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    texte von bekannten autoren zum 11.9.2001 - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 12.09.01 15:45:08 von
    neuester Beitrag 26.11.01 13:24:43 von
    Beiträge: 49
    ID: 470.882
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      schrieb am 12.09.01 15:45:08
      Beitrag Nr. 1 ()
      paul auster - ein autor, der oft im thread `die 10 besten bücher aller zeiten` erwähnt wird - schreibt in der zeit:

      Jetzt beginnt das 21. Jahrhundert

      Wir alle wussten, dass dies geschehen könnte. Nun ist es viel schlimmer

      Von Paul Auster



      11. September 2001, 16.00 Uhr

      Unsere 16-jährige Tochter ist heute zu ihrem ersten Highschool-Tag aufgebrochen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fuhr sie mit der U-Bahn von Brooklyn nach Manhattan - allein.

      Sie wird heute abend nicht nach Hause kommen. Die Subway hat ihren Verkehr eingestellt. Meine Frau und ich haben dafür gesorgt, dass sie bei Freunden in der Upper Westside von New York übernachten kann.

      Weniger als eine Stunde nachdem sie tief unter dem World Trade Center Richtung Schule gefahren war, stürzten die beiden gigantischen Türme in sich zusammen.

      Vom oberen Stockwerk unserer Wohnung in Brooklyn sehen wir, über den East River hinweg, wie die Rauchwolken den Himmel über der City verdunkeln. Der Wind bläst in unsere Richtung und der Geruch des Feuers durchdringt alle Zimmer unseres Hauses. Es ist ein schrecklicher, beißender Geruch von brennenden Isolierschläuchen, von Kunststoff und Baumaterialien.

      Die Schwester meiner Frau, die in Tribeca lebt, nur wenige Blocks nördlich jenes Ortes, an dem das World Trade Center stand, rief uns an und erzählte von einem schrecklichen Schrei auf der Straße, und dann stürzte der erste Turm nieder. Andere Freunde, die in der John Street wohnen, erzählten uns, dass die Polizei sie aus ihrem Haus herausholte, nachdem eine Druckwelle ihre Haustür nach innen geschleudert hatte. Sie gingen Richtung Norden, durch Trümmer und Überreste menschlicher Körper.

      Nachdem wir den ganzen Morgen vor dem Fernsehapparat gesessen hatten, verließen meine Frau und ich die Wohnung. Die Leute auf der Straße hielten Taschentücher vor ihr Gesicht, andere trugen Schutzmasken wie Maler und Chirurgen. Ich blieb stehen und redete mit dem Mann, der meine Haare schneidet. Er sah verzweifelt aus. Wenige Stunden vorher hatte seine Nachbarin, die neben seinem Laden ein Antiquitätengeschäft betreibt, mit ihrem Schwiegersohn telefoniert, der im 107. Stockwerk des World Trade Centers in der Falle saß. Nur eine Stunde danach war der Turm in sich zusammengesunken.

      Den ganzen Vormittag lang musste ich, während der Fernseher lief und ich den Rauch vor meinem Fenster vorbeitreiben sah, an meinen Freund denken, den Hochseilartisten Philippe Petit, der im August 1974 auf einem Drahtseil zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers balancierte, kurz nach dem Ende der Bauarbeiten. Ein kleiner Mann auf einem Seil, mehr als eine Meile über dem Boden, ein Anblick unvergesslicher Schönheit.

      Heute ist dies ein Ort des Todes geworden. Ich habe Angst davor, mir auszumalen, wie viele Menschen gestorben sind.

      Wir alle wussten, dass dies geschehen könnte. Jahrelang haben wir davon gesprochen. Aber nun, da die Tragödie eingetreten ist, ist es viel schlimmer, als sich irgendjemand hätte vorstellen können.

      Der letzte Angriff auf amerikanischem Boden hatte 1812 stattgefunden. Für das, was heute geschehen ist, haben wir kein Beispiel. Die Folgen dieses Angriffs werden zweifellos schrecklich sein. Noch mehr Gewalt, noch mehr Tote, mehr Schmerz für alle.

      Jetzt erst hat das 21. Jahrhundert begonnen.

      Der Schriftsteller Paul Auster ("Smoke","Mein New York") lebt gemeinsam mit seiner Frau, der Autorin Siri Hustvedt, in Brooklyn



      (c) DIE ZEIT 38/2001
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      schrieb am 12.09.01 17:54:53
      Beitrag Nr. 2 ()
      interview mit gore vidal - FAZ-NET

      gore vidal ist ein verwandter von al gore. in einem interview anlässlich der präsidentschafts-wahlen äusserte er, dass es auf`s selbe herauskomme, wen man wähle, beides seien einflussreiche, reiche familien, bush/gore. er würde aber eher gore wählen, da bush einfach dumm sei.


      Terroranschläge in Amerika
      Terrorismus, und was nun? Ein Gespräch mit Gore Vidal
      Von Holger Christmann

      11. Sep. 2001 Anfang des Jahres nannte der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal in einem Gespräch mit FAZ.NET die Warnung des Pentagon vor dem internationalen Terrorismus und daraus hervorgehenden Forderungen nach einem militärischen Schutzschild eine Erfindung.

      Nur neun Monate später wurde die Warnung des amerikanischen Verteidigungsministerium jetzt um das Vielfache von der Wirklichkeit eingeholt. Das Pentagon wurde Opfer eines Terroranschlags. Noch viel schlimmer traf es die Stadt New York. Dort kamen durch die Anschläge auf das World Trade Center vermutlich Tausende Menschen um Leben. Die Warner in der neuen Regierung, sie haben nicht übertrieben. Der Schriftsteller, so muss es zumindest wirken, hat sich geirrt. Am Dienstag abend sprach FAZ.NET noch einmal mit Gore Vidal.

      Vidals Briefwechsel mit McVeigh

      Der ätzend-kritische und zweifellos eitle Intellektuelle hat heute weniger Freunde im eigenen Land als früher, seitdem er sich von einem Terroristen, dem Oklahoma-Attentäter Timothy Mc Veigh, zu einem Briefwechsel überreden ließ. Als Annäherung an einen Massenmörder und als Beleidigung der Todesopfer wurde das verstanden.

