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    aus der ZEIT - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 29.04.01 22:22:56 von
    neuester Beitrag 30.04.01 09:29:31 von
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      schrieb am 29.04.01 22:22:56
      Beitrag Nr. 1 ()
      Hilfe, das ging daneben!

      Verlieren will gelernt sein - das gilt für kleine Jungs, machtbewußte Manager und gierige Spekulanten. Ein paar Glaubenssätze für alle Fälle

      von Wolfgang Schmidbauer



      Der reichste Verlierer in den vergangenen Tagen ist Bill Gates: Ein verlorener Prozess kostete ihn 18 Milliarden Mark. Schwer zu sagen, ob seine Niederlage ihn stärken wird oder ob nicht umgekehrt seine Stärke ihm diese Niederlage einbrachte. Denn Gates` Firma Microsoft war für ihr pompöses Selbstbewusstsein berühmt, mit dem sie wie der dickste Haifisch durch das Becken schwamm und alles schluckte, was keinen sicheren Winkel fand. Am gegenwärtigen Prozessgegner hat sich der Haifisch verschluckt; vielleicht wäre ein weniger erfolgreicher Kapitalist als Bill Gates vorsichtiger gewesen.

      In der naiven Erfolgspsychologie, dem positiven Denken, das so oft entweder nicht positiv ist oder kein Denken, gibt es nur zwei Typen: Gewinner und Verlierer. Gewinner glauben an sich, Verlierer zweifeln. Gewinner tragen große Scheine in der Hosentasche, um das Geld im direkten Körperkontakt dazu zu bringen, sie zu lieben. Verlierer tragen einen Geldbeutel in der Gesäßtasche, aber jeder Dieb weiß: Es lohnt sich nicht, ihn zu ziehen, denn ihr Geld liegt auf einem Sparbuch. Gewinner hingegen spekulieren an der Börse.

      Auch mein Bekanntenkreis war voller Gewinner, solange die Kurse stiegen und stiegen. Mit gepolstertem Selbstgefühl blickten sie den Nichtspekulanten an und sagten mitleidig: In dieser Woche habe ich an der Börse mehr verdient als drei Gehälter. Oder: Mein neues Auto zahlt die Börse. Ein Kursabsturz - und überall Schweigen.

      Während wir alle lieber gewinnen als verlieren, ist ein anderer Satz ebenso wahr: Erst in der Niederlage zeigt ein Mensch sein wahres Ich. Wer siegt, braucht keinen Charakter. Sein Erfolg ersetzt diesen vollständig. Wer verliert, teste seine Persönlichkeit unter Stress. Sie kann ihm standhalten oder an ihm scheitern.

      Werden Menschen durch Niederlagen stärker? Die naive Lehre vom positiven Denken würde sagen: Nur dann, wenn es ihnen gelingt, die Niederlage so schnell wie möglich wieder aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Die naive Alltagspsychologie geht eher davon aus, dass Menschen durch Leid reifen. Sie erweitert das zu der kühnen These, dass besonders viel Leid auch besonders viel Reife mit sich bringt. In Wahrheit ist die Lage komplizierter, allerdings nicht so kompliziert, dass es keine Formel mehr für sie gäbe. Diese Formel lautet: »Optimale Versagung«. Gar keine Niederlagen kitzeln unsere Größenfantasie und führen zur Selbstüberschätzung. Kleine Niederlagen wecken schlummernde Kräfte und stärken die Wachsamkeit. In ihrer Überwindung baut sich ein stabiles Selbstgefühl auf. Große Niederlagen hingegen lähmen unsere Energie und zermürben das Selbstgefühl.

      Die ersten Modelle, wie wir mit Niederlagen umgehen sollen, verdanken wir wie so viele gute und böse Errungenschaften dem Krieg. Daran zu denken, dass eine Schlacht auch verloren werden kann, sich auf diese Möglichkeit einzustellen, Vorbereitungen zu treffen und zu retten, was zu retten ist, das unterscheidet den Feldherrn vom Raufbold. Nichts ist leichter, als während eines Siegeszugs seine Truppen zusammenzuhalten; erst nach der verlorenen Schlacht oder während eines Rückzugs zeigt sich die Führungskraft eines Strategen. Ein geordneter Rückzug, eine sorgfältig geplante und zügig abgewickelte Frontverkürzung verkleinern Verluste und erhalten die Moral der Truppe. Ein General, der nur Erfolge zur Kenntnis nehmen will, riskiert den völligen Zusammenbruch seiner Soldaten, panische Flucht, hohe Verluste und einen nicht wieder gutzumachenden Schaden an seinem Ruf. Solange Napoleon bei seinen Garden blieb, mochte das Kriegsglück wechseln, aber der Erfolg blieb ihm treu. Als er in Russland seine Soldaten im Stich ließ, sank sein Stern.

      Was Therapeuten Verlieren raten, gleicht diesem strategischen Modell. Sie sollen sich klar machen, dass sie eine begrenzte Niederlage erlitten haben, aber damit doch nicht alles verloren ist, was sie in ihrem Leben aufgebaut haben. Sie sollen versuchen, den Schaden realistisch einzuschätzen und künftig ihre naiven Vorstellungen korrigieren, dass im Leben alles glatt gehen muss.

