. Gemeint ist nicht das Plumpe, daß der Staat der Kirche zuzudienen habe (obwohl es zwar auch richtig ist, daß die Existenz des rechten Staates auch der Kirche einen Dienst erweist, den sie als solche nicht leisten kann und für den sie dankbar zu sein hat), aber dies, daß der Staat in einer zudienlichen Weise zu den "äußeren Mitteln und Beihilfen" gehört, "mit denen Gott (!) uns zur Gemeinde (societas) Christi einlädt und in ihr erhält" (so der Titel des ganzen Buches IV). Augenscheinlich interessiert sich Calvin am Staat vor allem insofern, als er solche "ad-ministratio" ist.
      Aber was heißt das? Etwa das? "Pour Calvin, Dieu est le seul souverain", und eben dadurch sei bei ihm schon im Ansatz der `demokratische` Gedanke ausgeschlossen, "que le peuple puisse etre considéré comme le Souverain dont émane tout pouvoir."16 Dieser Gedanke ist in der Forschung in einer bestimmten Weise so sehr Allgemeingut, daß H. Vahle angesichts der Literatur zu unserem Themas folgende Alternative formulieren konnte:
      "Wer ... demokratische Elemente bei den Calvinisten zu entdecken glaubte, der neigte dazu, die Souveränität Gottes dahingehend zu relativieren, daß die Regierungen (zwar) `von Gott` seien ..., daß aber letztlich immer die souveränen Völker die Herrscher einsetzen. Wer jedoch demokratische Elemente verneinte, der setzte stets das Theorem von der göttlichen Souveränität absolut."17

      Diese Sätze decken ja zunächst nur, aber wohl zutreffend eine Gesetzmäßigkeit in Interpretationen des Verhältnisses zwischen Calvin und "Calvinismus" einerseits und deren beider Beziehung zur Demokratie andererseits auf. Demnach kommt umso demokratie-freundlicher die Volkssouveränität zum Zuge, je mehr die (calvinische) Hervorhebung der Souveränität Gottes eingeschränkt wird - und umgekehrt. Diese Alternative ist die Anwendung einer auch sonst bis heute herrschenden Denkweise, daß sich die menschliche Freiheit umso mehr entfalten kann, je mehr Gott "relativ", um nicht zu sagen: schwach gedacht werde, während ein Ernstnehmen der unbedingten Souveränität Gottes zu Lasten der menschlichen Freiheit gehe. Es ist indes eine fundamentale Frage, ob die behauptete Alternative nicht einem Verstehen des anstehenden Sachverhalts im Wege steht. Es sei versucht, diese Frage etwas näher zu erläutern und zu bedenken.
      Wir könnten Calvins theologische Zentralerkenntnis hier für einmal auch mit der Formel der "Souveränität Gottes" bezeichnen.18 Sie steht ja schon hinter seiner inneren Nötigung, auch im Verhältnis zum Staat zuerst Christ und Theologe zu sein. Es bedarf zum Verständnis dieser Formel indes einiger Erläuterungen, um sehen zu können, daß die Souveränität Gottes und die Freiheit des Volks nicht notwendig einen Gegensatz bilden. Zunächst: Es geht bei Calvin um die Souveränität des Gottes des Evangeliums und darum in ihr nicht um eine abstrakte Überlegenheit und Mächtigkeit. Seine Theologie hat darum nicht einen, sondern zwei Brennpunkte: "Ehre Gottes" (seine gerechte Souveränität) und "Heil des Menschen" (seine "Erlösung" durch Gottes Barmherzigkeit).19 Beide stehen und bleiben wohl in Spannung zueinander20, aber beziehen sich auch aufeinander. Denn "Gott hat nach seiner unendlichen Güte alles so eingerichtet, daß nichts (!) zu seiner Verherrlichung dient, was nicht auch zugleich uns heilsam ist."21 Es sei schon angemerkt, daß sich in Calvins Sicht der inhaltlichen Aufgabe des staatlichen Regiments beides widerspiegelt: Sorge für die Gottesverehrung - sagen wir: Sorge für den äußeren Rechtsschutz des kirchlichen Gottesdienstes22 und Sorge für die gesellschaftliche humanitas, für das Gemeinwohl aller und für den Frieden (communis omnium salus et pax) (4,20.9.3). Indem Calvins Theologie mit dem erstem auch jenen zweiten Brennpunkt hat, ist mit der Souveränität Gottes nun doch keine schrankenlose, `absolute` Herrschaft gemeint - wohl seine ihm rechtmäßig zukommende, gerechte und gebieterische Macht, seine Macht, in der er nicht aufhören kann, sondern daran `gebunden` ist, in allem, was er tut, Gott zu sein, aber so auch seine Macht, die nicht im Widerspruch steht zu dem, was er faktisch in der und laut der biblisch bezeugten Geschichte tut, nicht im Widerspruch zu seinem tätigen, guten Willen zu Gunsten und zur Befreiung des Menschen. Aufgrund dieser Beziehung ist die Bedeutung der "Souveränität Gottes" konkret im Zusammenhang mit der Erkenntnis des ersten Gebots zu suchen, ohne die für Calvin uns auch Gottes Wohltat zum Heil des Menschen mißverständlich würde, nämlich so, als bestehe seine Wohltat in der Befriedigung (falscher) menschlicher Selbstliebe. In seiner Souveränität behauptet sich Gott - gemäß dem ersten Gebot - als der, dessen Geschöpf der Mensch und der nicht Geschöpf des Menschen ist. In ihr stellt Gott also klar, daß wir das "salus hominum" nicht uns selbst, sondern allein Gott verdanken.
      Jenen zwei Brennpunkten im Zentrum von Calvins Theologie entspricht bei ihm ein ebenfalls polares menschliches Gottesverhältnis: Dem Heil aus Gottes reiner Barmherzigkeit entspricht der Glaube an den Freispruch des Menschen aus Gnade ohne Rücksicht auf Verdienst und Würdigkeit; der frei-souveränen Ehre Gottes entspricht der Gehorsam des Menschen aufgrund dessen, daß wir, weil wir nicht Schöpfer Gottes, sondern Geschöpfe Gottes sind, ihm und nicht uns selbst gehören (nostri non sumus, sed Domini); darum haben die Menschen nicht "sich selbst zu gehorchen", sondern dem vorangehenden Gott (Dominum praeeuntem sequi) (3,7.1; vgl. 2,8.14; 4,10.7). Aber indem diese letztere Erkenntnis im Zusammenhang mit der des ersten Gebots zu verstehen ist, liegt der Ton dabei nicht einfach darauf, daß wir zu gehorchen, sondern darauf, daß wir Gott zu gehorchen haben. Das wirft die Frage auf, wem wir legitimerweise gehorchen? Die Antwort, daß wir legitimerweise allein Gott zu gehorchen haben, schließt die Erkenntnis in sich, daß aller Gehorsam gegen Menschen, der Gehorsam im Widerspruch zu Gott ist, illegitim ist. Es ist für reformiertes Denken von Anfang an überhaupt typisch, daß zwar im Blick auf das "Heil der Menschen" klar die Alternative gilt: erlöst nur aus Gottes Gnade und nicht aus Verdienst der Werke, aber im Blick auf das menschliche Handeln die andere Alternative: Gottes Gebot und nicht "menschliche Satzung"23. Für Calvin bedeutet das zwar keinen Freibrief zur Respektlosigkeit gegenüber menschlichen Autoritäten - indem wir sie respektieren, bekunden wir gewissermaßen dies, daß wir nicht "uns selbst" gehorchen, und anerkennen so, daß Gott an uns nicht handelt, ohne sich ihres "ministerium", ihres Dienstes zu bedienen. Aber er bedient sich ihrer, ohne ihnen "sein Recht und seine Ehre zu übertragen" (non ad eos ius suum honoremque transferendo) (4,3.1.). "Als ob Gott auf sein Recht verzichtet hätte zugunsten von Sterblichen, wenn er diesen die Leitung des menschlichen Geschlechts übertrug" (4,20.32)!24 Gott gegenüber sind auch sämtliche irdischen Herrscher, wie nach Calvin vor allem anderen (inprimis) zu beachten ist, nicht mehr als bloße Untertanen (ebd.). So wenig also das Gebot, Gott zu gehorchen, ein Freibrief zur Verwerfung irdischer Autoritäten ist, so wenig bedeutet deren Dienst, zu dem sie Gott einsetzt, deren Aufwertung zu einer göttlichen Autorität und eine Erlaubnis zur Vergewaltigung der Rechte des Volks - das ist es wohl, was Calvin die "Freiheit des Volks" (populi libertas - 4,20.31) nennt. Damit, daß alle, Regierende und Regierte, der Autorität Gottes `untertan` sind, werden irdische Autoritäten zwar nicht aufgehoben, aber auch nicht glorifiziert, sondern in einer Weise relativiert, die eine Identifizierung irdischer Autoritäten mit der Autorität Gottes ausschließt und verhindert, daß der Gehorsam gegen Gott psychologisch als Einübung allgemein in eine Untertanenmentalität, in eine blinde Folgsamkeit gegen `wen und was auch immer` verstanden werden kann. Vielmehr drängt der Gehorsam gegen Gott als solcher - nicht zu einer grundsätzlichen Negierung, aber zur grundsätzlichen Unterscheidung seines Anspruchs von allen anderen und so im Kern zu einem kritisch-prüfenden Umgang mit diesen anderen, nur irdisch-menschlichen Ansprüchen.25 Dem entspricht, daß die Teilhabe aller Christen am königlichen Amt Christi zentral in der "liberté de conscience"26, in der "Gewissensfreiheit" besteht: in der im Gehorsam gegen Gott begründeten Freiheit gegenüber allen irdischen Ansprüchen.
      Wenn Gottes heilsamer Wille zur befreienden Erlösung der Menschen und sein Anspruch auf ihren Gehorsam nicht einander widersprechen, dann ist dieser Gehorsam nun aber nicht bloß so zu verstehen, daß er in "christliche Freiheit" gegenüber anderen Gehorsamsansprüchen stellt. Dann könnte er solche Freiheit gegenüber diesen nicht sein, wenn nicht der Gehorsam gegenüber Gott auch als solcher so in der Verbindung mit der "christlichen Freiheit" stünde, daß er selbst nicht als blinde Unterwürfigkeit verstanden werden darf. In der Tat betont Calvin, daß überhaupt Gottes noch so bestimmendes Wirken an uns nicht unser verantwortliches Eigenwirken aufheben kann und will (1,17.3.5.; 1,18.2: optime conveniant hanc duo inter se). Darum legt er Wert darauf, daß Gottes Gebieten und unsere Aufgabe, ihm nachzukommen, normalerweise keinen Zwang bedeutet (2,8.14). Mit Zwang verwechselbarer oder erzwungener Gehorsam ist noch nicht der von Gott gewollte Gehorsam.27 Rechter Gehorsam gegen Gott ist somit gar nicht unmittelbar möglich, sondern nur in einem zuvor durch Liebe geschaffenen Vertrauensverhältnis. "Niemand wird sich frei und willig dem Gehorsam gegen Gott unterziehen, der nicht seine väterliche Liebe gekostet und dadurch bewegt wurde, ihn zu lieben und zu ehren" (1,5.3). Aber es geht dabei nicht um eine raffinierte Methode zur Herstellung des Gehorsams; sondern er ist so sehr selbst Gestalt der Liebe zu Gott, daß es erst dann bei uns zu rechtem Gehorsam gegen Gott gekommen ist, wenn wir ihm freiwillig gehorchen - in einem "freiwilligen Gehorsam" (voluntarium obsequium - 3,20.42f.), in der Lust und Freude zum Folgen (obsequendi alacritas - 3,3.15). Und so gehorcht unser Gewissen erst dann Gott und seinem Willen, wenn es das tut "nicht gleichsam durch eine gesetzliche Nötigung erzwungen, sondern freiwillig, befreit vom Joch des Gesetzes" (3,19.4). Es entspricht hier dem souveränen Gott zwar kein ebenso `souveräner` Mensch; es besteht nun einmal zwischen Gott und Mensch ein unumkehrbares Verhältnis, in dem Gott vorangeht und der Mensch folgt. Aber die Souveränität Gottes ist hier in einer Weise gefaßt, daß sie auch nicht als Verfügung zu blinder Unterwürfigkeit über den Menschen kommt, sondern als der von gesetzlichen Ansprüchen befreiende Anspruch zu "freiem Gehorsam". Wenn das Wort "frei" dabei ernstgemeint ist, dann besagt es anderes als die Zustimmung eines Geketteten zu seinen ohnehin nicht zu beseitigenden Ketten; dann bezeichnet es die eigene, einsichtige, verantwortliche Bejahung und Anerkennung der Legitimität jenes Verhältnisses, in dem Gott uns vorangeht und wir ihm folgen. Wo blinde Unterwerfung ist, da ist unverantwortliche Menschenmasse. Ist aber der rechte Gehorsam, der gegenüber Gott, freier Gehorsam, so ist er der Gehorsam eines verantwortlichen, mündigen Subjekts, ohne dessen Existenz ja auch jene für den Gehorsam gegen Gott wesentlich erforderliche Unterscheidung zwischen seinem Anspruch und anderen Ansprüchen nicht nachvollziehbar wäre.
      Nun erfährt die so zu verstehende `Souveränität Gottes` eine weitere Beleuchtung dadurch, daß durch sie speziell ein tiefgreifender Unterschied gesetzt wird zwischen einem "geistlichen Reich" (regnum spirituale) und der "bürgerlichen Einrichtung" (civilis ordinatio), bzw. dem "politischen Reich" (regnum politicum) (4,20.1; 3,19.15). Jenes, kann Calvin im Anschluß an paulinische Terminologie sagen, betreffe den "inneren", dieses den "äußeren Menschen". Aber zugleich sagt er, diese Terminologie wohl zutreffend deutend: Jenes beziehe sich auf das "zukünftige ewige Leben" (futuram aeternamque vitam) und dieses auf das "gegenwärtige vergehende Leben" (praesentem fluxamque vitam) (4,20.1). Calvin sagt sogar, daß wir es dabei, kraft dieses Unterschieds, gleichsam mit "zwei Welten" zu tun haben, "in denen verschiedene Herrscher und verschiedene Gesetze regieren können" (3,19.15). Aber was bedeutet diese Unterscheidung? Macht sie Christen zu Bürgern zweier Reiche, die sich innerlich-seelisch und äußerlich-leiblich je nach ganz anderen "Herrschern und Gesetzen" zu richten haben?
      Die Sache ist komplexer. Indem die Christen jedenfalls von jenem kommenden Reich wissen, bricht es bei ihnen schon in einem "gewissen geringen Anfang" (initia caelestis regni quaedam, 14,20.2) an. Aber dieser Anfang besteht darin, daß sie damit zu Hoffenden und in der Hoffnung auf dieses Reich zu aufbrechenden, mobilen Pilgrimen auf der Erde (peregrinari super terram, ebd.) werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie damit der Erde entfliehen können oder gar dürfen. Indem Gott selbst zwischen beiden "Reichen" den Unterschied setzt, qualifiziert er beide in bestimmter Weise, aber zieht er selbst sich nicht zurück von dem einen, um nur in dem anderen zu regieren. Er qualifiziert damit das "politische Reich" als ein zeitliches, vergehendes, als ein Provisorium; aber so läßt er es gelten und "löscht" nicht etwa "das gegenwärtige Leben aus" (ebd.). Nur als solches Provisorium will er es anerkennen. Aber so erkannt er es an, will es so auch von den Christen anerkannt wissen und will, daß es darin so menschlich zugehe, daß, wer es auslöschen wollte, die Menschlichkeit auslöschen würde; und er will also, daß, solange noch unsere irdische Pilgerschaft währt, in diesem "politischen Reich" - neben dem Schutz der äußeren Gestalt des Gottesdienstes - die Aufgabe angegriffen wird, daß "unser Leben zur menschlichen Gesellschaft gestaltet, unsere Sitte zur bürgerlichen Gerechtigkeit geformt wird, wir verträglich miteinander umgehen und ein allgemeiner Friede und öffentliche Ruhe herrsche" (ebd.). Indem Gott den Unterschied zwischen den beiden Reichen setzt und indem er in diesem Unterschied beide anerkennt, sind wir Menschen auch im politischen Reich nicht seinem Gebot, dem Gebot zur Wahrnehmung dieser Aufgabe entzogen. Christen können und sollen darum diese staatliche Aufgabe bejahen. Aber gerade sie wissen dabei auch, daß alle staatliche Bemühung einen grundsätzlich provisorischen Charakter hat, so daß darüber, in welcher Weise und Form der Staat dieser Aufgabe relativ am besten nachkommt, immer wieder frei und nie abschließend erwogen werden kann und muß. Dieselbe Erkenntnis hält aber auch für Christen die Frage offen, ob oder wie sie die faktische Handhabung des bürgerlichen Reichs durch seine verantwortlichen Leiter anerkennen und unterstützen oder notfalls sich ihr verweigern. Dieselbe Erkenntnis hindert jedoch die Christen auch an dem Wahn, "das Reich Christi unter den Elementen dieser Welt zu suchen oder einzuschließen" (4,20.1), d.h. an dem Wahn, als hätten ihre eigenen Vorschläge und Beiträge zur Handhabung der politischen Aufgabe mehr als eben auch nur einen provisorischen, relativen Charakter.
      Gewiß folgert Calvin nicht aus der "Souveränität Gottes" das Recht und die Pflicht einer Demokratie. Er folgert daraus überhaupt nicht die absolute Notwendigkeit einer bestimmten Staatsform. Aber - und das ist zunächst wichtig zu sehen: Es entspricht der "Souveränität Gottes" auch keine allgemeine Untertanenmentalität, auch keine religiöse Sanktionierung autoritärer politischer Herrschaft. Der "freie Gehorsam" gegenüber dem Anspruch Gottes bewährt sich ja gerade in der Nicht-Identifizierung göttlicher mit irgendwelchen irdischen Ansprüchen. Diese Nicht-Identifizierung bedeutet deren Relativierung. Würde man diese irdischen Ansprüche überhaupt aufheben (während wir noch im Pilgrimstand sind), um an ihrer Stelle jenes "geistliche Reich" zu errichten, so könnte das nur bedeuten, daß dann entweder dieses Reich zu etwas Zeitlich-Relativem gemacht oder umgekehrt ein Relatives `verabsolutiert` würde. Im Rahmen des Relativen, des Vorläufigen und Provisorischen hat der Staat eine legitime Aufgabe und haben seine Organe auch eine legitime Autorität, die christlich anzuerkennen ist, deren Ausübung aber eben darum zugleich auch grundsätzlich relativ, korrigierbar und überprüfbar ist. Ohne ihrerseits diesen Rahmen verlassen zu dürfen, haben Christen einen freien Spielraum, sich an der politischen Aufgabe zu beteiligen, sei es in der Unterstützung und Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung, sei es im Versuch zur Verbesserung seiner Gestalt und der Wahrnehmung seiner Aufgabe, sei es notfalls auch in Gestalt von bestimmten Verweigerungen. Der entscheidende Punkt ist bei dem allem die Anerkennung der politischen Aufgabe und der staatlichen Autorität unter der Voraussetzung ihrer Relativierung durch den `souveränen` Gott. Im Einschärfen dieses Punkts hat Calvin, wie er auch damals faktisch politisch votiert und agiert haben mag, eine Atmosphäre geschaffen, die einem sich gleichsam an Gottes Stelle setzenden Obrigkeitsstaat abträglich und der Vorbereitung eines `demokratischen` Denkens zuträglich war.