      Hat sich Vidal auf die falsche Seite der Welt verirrt? Hat ihn die Auseinandersetzung mit einem Massenmörder klüger gemacht? Diese Frage muss man einem Advocatus Diaboli wie Gore Vidal an einem Tag wie diesem stellen.

      Als wir Gore Vidal erreichen, tut er das, was Menschen an diesem Tag rund um den Erdball tun: Von seinem Domizil bei Neapel verfolgt er die Ereignisse am Fernsehen. Und selbst ihm, der sonst um eine überhebliche Spitze nicht verlegen ist, verschlägt es zunächst die Sprache. Er denke, was jeder denke. „Wer war es, warum und was sind die Konsequenzen?“ Sofort kommt er auf seinen Aufsatz in „Vanity Fair“ zu sprechen. Er sei in Deutschland in dem McVeigh-Fall missverstanden worden, weil wohl niemand seinen Originaltext gelesen habe - abgeschreckt durch einen böswilligen Zeitungsartikel. „Schreiben Sie bloß nicht, dass ich ihm zuerst geschrieben habe. Er hat mir geschrieben“.

      Vidal: Amerika hat zu viele Feinde

      Der Mann, der eben noch geschrieben hatte, die Gefahr vor dem Terrorismus sei erfunden, sagt nun: In diesem Artikel, der in der September-Ausgabe von „Vanity Fair“ erschienen sei, habe er vorausgesagt, was kommen werde: dass Amerika von Terrorismus auf jede erdenkliche Art heimgesucht werde. Amerika habe viele Feinde. Und einige davon habe es selbst geschaffen. „Wenn man sich weltpolitisch einmischt, dann muss man damit rechnen, dass einen manche Leute nicht mögen.“

      Er glaube nicht, dass der Anschlag aus dem Umkreis des Oklahoma-Attentäters verübt worden sei. Der sei nicht reich genug und auch nicht gut genug organisiert, um so etwas zu verrichten. Dass es diesen Umkreis gebe, davon ist Vidal überzeugt. „Er war nicht allein.“ Das FBI habe die Komplizen nicht verfolgt, behauptet er. Das macht er den Ermittlern zum Vorwurf. Dass für die verheerenden Attentate vom Dienstag Amerikaner als Täter in Frage gekommen, hält er aber für ausgeschlossen. „Man würde eine Handschrift erkennen.“

      Vidal glaubt an einen Angriff von außen. Wenn er sagt, „wie immer wird der Nahe Osten verantwortlich gemacht“, wirkt das an diesem Tag wie eine schlechte Angewohnheit, alle offiziellen Verlautbarungen mit einem Soupcon zu überziehen. Doch diesmal fügt er hinzu: „Und das mag korrekt sein“.

      An diesem Tag, an dem die Welt zu geschwächt und schockiert ist, um Vorwürfe auszuteilen, wiederholt Vidal seine alten Vorwürfe. „Das Pentagon hat so viele falsche Feinde geschaffen, dass es nicht mehr weiss, wer der wirkliche Feind ist.“ Er beklagt, dass der Geheimdienst - „wie immer“ - versagt habe, bezeichnet die Regierung als „schwach“, nennt aus dem italienischen „Exil“ den Präsidenten Bush einen „Kaiser Wilhelm“, der lieber auf seinem Landhaus als in Washington weile - der übliche Rundumschlag. Er hofft, dass im Kampf gegen den Terrorismus jetzt die Bürgerrechte nicht in Gefahr geraten.

      Der Schriftsteller warnt vor einer militärischen Antwort. Sie würde das Problem nur verschärfen. „Wie wäre es damit, einmal nicht militärisch zu antworten?“, fragt er. Die Schuldigen müssten jedoch gefunden und bestraft werden.

      Gore Vidal ist diesmal vorsichtiger als im Fall McVeigh. Er will diesmal keinesfalls missverstanden werden. Er ist „schockiert“. Und seine Betroffenheit an diesem Tag macht ihn wohl auch seinen Gegnern ein Stück erträglicher.
      Avatar
      schrieb am 12.09.01 18:03:12
      Beitrag Nr. 3 ()
      hier ein link zu einem Interview mit dem Terrorismusexperten Michele Zanini, Autor des Buchs "Countering the New Terrorism". Er versucht, den "neuen" vom "alten" Terrorismus abzugrenzen. Demnach versteht sich der neue Terrorismus von vornherein als Krieg, während der Terrorismus der siebziger Jahre den Terror eher als Mittel der Kommunikation einsetzte.




      http://www.salon.com/books/int/2001/09/11/zanini/print.html
      Avatar
      schrieb am 13.09.01 14:36:00
      Beitrag Nr. 4 ()
      Welche Folgen hat Verachtung beim verachteten Subjekt? Nur schon im Ausdruck "Schurkenstaaten" steckt Dynamit.

      mario erdheim


      Gegenterror ist nicht das Gegenmittel

      Solange westliche Verachtung immer nur neuen Hass gebiert, sind wir gegen Anschläge nicht gefeit, sagt der Analytiker.

      Mit Mario Erdheim sprach Claudia Kühner
      Geschehen ist etwas jenseits unserer Vorstellungskraft. Auch jenseits der eines Psychoanalytikers?

      Charakteristisch ist vielleicht, dass ich schon vor einigen Jahren einen Krimi gelesen habe, worin ein Flugzeug über Paris zur Explosion gebracht wurde. Von daher ist also nicht etwas Unvorstellbares geschehen. Aber man verdrängt solch eine Vorstellung. Genau das ist das Erschreckende daran, dass hier etwas Unkontrollierbares geschehen ist, dem wir ohnmächtig gegenüberstehen. Es hätte auch ein Atomkraftwerk sein können. Zu sagen, "es kann nicht passieren", ist naiv. Der Faktor Hass oder Willen, etwas zu Grunde zu richten, mit dem wird nicht gerechnet, aber mit dem muss man rechnen.

      Wir wollen es nicht wahrhaben, sagen Sie. Nun gibt es offenkundig Menschen, die sich einen Anschlag von solchen Dimensionen präzise vorstellen, planen, dann durchführen. Was unterscheidet sie von einem Terroristen, wie wir ihn heute schon kennen?