      Vor allem aber wird der selbstbewusste Berater dem Verlierer klar machen, dass er ihn viel zu spät aufsuchte. Weit hilfreicher wäre sein Rat gewesen, ehe das Risikokapital investiert wurde, das jetzt verloren ist. Er hätte abgeraten, die Bankbürgschaft für den Weinhandel des neuen Geliebten zu unterschreiben, der sich leider als Alkoholiker entpuppt hat. Er hätte Bedenken geäußert, die Ehe mit dem Model zu schließen, das nach dem Honigmond nur noch an seine Karriere denkt. Er hätte gemahnt, den gut bezahlten Job nicht zu kündigen, ehe kein neuer Arbeitsvertrag unterschrieben ist.

      Brücken ohne Wasser machen sich nicht gut

      Ein besonderes Problem bringen jene Situationen mit sich, die ich das Rhein-Main-Donau-Kanal-Phänomen nenne. Dieser Kanal wurde fertig gebaut, obwohl schon während der Bauzeit allen Ökonomen klar war, dass er sich wirtschaftlich niemals lohnen würde. Er musste einfach deshalb fertig gebaut werden, weil schon so viel gebaut war. Es war politisch unmöglich, diese Vorarbeiten zu ignorieren, Brücken ohne Wasser darunter in der Landschaft stehen zu lassen, Schleusenmauern als sinnlose Monumente einer Fehlplanung dem Verfall zu überlassen.

      Wer vorsichtig investiert, kann sich nach den ersten Zeichen, dass seine Investition scheitern wird, zurückziehen. Wer hingegen so viel investiert hat, dass dieser Rückzug einer schweren Niederlage gleichkommt, wird oft alles einsetzen, was er hat, um diese Niederlage zu vermeiden - und dadurch in eine noch größere geraten.

      Der Rhein-Main-Donau-Kanal wurde mit staatlichen Mitteln gebaut; Staaten können wirtschaftliche Verluste unauffällig den Steuerzahlern aufbürden. Die Bayerischen Motorenwerke hingegen hatten ihren Rhein-Main-Donau-Kanal in Großbritannien zu bauen begonnen. Aber da Aktionäre ungeduldiger sind als Staatsbürger und Manager weniger fest im Sattel sitzen als Ministerialbeamte, war die drohende BMW-Pleite irgendwann in aller Munde, die Front wurde verkürzt, der Rückzug angetreten.

      Offensichtlich ist es den Menschen schon immer schwer gefallen, Niederlagen zu verarbeiten und das Verlieren zu lernen. Unsere Medienkultur ist eine Siegerkultur, die es uns allen erschwert, in Würde zu verlieren. Wer traditionelle Kulturen kennen gelernt hat, findet in ihnen vielfach einen weit selbstverständlicheren Umgang mit Niederlagen. Reste dieser Kulturen kennt, wer auf dem Land aufgewachsen ist und ihre Spuren im Alltag noch entziffern konnte. Andere wissen davon, weil sie gerne in Entwicklungsländer reisen, die nicht diesen Namen tragen würden, wenn in ihnen nicht etwas wäre, was sich gegen die Moderne wehrt.

      Es gibt kaum eine Persönlichkeit, die weniger dem strahlenden Siegertyp der Verkaufstrainings und Talkshows gleicht, als den Bauern, Jäger oder Fischer der traditionellen Kultur. Er ackert und sät, zieht in die Wildnis, wirft seine Netze aus mit dem trotzigen Lächeln dessen, dem vollständig klar ist, dass Missernten, beutelose Tage und kleine Fische zu erwarten sind. Erfolg ist die Ausnahme, nicht die Regel. Er verkörpert die stoische Haltung Wilhelm von Oraniens, des Schweigers: »Ich brauche nicht die Hoffnung, um zu beginnen, noch den Erfolg, um fortzufahren.«

      Ernest Hemingway hat in seiner Novelle Der alte Mann und das Meer etwas von dieser Haltung eingefangen. Der Fischer fängt den großen Fisch, aber ehe er ihn an Land bringen und verkaufen kann, fressen die Haie seine Beute. Wer diese Haltung der traditionellen Kultur hat, wird nicht - wie ihr Bewunderer Hemingway, der sich vergeblich nach ihr sehnte - depressiv, weil er seine ehrgeizigen Ziele nicht erreichen kann. Er fährt am nächsten Tag wieder hinaus und wirft seine Angel aus. Der kleine Fisch, der in sein Boot passt, ist ihm sicher; den großen an Land zu bringen, Glückssache.

      In der Medienwelt sind kleine Fische uninteressant und durchschnittliche Erfolge langweilig. So kommt es, dass eine Siegerkultur zahlreiche Personen produziert, die sich als Verlierer fühlen und notfalls eine Opferrolle pflegen, um wenigstens die Schuld an dem abzuwälzen, was sie für Versagen halten. In Wahrheit ist es ein Leben durchschnittlicher Höhen und Tiefen, was sich für sie ankündigt. Obwohl diese Biografie nach wie vor diejenige ist, mit der sich die meisten abfinden müssen, will sie keiner mehr haben.