      3. Die Gestalt der Kirche
      Dem, daß Calvin zuerst Theologe und Christ und erst dann auch Bürger war, entspricht, daß wir nicht nicht von seinem Verhältnis zur Politik sprechen können, ohne zuvor nun auch von seiner Bemühung um die Kirche und ihre rechte Gestalt zu reden.28 In dieser Vorordnung der Frage nach der Kirche vor der nach dem Staat geht es nicht um die Wahrung eines Überlegenheits-Interesses, vielmehr um die Einsicht: Die Kirche treibt dann am besten auch `Politik`, wenn sie darum besorgt ist, daß sie - in ihrer Verkündigung und Gestalt - Kirche und als Kirche in Ordnung ist.Die Reformatoren waren sich darin einig, daß die sichtbare Kirche nicht ohne bestimmte Ordnung und Rechtsgestalt existieren kann. Im Protest gegen die römische Rechtskirche, in der einerseits die Bischöfe wie und als weltliche Herrscher auftreten konnten, in der andererseits das Kirchenrecht als "göttliches Recht" ausgegeben wurde, waren sich die lutherische und zwinglische Reformation überdies einig, daß die Kirche sich ihre Ordnung und äußere Gestalt von der `Obrigkeit` geben lassen soll und kann, weil es dabei ja nur um die äußerliche, weltlich-sichtbare Erscheinung der Kirche geht, weil sie aber auch faktisch mit einer `christlichen Obrigkeit` rechnen zu dürfen meinten. Calvin begann gegenüber dieser Lösung kritisch zu werden - wohl auch durch unliebsame Erfahrungen mit einem unliebsamen Hineinregieren des Staats in die Kirche bei einem `Staatskirchentum`29, aber auch angesichts der Notwendigkeit der hugenottischen Kirche, sich ohne oder gegen staatliche Einsprüche zu organisieren. Demgegenüber hat Calvin im Prinzip die Entscheidung gefällt, daß die Kirche ihre Ordnung sich selbst gibt - eine Entscheidung, deren Konsequenz er kaum ahnen konnte, weil sie letztlich zur Trennung der Kirche von einem `weltanschaulich neutralen` Staat führte. Diese Konsequenz wollte Calvin wohl nicht; er sah ja für den Staat auch die Aufgabe der Sorge für das Einhalten der ersten Tafel des Dekalogs, d.h. für den Schutz des Gottesdienstes vor. Gleichwohl hat er dieser Entscheidung die Bahn gebrochen. Ausschlaggebend war dafür wieder ein theologischer Grund: Jedenfalls die Kirche kann und soll die "Autorität Gottes" kennen und sich nach ihr richten. Darum hat sie dafür einzustehen, daß ihre "menschlichen Satzungen" (humanae constitutiones) in ihrer sichtbaren Gestalt - zuerst gerade nicht auf die sonst im sichtbaren, weltlichen (staatlichen) Raum geltenden Gesetze, sondern "auf die Autorität Gottes begründet und aus der Schrift genommen" sind. Und das so, daß diese ihre Satzungen dafür sorgen, daß sie eben Kirche ist und in ihrer äußeren Gestalt weder ein Anhängsel an den Staat noch ein Staat wie der weltliche Staat! Freilich, die Kirche ist jene noch auf Erden wandernde Pilgerschar. Darum sind ihre Ordnungen nicht "göttliches Recht" (ius divinum), sondern eben "menschliche Satzungen", nicht heilsnotwendig, keine unveränderliche Ordnungen, sondern zeitlich, variabel und korrigibel (4,10.30). Sie sind unter den jeweiligen Umständen zu fassen, aber so, daß sie jeweils beides in Einklang zu bringen versuchen: das Zusammenleben in Liebe und die Respektierung der Freiheit der Gewissen, um eben damit ihre Ausrichtung auf die "Autorität Gottes" bezeugen. Ob nicht in solcher Auffassung die Erwartung gehegt wurde, daß eine Kirchenordnung, die als "menschliche Satzung" das leistet, mit den entsprechenden Umsetzungen auch für die Gestaltung des bürgerlichen Gemeinwesens vorbildlich sein könnte?
      Zunächst, eine kirchliche Ordnung ist nach Calvin um der Gemeinschaft und der gegenseitigen Liebe willen nötig (ad communem usum - ut communi officio alatur inter nos charitas, 4,10.28). Es geht dabei um mehr als um das, was Calvin zwar auch nüchtern nennt: um eine gewisse Einschränkung der persönlichen Freiheit zugunsten eines untumultuösen, anständigen Auskommens miteinander. Es geht dabei vor allem um die Berücksichtigung der Liebe (charitatis ratio, 4,10.32). Die Gestalt der Kirche hat dem zu entsprechen, daß sie der gegenseitigen Liebe, der sozialen Kommunikation im Leben der Kirche Raum gibt.
      "Nach der Ordnung werden die Heiligen zur Gesellschaft (societas) Christi versammelt, daß sie die Wohltaten, die Gott ihnen gewährt, gegenseitig sich einander mitteilen (communicent) ... Es kann nämlich nicht anders zugehen, wenn sie überzeugt sind, daß Gott für sie alle der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, daß sie als solche, die in geschwisterlicher Liebe einander verbunden sind, einander gegenseitig das Ihre mitteilen" (4,1.3).

      Wenn wir ferner bedenken, daß für Calvin konkret die Abendmahlsfeier Ansatz für seine Fassung der Kirchenordnung war, so haben die Sätze Gewicht, mit denen er die Bedeutung des Mahls für das Zusammenleben der Gemeinde umschreibt:

      "Wir können nicht mit unseren Brüdern in Zwietracht leben, ohne zugleich mit Christus in Zwietracht zu sein. Wir können Christus nicht lieben, ohne daß wir ihn in unseren Brüdern lieben. Die Sorge, die wir um unseren Leib tragen, müssen wir auch an unsere Brüder wenden, die doch Glieder an unserem Leibe sind; und wie kein Stück unseres Leibes von irgendeinem Schmerzempfinden berührt wird, das sich nicht zugleich auf alle anderen übertragen wird, so können können wir es auch nicht ertragen, daß ein Bruder von irgendeinem Übel befallen wird, das wir nicht auch selbst durchlitten" (4,17.38).

      Es läßt sich von hier aus die These von Erik Wolf verstehen und vertreten: "Eine bruderschaftliche Verfassung ... muß jeder calvinistischen Sozialordnung als eine Grundforderung christlicher Lebensgemeinschaft erscheinen."30 Jedenfalls muß nach Calvin die Ordnung der Kirche durch die Dimension solidarischer Gemeinschaft und der Verantwortung füreinander ausgezeichnet sein.
      E. Wolf setzt hinzu, daß diese "bruderschaftliche Verfassung" bei Calvin "auf selbstverantwortliche Mitregierung jedes einzelnen Gemeindemitglieds ... gegründet ist." Nun, Calvin hat auch hier mehr nur eine Tür entdeckt, als daß er durch sie hindurchgeschritten wäre und dem organisatorisch Raum gegeben hätte.31 Aber richtig ist, daß er sich in dieser Richtung bewegt hat, indem für ihn die soziale Dimension der Kirche nicht auf Kosten der Freiheit ihrer Glieder hervorgehoben werden darf. Ist der "Befreier" (liberator) Christus ihr König, dann gilt: "Von dem Gesetz der Freiheit (libertatis lege), nämlich vom heiligen Wort des Evangeliums, müssen sie regiert werden (regantur) ...: keine Knechtschaft darf sie mehr festhalten, keine Fesseln dürfen sie mehr binden" (4,10.1). Aber wiederum kann diese `christliche Freiheit` nicht bloß als Vorbehalt gegenüber einer Kirchenordnung vestanden werden, sondern muß sie Gestalt und Ordnung der Kirche selbst bestimmen - und erst dann würden der Aspekt der Gemeinschaft und der Freiheit einander ergänzen und bedingen. Tatsächlich hat Calvin den Weg dafür geöffnet, indem für ihn jeder Christ kraft seines Glaubens (also nicht aufgrund der Einsetzung und Erlaubnis eines kirchlichen Amts und darum auch nicht als dessen Handlanger, nicht als `Mitarbeiter` des Pfarrers) am dreifachen Amt Christi - als König, Priester und Prophet - aktiv teilhat.32 In dieser Beziehung steht für ihn kein Christ über und keiner unter den anderen, sondern stehen alle in eigener Freiheit nebeneinander. "Die Kirche hat Christus zu ihrem einzigen Haupte, unter dessen Herrschaft wir alle miteinander verbunden sind." (4,6.9). Im Blick darauf kann man im Ansatz bis Calvin zurückverfolgen, was K. Barth über die synodale Tradition des Reformiertentums sagte: "Ihre formelle Aristokratie ist doch nur repräsentative Demokratie, Korrelat der Autokratie Christi. Kein Amt, kein Klerus darf sich hineinschieben zwischen den Imperator Christus im Himmel und die auf Erden souveräne christliche Landsgemeinde."33 Wie sehr für Calvin immerhin schon Christsein mündiges Christsein heißt, zeigt seine förmliche Definition der Kirchengliedschaft: Als "Glieder der Kirche" hätten die zu gelten, "die durch das Bekenntnis (confessione) des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und die durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen (profitentur)" (4,1.8). Das Gemeinte wird durch seinen Brief an wegen ihres Glaubenszeugnisses inhaftierte Frauen in Paris illustriert:

      "Und wenn sie aus dem Geschlecht oder äußeren Stand Anlaß nehmen, ganz besonders über uns herzufallen (wir sehen ja, wie sie über Frauen und einfache Handwerker spotten, als käme es denen nicht zu, von Gott zu reden und ihr Seelenheil zu kennen!), so müssen wir sehen, wie Gott täglich wirkt durch das Zeugnis von Frauen und seine Feinde bestürzt macht." "Da es ... Gott gefallen hat, Euch zu berufen so gut wie die Männer (denn vor ihm gilt nicht Mann noch Weib), so müßt Ihr auch Eure Pflicht tun ... und dürft ... nicht feige sein." "Da wir alle zusammen unser Heil haben in ihn, müssen wir einmütig, Männer wie Frauen, seine Sache führen."34