      Ich denke im Moment an einen Edward Teller, der die Wasserstoffbombe erfand, oder an Chemiker, die neue chemische Waffen entwickeln. Die planen auch und kalkulieren mit dem vieltausendfachen Tod.

      Aber Teller oder andere Wissenschaftler bringen die Menschen nicht eigenhändig um, sie agieren in einer anderen Situation.

      Sie delegieren. Aber sie wissen, dass Tausende ihretwegen ihr Leben verlieren werden.

      Kann man diesen Vergleich wirklich ziehen?

      Beiden ist gemeinsam, dass sie getrieben sind vom Hass. Die Vorstellung, dem Feind einen solchen Schlag zu versetzen, führt dazu, dass man sein ganzes Denken und Planen und die Kreativität dazu einsetzt. In der europäischen Tradition setzt man das eigene Leben nicht aufs Spiel. Wer es dennoch tut, verändert die Lage. Schon in der Antike fragte man, ob Cäsar geschützt werden könne vor jemandem, der den eigenen Tod mit einkalkuliert. Gegen solcherart Entschlossene kann man nichts machen.

      "Pearl Harbor" ist die eine Chiffre, "Oklahoma" die andere, wo Amerikaner die Täter waren. Noch nicht auszuschliessen ist, dass die Anschläge auf Sekten zurückgehen, die aus unserer "abendländischen Tradition" kommen.

      Timothy McVeigh hat sich damals nicht selber gefährdet. Nun ist man mit diesem neuen Phänomen konfrontiert. Das Gefühl der Ohnmacht versetzt uns in Panik. Kein Land, kein Geheimdienst, keine Armee ist gefeit.

      Nur Israel hat annähernd Erfahrung.

      Was in Palästina geschieht, hat man nicht genügend als Warnzeichen wahrgenommen.

      Israel reagiert mit noch mehr Gewalt und erfährt, dass es nichts nützt.

      Jetzt hat ja schon ein erster israelischer Araber einen derartigen Anschlag verübt. Das ist wie eine Zündschnur, gegen deren Abbrennen man nichts machen kann.

      Nehmen wir an, die Täter kommen aus dem nahöstlichen Raum. Die nächste Angst ist doch jetzt: Wie werden Amerika, sein Präsident, seine Berater reagieren?

      Das gerade bringt einen zur Verzweiflung: Ein wie immer gearteter Gegenschlag wird den Terror nicht ausmerzen, im Gegenteil. Mit Staatsterror lässt sich der individuelle Terror nicht zähmen. Ändern wird sich nur etwas, wenn sich in diesen Gesellschaften grundsätzlich etwas ändert.

      Befasst sich Ihre Wissenschaft mit diesen neuen Phänomenen des Terrors?

      Dazu kann ich nichts Genaueres sagen, kann mir allenfalls mögliche Zugänge vorstellen. Welche Folgen hat Verachtung beim verachteten Subjekt? Nur schon im Ausdruck "Schurkenstaaten" steckt Dynamit. Oder wenn in einer Runde so genannter Experten einer sagt, "keiner im Nahen Osten ist zu solch einem Anschlag fähig", und man auf diesem Weg einfach auf Hacker oder Globalisierungsgegner kommt, weil sie koordinieren können und über die Logistik verfügen. Natürlich sind World Trade Center und Pentagon entsprechende Symbolorte. Eine andere Überlegung zur Globalisierung wäre, welchen Hass sie bei den Ohnmächtigen freisetzt, wenn man immer nur sagt, der Markt wird es schon richten. Das alles ist uns noch gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen.

      Sehen Sie tatsächlich einen möglichen Zusammenhang von Globalisierung und Hass in diesen Dimensionen? Wenn wir uns also lösen vom Nahostkonflikt und über globalisierte Wirtschaft reden?

      Wir unterschätzen insgesamt die emotionale Dimension des Globalisierungsprozesses. Man muss eine Politik betreiben, die den Gegner nicht derart in die Enge treibt, dass er nicht mehr anders kann, als so zu reagieren. Unsere Gesellschaft und ihre Einrichtungen wie Kommunikationsanlagen oder Energiequellen sind ungeheuer verletzlich. Deshalb können wir uns solch eine Politik nicht leisten. Wenn man nach diesem Tag zur Einsicht käme, dass man sich den Hass der anderen gar nicht leisten und ihn nicht einfach mit "Massnahmen" löschen kann, führt das vielleicht zu einer überlegteren Politik.

      Allerdings deutet ja alles darauf hin - wieder zum Nahen Osten als Beispiel zurückkehrend -, dass diese Einsicht nicht um sich greift.

      Offensichtlich ist diese Einsicht etwas vom Schwersten.

      Mario Erdheim ist Ethnopsychoanalytiker in Zürich, Buchautor und Dozent an der Universität Frankfurt.
      Avatar
      schrieb am 13.09.01 14:40:26
      Beitrag Nr. 5 ()
      Nur ein Schwachpunkt im Text:

      Durch die von Teller seit 1945 entwickelten Waffen sind bis heute 0 (null!) Menschen getötet werden. Viele, wie ich, sagen: weil es diese Waffen gibt, sterben durch sie keine Menschen.

      Die Terroristen töteten erst mit Messern und dann mit zivilen Flugzeugen. Sind jetzt Flugzeugbauer potentielle Mörder?

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      schrieb am 13.09.01 14:52:22
      Beitrag Nr. 6 ()
      Hugo Loetscher, Schriftsteller

      Was soll man dazu sagen? Man ringt um Worte, die Empörung ist klar, der Schrecken ist unheimlich. Der Schlag ist nicht einfach nur gegen die USA gerichtet, sondern gegen die USA als Teufel, als Personifikation des Bösen. Es ist der Extremfall des Fundamentalismus, der zum Zuge kommt. Wie dieser zuschlägt, gezielt, sophisticated, hoch organisiert, das ist nochmals erschreckend. Zwar dürfte es sich dem ersten Verdacht nach um islamischen Fundamentalismus handeln, aber ich sehe darin nur den Ausdruck eines fundamentalistischen Verhaltens, das weltweit zu beobachten ist. Am Ende ist es kein lokales oder amerikanisches Ereignis, sondern ein weltweites. Es bäumt sich in mir die Frage auf, ob ein nicht fundamentalistisches Verhalten überhaupt noch eine Chance hat. Ich hoffte immer, dass die Welt sich näher kommt über das Verständnis der Kulturen.