      Die Siegerkultur hat zermürbt, was die stoischen Philosophen der Antike und die Autoren des bürgerlichen Zeitalters, Adalbert Stifter oder Daniel Defoe etwa, als höchstes Ziel priesen: das unauffällige Leben, das Extreme meidet, weil es zu der Weisheit gefunden hat, dass sie für den Seelenfrieden nicht taugen. Defoe spricht von der Erfahrung, dass rasch einen Kopf kürzer gemacht wird, wer zu weit aus der Menge ragt. Wir heutigen, von denen keiner mehr Durchschnitt sein will, können allenfalls hoffen, in einer Menge wie wir verkannter Genies unterzutauchen.

      Eine extreme, aber gerade deshalb ausdrucksvolle Folge der Siegerkultur sind die Amokläufe frustrierter Verlierer. Heinrich Heine hat den Rachewunsch gegen jene, die unser Ego kränken, noch sehr beschaulich formuliert: »Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, dass an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt - ja man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden« (H. Heine, Gedanken und Einfälle).

      Die vor allem in den USA beobachteten Amokläufe zeigen, dass die beschaulichen Rachewünsche des Poeten heute hektisch in die Tat umgesetzt werden. In Littleton erschießen zwei Jugendliche die Siegertypen, welche ihnen den Platz an der Sonne geraubt haben, und richten sich dann selbst. In Atlanta ermordet der Apotheker Mark O. Barton, ein 44-Jähriger, seine Frau und seine Kinder. Dann packt er zwei Faustfeuerwaffen ein und erschießt neun Angestellte in zwei Daytrading-Firmen. Barton war ein Spieler; er spekulierte an der Börse, wurde zum Opfer seiner Spielsucht und rächte sich an denen, die er für seine Verluste verantwortlich machte. Daytrader bieten Computerterminals zur Miete an, mit deren Hilfe ihre Kunden in »Echtzeit« mit Aktien und Devisen handeln können. Ähnlich wie die Spielbank gewinnt verläßlich nur der, welcher andere dazu bringt, an seinen Bildschirmen zu zocken.

      Wer das Glück einfordert, endet schon mal im Trauma

      »Der Markt ist nach unten gegangen, und ich hoffe, dass das euren Tag nicht ruiniert«, soll Barton gesagt haben, ehe er seine Waffen entsicherte und die Angestellten einer Firma erschoss, bei der er spekuliert hatte. Vier Menschen waren sofort tot. Damit nicht genug, ging Barton zu einer anderen Daytrading-Firma in einem benachbarten Bürokomplex und erschoss weitere fünf Personen.

      Wir sollten die Versuchung meiden, solche Taten allein der Pathologie von Individuen zuzuordnen. Sie würden ohne die verlogenen Siegerwelten der Massenmedien kaum derartig entgleisen. Wo leicht verdientes Geld nicht mehr zur Unwahrscheinlichkeit der Lotterie gehört, sondern zu den Erwartungen an den durchschnittlichen Vermögensverwalter, müssen sich auch die Traumatisierungen vermehren. Verwöhnung führt immer in ein Trauma; sie zerstört das Gefühl für die Realität, die uns doch belehrt, dass jedes schnelle Glück auch ein schnelles Unglück werden kann.

      Menschen wie Barton glauben, dass sie mehr Glück haben als andere. Sie fühlen sich entsprechend entwertet, wenn sie in eine Pechsträhne geraten. Sie suchen die Ursache dann nicht bei sich, sondern wollen sich an ihrer Umwelt für das rächen, was sie ihnen angetan hat, und gleichzeitig den Menschen, die sie zu lieben glauben, das Leid an dieser teuflischen Welt ersparen (Barton schrieb in einem Abschiedsbrief, ein kurzer Schmerz sei besser für seine Kinder als lebenslanges Leid).

      Das ist die Lektion der Konsumgesellschaft: das Versprechen immerwährender Siege, deren Gegenbild die nicht wieder gutzumachende Niederlage ist. Glück heißt mühelose Bereicherung. Wenn sie scheitert, bleiben nur Empfindungen unüberwindlicher Wertlosigkeit und rachsüchtiger Wut. Wir können voraussagen, dass es im nächsten Jahrtausend nicht weniger Verlierer geben wird als im vergangenen, aber dass sie es schwerer haben werden, ihre Niederlage gelassen zu ertragen.


      Wolfgang Schmidbauer, 58, arbeitet als Psychoanalytiker in München. Er schrieb das bei Rowohlt erschienene Buch Jetzt haben, später zahlen. Die seelischen Folgen der Konsumgesellschaft
      Avatar
      schrieb am 30.04.01 09:29:31
      Beitrag Nr. 2 ()
      >Verlieren will gelernt sein<

      Das Einordnen von Beiträgen ins richtige Board auch :(.


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