      Gewiß kennt und befürwortet Calvin auch eine Leitung der Gemeinde, doch strikt in der Klammer, daß Christus und sein Wort hier allein die "Regierung" (imperium) hat: "Er allein soll in der Kirche bestimmen und leiten (regere et regnare)" (4,3.1). Das hat zur Folge, daß die Kirchenleiter dann nicht als `Kirchenobere`, als `Amtsträger`, sondern als Diener (ministri) Christi zu verstehen sind. Konkretes Zeichen dafür ist, daß nach Calvin die Gemeindeleitung strikt nicht bloß einem Einzelnen, sondern einem Kollegium obliegt, und zwar einem, in dem das dreifache Amt Christi sich widerspiegelt in einer Auffächerung von drei verschiedenen, von einander getrennten Funktionen: Dem prophetischen Amt Christi entspricht die Verkündigungs- und Unterrichtsaufgabe, dem königlichen der kirchenleitende Dienst des Presbyteriums und dem priesterlichen Amt Christi die diakonische Armenfürsorge. Was die Gemeindeleitung in diesen drei Funktionen tut, kann den Gemeindegliedern aber darum keine fremde Herrschaft über sie sein, weil ja zugleich jeder Christ als solcher in der Teilhabe an Christus an allen drei Funktionen teilhat und sie in sich vereint. Wiederum, in der offiziellen Gestalt der Gemeindeleitung kommt es offenbar auf eine `Gewaltenteilung`35 oder vielmehr Funktionen-Auffächerung an und darauf, daß diese drei Aufgaben gerade nicht in einer Hand vereinigt sind. Die "formelle Aristokratie" der Gemeindeleitung ist somit faktisch in der Tat, als "Korrelat der Autokratie Christi", eine "repräsentative Demokratie".
      Diese These ist nicht weither geholt. Denn Calvin vollzog in seiner Ämterlehre bewußt eine tief greifende Korrektur am römischen `System`, in dem nach seiner Sicht im Papsttum als dem sichtbaren Stellvertreter Christi eben diese drei Funktionen in einer Hand vereint sind: das oberste Priesteramt (summum sacerdotium, 4,6.2), die Autorität zur Aufstellung von Glaubenssätzen (authoritas dogmatum tradendorum, 4,8.1) und die gesetzgebende Gewalt (potestas in legibus ferendis, Titel zu 4,10), also kurz, die Priester-, die Lehr- und die Rechts-Gewalt. Es war ein folgenschwerer Schritt, daß Calvin dagegen lehrte, daß diese dreifache "Gewalt" ausschließlich Christus und kein irdischer `Stellvertreter` innehat, doch so, daß alle im Glauben an Christus gleichermaßen an diesem dreifachen Amt Christi teilhaben - während er kategorisch bestritt, daß in der öffentlichen Repräsentation der Kirche in ihrer Leitung "ein einziger Mensch der ganzen Kirche vorstehe" (hominum unum praeesse). Eine solche "Monarchie" sei schon in der bürgerlichen Welt "vollkommen absurd" (absurdissimum), aber in der Kirche ein "Riesenunrecht" (insignis iniuria) gegen Christus (4,6.9). Sondern in ihrer öffentlichen Repräsentation - zum konkreten Zeichen dafür, daß sie Christus als das alleinige Haupt der Kirche nicht ersetzen kann, aber wohl auch dafür, daß sie die Freiheit aller Christen zu und in der Teilhabe am dreifachen Amt Christi nicht verdrängen darf - müssen jene drei Funktionen in mehrere Hände gelegt werden. Dadurch wandelt sich jenes `System` aber in bemerkenswerter Weise. Denn zum einen kann und soll die Ausübung jener drei Funktionen nun nicht mehr eigentlich als Ausübung von Gewalt verstanden werden. "Die Kirche hat nicht Macht, einen Zwang auszuüben (cogendi potestas), und soll sie auch nicht begehren (4,11.16). Zum anderen wandelt sich damit auch der inhaltliche Sinn jener drei Funktionen: Die Lehrgewalt zur Dogmen-Aufstellung wird zum Verkündigungsamt (samt der ihm zugeordneten Unterweisung), die Jurisdiktions-Gewalt wird zur Aufgabe der (vor allem seelsorgerlichen) Gemeindeaufsicht, damit "die Glieder des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden leben" (14,12.1); und die priesterliche Gewalt wird zum fürsorgerlichen Dienst an den schwächsten dieser `Glieder`36. So repräsentiert die Gemeindeleitung die Vielfalt des von Christus regierten Lebens seiner Gemeinde.
      Daß die Kirche sich ihre Ordnung selbst gibt, daß diese Ordnung aber nach den jeweiligen Umständen variabel ist, und das erst recht, indem sie sich ja als eine mobile Pilgerschaft versteht, daß ihre Gestalt jedoch bestimmt sein muß einerseits durch die Gemeinschaft gegenseitig verbundener Glieder, andererseits durch die Freiheit der Glieder in Betätigung ihrer Teilhabe am dreifachen Amt Christi, daß schließlich die Gemeindeleitung durch eine Aufteilung in verschiedenen Funktionen charakterisiert sein soll - alle diese Erkenntnisse fließen in einer weiteren Entscheidung zusammen, die das Gesicht des Reformiertentums bis heute prägt und sich in seiner schwer `unter einen Hut` zu bringenden Mannigfaltigkeit ausprägt. Diese ist keine zufällige, sondern eine absichtlich gewollte. Es zeigt sich ja in den eben genannten Erkenntnissen eine Sicht von Kirche, die sie zuerst und bevorzugt in einer konkret bei ihrer Verantwortung behaftbaren, darum lokal oder regional überblickbaren Schar erkennt. In der Tat betont Calvin, daß jede einzelne Gemeinde - nicht eine Filiale der Kirche ist, so daß `die` Kirche oberhalb der Einzelkirche läge oder erst durch den Zusammenschluß mit anderen Einzelgemeinden zur Kirche würde; sondern "eine jede Gemeinde hat mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche inne" (4,1.9). Calvin folgert das aus der gemeinreformatorischen Erkenntnis, daß die Kirche da sichtbar ist, "wo Gottes Wort rein verkündigt und (!) gehört wird, wo wir die Sakramente nach der Einrichtung Christi austeilt sehen" (ebd.). Eben daraus zieht er die Konsequenz, daß die konkret an einem Ort versammelte Kirche im Vollsinn Kirche ist. Gewiß kennt er auch "die universale Kirche": die Gesamtheit der Kirchen, die, räumlich getrennt, in der Wahrheit der göttlichen Lehre und durch die gleiche Gottesverehrung verbunden sind (ebd.). Diese Kirchen können und sollen in freiem, geschwisterlichen Kontakt stehen. Sie können darüber hinaus auch gemeinsame Beschlüsse fassen, aber - und das ist hier das Entscheidende - das nur durch das Zusammentreten von Delegierten aus Pfarramt und Presbyterium der Einzelgemeinden. Die Zusammensetzung eines solchen Zusammentritts aus Delegierten ist darum wesentlich nötig, weil nur so im Blick auf für alle Einzelgemeinden verbindliche Beschlüsse der Grundsatz durchführbar ist, den Calvin 1559 mit Bedacht an die Spitze der von ihm für die Hugenottenkirche verfaßten "Discipline ecclesiastique" setzte und der ja die genaue rechtliche Anwendung der Erkenntnis ist, daß jede Einzelkirche im Vollsinn Kirche ist: "Erstens gilt, daß keine Kirche sich Vorherrschaft und Beherrschung gegenüber einer anderen anmaßen darf".37 Das ist im Kern das `synodale Prinzip`, in dem es zu überörtlichen Verbindlichkeiten nur auf dem Weg eben von `Synoden` kommt, die `von unten`, von der Basis der einzelnen Ortsgemeinden beschickt sind. Hier ist die Wurzel für das typisch `reformierte` Mißtrauen gegen alles `Oben` zu sehen, gegen oberhalb der Gemeinden und außer ihrer Kontrolle sich bildende Machtzentren, die doch über sie befinden. Hier ist aber zugleich auch die Wurzel für die spezifisch `reformierte` ökumenische Offenheit, weil man dabei ja doch mit Anderen verkehren kann, ohne Angst davor, von ihnen beherrscht werden zu müssen, aber auch ohne die Bedingung, daß die Anderen zuvor unter das eigene Dach gebracht werden müssen.38 Hierher gehört auch das eigentümliche Faktum, daß die reformierte Familie selbst zwar in verschiedenen Regionen mannigfache Bekenntnisse und Kirchenordnungen hervorgebracht hat, doch bis heute unter Verzicht auf ein sie im ganzen umfassendes reformiertes Bekenntnis und auf eine einheitliche Kirchenordnung. Wahrscheinlich hat das alte Reformiertentum an keinem Punkt unmittelbarer ein demokratisches Denken und Verfahren befruchtet als durch diese, zuletzt auf Calvin zurückgehende Konzeption von synodaler Gestaltung der Kirche und durch die dadurch geprägte Mentalität.


      4. Das Verhältnis zum Staat
      Es ist nach allem klar - und man muß das bei der Behandlung dieses Gebiets vor Augen haben: daß die Frage des Verhältnisses zum politischen Raum für Calvin nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Bedeutung eines Bei-Läufigen hat. Es scheine, so beginnt er seine Ausführungen in der Institutio dazu (4,20.1), diese Frage sogar gar nichts zu tun haben mit der "Unterweisung im geistlichen Glauben, die zu behandeln ich unternommen habe". Wenn es dennoch dazu eine "Nötigung" gebe, dann zunächst nur wegen zwei im Blick darauf drohenden Gefahren, die allerdings diesen Glauben so berühren, daß ohne Widerspruch gegen sie "die Reinheit des Glaubens (fidei sinceritas) zugrunde gehen würde". Die eine geht von Christen aus, die unter Berufung auf Gott den Staat verwerfen - und sich damit vielmehr gegen Gott wenden. Die andere geht von staatlichen Herrschern aus, die ihre Macht so maßlos ausüben, daß sie damit in ihrer anderer Weise "dem Regiment Gottes selbst widerstehen" (Dei ipsius imperio opponere). Weil damit, so oder so, letztlich die "Reinheit des Glaubens" auf dem Spiel steht, darum ist nun allerdings die "Unterweisung im geistlichen Glauben" herausgefordert, sich auch zu dieser ganzen Frage zu äußern. Calvin tut das, indem er einen Doppelseatz aufstellt und im Grunde nur ihn immer wieder durchdekliniert: einen, der jene den Glauben antastende Doppelgefahr gründlich ausräumen soll.
      Zum ersten: Der Staat muß nicht anders sein, als er ist, damit Christen im Glauben Gott gehorsam sein können. Denn kein Staat, er mag sein und handeln, wie er will, kann sie ja an solchem Gehorsam hindern. Liest man Calvins in diesen Zusammenhang gehörigen Aussagen im Gefälle dieser Akzentuierung, dann ist von Anfang an klar, daß es dabei nicht um eine Legitimierung jedweden Staats geht, sondern um die vorrangige Sorge darum, daß Christen bei aller Beschäftigung auch mit dem Staat nicht ihre Christlichkeit verleugnen. Darum sollen sie selbst dann, wenn Staatslenker sich direkt gegen Gott stellen und damit auch ihren Gehorsam gegen Gott antasten, sich klar machen, "daß wir jenen Gehorsam, den der Herr verlangt, dann leisten, wenn wir lieber alles Erdenkliche leiden, als von der Frömmigkeit zu weichen" (4,20.32). Insofern haben wir in diesem Gehorsam dann zu leiden und auch dann nicht etwa gegen den Staat zu kämpfen und einen anderen herzustellen, als wir auch angesichts und inmitten eines Staates, der ist, wie er in diesem Extremfall ist, keinen Grund haben, vom Glaubensgehorsam gegen Gott zu weichen. Gerade in diesem Gehorsam dürfen wir nicht sagen: Erst wenn die und die politischen Bedingungen erfüllt sind und der Staat so und so gestaltet sein wird, wird solcher Gehorsam möglich sein. Keine staatlichen Zustände stellen dem Glaubensgehorsam solche Bedingungen. Er wird weder durch bessere Zustände ermöglicht noch durch schlechtere verunmöglicht. In dem Sinn hebt Calvin hervor, "daß Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind" (4,20.1). In dem Sinn sagt er sogar das Provozierende: "Geistliche Freiheit kann mit politischer Knechtschaft bestens bestehen" (ebd.) - was doch nicht das Dogma einer generellen Verträglichkeit und Kombinierbarkeit von innerer Freiheit und äußerlicher Sklaverei aufstellt, sondern sagt, daß auch solche Knechtschaft uns nicht die geistliche Freiheit zu rauben vermag, die wir im Gehorsam gegen Gott haben. Verdanken wir diese Freiheit nicht politischer Liberalität, so kann sie politische Illiberalität auch nicht verbieten. Denn das haben wir zu beachten, daß der erste Teil in jenem Doppelsatz eigentümlich oszilliert. Einerseits hat er wohl einen nüchtern-pragmatischen Aspekt, der erlaubt und auffordert, sich auf die jeweils gegebenen "Umstände" einzustellen, statt sie mit müßigen Disputationen darüber zu überspringen, "was der angenehmste politische Zustand an dem Ort, an dem wir leben, sein würde" (4,20.8). Andererseits hat er zugleich aber auch einen fundamental kritischen Aspekt, weil er nicht abstrakt eine Gleichgültigkeit des Glaubens gegenüber der Politik statuiert (alles Folgende stünde ja dann im Widerspruch dazu), sondern weil er eben aufgrund der Unterscheidung des "geistlichen Reichs Christi" von allen politischen Ordnungen dem politischen `status quo` keine religiöse Sanktionierung zuteil werden läßt, sondern sie ihm im Kern entzieht.