      Amerika muss reagieren. Aber wie? Man hofft, dass es nicht zu einem Krieg eskaliert. Es wird zu kriegsähnlichen Aktionen kommen, zu lokalen Kriegen. Amerika kann das nicht hinnehmen, und wir, von den Demokratien her gesehen, können es auch nicht hinnehmen. Das Unheimliche ist, dass es keinen Schutz vor ein paar Fundamentalisten gibt. Die totale Hilflosigkeit, die Angst rühren daher, dass diese Fundamentalisten einen am Ende zu Methoden und kriegsähnlichen Aktionen zwingen, die man gar nicht möchte.

      Jeder hofft, dass ein anderer einem etwas Vernünftiges dazu sagt. Aber nichts zu sagen, ist der einzige sinnvolle Standpunkt. Es kann aber nicht dabei bleiben. Was für mich im Moment notwendig ist, ist die Solidarität mit den Sprachlosen.


      ----

      lieber for4zim, ich stelle hier beiträge von bekannten autoren rein, weil ich selber nichts zu sagen habe. es kann aber nicht dabei bleiben -
      dies heisst nicht, dass ich mit allem gesagten einverstanden bin
      auch nicht mit allem schweigen
      Avatar
      schrieb am 13.09.01 14:55:10
      Beitrag Nr. 7 ()
      Georg Kohler, Professor für Philosophie

      Ich habe vier Thesen dazu: 1. Es ist erstaunlich, dass es nicht schon lange passiert ist. 2. Enzensberger hat schon vom Weltbürgerkrieg gesprochen. 3. Es ist das Waterloo der letzten verbleibenden Supermacht. 4. Die Epoche einer wirklichen Weltinnenpolitik hat nun begonnen.

      Wenn man davon ausgeht, dass es ein Bürgerkrieg ist, dann reichen Repressionen allein nicht. Der Anschlag hat einen Hintergrund, der etwas zu tun hat mit der Verteilung von Reichtum, Macht und Ohnmacht. Der Anschlag bedeutet das Ende der Rezession, jetzt kommt das amerikanische Wir-Gefühl. Und wenn wir in die Zukunft - in der es den klassischen Krieg kaum mehr geben wird - schauen, dann war der Anschlag eher ein Warnzeichen, eine Warnkatastrophe, noch nicht die eigentliche. Die Grenzen der Supermacht USA sind endgültig aufgezeigt worden. Als Wissenschaftler muss man mit der Irrationalität rechnen, Krieg hat viel damit und mit dem Todestrieb zu tun. Es gibt sehr wohl Erklärungen für solche Taten, die in den Augen gleich Gesinnter als Heldentat verstanden werden.
      Avatar
      schrieb am 13.09.01 15:02:24
      Beitrag Nr. 8 ()
      Peter Stamm, Schriftsteller

      "Wo warst du, als Präsident Kennedy ermordet wurde?" Ich wunderte mich immer über diese Frage und darüber, dass alle eine Antwort darauf hatten. Uns wird man fragen, wo wir waren, als das World Trade Center fiel. Ich war in einer Buchhandlung in London, hatte eben "On the Road" von Jack Kerouac gekauft, ein Buch - so das Cover - über "the ecstatic joy of pure being". Jetzt sitze ich vor dem Fernseher und denke an Angela, die in der Pine Street arbeitete, nicht weit vom World Trade Center. Ich hoffe, dass es ihr gut geht.

      ---------

      ich war auch in einer buchhandlung als `es` passierte - und habe das neuste buch von stanislaw lem bestellt. da sagte die händlerin: es ist wieder etwas schlimmes passiert in amerika - und ich dachte, es sei wieder ein amokläufer, ich hatte zuvor in der zeitung von einem solchen fall gelesen.
      Avatar
      schrieb am 16.09.01 18:44:16
      Beitrag Nr. 9 ()
      Wolkenkratzer-Thriller
      Autor hat Idee verworfen




      Die Idee, ein Attentat auf einen Wolkenkratzer mit einem Flugzeug zu verüben, ist völlig absurd. Das jedenfalls dachte der britische Thriller-Autor Frederick Forsyth. Er habe schon vor 18 Jahren Pläne zu einem Buch über einen solchen Anschlag verworfen.

      "Ich habe das nie verwendet, weil ich nicht dachte, dass der durchschnittliche Leser das für glaubhaft halten würde", schrieb Forsyth an die Londoner Zeitung "The Sunday Telegraph". Außerdem habe er niemals ein Komplott beschreiben wollen, das leicht zu kopieren sei, erklärt er. Forsyth gilt als einer der erfolgreichsten Thriller-Schreiber der Gegenwart, Werke von ihm sind "Der Schakal" und "Die Akte Odessa".

      "Wenn man erst einmal einen selbstmörderischen Fanatiker hat, dann ist alles so leicht machbar und es gibt keine Verteidigung", schrieb der Autor. Er sei durch das Selbstmordattentat der Hisbollah, die vor 18 Jahren mit einem Lastwagen bei Beirut in ein Lager der US-Marines fuhr, zu der Was-wäre-wenn-Idee für einen neuen Roman angeregt worden: "Nehmen wir mal an, einer dieser Märtyrer könnte fliegen. Könnte er dann nicht ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer steuern?"