      Zum anderen ist komplementär zum ersten nun der zweite Satz hinzuzufügen: Aber angesichts und inmitten des Staates gilt es für Christen, Gott zu gehorchen, und zwar immer Gott mehr als den Menschen. Das gilt nach Calvin auch und gerade dann, wenn der Satz normalerweise besagt, daß wir auch Menschen zu gehorchen, sprich: staatliche Autoritäten anzuerkennen und ihren Gesetzen nachzukommen haben. Normalerweise! Denn der Gehorsam gegen Gott schließt den Respekt gegen staatliche Autoritäten nicht aus, sondern begründet ihn sogar. Calvin kann erneut provozierend von deren Würde reden: Sie sind zu "Dienern (ministri) der göttlichen Gerechtigkeit" eingesetzt, zum "Werkzeug (organum) der göttlichen Wahrheit", ja, zu "Gottes Stellvertretern (vicari)" oder "Abgesandten (legati)" (4,20.6). Also nun doch eine religiöse Sanktionierung der "politischen Administration"? Aber Vorsicht! Ein ähnliches Oszillieren wie bei jenem ersten Satz zeigt sich auch in dem zweiten. Auf der einen Seite ist deren göttliche Einsetzung als göttliche Wohltat (beneficium) dankbar zu ehren (4,20.9). Denn es ist Gottes guter Wille, daß wir, solange wir "Pilgrime auf Erden" sind und darum zum Nutzen dieser Pilgrimschaft solcher Hilfsmittel (subsidiis) bedürfen, im Dasein der "politischen Administration" solches "subsiduum", d.h. Hilfsmittel, Beistand, Schutz von Gott gewährt bekommen. Darum würden wir, wenn wir dieses "Hilfsmittel" verweigern und das staatliche Regiment beseitigen wollten, die "Menschlichkeit" selbst ausrotten (4,20.2). Man mag darum kritisch gegen die faktische Ausübung dieses Regiments sein, wie man will, man darf auch darin staatliches Regiment nicht nicht haben wollen, will man nicht die göttliche Wohltat in dessen Einsetzung zu solchem "Hilfsmittel" verachten. Aber auf der anderen Seite gilt zugleich: Nicht schon damit, daß wir irgendeiner staatlichen Autorität gehorchen, gehorchen wir Gott. Sondern immer nur umgekehrt: Weil wir Gott gehorchen, darum auch ihr - aber ihr "allein in ihm (nonnisi in ipso)" (4,20.32). "Ach, wenn das doch stets von uns beachtet würde, ... daß alles auf die Autorität Gottes und seines Gebots hin zu geschehen hat! Wenn sie allem vorgeht, dann kann niemals der rechte Weg verfehlt werden." (4,20.10) Das bedeutet für die staatlichen Regenten selbst, daß sie, sofern sie um ihre Stellung als "Gottes Vikare" wissen, sich nicht darauf zur Rechtfertigung ihrer Willkür, geschweige ihrer Untaten berufen können, sondern daß sie darum umgekehrt zu einem menschlichen Höchstmaß an "Integrität, Vorsicht, Milde, Maßhalten, Unschuld" herausgefordert sind - im Wissen darum, daß ihre Untaten dann nicht nur Menschenschinderei, sondern Gottesschändung sind (4,20.6). Das bedeutet wiederum für die Regierten, daß sie nur eine begrenzte und keine absolute Folgepflicht gegenüber den Regenten haben - und die Kirche macht, indem sie ja die Magistraten als "Vikare Gottes" erkennt, keinen unbefugten Übergriff in das weltliche Regiment, wenn sie allgemein oder je in einem konkreten Fall die Grenze dieser Pflicht einschärft: "Wenn sie etwas gegen ihn (Gott) befehlen, dann ist dem nicht stattzugeben noch zählt es; und wir dürfen hier in keiner Weise auf die Würde, die dem Magistrat zukommt, Rücksicht nehmen" (4.20,32).
      Jener umrissene Doppelsatz steht nun speziell hinter Calvins Anwendung einer Erkenntnis, die er, wie schon zuvor Zwingli39, von Plato und Aristoteles40 hier einfach übernehmen zu dürfen glaubte (4,20.8): Es gebe die drei Staatsformen: Königtum, Herrschaft der Besten (Aristokratie) und Volksherrschaft (Demokratie). Calvin knüpft daran seine persönliche Ansicht an, daß die zweite oder eine Mischung aus der zweiten und dritten Staatsform vorzuziehen sei, weil so die "Freiheit" des Volks eine gebührende "Lenkung" (moderatio) erfahre, ohne daß jedoch diese jene Freiheit "mindern", geschweige "verletzen" dürfe. Wichtiger für Calvin und, ich denke, sachlich weiterführender ist die Überlegung, daß jede dieser drei möglichen Staatsformen gemeingefährlich entarten könne: das Königtum zur Tyrannei, die Aristokratie zur Cliquenherrschaft, die Volksherrschaft zur sozialen Spaltung. Der Gedanke unterstreicht zunächst erneut den Satz, daß der Glaubensgehorsam in jeder Staatsform möglich ist, die nun einmal unter Gottes Vorsehung in den verschiedenen Regionen verschieden sein mag (ebd.). Der Gedanke entbirgt aber nun auch zugleich auch die in diesem Satz liegende kritische Kraft und treibt das Denken in die Richtung einer Einsicht, die, wie ich meine, der vornehmliche Beitrag Calvins zum Werden der modernen Demokratie ist: Er treibt dazu an, umso wachsamer das Augenmerk auf den - dann allerdings den Glaubensgehorsam herausfordernden - Punkt zu richten, wo die vorfindliche, erträgliche Staatsform zur unerträglichen Entartung wird: unerträglich, weil da die Wohltat Gottes in der Einsetzung des bürgerlichen Regiments pervertiert oder verleugnet wird, sei es durch seine Auflösung, sei es in seiner eigenen Absolutsetzung, sei es darum im Angriff auf die Gemeinschaft im Staat, sei es im Angriff auf die Freiheit in ihm.
      Aber was ist in diesem Fall dann zu tun? Weil dabei letztlich die Wohltat Gottes in der Einsetzung der "politischen Administration" bestritten wird, darum hat dazu die Kirche durchaus etwas zu sagen. Zu sagen! Mehr als das Wort steht ihr dabei nicht zu Gebote, weil sie als Kirche keine Machtmittel hat noch haben darf (s.o.). Aber zu sagen hat sie dann ein ganz Konkretes. Zwar ist theoretisch der Staat in jeder Staatsform gefährdet. Aber dieses Theoretische soll ja praktisch dafür wachsam machen, daß der Staat dann also jederzeit durch Entartung bedroht sein kann; und die Kirche hat dann, wenn das in einer je bestimmten Weise der Fall ist, - nicht eine allgemeine Staatstheorie zu vertreten, sondern gegen diese bestimmte, jeweils besondere Gefahr ihr Wort zu erheben. Es war aber zumindest beim älteren Calvin so - und das hat sich dem Reformiertentum gewiß so sehr eingeprägt wie seine allgemeinen Ausführungen in "De politica administratione" - , daß er, der angebliche Verächter des `Pöbels`, faktisch den Staat eben nicht von `unten` gefährdet sah, sondern aufs Bedrohlichste von `oben`, von den ihn Beherrschenden.
      Namentlich sein Daniel-Kommentar von 156141 ist unter der Text-Auslegung eine flammende Anklagerede wider die monarchistische Tyrannei. Er ruft gegen sie wohl nicht zum politischen Aufstand auf. Er entwickelt kein politisches Gegenprogramm. Er hofft angesicht dessen nur auf Gott und seinen Christus, der König der Welt ist, und darauf, daß er wie Gebeugte erheben, so Mächtige nicht nur einsetzen, sondern sehr wohl auch stürzen kann (385f., 394). Aber in diesem Licht deckt er schonungslos auf: die Macht, das Schreckensregiment der Herrscher - sie, die "ihrer Wut die Zügel schießen lassen und meinen, sie dürften sich alles erlauben", nach der Devise: "Erlaubt ist, was gefällt", über deren Schwelle man nicht treten kann, ohne daß es "mit der Freiheit vorbei" ist (378). Sie, die, geblendet vom "Glanz ihrer Größe", dem "Größenwahn" verfallen sind (400). Sie, die damit doch vielen Eindruck machen, so daß diese "einfach nach des Königs Pfeife" tanzen; "was dem König gefällt, dem stimmen sie alle zu, wenn nötig, mit lautem Beifall" (409). Sie, die über alle "Untertanen frei verfügen", nicht, weil sie es dürften, aber "weil es sich alle schweigend gefallen lassen" (452)42. Sie, die die "Heiligen", die dabei nicht mitmachen, belasten und belästigen "mit der Anklage auf Undank und Aufruhr" (412); denn "nichts ist für die Könige schwerer zu ertragen als Verachtung ihrer Befehle" (413). Sie, die schließlich bei dem allem die Religion nicht missen mögen, sondern noch so gern zur Festigung ihrer Macht in ihren Dienst stellen, die darum "mit großem Aufwand Tempel bauen"; und wenn "man sie fragt, was für eine Absicht sie dabei leite, so erfolgt sofort die Antwort: das tun wir zur Ehre Gottes! Dabei suchen sie allein ihren eigenen Ruhm und ihre eigene Ehre" (405). Es ist für Calvin klar, daß der kirchliche Widerspruch gegen sie gerade an dem letzteren Punkt ansetzen und ihnen so die religiöse Stütze ihres Machtgefüges entreißen muß. Es mußte darüber hinaus denen, die diese - geradezu von einem Freiheitspathos getragene und zugleich das Funktionieren von Macht scharfsichtig analysierende - Kritik Calvins lasen43, auch klar sein, daß auch Calvins Auszeichnung der staatlichen Magistraten als Gottes `Vikare` genau das: eine Machtkonzentration an der Staatsspitze, nicht meinte, sondern, rechtverstanden, sogar bestritt. Zudem ist deutlich: Gerade das Argument der Sünde, der "Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen" ist für Calvin kein Argument für den autoritären, mon-archischen Staat, sondern ein entscheidendes dafür, daß im Staat "mehrere das Steuerruder" zu halten haben (4,20.8).
      Aber nun drängte die These von der möglichen Korrumpierbarkeit jeder Staatsform zu einer weiteren, jetzt direkt politischen Überlegung, die eine praktische Handhabe gegen deren Korruption ermöglicht. Demnach ist im Staatswesen dreierlei fundamental zu unterscheiden: der Magistrat44, die bürgerlichen Gesetze (leges), nach denen er regiert, und das Volk, das den Gesetzen und insofern auch dem Magistrat Folge zu leisten hat (4,20.3). Mit dieser Differenzierung unterscheidet sich Calvin von jener lutherischen Tradition, die die `Obrigkeit` und den `äußerlichen Gebrauch des Gesetzes` (singularisch!) so eng zusammensieht, daß die Obrigkeit kraft ihrer Macht, das `zügellose` Volk an die Zügel zu nehmen, als solche schon das Gesetz (Gottes) äußerlich verkörpert. Es legte sich dabei nahe, den Sinn dieses "Gesetzes" (lex) wesentlich in seinem Zwangscharakter, in seiner Verbindung mit Gewaltausübung zu sehen. Daß Calvin die "Gesetze" (pluralisch!) als ein Eigenes, Drittes neben und gegenüber beiden, Magistrat und Volk, herausstellt, bedeutet eine entscheidende Weichenstellung, die in eine andere Richtung weist als jene Tradition. Diese Differenzierung hat zwei erhebliche Folgen.

      Zum einen: Indem der Magistrat zwar gemäß (secundum) den "Gesetzen" zu handeln hat (ebd.), aber sein Handeln nicht mit den "Gesetzen" identisch ist, stellt sich die Aufgabe einer inhaltlichen Bestimmung der Gesetze. Denn noch nicht deren Form - daß sie zwingen - macht sie zu Gesetzen, mit denen sich ein bürgerliches Gemeinwesen regieren und ein erträgliches Zusammenleben in ihm organisieren läßt, sondern ihre Zweckmäßigkeit hat sich an ihrem Inhalt zu erweisen. Das setzt voraus, daß diese Gesetze (leges) nicht mit dem göttlichen Gesetz (lex) zusammenfallen, sondern menschliche, darum prinzipiell korrigible Festlegungen sind, Versuche, diesem göttlichen Gesetz zu entsprechen. Aber eben, es kann dabei nicht genug sein, sie nur oder auch nur zuerst auf ihren formalen, negativen Charakter hin zu beachten, so daß in der Konsequenz entweder die Gesetze, gleich was sie gebieten, hinreichend sind, wenn sie nur von menschlicher Zügellosigkeit abschrecken, oder die Gesetze gar umso `besser` sind, je mehr sie abschreckend sind. Darum kommt es bei diesen Festlegungen oder Versuchen vielmehr darauf an, ihren positiven, der menschlichen Gemeinschaft zuträglichen Sinn herauszustellen. Sie sind ja "die kräftigsten Nerven des Gemeinwesens" (4,20.16) und sind darum so gut, wie sie denn auch tatsächlich dem Zusammenleben seiner Glieder dienlich sind, "dem Gemeinwohl und öffentlichen Frieden" (communi omnium saluti ac paci, 4,20.9). Der Grundbegriff, nach dem die bürgerlichen Gesetze festzulegen sind und an dem sie sich messen zu lassen haben, ist für Calvin schlicht der der "aequitas", das Tun dessen, was "recht und billig" ist (4,20.16), man könnte auch sagen: die nach der "ewigen Richtschnur der Gerechtigkeit" gebildete menschliche Gerechtigkeit (4,20.15). Diese ist für Calvin nach zwei Seiten geltend zu machen: so, "daß unter den Christen (!) eine öffentliche Gestalt des Gottesdienstes existiert und daß unter den Menschen (!) die Menschlichkeit (humanitas) Bestand hat" (4,20.3). Dabei bemißt sich die "Menschlichkeit" in der Bürgerschaft konkret daran: "daß den Armen und Bedürftigen das Recht zurückgegeben wird" und sie "der Hand des Unterdrückers entrissen werden" (4,20.9). Gerade in diesem Zusammenhang versteht Calvin auch den guten Sinn der dem Staat verliehenen "Gewalt": Er ist damit "gewappnet", damit seine Repräsentanten "die guten Leute vor den Ungerechtigkeiten der Bösen schützen und den Unterdrückten mit Hilfe und Schutz beistehen" (ebd.). Die Gewalt gehört also nicht zum Wesen der staatlichen Gesetze und deren politischer Handhabung, sondern ist dem Magistrat nur zu der bestimmten, aber begrenzten Funktion bei der Durchsetzung der "Gesetze" verliehen: um illegitime, vergewaltigende Gewalt einzuschränken. So leuchtet ein, daß ein Verzicht auf solche legitime staatliche Gewalt, gerade weil nicht "Härte" (asperitas), sondern "Milde" (clementia), also Humanität das Handeln des Magistrats auszeichnen soll, eine "höchst grausame Humanität (crudelissima humanitas)" wäre (4,20.10).