      Die Lektion aus den Terrorangriffen auf die USA ist nach Forsyth: "Die Tage der Selbsttäuschung des Westens sind vorbei." Forsyth schrieb: "30 Jahre lang haben wir uns im Westen selbst belogen und geglaubt, wir könnten mit Terrorismus auf niedrigem Niveau leben. Wir haben die diversen selbsterklärten `Streitkräfte` so behandelt, als hätten sie Radkappen gestohlen. Ein Kompromiss ist jetzt sinnlos. Die Forderungen der Terroristen sind unerfüllbar und der Westen kann nur den Fehdehandschuh aufnehmen und zurückschlagen."


      http://www.n-tv.de/2672588.html
      Avatar
      schrieb am 28.09.01 16:38:55
      Beitrag Nr. 10 ()
      ARUNDHATI ROY wurde 1960 im südindischen Bundesstaat Kerala in einer Familie syrischer Christen geboren. Ihr Vater war ein Hindu aus Bengalen. Heute lebt sie in Neu Delhi. 1996 erschien ihr Roman "Der Gott der kleinen Dinge" (Blessing Verlag), der zu einem Welterfolg wurde. Die indischen Behörden zensierten das Buch aus "moralischen" Gründen: Roy beschrieb die verbotene Liebe zu einem Unberührbaren. Als politische Aktivistin hat sie sich mehrfach massiv mit der indischen Regierung angelegt. Was sie soziologisch zur repräsentativen Stimme macht, ist die Tatsache, daß sie die Globalisierung wie einen wirklichen Schmerz, den man ihr zufügt, zu erleben scheint. "In Indien", so hat sie einmal erklärt, "erlebe ich das entsetzliche Schuldgefühl privilegiert zu sein."





      Arundhati Roy: Terror ist nur ein Symptom

      (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.2001, Nr. 226 / Seite 49)


      Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist / Von Arundhati Roy


      Nach den skrupellosen Selbstmordanschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center erklärte ein amerikanischer Nachrichtensprecher: "Selten zeigen sich Gut und Böse so deutlich wie am letzten Dienstag. Leute, die wir nicht kennen, haben Leute, die wir kennen, hingemetzelt. Und sie haben es voller Verachtung und Schadenfreude getan." Dann brach der Mann in Tränen aus.

      Hier haben wir das Problem: Amerika führt einen Krieg gegen Leute, die es nicht kennt (weil sie nicht oft im Fernsehen zu sehen sind). Noch bevor die amerikanische Regierung den Feind richtig identifiziert, geschweige denn angefangen hat, sein Denken zu verstehen, hat sie, mit großem Tamtam und peinlicher Rhetorik, eine "internationale Allianz gegen den Terror" zusammengeschustert, die Streitkräfte und die Medien mobilisiert und auf den Kampf eingeschworen. Allerdings wird Amerika, sobald es in den Krieg gezogen ist, kaum zurückkehren können, ohne eine Schlacht geschlagen zu haben. Wenn es den Feind nicht findet, wird es, der aufgebrachten Bevölkerung daheim zuliebe, einen Feind konstruieren müssen. Kriege entwickeln ihre eigene Dynamik, Logik und Begründung, und wir werden auch diesmal aus dem Blick verlieren, warum er überhaupt geführt wird.

      Wir erleben hier, wie das mächtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig nach einem alten Instinkt greift, um einen neuartigen Krieg zu führen. Nun, da Amerika sich selbst verteidigen muß, sehen die schnittigen Kriegsschiffe, die Cruise Missiles und F-16-Kampfjets auf einmal ziemlich alt und schwerfällig aus. Amerikas nukleares Arsenal taugt nicht zur Abschreckung. Teppichklingen, Taschenmesser und kalte Wut sind die Waffen, mit denen die Kriege des neuen Jahrhunderts geführt werden. Wut ist der Schlüssel. Ihn bekommt man unbemerkt durch den Zoll, durch jede Gepäckkontrolle.

      Gegen wen kämpft Amerika? In seiner Rede vor dem Kongreß bezeichnete Präsident Bush die Feinde Amerikas als "Feinde der Freiheit". "Die Bürger Amerikas fragen, warum sie uns hassen", sagte er. "Sie hassen unsere Freiheiten - unsere Religionsfreiheit, unsere Redefreiheit, unsere Freiheit zu wählen, uns zu versammeln und nicht immer einer Meinung zu sein." Zweierlei wird uns abverlangt. Zum einen sollen wir glauben, daß der Feind der ist, der von dieser Regierung als Feind deklariert wird, obwohl sie keine konkreten Beweise vorlegen kann. Und zum anderen sollen wir glauben, daß die Motive des Feindes genau so aussehen, wie sie von der Regierung dargestellt werden, obwohl es auch dafür keine Beweise gibt.

      Aus strategischen, militärischen und ökonomischen Gründen muß die amerikanische Öffentlichkeit unbedingt davon überzeugt werden, daß Freiheit und Demokratie und der American way of life bedroht sind. In der gegenwärtigen Atmosphäre von Trauer, Empörung und Wut ist derlei leicht zu vermitteln. Wenn das tatsächlich stimmt, stellt sich jedoch die Frage, warum die Anschläge den Symbolen der wirtschaftlichen und militärischen Macht Amerikas galten. Warum nicht der Freiheitsstatue? Könnte es sein, daß die finstere Wut, die zu den Anschlägen führte, nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun hat, sondern damit, daß amerikanische Regierungen genau das Gegenteil unterstützt haben - militärischen und wirtschaftlichen Terrorismus, Konterrevolution, Militärdiktaturen, religiöse Bigotterie und unvorstellbaren Genozid (außerhalb Amerikas)?

      Für die trauernden Amerikaner ist es gewiß schwer, mit Tränen in den Augen auf die Welt zu schauen und eine Haltung zu bemerken, die ihnen vielleicht als Gleichgültigkeit erscheint. Doch es handelt sich nicht um Gleichgültigkeit. Es ist eine Ahnung, ein Nicht-Überraschtsein. Es ist eine alte Erkenntnis, daß jede Saat irgendwann auch aufgeht. Die Amerikaner sollten wissen, daß der Haß nicht ihnen gilt, sondern der Politik ihrer Regierung. Ihnen kann unmöglich entgangen sein, daß ihre außergewöhnlichen Musiker, ihre Schriftsteller, Schauspieler, ihre phänomenalen Sportler und ihre Filme überall auf der Welt beliebt sind. Wir alle waren bewegt von dem Mut und der Würde der Feuerwehrleute, der Rettungskräfte und der gewöhnlichen Büroangestellten in den Tagen und Wochen nach den Anschlägen.

      Amerikas Trauer ist immens und immens öffentlich. Es wäre grotesk, von den Amerikanern zu erwarten, daß sie ihren Schmerz relativieren oder mäßigen. Aber es wäre schade, wenn sie, statt zu versuchen, die Ereignisse des 11. September zu begreifen, das Mitgefühl der gesamten Welt beanspruchten und nur die eigenen Toten rächen wollten. Denn dann wäre es an uns, unangenehme Fragen zu stellen und harte Worte zu sagen. Und weil wir zu einem unpassenden Zeitpunkt von unseren Schmerzen sprechen, wird man uns tadeln, ignorieren und am Ende vielleicht zum Schweigen bringen. Doch die Zeichen stehen auf Krieg. Was gesagt werden muß, sollte rasch gesagt werden.

      Bevor Amerika das Steuer der "internationalen Allianz gegen den Terror" übernimmt, bevor es andere Länder auffordert (und zwingt), sich an seiner nachgerade göttlichen Mission - der ursprüngliche Name der Operation lautete "Grenzenlose Gerechtigkeit" - aktiv zu beteiligen, sollten vielleicht ein paar Dinge geklärt werden. Führt Amerika Krieg gegen den Terror in Amerika oder gegen den Terror ganz allgemein? Was genau wird gerächt? Der tragische Verlust von fast siebentausend Menschenleben, die Vernichtung von vierhundertfünfzigtausend Quadratmetern Bürofläche in Manhattan, die Zerstörung eines Flügels des Pentagon, der Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, der Bankrott einiger Fluggesellschaften und der Absturz der New Yorker Börse? Oder geht es um mehr?

      Als Madeleine Albright, die ehemalige Außenministerin der Vereinigten Staaten, im Jahr 1996 gefragt wurde, was sie dazu sage, daß 500 000 irakische Kinder infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben seien, sprach sie von einer sehr schweren Entscheidung, doch der Preis sei, alles in allem, nicht zu hoch gewesen. Die Sanktionen gegen den Irak sind übrigens noch immer in Kraft, und noch immer sterben Kinder. Genau darum geht es: um die willkürliche Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen "Ermordung unschuldiger Menschen" oder "Krieg der Kulturen" und "Kollateralschäden". Die Sophisterei und eigenwillige Algebra grenzenloser Gerechtigkeit: Wie viele tote Iraker sind notwendig, damit es besser zugeht auf der Welt? Wie viele tote Afghanen für jeden toten Amerikaner? Wie viele tote Frauen und Kinder für einen toten Mann? Wie viele tote Mudschahedin für einen toten Investmentbanker?

      Eine Koalition der Supermächte der Welt schließt nun einen Ring um Afghanistan, eines der ärmsten und am stärksten verwüsteten Länder der Welt, dessen Taliban-Regierung Usama Bin Ladin Unterschlupf gewährt. Das einzige, was in Afghanistan überhaupt noch zerstört werden könnte, sind die Menschen. (Darunter eine halbe Million verkrüppelte Waisenkinder. Es wird berichtet, daß es zu wildem Gedrängel der Humpelnden kommt, wenn über entlegenen, unzugänglichen Dörfern Prothesen abgeworfen werden.) Die afghanische Wirtschaft ist ruiniert. Aus Bauernhöfen sind Massengräber geworden. Das Land ist übersät mit Landminen - nach jüngsten Schätzungen zehn Millionen. Eine Million Menschen sind aus Furcht vor einem amerikanischen Angriff zur pakistanischen Grenze geflohen. Es gibt keine Nahrungsmittel mehr, Hilfsorganisationen mußten das Land verlassen, und nach Berichten der BBC steht eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der jüngsten Zeit bevor.

      An der heutigen Lage in Afghanistan war Amerika übrigens in nicht geringem Maße beteiligt (falls das ein Trost ist). Im Jahr 1979, nach der sowjetischen Invasion, begannen die CIA und der pakistanische Militärgeheimdienst ISI die größte verdeckte Operation in der Geschichte der CIA. Beabsichtigt war, den afghanischen Widerstand zu steuern und das islamische Element so weit zu stärken, daß sich die muslimischen Sowjetrepubliken gegen das kommunistische Regime erheben und es am Ende destabilisieren würden. Diese Operation sollte das Vietnam der Sowjetunion sein. Im Laufe der Jahre rekrutierte und unterstützte die CIA fast 100 000 radikale Mudschahedin aus vierzig islamischen Ländern für den amerikanischen Stellvertreterkrieg. Diese Leute wußten nicht, daß sie ihren Dschihad für Uncle Sam führten. (Welche Ironie, daß die Amerikaner ebensowenig wußten, daß sie ihre späteren Feinde finanzierten!)

      Nach zehn Jahren erbitterten Kampfes zogen sich die Russen 1989 zurück und hinterließen ein verwüstetes Land. Der Bürgerkrieg in Afghanistan tobte weiter. Der Dschihad griff über nach Tschetschenien, in das Kosovo und schließlich nach Kaschmir. Die CIA lieferte weiterhin Geld und Waffen, doch die laufenden Kosten waren so enorm, daß immer mehr Geld benötigt wurde. Auf Befehl der Mudschahedin mußten die Bauern Opium (als "Revolutionssteuer") anbauen. Der ISI richtete in Afghanistan Hunderte von Heroinlabors ein, und zwei Jahre nach dem Eintreffen der CIA war das pakistanisch-afghanistanische Grenzgebiet der weltweit größte Heroinproduzent geworden. Die jährlichen Gewinne, zwischen einhundert und zweihundert Milliarden Dollar, flossen zurück in die Ausbildung und Bewaffnung von Militanten.

      Im Jahr 1995 kämpften sich die Taliban, seinerzeit eine marginale Sekte von gefährlichen Fundamentalisten, in Afghanistan an die Macht. Finanziert wurden sie vom ISI, dem alten Freund der CIA, und sie genossen die Unterstützung vieler Parteien in Pakistan. Die Taliban errichteten ein Terrorregime, dessen erstes Opfer die eigene Bevölkerung war, vor allem Frauen. Angesichts der Menschenrechtsverletzungen der Taliban spricht wenig dafür, daß sich das Regime durch Kriegsdrohungen einschüchtern ließe oder einlenken wird, um die Gefahr für die Zivilbevölkerung abzuwenden. Kann es nach allem, was passiert ist, etwas Ironischeres geben, als daß Rußland und Amerika mit vereinten Kräften darangehen wollen, Afghanistan abermals zu zerstören?