      Zum anderen - und an diesem für unser Thema entscheidenden Punkt laufen nun die zuvor gezeigten Linien zusammen: Wenn es denn so ist, daß ein bürgerliches Gemeinwesen faktisch am meisten von einer Machtkonzentration an seiner Spitze, von den Herrschenden bedroht ist und wenn diese Bedrohung darin besteht, daß "die Freiheit, zu deren Beschützern sie doch eingesetzt sind", vermindert oder gar verletzt wird (4,20.8), - wenn es ferner so ist, daß das in den "Gesetzen" verkörperte Recht als ein Drittes nicht nur über dem Volk, sondern auch über den Regenten steht, - und wenn es schließlich so ist, daß diese Gesetze an einem bestimmten, positiven Inhalt allgemein erkennbar sind und daß auch die staatliche Macht nicht an sich ein Recht auf Gewaltausübung hat, sondern nur ein klar bestimmtes, begrenztes Recht zur Gewaltverhinderung (Schutz der Schwachen vor den Starken), dann drängt sich unerbittlich die Frage einer Kontrolle aller Macht im Staat auf. Und zwar geht es nicht nur um eine Kontrolle des Volks durch den Magistrat und nicht nur um eine staatliche Kontrolle der Mächtigen in deren Verhalten zu den Schwachen im Staat, sondern auch um eine Kontrolle des die legitime Gewalt im Staat ausübenden Regiments selbst. Indem diese Konzeption einen solchen Rechtsstaat meint, in dem nach inhaltlich klar umrissenen, von allen erkennbaren `humanen` Gesetzen regiert wird, öffnet sie faktisch der bürgerlichen Mündigkeit die Möglichkeit, die Übereinstimmung des Regierungshandelns mit den staatlichen Gesetzen zu überprüfen. Sie weist damit in die Richtung der Demokratie, in der eben das Volk jene Kontrolle ausübt, mit dem legitimen Recht, Regierungen abzusetzen und darum dann ja auch einzusetzen. Calvin hat diese Konsequenz noch nicht gezogen45, sondern sich damit begnügt, angesichts jener sich doch schon ihm unerbittlich aufdrängenden Frage eine Lösung vorzuschlagen, die in den damaligen Umständen als angemessen erscheinen konnte, obwohl sie uns heute nur als eine Zwischenlösung erscheinen mag. Er meinte, daß "plures" (Mehrere, Verschiedene, Viele) das Staatsruder steuern sollten und daß so genügend "verschiedene Aufpasser und Aufseher" (plures censores ac magistri) da seien, um die Willkür eines unter ihnen im Zaum zu halten, der sich mehr als rechtens erhebt (4,20.8).
      Daß er dabei aber jedenfalls das Problem der Kontrolle der Regentenmacht klar vor Augen hatte, wird dadurch bestätigt, daß er sich nun auch Gedanken über eine Frage machen mußte, deren positive Beantwortung in besonderem Maß zur Brunnenstube moderner Demokratie wurde: über die Frage des Widerstandsrechts gegen ein unerträgliches Regiment, das die "Freiheit des Volkes", die kirchliche Gottesverehrung, die Ausübung des Rechts, den Schutz der Armen vor den Schwachen mit Füßen tritt (vgl. 4,20.29). Man hat zurecht bemerkt, daß Calvin sich an diesem Punkt zögerlich äußerte, eher nur in einer "Randbemerkung"46. Richtig ist aber auch, daß es von all den genannten Voraussetzungen her nur konsequent war, daß er sich dieser Frage stellte. Zwar hat er hier nicht mehr gesagt, als in seiner Zeit hier rechtlich möglich war. Aber er hat hier nicht nur in einer Art Konzession eine gegebene Rechtsmöglichkeit erwähnt, sondern hat auf diese Bezug genommen im Rahmen eines sich aus dem Zusammenhang seines ganzen Denkens grundsätzlich und notwendig aufwerfendes Problem: das der Kontrolle staatlicher Macht.
      Seine Zögerlichkeit erklärt sich aus zwei beachtlichen Gründen, die beide einschärfen, daß solch ein Widerstand selbst ein legitimer, ein Rechtsakt sein müsse und keinesfalls in einem Rechtsvakuum als Ausbruch beliebiger Willkür stattfinden dürfe. Zum einen steht hinter dem bürgerlichen Regiment ja die göttliche Einsetzung; darum haben wir angesichts eines unrechten Regiments zuerst auf Gott und nicht auf unseren `Arm` das Vertrauen zu sehen - auf den Gott, der nicht jedes Regiment stützt, aber auf ihn, weil zuerst er es ist, "der die Könige einsetzt und absetzt"47, aber wirklich auch absetzt, doch so, daß es dann keine Eigenmächtigkeit ist, wenn von ihm berufene "öffentliche Erretter" auftreten, "um eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das ... unterdrückte Volk zu befreien."48 Zum anderen entspricht diesem göttlichen Recht auch ein menschliches Recht zum Widerstand gegen ein unrechtes Regiment oder zu seiner Absetzung, aber ein Recht, das darum nicht auf eigene Faust zu betätigen ist, sondern von dazu Berechtigten49 - und das hieß für Calvin damals, "wie die Dinge heute liegen": von den jeweils untergeordneten politischen Behörden. Doch haben die nicht nur ein Recht, gegen das "maßlose Wüten und Schinden der kleinen Leute" (4,20.31) einzuschreiten, sondern sogar die Pflicht dazu, wenn sie nicht Betrug an der "Freiheit des Volks" (populi libertas) begehen wollen. Wenn hierbei, `wie die Dinge damals lagen`, nicht alle Einzelnen aktiv werden konnten, damit nämlich im Aufstand gegen das unerträgliche Regiment das Recht gewahrt bleibe, so bedeutet das nach Calvin indes nicht, daß sie bloß `passiv` bleiben dürften; sie haben dann ungerechten Befehlen einer ungerechten `Obrigkeit` den Gehorsam zu verweigern, koste es, was es wolle (4,20.32).
      Calvin hat auch diese kritische Gestalt der Kontrolle des Magistrats gewiß nicht im Rahmen einer Demokratie, sondern der damaligen ständischen Gestalt d
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      schrieb am 14.04.01 20:20:15
      Beitrag Nr. 83 ()
      Das Weinland Nahe
      Landschaft und Weine des Anbaugebiets Nahe
      Eines ist allen deutschen Weinbaugebieten gemeinsam, sie liegen allesamt in klimatisch besonders bevorzugten Landschaften, meist an Flussläufen, was sich bis in die Namensgebung widerspiegelt. Der Weinbau der Rheinregion ist weltweit bekannt und Inbegriff des deutschen Weines, doch auch die Nebenflüsse des großen deutschen Stromes und deren Seitentäler haben eine lange Weinbautradition und eine reiche Geschichte. Das Tal der Nahe, das Anbaugebiet Nahe wie es heute laut Gesetz fast nüchtern genannt wird, ist ein altes Weinland.

      Eine lange Geschichte
      Schon die Römer haben hier ihre Spuren hinterlassen, wie zahlreiche, sich hier im Nahegebiet bei Bad Kreuznach begegnende Römerstraßen, ein römisches Kastell bei Bad Kreuznach, römische Villen und römische Grabstätten beweisen. Also deutliche Hinweise für einen lebhaften Handel und Wandel, und es wäre fast ein Wunder, wenn sie nicht auch die Rebe, den Wein und deren Kultur mit hierher gebracht hätten. Wozu sollten dann auch römische Rebmesser und Weinsiebe dienen, die hier gefunden wurden und noch heute im Museum in Bad Kreuznach aufbewahrt werden. Die Rebe als Pflanze war hier sicherlich schon länger bekannt und in ihrer Wildform in den Auewäldern heimisch.

      Ein erster urkundlicher Hinweis stammt aus dem 8. Jahrhundert. in dem in einer Schenkungsurkunde des Klosters Lorsch von 766 das Weindorf Norheim erwähnt wird. Einer starken Ausbreitung des Weinbaus im 12. und 13. Jahrhundert (3.000 ha) mit einem großen Besitzanteil bei Klöstern und Kirchen folgte ein Niedergang der nach wechselvollem Auf und Ab erst wieder nach 1900 seinen ursprünglichen Umfang erreichte, um bis heute zunehmende Ausbreitung zu finden. Diese, in den letzten 100 Jahren positive Entwicklung kam nicht von ungefähr. Hatten doch Winzer mit Selbsthilfeorganisationen auf genossenschaftlicher Basis und vor allem durch die Gründung einer Weinbauschule in Bad Kreuznach um die Jahrhundertwende und die kurz darauf aufgebaute Staatliche Weinbaudomäne Niederhausen-Schloßböckelheim mit ihrem starken praktischen Bezug wesentliche Impulse gesetzt: einerseits in der Ausbildung und andererseits im vorbildlichen Beispiel der Qualitätserzeugung.

      Produktion und Vermarktung
      Die jüngste Statistik weist für das Anbaugebiet Nahe eine Reibfläche von 4.700 Hektar auf Gemessen an der Größe des gesamten deutschen Weinbaus eines der kleineren Gebiete. Rund 2.000 Weinbaubetriebe, vor allem in der Größenordnung bis 3 ha teilen sich diese Fläche und erzeugen pro Jahr 300.000 bis 500.000 hl Wein, die zur Hälfte vom Winzer selbst vermarktet werden, während die andere Hälfte über Handel und Genossenschaft den Weg zu den Weinfreunden findet. Inzwischen ist dabei auch ein guter Anteil im Export herausgekommen, insbesondere nach England, USA, den Nachbarländern Holland, Belgien und Luxemburg, aber auch nach Kanada, Japan und den Ländern Skandinaviens.

      Traditionsgemäß spielt der Weißweinanbau an der Nahe die dominierende Rolle. Mit dem Rotweinanbau beschäftigt man sich erst seit dem Zeitpunkt ab dem diese Weine mehr und mehr verlangt werden. Ihr Anteil liegt bei 7 %.

      Ausgehend vom sogenannten gemischten Satz. der hier Jahrhunderte lang praktiziert wurde. waren ursprünglich die Rebsorten Riesling und Silvaner vorherrschend. Sie wurden vor allem vom Müller-Thurgau, der heute einen Flächenanteil von 24 % erreicht, aber auch von neueren Sorten wie Kerner und Scheurebe auf 17 % bzw. 12 % zurückgedrängt. In den alten klassischen Tagen. besonders auch den klimatisch günstigen Steillagen, die insgesamt 20 % des Gebietes ausmachen, dominiert nach wie vor der Riesling und ist aufgrund seiner Qualität die Nr. 1. Nicht umsonst gibt es hier einen Kreis von Weingütern, die sich im Ersten Versteigerungsring der Rieslingweingüter an der Nahe e.V. zusammengeschlossen haben und sich der Rieslingpflege besonders widmen.

      Die Weincharaktere
      Die Überschaubarkeit und die Heimeligkeit des Gebietes sowie der aufgrund der vielgestaltigen geologischen Formationen anzutreffender Nuancenreichtums der Weine laden Weinfreunde und -kenner gleichermaßen zum Probieren und Verweilen an die Nahe ein. Neben kernigen, pikanten bis rassigen und stahligen Rieslingweinen mit hervorragender Frucht - vom Körper etwas schlanker, dabei sehr entwicklungsfähig und langlebig - sind etwas voluminösere auch vom Alkohol her mehr geprägte Weine zu finden, die sich schnell entwickeln. Genauso werden solide, bodengeprägte Silvaner, aber auch duftigere und bukettbetontere Vertreter vor allem von Müller-Thurgau, Kerner, Scheurebe und anderen Sorten angebaut. Die Ersteren mehr auf Gesteinsverwitterungsböden oft auch in Steillagen, die Letzteren mehr auf tiefgründigeren und auf flachen Lagen. Kurz: Die Nahe ist in der Lage, Rasse und Fülle zu vereinen. Die Weine der Nahe sind das Abbild der Landschaft, einer Landschaft, die das Spiel zwischen Gestein, Klima, Verwitterung und der nie versiegenden und nachlassenden Kraft des Wassers der Nahe widerspiegelt.

      Landschaft und Boden
      Ehe die Nahe bei ihrer West-Ostwanderung nach 120 km bei Bingen in den Rhein mündet, erlebt sie an ihren Ufern und an den einmündenden Seitentälern eine Weinkarte seltenen Reichtums. Nicht auf ihrer gesamten Länge, das wäre zuviel des Guten - sie würde trunken - sondern nur auf der zweiten Hälfte des Weges.

      Genau bei Martinstein trifft die Nahe - vom Bostalsee kommend - erstmals mit dem Weinbaugebiet Nahe zusammen. für dessen Name sie Pate stand. Nach dem Melaphyr fühlt sie sich in den weicheren Formationen des Oberrotliegenden sehr viel wohler und hat sich in einer entsprechenden Weitung des Tales breiter gemacht und auch der Rebe noch reichlichen Platz gelassen. Kräftige, markante und nachhaltige Weine finden wir hier, z.B. im Monzinger Frühlingsplätzchen oder auch Meddersheimer Rheingrafenberg. In Monzingen sollte man sich unbedingt das Alt`sche Haus aus dem 16. Jahrhundert ansehen, unbestritten der schönste Fachwerkbau weit und breit. Auch Bad Sobernheim, das ebenfalls noch zur sogenannten oberen Nahe gezählt wird, soll genannt werden. Es ist vor allem durch seine vom "Lehmpastor" Felke proklamierten naturnahen Heil- und Lebensmethoden bekannt geworden.

      Im weiteren Verlauf der mittleren Nahe, dem eigentlichen Herzstück des Anbaugebietes, beginnt ein wahres Feuerwerk an landschaftlichem Wechselspiel und feingegliederten Rebhängen. Immer neu musste sich die Nahe durch sich in den Weg stellende Vulkanmassive schlängeln, wobei sie Naturdenkmale ganz besonderen Reizes geschaffen hat. Dazwischen immer wieder eine kleine Talweitung ehe der Weg fortgesetzt werden konnte. So abwechslungsreich wie die Landschaft sind auch die Böden und die Weine, die darauf wachsen. Sicher bedingt auch das eine das andere. Schiefer, Porphyr, Latit, Andesit, Melaphyr Carbon, Ton und Sandstein, Löß und Lehm, alles ist hier in diesem Gebietsabschnitt zu finden. Es wundert deshalb nicht und ist fast selbstverständlich, wenn hier auch Weine der Spitzenklasse wachsen. Wer kennt nicht die finessenreichen Rieslingweine aus der Schloßböckelheimer Kupfergrube, hat sich nicht schon an ihrem feinen Porphyrton begeistert, genau wie an den etwas nachhaltigeren und feinfruchtigen Weine des Niederhäuser Hermannsbergs und der Hermannshöhle oder dem Schloßböckelheimer Felsenberg. Alles Rieslingweine aus Lagen, die zur absoluten Spitze Deutschlands zählen, und die vor allem auch durch die hier liegende Staatliche Weinbaudomäne Niederhausen - Schloßböckelheim bekannt geworden sind. Seit 1900 bemüht man sich dort, Weinqualität in letzter Konsequenz zum Wohle des Gebietes zu verwirklichen. Handwerklich individueller Holzfassausbau, bewusste Ertragsbegrenzungen, gepflegte Rebkultur auf den klimatisch bevorzugten Steillagen. alles trägt zur Qualität bei. Ein Besuch hier, nicht zuletzt auch der Landschaft wegen, ist sicher für einen ersten Eindruck mehr als zu empfehlen, zumal man hier gerne Auskunft über das gesamte Gebiet und seine Weine gibt. Nicht zu vergessen Lagen wie Schloßböckelheimer Königsfels oder auch das NorheimerDellchen und der Norheimer Kafels.

      Beste klimatische Bedingungen
      Der Natur dieses Landschaftsabschnittes muss man ein Kompliment machen: Das Klima des gesamten Gebietes, das im Regenschatten des Hunsrücks und Soonwaldes liegt und durchweg auch für ein Weinbaugebiet stattliche Werte aufweist - 480 mm Niederschläge, 9,7 °C Jahresdurchschnittstemperatur 1750 Sonnenscheinstunden - erfährt hier nochmals einen deutlichen Kulminationspunkt. Hier finden wir pontische und mediterrane Floren- und Faunenelemente, unter anderem Diptan, Federgras, Bocksriemenzunge, verschiedene Nachtschmetterlinge, Smaragdeidechse, eine Fundgrube für den Kenner und Liebhaber und eine schöne Entsprechung zu den Weinen.

      Weiter geht die Reise entlang der Nahe
      Wir müssen uns losreißen, denn schon wartet der nächste Höhepunkt, das mächtige Rotenfels-Massiv zwischen Norheim und Bad Münster am Stein-Ebernburg mit 200 m Höhe die höchste Steilwand Deutschlands außerhalb der Alpen. Ein Eldorado für Kletterer und den vom Aussterben bedrohten Wanderfalken und zu ihren Füßen, eingeengt zwischen Nahe, Eisenbahn und Straße die Weinberge Traisener Bastei, klein aber für Kenner und Liebhaber außerordentlich attraktiv - die Weine stets in einer typisch erdigen Ausprägung. In der Nachbarschaft grüßen die durch Franz von Sickingen bekannt gewordene, heute weitgehend wieder hergestellte Ebernburg, die Ruine Rheingrafenstein über Bad Münster und aus dem Alsenztal die Altenbaumburg. Es gibt noch viele Burgen. die an eine reiche aber auch bewegte Vergangenheit erinnern . Beim Glas Wein und im Gespräch mit den Einheimischen wird noch manche Geschichte wach und wieder lebendig.

      Nach Bad Münster und dem Wandergebiet Gans weitet sich das Tal und Bad Kreuznach liegt vor uns. Ebenso wie Bad Münster ein Heilkurort für Gelenkleiden und Atemwegserkrankungen. Bad Kreuznach hat das älteste Radon-Solebad der Welt, seine Rheumakliniken haben internationalen Ruf.

      Bad Kreuznach nennt sich selbst gerne die Stadt der Rosen und Nachtigallen und feiert im Spätsommer seinen Jahrmarkt, ein Volksfest größten Ausmaßes und weit über die Grenzen bekannt. Sehenswert und informativ die kürzlich wieder hergestellte Römerhalle mit römischen Mosaiken, aber auch das Karl-Geib-Museum, wobei überall Verbindungen zur Rebe und zum Wein auftauchen. Eine Attraktion sind die im 15. bis 17. Jahrhundert gebauten Brückenhauser Über der Nahe. In einem dieser Häuser steckt noch heute eine Kugel aus dem 30jahrigen Krieg. Heute geht es hier nicht mehr so heiß zu, eine Weinstube sorgt für Abkühlung und Entspannung. Aber auch als Garnisonsstadt ist Bad Kreuznach bekannt und auf diesem Wege ist manche Brücke zum Weinbaugebiet Nahe geschlagen worden. Sicherlich haben dazu auch Spitzenlagen wie Kreuznacher Kahlenberg, Kreuznacher Narrenkappe und Kreuznacher Brückes mit ihren fruchtbetonten, pikanten frischen Weinen entscheidend beigetragen.