      Auch Pakistan, Amerikas treuer Verbündeter, hat enorm gelitten. Die amerikanischen Regierungen haben noch stets Militärdiktatoren unterstützt, die kein Interesse an demokratischen Verhältnissen im Land hatten. Vor dem Auftauchen der CIA gab es einen kleinen ländlichen Markt für Opium. Zwischen 1979 und 1985 stieg die Zahl der Heroinsüchtigen von Null auf anderthalb Millionen an. In Zeltlagern entlang der Grenze leben drei Millionen afghanische Flüchtlinge. Die pakistanische Wirtschaft liegt darnieder. Gewaltsame soziale Konflikte, globalisierungsbedingte Transformationsprozesse und Drogenbosse zerreißen das Land. Die Madrasas und Ausbildungslager für Terroristen, ursprünglich eingerichtet zum Kampf gegen die Sowjets, brachten Fundamentalisten hervor, die in Pakistan großen Rückhalt haben. Die Taliban, von der pakistanischen Regierung seit Jahren unterstützt und finanziert, haben in den pakistanischen Parteien materielle und strategische Verbündete. Auf einmal bittet (bittet?) Amerika die pakistanische Regierung, den Schoßhund, den es in seinem Hinterhof jahrelang großgezogen hat, abzustechen. Präsident Musharraf, der den Amerikanern Unterstützung versprochen hat, könnte sich bald mit einer bürgerkriegsähnlichen Situation konfrontiert sehen.

      Indien kann von Glück reden, daß es, dank seiner geographischen Lage und der Weitsicht früherer Politiker, bislang nicht in dieses Great Game hineingezogen wurde. Unsere Demokratie hätte das höchstwahrscheinlich nicht überlebt. Heute müssen wir entsetzt mit ansehen, wie die indische Regierung die Amerikaner inständig darum bittet, ihre Operationsbasis in Indien statt in Pakistan zu errichten. Jedes Land der Dritten Welt mit einer schwachen Wirtschaft und einem unruhigen sozialen Fundament müßte wissen, daß eine Einladung an eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten (ganz gleich, ob die Amerikaner für länger bleiben oder nur kurz vorbeischauen wollen) fast so ist, als würde ein Autofahrer darum bitten, ihm einen Stein in die Windschutzscheibe zu werfen.

      In dem Medienspektakel nach dem 11. September hielt es keiner der großen Fernsehsender für nötig, ein Wort über die Geschichte des amerikanischen Engagements in Afghanistan zu verlieren. Für all jene, die von diesen Dingen nichts wissen, hätte die Berichterstattung über die Anschläge informativ und aufrüttelnd sein können, wenn Zyniker sie vielleicht auch übertrieben gefunden hätten. Für uns aber, die wir die jüngste Geschichte Afghanistans kennen, sind die amerikanische Berichterstattung und das Gerede von der "internationalen Allianz gegen den Terror" einfach eine Beleidigung. Amerikas "freie Presse" ist dafür genauso verantwortlich wie der "freie Markt".

      Die bevorstehende Operation wird angeblich zur Aufrechterhaltung amerikanischer Werte durchgeführt. Doch sie wird noch mehr Zorn und Angst in der ganzen Welt erzeugen, und am Ende dürften diese Werte völlig diskreditiert sein. Für die gewöhnlichen Amerikaner bedeutet das, daß sie in einem Klima schrecklicher Ungewißheit leben werden. Schon warnt CNN vor der Möglichkeit eines biologischen Krieges (Pocken, Beulenpest, Milzbrand), der mit harmlosen Sprühflugzeugen geführt werden kann.

      Die Regierung Amerikas, und wohl Regierungen überall auf der Welt, werden die Kriegsatmosphäre als Vorwand benutzen, um Meinungsfreiheit und andere Bürgerrechte einzuschränken, Arbeiter zu entlassen, ethnische und religiöse Minderheiten zu schikanieren, Haushaltseinsparungen vorzunehmen und viel Geld in die Militärindustrie zu stecken. Und wozu? Präsident Bush kann die Welt ebensowenig "von Übeltätern befreien", wie er sie mit Heiligen bevölkern kann. Es ist absurd, wenn die US-Regierung auch nur mit dem Gedanken spielt, der Terrorismus ließe sich mit noch mehr Gewalt und Unterdrückung ausmerzen. Der Terrorismus ist ein Symptom, nicht die Krankheit. Der Terrorismus ist in keinem Land zu Hause. Er ist ein supranationales, weltweit tätiges Unternehmen wie Coke oder Pepsi oder Nike. Beim geringsten Anzeichen von Schwierigkeiten brechen Terroristen die Zelte ab und ziehen, genau wie die Multis, auf der Suche nach besseren Möglichkeiten mit ihren "Fabriken" von Land zu Land.

      Der Terrorismus als Phänomen wird wohl nie verschwinden. Will man ihm aber

      Fortsetzung auf Seite 51

      Einhalt gebieten, muß Amerika zunächst einmal erkennen, daß es nicht allein auf der Welt ist, sondern zusammen mit anderen Nationen, mit anderen Menschen, die, auch wenn sie nicht im Fernsehen gezeigt werden, lieben und trauern und Geschichten und Lieder und Kummer haben und weiß Gott auch Rechte. Doch als der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gefragt wurde, was er als einen Sieg im neuen amerikanischen Krieg bezeichnen würde, meinte er, ein Sieg wäre, wenn er die Welt davon überzeugen könne, daß es den Amerikanern möglich sein müsse, an ihrem way of life festzuhalten.

      Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte, wer weiß, von Usama Bin Ladin stammen und von seinen Kurieren übermittelt worden sein, aber sie könnte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas alten Kriegen.

      Die Millionen Toten in Korea, Vietnam und Kambodscha, die 17 500 Toten, als Israel (mit Unterstützung Amerikas) 1982 im Libanon einmarschierte, die 200 000 Iraker, die bei der Operation Wüstensturm starben, die Tausenden Palästinenser, die im Kampf gegen die israelische Besetzung des Westjordanlands den Tod fanden. Und die Millionen, die in Jugoslawien, Somalia, Haiti, Chile, Nikaragua, El Salvador, Panama, in der Dominikanischen Republik starben, ermordet von all den Terroristen, Diktatoren und Massenmördern, die amerikanische Regierungen unterstützt, ausgebildet, finanziert und mit Waffen versorgt haben. Und diese Aufzählung ist keineswegs vollständig. Für ein Land, das an so vielen Kriegen und Konflikten beteiligt war, hat Amerika außerordentlich viel Glück gehabt. Die Anschläge vom 11. September waren erst der zweite Angriff auf amerikanischem Territorium innerhalb eines Jahrhunderts. Der erste war Pearl Harbor. Die Revanche dafür endete, nach einem langen Umweg, mit Hiroshima und Nagasaki. Heute wartet die Welt mit angehaltenem Atem auf den Schrecken, der uns bevorsteht.