      Im weiteren Verlauf der Unteren Nahe, die sich jetzt anschließt, wechseln Rotliegendes und tertiäre Formationen mit Löß, Lehm, Schotter Schiefer und Konglomeraten. Die Nahe fließt etwas gemächlicher - die Weine, nun mehr vom Müller-Thurgau - sind etwas behäbiger, aber ausdrucksvoll, nachhaltig und etwas rascher in der Entwicklung.

      Vorbei an Langenlonsheim und Münster-Sarmsheim fließt die Nahe bis zur Mündung in der Nähe der Weinbergslage Bingerbrücker Hildegardisbrünnchen - dies darf wohl auch als ein Hinweis auf die Äbtissin Hildegard von Bingen, die geistig wohl bedeutendste Frauengestalt des Mittelalters, gewertet werden, die an der Nahe sehr segensreich wirkte.

      Auch in den Seitentälern der Nahe ist der Weinbau zuhause. Unmittelbar vor der Nahemündung ist das Trollbachtal mit seinen rötlichbraunen bizarren Felspartien, an denen einstmals das Meer brandete, Dazwischen bekannte Weinbergslagen wie Dorsheimer Burgberg, Münsterer Pittersberg, Burg Layer Schloßberg, Lagen deren Weine sich durch erdig schiefrige Geschmacksdifferenzierungen auszeichnen, Weine mit Fülle und Nachhaltigkeit. Ebenso sind die Täler des Guldenbachs und Grafenbachs mit Weinorten wie Guldental. Windesheim, Wallhausen, Roxheim und anderen - in der Nähe rufen die Burgruinen Gutenberg und Dalberg Geschichte wach, für Weine nicht nur von den klassischen Gewächsen sondern auch neueren Sorten bekannt. Schließlich das Ellerbachtal mit Burgsponheim, Bockenau, wobei auch die Abteikirche in Sponheim nicht übersehen werden sollte. Wechseln wir die Naheseite, setzen wir bei Bad Münster über, so ist das Alsenz- und Appelbachtal mit seinen pikanten und frischen Weinen zu erwähnen, ein Weinbau mit Steillagen der mehr sporadisch die Landschaft ausfüllt. Letztlich aber nicht weniger interessant das Glantal, zwar schon mehr landwirtschaftlich geprägt, aber mit der Stadt Meisenheim ein Kleinod guterhaltener, mittelalterlicher Städtebaukunst.

      Dazwischen Obermoschel mit seinem Schloßberg und den anderen Lagen, geprägt durch Silvaner, Riesling und Müller-Thurgau. Es soll bei dieser kurzen Auswahl bleiben.

      Bei einem Besuch hier im Gebiet warten noch viele Überraschungen und manche Schätze. Gehen Sie auf Entdeckungsreise und lassen Sie sich von dem Wein, der Landschaft und den Menschen gefangen nehmen. Hierzu bietet sich in ganz besonderer Weise die eigens geschaffene Naheweinstraße an, die alle Weinorte ansteuert, oder Sie planen einen Besuch während des Festes rund um die Naheweinstraße, bei dem alljährlich im August/September das ganze Weinbaugebiet der Nahe feiert, und wo in entspannter Atmosphäre auch das Ambiente nicht zu kurz kommt. Vielleicht erwandern Sie das Gebiet über den Weinwanderweg, der neben seiner Ost-West-Route auch viele örtliche Rundwanderwege erschließt und markante Ziele ansteuert.

      Das Weinbaugebiet Nahe ist ein ruhiges Gebiet. Es ist glücklicherweise noch nicht total vermarktet und damit touristisch noch nicht überlaufen. Das Selbsterleben wird hier großgeschrieben. Der stille Winkel, die landschaftliche Ursprünglichkeit kommen ganz zum Tragen. Dabei ist auch für das leibliche Wohl bestens gesorgt. Rustikale Gaststuben, Weinprobierstuben, Weinlokale und renommierte Restaurants laden überall zum Verweilen, zum Entspannen und zum Stärken ein. Neben dem gebietstypischen Spießbraten von Schwein oder Rind ist als weitere Spezialität Spansau mit Füllselkartoffeln zu empfehlen. Letztere ist meist auf die Herbstmonate beschrankt. Dazu schmeckt in jedem Fall ein deftiger, herber Nahewein, serviert im gebietstypischen Römer oder dem hier verbreitet anzutreffenden Remis`chen, einem Becherglas mit 0,2 l Inhalt.

      Am Rande der Rebhänge bietet die umgebende Waldlandschaft des Hunsrück und Soonwaldes viel zur Erholung und zur Entspannung, oder ein Abstecher in die Schmuck- und Edelsteinmetropole ldar-Oberstein zeigt, wie nahe sich hier edle Weine und edle Steine kommen, so dass sich unwillkürlich das Fazit einstellt: ein gesegnetes Land, das Weinland Nahe.

      Dr. Werner Hofäcker

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      Daten und Fakten zum Weinland Nahe
      1. Landschaft
      Dort, wo der Rhein das Rheinische Schiefergebirge durchbrochen hat. wo der sagenumwobene Mauseturm seine Wellen bricht, mündet ein kleiner Fluss: Die Nahe.

      Dieser Fluss gibt dem Weinbaugebiet seinen Namen. Er durchfließt es auf einer Länge von 60 km. Vorbei an bizarren Felsen und Höhen, an sagenhaften Hügeln, einer herrlichen Landschaft. Die Weinberge beginnen am Rhein bei Bingerbrück und erstrecken sich in einem 40 km langen Band Nahe aufwärts bis kurz vor Kirn und den Seitentälern der Alsenz, des Glans, des Gräfen- und des Guldenbachs.

      2. Klima
      Das Naheweinbaugebiet liegt im Schutz der Höhen des Soonwaldes und des Pfälzer Berglandes, in deren Wind- und Regenschatten. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt 9,6 Grad und mit nur 500 Millimeter Niederschlag gehört die Nahe zu den regenärmsten Gebieten.

      3. Geschichte
      Funde aus dem nachchristlichen Jahrhundert zeigen, dass bereits die Römer an der Nahe Weinbau betrieben haben. In der Römerhalle in Bad Kreuznach befinden sich aus dieser Zeit Rebmesser, Mostsiebe und Feldflaschen. Ebenso auch ein fränkischer Goldhelm mit einem umlaufenden Rebmotiv. Schriftliche Zeugen des Naheweinbaues sind Urkunden aus dem 8. Jahrhundert, besonders des Klosters Lorsch. In diesen Urkunden werden die Weinorte Norheim (766), Waldlaubersheim (767), Langenlonsheim (769), Weinsheim (770), Roxheim (773), Monzingen (778) genannt. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lag der größte Teil des Reblandes an der Nahe in den Händen der Kirche und des Adels.

      4.Boden
      Die Böden, auf denen an der Nahe die Rebe gedeiht, sind aufgrund ihrer erdgeschichtlichen Entwicklung äußerst unterschiedlich. Auf engstem Raum eine einmalige Bodenvielfalt: Grünschiefer, Buntsandstein, Schiefertone, sandiger Lehm, Konglomerate, Kiessand, Mergel, Rupelton, Löß, Lößlehm, Ton, Quarzporphyr Porphyrit und Melaphyr.

      5. Fläche
      Das Weinbaugebiet Nahe umfasst ca. 4700 ha Rebfläche mit einem Bereich, sieben Großlagen und 340 Einzellagen. Die Nahe gehört damit zu den mittelgroßen deutschen Weinanbaugebieten.

      6. Standorte
      Etwa 30 % der Rebfläche liegen eben, 45 % am Hang und 25 % am Steilhang. Die meist flach gründigen Steillagen erfordern einen hohen Arbeitsaufwand.

      7. Die Weine
      Die Nahe-Weine präsentieren sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Standorte sehr vielfältig. Man bezeichnet die Nahe auch als das "Schaufenster der Deutschen Weinlande". Von den Gesteinsverwitterungsböden kommen rassige, nervige Weine, von den mehr tiefgründigen Böden milde vollmundige Weine.

      Siehe auch Anhang Böden, Hauptrebsorten und Charakteristik der Weine

      8. Erzeugung
      In der Bewirtschaftung der Weinberge und im Ausbau der Weine haben unsere Weinbaubetriebe, die nach neuzeitlichen Gesichtspunkten arbeiten, gezielt Maschinen und Geräte einsetzen, einen hohen Stand.

      9. Vermarktung
      Fast 5O % des Naheweines werden von den Weingütern und Weinbaubetrieben als Flaschenweine direkt an den Endverbraucher vermarktet. Über den Weinhandel gehen etwa 30 %, und die Genossenschaften vermarkten rund 20 % des Naheweines.

      10. Export
      Der Export von Nahewein spielt für die Weinwirtschaft dieses Weinbaugebietes eine immer mehr zunehmende Rolle. Exportiert werden durch die Weingüter und Weinbaubetriebe Naheweine derzeit hauptsächlich in folgende Länder:

      Großbritannien, USA, Japan, Benelux, Kanada, Irland, Island, Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark, Schweiz, Italien, Frankreich, GUS, Brasilien, Bahamas, Hongkong, Malaysia. Australien, Österreich

      11. Die Naheweinstraße
      Als eine der deutschen Touristikstraßen hat die 1971 organisierte Naheweinstraße von Jahr zu Jahr mehr Freunde gewonnen. Der 130 km lange Rundkurs ist mehr als eine Verbindung von Ort zu Ort. Sie führt den Besucher durch eine der reizvollsten Mittelgebirgslandschaften, in deren verträumten Weindörfern und aufstrebenden Städten fröhliche, aufgeschlossene Menschen wohnen, die vom Wein geprägt sind.

      Um den Gästen etwas Besonderes zu bieten, findet alljährlich an 3 Wochenenden das "Fest rund um die Naheweinstraße" statt. Dieses Fest ist deshalb einmalig, weil zur gleichen Zeit bis zu 30 Weinbaugemeinden feiern und alle aus diesem Anlass durch die Rundfahrt einer Festkommission mit der Naheweinkönigin und ihren Prinzessinnen verbunden werden.

      Anlässlich dieses Festes wird - jährlich wechselnd - die "Goldene Rebe" für das schönste Winzerhaus und das "Goldene Remis`chen für das schönste Weinlokal verliehen.

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      Die wichtigsten Rebsorten im Weinland Nahe
      1996
      1989
      1979

      Riesling 1.200 Hektar (28,6 %)
      1.137 (24,5 %)
      981 (21,9 %)

      Müller-Thurgau 998 Hektar (23,8 %)
      1.157 (25,0 %)
      1.312 (29,2 %)

      Silvaner 470 Hektar (11,2 %)
      560 (12,1 %)
      841 (18,7 %)

      Kerner 386 Hektar (9,2 %)
      392 (8,5 %)
      232 (5,2 %)

      Scheurebe 276 Hektar (6,6%)
      308 (6,6 %)
      266 (5,9 %)

      Bacchus 256 Hektar (6,1 %)
      257 (5,5 %)
      198 (4,4 %)

      Faber 112 Hektar (2,7 %)

      Weißburgunder 109 Hektar (2,6 %)

      Grauburgunder (Ruländer) 102 Hektar (2,4 %)


      Anbau von roten Rebsorten:
      Spätburgunder, Portugieser und Dornfelder
      392 Hektar (8,5%)

      232 (5,0 %)

      5O (1,1 %)


      Bestockte Rebfläche 4.590 Hektar (100%)
      4.636 (100 %)
      4.487 (100 %)


      Weinbaubetriebe 2.070


      Winzergenossenschaften 2


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      Das Weinland Nahe - geologische Vielfalt auf engstem Raum
      Böden
      Hauptrebsorten
      Charakteristik der Weine
      Typische Weinbauorte


      Böden auf Schiefer, Quarzitschutt und Phyllit des Devons Riesling
      Silvaner
      Müller-Thurgau feinfruchtige, rassige,
      abgerundete Weine Rümmelsheim, Münster-Sarmsheim, Bingerbrück, Weiler b. Bingerbrück

      Böden auf Sandsteinen und Schiefertonen des Unter- rotliegenden Silvaner
      Riesling kräftige, markante, rassige
      und nachhaltige Weine Waldböckelheim, Bockenau, Obermoschel, Odemheim, Alsenz

      Böden auf Hangschutt vulkanischer Gesteine des Rot- liegenden, Porphyr, Porphyrit Riesling gehaltvolle fruchtige Weine mit feiner Würze und Finessen; nachhaltige Art Schloßböckelheim, Niederhausen, Norheim, Bad Münster a.St.-Ebemburg

      Rote Böden auf Sandsteinen und Konglomeraten des Ober- rotliegenden Riesling
      Müller -Thurgau
      Scheurebe abgerundete, ausgeglichene
      saftige und blumige Weine mit
      feiner anregender Säure Meddersheim, Monzingen, Weinsheim, Wallhausen

      Kiesböden auf Haupt- und Mittelterrassenschotter
      der Nahe und ihrer Zuflüsse Silvaner
      Riesling
      Müller-Thurgau leichte, fruchtige, elegante, ausgeglichene Weine mit früher
      Reife Hargesheim, Roxheim, Rüdesheim, Bad Kreuznach

      Böden auf Löß und tertiären Tonen und Sanden; überwiegend kalkhaltig Müller-Thurgau
      Silvaner
      Riesling milde, elegante, extraktreiche,
      zarte feinblumige Weine Langenlonshelm, Windesheim, Bretzenheim, Guldental
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:20:18
      Beitrag Nr. 84 ()
      Das Weinland Nahe
      Landschaft und Weine des Anbaugebiets Nahe
      Eines ist allen deutschen Weinbaugebieten gemeinsam, sie liegen allesamt in klimatisch besonders bevorzugten Landschaften, meist an Flussläufen, was sich bis in die Namensgebung widerspiegelt. Der Weinbau der Rheinregion ist weltweit bekannt und Inbegriff des deutschen Weines, doch auch die Nebenflüsse des großen deutschen Stromes und deren Seitentäler haben eine lange Weinbautradition und eine reiche Geschichte. Das Tal der Nahe, das Anbaugebiet Nahe wie es heute laut Gesetz fast nüchtern genannt wird, ist ein altes Weinland.

      Eine lange Geschichte
      Schon die Römer haben hier ihre Spuren hinterlassen, wie zahlreiche, sich hier im Nahegebiet bei Bad Kreuznach begegnende Römerstraßen, ein römisches Kastell bei Bad Kreuznach, römische Villen und römische Grabstätten beweisen. Also deutliche Hinweise für einen lebhaften Handel und Wandel, und es wäre fast ein Wunder, wenn sie nicht auch die Rebe, den Wein und deren Kultur mit hierher gebracht hätten. Wozu sollten dann auch römische Rebmesser und Weinsiebe dienen, die hier gefunden wurden und noch heute im Museum in Bad Kreuznach aufbewahrt werden. Die Rebe als Pflanze war hier sicherlich schon länger bekannt und in ihrer Wildform in den Auewäldern heimisch.

      Ein erster urkundlicher Hinweis stammt aus dem 8. Jahrhundert. in dem in einer Schenkungsurkunde des Klosters Lorsch von 766 das Weindorf Norheim erwähnt wird. Einer starken Ausbreitung des Weinbaus im 12. und 13. Jahrhundert (3.000 ha) mit einem großen Besitzanteil bei Klöstern und Kirchen folgte ein Niedergang der nach wechselvollem Auf und Ab erst wieder nach 1900 seinen ursprünglichen Umfang erreichte, um bis heute zunehmende Ausbreitung zu finden. Diese, in den letzten 100 Jahren positive Entwicklung kam nicht von ungefähr. Hatten doch Winzer mit Selbsthilfeorganisationen auf genossenschaftlicher Basis und vor allem durch die Gründung einer Weinbauschule in Bad Kreuznach um die Jahrhundertwende und die kurz darauf aufgebaute Staatliche Weinbaudomäne Niederhausen-Schloßböckelheim mit ihrem starken praktischen Bezug wesentliche Impulse gesetzt: einerseits in der Ausbildung und andererseits im vorbildlichen Beispiel der Qualitätserzeugung.

      Produktion und Vermarktung
      Die jüngste Statistik weist für das Anbaugebiet Nahe eine Reibfläche von 4.700 Hektar auf Gemessen an der Größe des gesamten deutschen Weinbaus eines der kleineren Gebiete. Rund 2.000 Weinbaubetriebe, vor allem in der Größenordnung bis 3 ha teilen sich diese Fläche und erzeugen pro Jahr 300.000 bis 500.000 hl Wein, die zur Hälfte vom Winzer selbst vermarktet werden, während die andere Hälfte über Handel und Genossenschaft den Weg zu den Weinfreunden findet. Inzwischen ist dabei auch ein guter Anteil im Export herausgekommen, insbesondere nach England, USA, den Nachbarländern Holland, Belgien und Luxemburg, aber auch nach Kanada, Japan und den Ländern Skandinaviens.

      Traditionsgemäß spielt der Weißweinanbau an der Nahe die dominierende Rolle. Mit dem Rotweinanbau beschäftigt man sich erst seit dem Zeitpunkt ab dem diese Weine mehr und mehr verlangt werden. Ihr Anteil liegt bei 7 %.

      Ausgehend vom sogenannten gemischten Satz. der hier Jahrhunderte lang praktiziert wurde. waren ursprünglich die Rebsorten Riesling und Silvaner vorherrschend. Sie wurden vor allem vom Müller-Thurgau, der heute einen Flächenanteil von 24 % erreicht, aber auch von neueren Sorten wie Kerner und Scheurebe auf 17 % bzw. 12 % zurückgedrängt. In den alten klassischen Tagen. besonders auch den klimatisch günstigen Steillagen, die insgesamt 20 % des Gebietes ausmachen, dominiert nach wie vor der Riesling und ist aufgrund seiner Qualität die Nr. 1. Nicht umsonst gibt es hier einen Kreis von Weingütern, die sich im Ersten Versteigerungsring der Rieslingweingüter an der Nahe e.V. zusammengeschlossen haben und sich der Rieslingpflege besonders widmen.

      Die Weincharaktere
      Die Überschaubarkeit und die Heimeligkeit des Gebietes sowie der aufgrund der vielgestaltigen geologischen Formationen anzutreffender Nuancenreichtums der Weine laden Weinfreunde und -kenner gleichermaßen zum Probieren und Verweilen an die Nahe ein. Neben kernigen, pikanten bis rassigen und stahligen Rieslingweinen mit hervorragender Frucht - vom Körper etwas schlanker, dabei sehr entwicklungsfähig und langlebig - sind etwas voluminösere auch vom Alkohol her mehr geprägte Weine zu finden, die sich schnell entwickeln. Genauso werden solide, bodengeprägte Silvaner, aber auch duftigere und bukettbetontere Vertreter vor allem von Müller-Thurgau, Kerner, Scheurebe und anderen Sorten angebaut. Die Ersteren mehr auf Gesteinsverwitterungsböden oft auch in Steillagen, die Letzteren mehr auf tiefgründigeren und auf flachen Lagen. Kurz: Die Nahe ist in der Lage, Rasse und Fülle zu vereinen. Die Weine der Nahe sind das Abbild der Landschaft, einer Landschaft, die das Spiel zwischen Gestein, Klima, Verwitterung und der nie versiegenden und nachlassenden Kraft des Wassers der Nahe widerspiegelt.

      Landschaft und Boden
      Ehe die Nahe bei ihrer West-Ostwanderung nach 120 km bei Bingen in den Rhein mündet, erlebt sie an ihren Ufern und an den einmündenden Seitentälern eine Weinkarte seltenen Reichtums. Nicht auf ihrer gesamten Länge, das wäre zuviel des Guten - sie würde trunken - sondern nur auf der zweiten Hälfte des Weges.

      Genau bei Martinstein trifft die Nahe - vom Bostalsee kommend - erstmals mit dem Weinbaugebiet Nahe zusammen. für dessen Name sie Pate stand. Nach dem Melaphyr fühlt sie sich in den weicheren Formationen des Oberrotliegenden sehr viel wohler und hat sich in einer entsprechenden Weitung des Tales breiter gemacht und auch der Rebe noch reichlichen Platz gelassen. Kräftige, markante und nachhaltige Weine finden wir hier, z.B. im Monzinger Frühlingsplätzchen oder auch Meddersheimer Rheingrafenberg. In Monzingen sollte man sich unbedingt das Alt`sche Haus aus dem 16. Jahrhundert ansehen, unbestritten der schönste Fachwerkbau weit und breit. Auch Bad Sobernheim, das ebenfalls noch zur sogenannten oberen Nahe gezählt wird, soll genannt werden. Es ist vor allem durch seine vom "Lehmpastor" Felke proklamierten naturnahen Heil- und Lebensmethoden bekannt geworden.

      Im weiteren Verlauf der mittleren Nahe, dem eigentlichen Herzstück des Anbaugebietes, beginnt ein wahres Feuerwerk an landschaftlichem Wechselspiel und feingegliederten Rebhängen. Immer neu musste sich die Nahe durch sich in den Weg stellende Vulkanmassive schlängeln, wobei sie Naturdenkmale ganz besonderen Reizes geschaffen hat. Dazwischen immer wieder eine kleine Talweitung ehe der Weg fortgesetzt werden konnte. So abwechslungsreich wie die Landschaft sind auch die Böden und die Weine, die darauf wachsen. Sicher bedingt auch das eine das andere. Schiefer, Porphyr, Latit, Andesit, Melaphyr Carbon, Ton und Sandstein, Löß und Lehm, alles ist hier in diesem Gebietsabschnitt zu finden. Es wundert deshalb nicht und ist fast selbstverständlich, wenn hier auch Weine der Spitzenklasse wachsen. Wer kennt nicht die finessenreichen Rieslingweine aus der Schloßböckelheimer Kupfergrube, hat sich nicht schon an ihrem feinen Porphyrton begeistert, genau wie an den etwas nachhaltigeren und feinfruchtigen Weine des Niederhäuser Hermannsbergs und der Hermannshöhle oder dem Schloßböckelheimer Felsenberg. Alles Rieslingweine aus Lagen, die zur absoluten Spitze Deutschlands zählen, und die vor allem auch durch die hier liegende Staatliche Weinbaudomäne Niederhausen - Schloßböckelheim bekannt geworden sind. Seit 1900 bemüht man sich dort, Weinqualität in letzter Konsequenz zum Wohle des Gebietes zu verwirklichen. Handwerklich individueller Holzfassausbau, bewusste Ertragsbegrenzungen, gepflegte Rebkultur auf den klimatisch bevorzugten Steillagen. alles trägt zur Qualität bei. Ein Besuch hier, nicht zuletzt auch der Landschaft wegen, ist sicher für einen ersten Eindruck mehr als zu empfehlen, zumal man hier gerne Auskunft über das gesamte Gebiet und seine Weine gibt. Nicht zu vergessen Lagen wie Schloßböckelheimer Königsfels oder auch das NorheimerDellchen und der Norheimer Kafels.

      Beste klimatische Bedingungen
      Der Natur dieses Landschaftsabschnittes muss man ein Kompliment machen: Das Klima des gesamten Gebietes, das im Regenschatten des Hunsrücks und Soonwaldes liegt und durchweg auch für ein Weinbaugebiet stattliche Werte aufweist - 480 mm Niederschläge, 9,7 °C Jahresdurchschnittstemperatur 1750 Sonnenscheinstunden - erfährt hier nochmals einen deutlichen Kulminationspunkt. Hier finden wir pontische und mediterrane Floren- und Faunenelemente, unter anderem Diptan, Federgras, Bocksriemenzunge, verschiedene Nachtschmetterlinge, Smaragdeidechse, eine Fundgrube für den Kenner und Liebhaber und eine schöne Entsprechung zu den Weinen.

      Weiter geht die Reise entlang der Nahe
      Wir müssen uns losreißen, denn schon wartet der nächste Höhepunkt, das mächtige Rotenfels-Massiv zwischen Norheim und Bad Münster am Stein-Ebernburg mit 200 m Höhe die höchste Steilwand Deutschlands außerhalb der Alpen. Ein Eldorado für Kletterer und den vom Aussterben bedrohten Wanderfalken und zu ihren Füßen, eingeengt zwischen Nahe, Eisenbahn und Straße die Weinberge Traisener Bastei, klein aber für Kenner und Liebhaber außerordentlich attraktiv - die Weine stets in einer typisch erdigen Ausprägung. In der Nachbarschaft grüßen die durch Franz von Sickingen bekannt gewordene, heute weitgehend wieder hergestellte Ebernburg, die Ruine Rheingrafenstein über Bad Münster und aus dem Alsenztal die Altenbaumburg. Es gibt noch viele Burgen. die an eine reiche aber auch bewegte Vergangenheit erinnern . Beim Glas Wein und im Gespräch mit den Einheimischen wird noch manche Geschichte wach und wieder lebendig.

      Nach Bad Münster und dem Wandergebiet Gans weitet sich das Tal und Bad Kreuznach liegt vor uns. Ebenso wie Bad Münster ein Heilkurort für Gelenkleiden und Atemwegserkrankungen. Bad Kreuznach hat das älteste Radon-Solebad der Welt, seine Rheumakliniken haben internationalen Ruf.

      Bad Kreuznach nennt sich selbst gerne die Stadt der Rosen und Nachtigallen und feiert im Spätsommer seinen Jahrmarkt, ein Volksfest größten Ausmaßes und weit über die Grenzen bekannt. Sehenswert und informativ die kürzlich wieder hergestellte Römerhalle mit römischen Mosaiken, aber auch das Karl-Geib-Museum, wobei überall Verbindungen zur Rebe und zum Wein auftauchen. Eine Attraktion sind die im 15. bis 17. Jahrhundert gebauten Brückenhauser Über der Nahe. In einem dieser Häuser steckt noch heute eine Kugel aus dem 30jahrigen Krieg. Heute geht es hier nicht mehr so heiß zu, eine Weinstube sorgt für Abkühlung und Entspannung. Aber auch als Garnisonsstadt ist Bad Kreuznach bekannt und auf diesem Wege ist manche Brücke zum Weinbaugebiet Nahe geschlagen worden. Sicherlich haben dazu auch Spitzenlagen wie Kreuznacher Kahlenberg, Kreuznacher Narrenkappe und Kreuznacher Brückes mit ihren fruchtbetonten, pikanten frischen Weinen entscheidend beigetragen.

      Im weiteren Verlauf der Unteren Nahe, die sich jetzt anschließt, wechseln Rotliegendes und tertiäre Formationen mit Löß, Lehm, Schotter Schiefer und Konglomeraten. Die Nahe fließt etwas gemächlicher - die Weine, nun mehr vom Müller-Thurgau - sind etwas behäbiger, aber ausdrucksvoll, nachhaltig und etwas rascher in der Entwicklung.

      Vorbei an Langenlonsheim und Münster-Sarmsheim fließt die Nahe bis zur Mündung in der Nähe der Weinbergslage Bingerbrücker Hildegardisbrünnchen - dies darf wohl auch als ein Hinweis auf die Äbtissin Hildegard von Bingen, die geistig wohl bedeutendste Frauengestalt des Mittelalters, gewertet werden, die an der Nahe sehr segensreich wirkte.

      Auch in den Seitentälern der Nahe ist der Weinbau zuhause. Unmittelbar vor der Nahemündung ist das Trollbachtal mit seinen rötlichbraunen bizarren Felspartien, an denen einstmals das Meer brandete, Dazwischen bekannte Weinbergslagen wie Dorsheimer Burgberg, Münsterer Pittersberg, Burg Layer Schloßberg, Lagen deren Weine sich durch erdig schiefrige Geschmacksdifferenzierungen auszeichnen, Weine mit Fülle und Nachhaltigkeit. Ebenso sind die Täler des Guldenbachs und Grafenbachs mit Weinorten wie Guldental. Windesheim, Wallhausen, Roxheim und anderen - in der Nähe rufen die Burgruinen Gutenberg und Dalberg Geschichte wach, für Weine nicht nur von den klassischen Gewächsen sondern auch neueren Sorten bekannt. Schließlich das Ellerbachtal mit Burgsponheim, Bockenau, wobei auch die Abteikirche in Sponheim nicht übersehen werden sollte. Wechseln wir die Naheseite, setzen wir bei Bad Münster über, so ist das Alsenz- und Appelbachtal mit seinen pikanten und frischen Weinen zu erwähnen, ein Weinbau mit Steillagen der mehr sporadisch die Landschaft ausfüllt. Letztlich aber nicht weniger interessant das Glantal, zwar schon mehr landwirtschaftlich geprägt, aber mit der Stadt Meisenheim ein Kleinod guterhaltener, mittelalterlicher Städtebaukunst.

      Dazwischen Obermoschel mit seinem Schloßberg und den anderen Lagen, geprägt durch Silvaner, Riesling und Müller-Thurgau. Es soll bei dieser kurzen Auswahl bleiben.

      Bei einem Besuch hier im Gebiet warten noch viele Überraschungen und manche Schätze. Gehen Sie auf Entdeckungsreise und lassen Sie sich von dem Wein, der Landschaft und den Menschen gefangen nehmen. Hierzu bietet sich in ganz besonderer Weise die eigens geschaffene Naheweinstraße an, die alle Weinorte ansteuert, oder Sie planen einen Besuch während des Festes rund um die Naheweinstraße, bei dem alljährlich im August/September das ganze Weinbaugebiet der Nahe feiert, und wo in entspannter Atmosphäre auch das Ambiente nicht zu kurz kommt. Vielleicht erwandern Sie das Gebiet über den Weinwanderweg, der neben seiner Ost-West-Route auch viele örtliche Rundwanderwege erschließt und markante Ziele ansteuert.

      Das Weinbaugebiet Nahe ist ein ruhiges Gebiet. Es ist glücklicherweise noch nicht total vermarktet und damit touristisch noch nicht überlaufen. Das Selbsterleben wird hier großgeschrieben. Der stille Winkel, die landschaftliche Ursprünglichkeit kommen ganz zum Tragen. Dabei ist auch für das leibliche Wohl bestens gesorgt. Rustikale Gaststuben, Weinprobierstuben, Weinlokale und renommierte Restaurants laden überall zum Verweilen, zum Entspannen und zum Stärken ein. Neben dem gebietstypischen Spießbraten von Schwein oder Rind ist als weitere Spezialität Spansau mit Füllselkartoffeln zu empfehlen. Letztere ist meist auf die Herbstmonate beschrankt. Dazu schmeckt in jedem Fall ein deftiger, herber Nahewein, serviert im gebietstypischen Römer oder dem hier verbreitet anzutreffenden Remis`chen, einem Becherglas mit 0,2 l Inhalt.

      Am Rande der Rebhänge bietet die umgebende Waldlandschaft des Hunsrück und Soonwaldes viel zur Erholung und zur Entspannung, oder ein Abstecher in die Schmuck- und Edelsteinmetropole ldar-Oberstein zeigt, wie nahe sich hier edle Weine und edle Steine kommen, so dass sich unwillkürlich das Fazit einstellt: ein gesegnetes Land, das Weinland Nahe.

      Dr. Werner Hofäcker

      zurück zum Thema Essen & Trinken


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      Daten und Fakten zum Weinland Nahe
      1. Landschaft
      Dort, wo der Rhein das Rheinische Schiefergebirge durchbrochen hat. wo der sagenumwobene Mauseturm seine Wellen bricht, mündet ein kleiner Fluss: Die Nahe.

      Dieser Fluss gibt dem Weinbaugebiet seinen Namen. Er durchfließt es auf einer Länge von 60 km. Vorbei an bizarren Felsen und Höhen, an sagenhaften Hügeln, einer herrlichen Landschaft. Die Weinberge beginnen am Rhein bei Bingerbrück und erstrecken sich in einem 40 km langen Band Nahe aufwärts bis kurz vor Kirn und den Seitentälern der Alsenz, des Glans, des Gräfen- und des Guldenbachs.

      2. Klima
      Das Naheweinbaugebiet liegt im Schutz der Höhen des Soonwaldes und des Pfälzer Berglandes, in deren Wind- und Regenschatten. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt 9,6 Grad und mit nur 500 Millimeter Niederschlag gehört die Nahe zu den regenärmsten Gebieten.

      3. Geschichte
      Funde aus dem nachchristlichen Jahrhundert zeigen, dass bereits die Römer an der Nahe Weinbau betrieben haben. In der Römerhalle in Bad Kreuznach befinden sich aus dieser Zeit Rebmesser, Mostsiebe und Feldflaschen. Ebenso auch ein fränkischer Goldhelm mit einem umlaufenden Rebmotiv. Schriftliche Zeugen des Naheweinbaues sind Urkunden aus dem 8. Jahrhundert, besonders des Klosters Lorsch. In diesen Urkunden werden die Weinorte Norheim (766), Waldlaubersheim (767), Langenlonsheim (769), Weinsheim (770), Roxheim (773), Monzingen (778) genannt. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lag der größte Teil des Reblandes an der Nahe in den Händen der Kirche und des Adels.

      4.Boden
      Die Böden, auf denen an der Nahe die Rebe gedeiht, sind aufgrund ihrer erdgeschichtlichen Entwicklung äußerst unterschiedlich. Auf engstem Raum eine einmalige Bodenvielfalt: Grünschiefer, Buntsandstein, Schiefertone, sandiger Lehm, Konglomerate, Kiessand, Mergel, Rupelton, Löß, Lößlehm, Ton, Quarzporphyr Porphyrit und Melaphyr.

      5. Fläche
      Das Weinbaugebiet Nahe umfasst ca. 4700 ha Rebfläche mit einem Bereich, sieben Großlagen und 340 Einzellagen. Die Nahe gehört damit zu den mittelgroßen deutschen Weinanbaugebieten.

      6. Standorte
      Etwa 30 % der Rebfläche liegen eben, 45 % am Hang und 25 % am Steilhang. Die meist flach gründigen Steillagen erfordern einen hohen Arbeitsaufwand.

      7. Die Weine
      Die Nahe-Weine präsentieren sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Standorte sehr vielfältig. Man bezeichnet die Nahe auch als das "Schaufenster der Deutschen Weinlande". Von den Gesteinsverwitterungsböden kommen rassige, nervige Weine, von den mehr tiefgründigen Böden milde vollmundige Weine.

      Siehe auch Anhang Böden, Hauptrebsorten und Charakteristik der Weine

      8. Erzeugung
      In der Bewirtschaftung der Weinberge und im Ausbau der Weine haben unsere Weinbaubetriebe, die nach neuzeitlichen Gesichtspunkten arbeiten, gezielt Maschinen und Geräte einsetzen, einen hohen Stand.

      9. Vermarktung
      Fast 5O % des Naheweines werden von den Weingütern und Weinbaubetrieben als Flaschenweine direkt an den Endverbraucher vermarktet. Über den Weinhandel gehen etwa 30 %, und die Genossenschaften vermarkten rund 20 % des Naheweines.

      10. Export
      Der Export von Nahewein spielt für die Weinwirtschaft dieses Weinbaugebietes eine immer mehr zunehmende Rolle. Exportiert werden durch die Weingüter und Weinbaubetriebe Naheweine derzeit hauptsächlich in folgende Länder:

      Großbritannien, USA, Japan, Benelux, Kanada, Irland, Island, Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark, Schweiz, Italien, Frankreich, GUS, Brasilien, Bahamas, Hongkong, Malaysia. Australien, Österreich

      11. Die Naheweinstraße
      Als eine der deutschen Touristikstraßen hat die 1971 organisierte Naheweinstraße von Jahr zu Jahr mehr Freunde gewonnen. Der 130 km lange Rundkurs ist mehr als eine Verbindung von Ort zu Ort. Sie führt den Besucher durch eine der reizvollsten Mittelgebirgslandschaften, in deren verträumten Weindörfern und aufstrebenden Städten fröhliche, aufgeschlossene Menschen wohnen, die vom Wein geprägt sind.

      Um den Gästen etwas Besonderes zu bieten, findet alljährlich an 3 Wochenenden das "Fest rund um die Naheweinstraße" statt. Dieses Fest ist deshalb einmalig, weil zur gleichen Zeit bis zu 30 Weinbaugemeinden feiern und alle aus diesem Anlass durch die Rundfahrt einer Festkommission mit der Naheweinkönigin und ihren Prinzessinnen verbunden werden.

      Anlässlich dieses Festes wird - jährlich wechselnd - die "Goldene Rebe" für das schönste Winzerhaus und das "Goldene Remis`chen für das schönste Weinlokal verliehen.

      zurück zum Thema Essen & Trinken


      --------------------------------------------------------------------------------

      Die wichtigsten Rebsorten im Weinland Nahe
      1996
      1989
      1979

      Riesling 1.200 Hektar (28,6 %)
      1.137 (24,5 %)
      981 (21,9 %)

      Müller-Thurgau 998 Hektar (23,8 %)
      1.157 (25,0 %)
      1.312 (29,2 %)

      Silvaner 470 Hektar (11,2 %)
      560 (12,1 %)
      841 (18,7 %)

      Kerner 386 Hektar (9,2 %)
      392 (8,5 %)
      232 (5,2 %)

      Scheurebe 276 Hektar (6,6%)
      308 (6,6 %)
      266 (5,9 %)

      Bacchus 256 Hektar (6,1 %)
      257 (5,5 %)
      198 (4,4 %)

      Faber 112 Hektar (2,7 %)

      Weißburgunder 109 Hektar (2,6 %)

      Grauburgunder (Ruländer) 102 Hektar (2,4 %)


      Anbau von roten Rebsorten:
      Spätburgunder, Portugieser und Dornfelder
      392 Hektar (8,5%)

      232 (5,0 %)

      5O (1,1 %)


      Bestockte Rebfläche 4.590 Hektar (100%)
      4.636 (100 %)
      4.487 (100 %)


      Weinbaubetriebe 2.070


      Winzergenossenschaften 2


      zurück zum Thema Essen & Trinken


      --------------------------------------------------------------------------------

      Das Weinland Nahe - geologische Vielfalt auf engstem Raum
      Böden
      Hauptrebsorten
      Charakteristik der Weine
      Typische Weinbauorte


      Böden auf Schiefer, Quarzitschutt und Phyllit des Devons Riesling
      Silvaner
      Müller-Thurgau feinfruchtige, rassige,
      abgerundete Weine Rümmelsheim, Münster-Sarmsheim, Bingerbrück, Weiler b. Bingerbrück

      Böden auf Sandsteinen und Schiefertonen des Unter- rotliegenden Silvaner
      Riesling kräftige, markante, rassige
      und nachhaltige Weine Waldböckelheim, Bockenau, Obermoschel, Odemheim, Alsenz

      Böden auf Hangschutt vulkanischer Gesteine des Rot- liegenden, Porphyr, Porphyrit Riesling gehaltvolle fruchtige Weine mit feiner Würze und Finessen; nachhaltige Art Schloßböckelheim, Niederhausen, Norheim, Bad Münster a.St.-Ebemburg

      Rote Böden auf Sandsteinen und Konglomeraten des Ober- rotliegenden Riesling
      Müller -Thurgau
      Scheurebe abgerundete, ausgeglichene
      saftige und blumige Weine mit
      feiner anregender Säure Meddersheim, Monzingen, Weinsheim, Wallhausen

      Kiesböden auf Haupt- und Mittelterrassenschotter
      der Nahe und ihrer Zuflüsse Silvaner
      Riesling
      Müller-Thurgau leichte, fruchtige, elegante, ausgeglichene Weine mit früher
      Reife Hargesheim, Roxheim, Rüdesheim, Bad Kreuznach

      Böden auf Löß und tertiären Tonen und Sanden; überwiegend kalkhaltig Müller-Thurgau
      Silvaner
      Riesling milde, elegante, extraktreiche,
      zarte feinblumige Weine Langenlonshelm, Windesheim, Bretzenheim, Guldental
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:21:23
      Beitrag Nr. 85 ()
      @ OTI2010 :kiss:

      mach mal langsam,ich komme sonst mit dem lesen nicht nach!

      Saarnuss
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:24:50
      Beitrag Nr. 86 ()
      ey, kann mal einer diesem oti den peh zeh wegnehmen? der nervt
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:27:36
      Beitrag Nr. 87 ()
      @castaloni :)

      bitte nicht!!!! Ich erklär`s dir später mal!

      Jagger
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:29:42
      Beitrag Nr. 88 ()
      Also nochmal in etwas geänderter Form ...

      @Saarnuss

      Nö, ich halte mich nicht zurück. Mir geht das mit Tommmy so
      langsam wirklich auf den Geist. Dein Mann nutzt wirklich
      JEDE Gelegenheit um auf ihn einzuprügeln; nicht nur wenn
      Tommmy mal wieder etwas postet, was Deinem Mann gegen den
      Strich geht (z.B. Mia). Klar, Tommmy hat eine, nun sagen
      wir einmal, etwas seltsame Art. Ok, vielleicht hat er auch
      eine schleimige Art. Na und? Das muss man nicht mögen aber
      darum geht es auch nicht. Selbst Tommmy sagt ab und an mal
      was vernünftiges. Sowas ist mir allemal lieber als der
      offen vertretene Rassismus, den Dein Mann hier in der
      letzten Zeit an den Tag legt.


      @OTI Geh ficken und nerv` hier nicht weiter rum ...


      agh
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:32:17
      Beitrag Nr. 89 ()
      Mick
      ich meine ja auch nur für heute
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:32:21
      Beitrag Nr. 90 ()
      Mick
      ich meine ja auch nur für heute
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:32:30
      Beitrag Nr. 91 ()
      @agh

      Du kannst mich am Arsch lecken!!!!!!!!! :laugh: :laugh: :laugh:


      Schon hart solche Schicksalsschläge am eigenen Leib zu erleben, gell??????? :D :D :D
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 20:39:06
      Beitrag Nr. 92 ()
      @agh,

      du kannst wahrscheinlich nichtmal was dafür! Die permanente Nerverei von deinem neuen Freund Tommy hast du in ihrer Penetranz wohl gar nicht mitbekommen!!!??!!

      Weisst du, und mich zum Rassisten zu stempeln, nur weil mir die Palästinenser auf den Sack gehen, ist auch schwach!

      Wie wär`s also mal mit etwas Sachlichkeit???

      Du willst doch nicht in die Boardannalen eingehen als Sympathisant des Palästinenser-Terrors auf der einen Seite und der Thommy-Blödheit auf der anderen Seite?

      Jagger
      Avatar
      schrieb am 15.04.01 16:15:15
      Beitrag Nr. 93 ()
      Stuttgart soll ruhig in der ersten Liga bleiben!!!!
      Hauptsache ist doch, daß unser Schalke Meister wird.

      Ich sehs schon vor mir, der Meisterpokal wird von Möller durchs Stadion getragen!!!


      Junge Junge!! Und nächstes Jahr holen wie uns die Champions League!!



      Gruß

      Löffelmann
      Avatar
      schrieb am 16.04.01 11:37:24
      Beitrag Nr. 94 ()
      Zum einen ist der S04 fast schon, durch das Torverhältnis,
      3 Pkt. vor und zum anderen frage ich mich wie man für einen
      Kuffour 25Mill. zahlen will/kann...
      Dann müßte ja der Haito 250Mill. wert sein.....
      Und der Büskens erstmal.........

      Wäre der Kahn nicht in einer Weltklasseform gewesen, dann,
      ja dann.......


      schalker(der Echte!)
      Avatar
      schrieb am 16.04.01 11:37:51
      Beitrag Nr. 95 ()
      Schalke steht immer noch Kopf!!

      Wie glauben ganz fest an einen Meistertitel.

      Vielleicht haben wirs ja der neuen Freundin von Assauer zu verdanken.:)

      Gruß an alle Schalkefans und die, die es mal werden;)


      Der Hasendoctor
      Avatar
      schrieb am 16.04.01 13:22:39
      Beitrag Nr. 96 ()
      @Dr_Hasenbein

      Schalkefan kann man nicht werden!
      Man ist es, oder man ist es eben nicht....
      Avatar
      schrieb am 16.04.01 13:30:36
      Beitrag Nr. 97 ()
      @ schalkefan

      Ich dachte da jetzt mehr so an den Nachwuchs im Ruhrpott!
      Man kann ja erst nach der Geburt für Schalke schreien.

      Sozusagen ein Gruß an die Zukunft
      Avatar
      schrieb am 17.04.01 07:21:20
      Beitrag Nr. 98 ()
      OK
      Avatar
      schrieb am 17.04.01 07:23:06
      Beitrag Nr. 99 ()
      Ich will mal die "Sache" nüchtern betrachten:
      uns fehlen nur noch 6Pkt und wir sind nächste Saison
      europäisch dabei.............
      Avatar
      schrieb am 17.04.01 18:56:51
      Beitrag Nr. 100 ()
      königsblau, wie lieb ich dich :kiss:
      dazu ist man geboren, das kann man nicht werden :)


      Avatar
      schrieb am 17.04.01 18:57:51
      Beitrag Nr. 101 ()
      sags mit bildern :D:D
      Avatar
      schrieb am 18.04.01 13:29:20
      Beitrag Nr. 102 ()
      :)
      Avatar
      schrieb am 18.04.01 14:49:27
      Beitrag Nr. 103 ()
      Ich stehe nicht auf Fussball.

      Warum aber wurde dieser Thread brutal kaputtgemacht ?

      technostud
      Avatar
      schrieb am 08.12.01 19:18:06
      Beitrag Nr. 104 ()
      Es gibt nicht nur den BVB im Ruhrgebiet!!!!!!


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