      Unlängst sagte jemand, daß, wenn es Usama Bin Ladin nicht gäbe, die Amerikaner ihn erfinden müßten. In gewissem Sinne haben sie ihn tatsächlich erfunden. Er gehörte zu den Kämpfern, die 1979 nach Afghanistan gingen, als die CIA mit den Operationen begann. Usama Bin Ladin zeichnet sich dadurch aus, daß er von der CIA hervorgebracht wurde und vom FBI gesucht wird. Binnen zweier Wochen avancierte er vom Verdächtigen zum Hauptverdächtigen, und inzwischen will man ihn, trotz des Mangels an Beweisen, "tot oder lebendig" haben.

      Nach allem, was über seinen Aufenthaltsort bekannt ist, könnte es durchaus möglich sein, daß er die Anschläge nicht persönlich geplant hat und an der Ausführung auch nicht beteiligt war - daß er vielmehr der führende Kopf ist, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens. Die Reaktion der Taliban auf die amerikanische Forderung, Bin Ladin auszuliefern, war ungewöhnlich realistisch: Legt Beweise vor, dann händigen wir ihn euch aus. Präsident Bush erklärte seine Forderung für nicht verhandelbar. (Da gerade über die Auslieferung von Vorstandsvorsitzenden gesprochen wird - dürfte Indien ganz nebenbei um die Auslieferung von Warren Anderson bitten? Der Mann war als Chef von Union Carbide verantwortlich für die Katastrophe von Bhopal, bei der sechzehntausend Menschen umkamen. Wir haben die nötigen Beweise zusammengetragen, alle Dokumente liegen vor. Also gebt ihn uns bitte!)

      Wer ist Usama Bin Ladin aber wirklich? Ich möchte es anders formulieren: Was ist Usama Bin Ladin? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Mißachtung aller nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen, ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes, ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben. Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken.

      Nun, da das Familiengeheimnis gelüftet ist, werden die Zwillinge allmählich eins und sogar austauschbar. Ihre Gewehre und Bomben, ihr Geld und ihre Drogen haben sich eine Zeitlang im Kreis bewegt. (Die Stinger-Raketen, die die amerikanischen Hubschrauber begrüßen werden, wurden von der CIA geliefert. Das Heroin, das von amerikanischen Rauschgiftsüchtigen verwendet wird, stammt aus Afghanistan. Die Regierung Bush ließ der afghanischen Regierung unlängst 43 Millionen Dollar zur Drogenbekämpfung zukommen.) Inzwischen werden sich die beiden auch in der Sprache immer ähnlicher. Jeder bezeichnet den anderen als "Kopf der Schlange". Beide berufen sich auf Gott und greifen gern auf die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse zurück. Beide sind in eindeutige politische Verbrechen verstrickt. Beide sind gefährlich bewaffnet - der eine mit dem nuklearen Arsenal des obszön Mächtigen, der andere mit der glühenden, zerstörerischen Macht des absolut Hoffnungslosen. Feuerball und Eispickel. Keule und Axt. Man sollte nur nicht vergessen, daß der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.

      Präsident Bushs Ultimatum an die Völker der Welt - "Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen" - offenbart eine unglaubliche Arroganz. Kein Volk will diese Wahl treffen, kein Volk braucht diese Wahl zu treffen und keines sollte gezwungen werden, sie zu treffen.

      Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.

      Nicht Salman Rushdie, sondern die vierzigjährige Arundhati Roy ist die literarische Stimme Indiens, die von den Taten und Qualen der Globalisierung in ihrem Land berichtet. Roy ist längst die berühmteste und erfolgreichste Schriftstellerin des Landes. In vielen westlichen Ländern gilt sie als wichtigste Schriftstellerin des Subkontinents. Als politische Aktivistin ist Roy wiederholt in Konflikt mit den indischen Behörden geraten, zuletzt wegen ihrer Proteste gegen die indische Atomwaffenpolitik. In ihren politischen Schriften artikuliert sich das radikale Bewußtsein jener intellektuellen Schicht, die nicht nur in Indien, sondern auch in Pakistan die sozialen Konflikte primär als Folgen der Globalisierung, also als Ergebnisse "westlicher" Politik interpretiert. Ungeachtet der besonnenen amerikanischen Politik sind im Atomgürtel Pakistan/Indien viele Menschen voller Wut auf die Vereinigten Staaten und die Kultur der Globalisierung. Wer angesichts des Terroranschlags von New York glaubte, es werde sich eine moralisch empörte Menschheit um die Amerikaner scharen, sieht sich getäuscht. Im Gegenteil: der Haß wächst. Und Indien hat sich immer noch nicht erklärt, inwieweit es bereit ist, die Vereinigten Staaten zu unterstützen. Wir haben Arundhati Roy gebeten, uns zu sagen, warum das so ist. Ihr Text, der angesichts der fortlaufenden Ereignisse die ursprünglich vereinbarte Länge weit überschreitet, beweist, allen Besänftigungsformeln zum Trotz, daß der gegenwärtige Konflikt in den bevölkerungsreichsten Staaten der Erde als Krieg der Kulturen verstanden wird. F.A.Z.

      Die Algebra grenzenloser Gerechtigkeit: Wie viele Tote sind notwendig, damit es besser zugeht auf der Welt?

      Usama Bin Ladin ist das ameri- kanische Familiengeheimnis, der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten.
      Avatar
      schrieb am 14.10.01 11:40:18
      Beitrag Nr. 11 ()

      Verseucht Die „New-York-Times“-Reporterin Judith Miller (35) ist an Milzbrand erkrankt.
      http://www.bild.de/

      heute las ich online die obenstehende meldung, 10 minuten später in der sonntagszeitung diese kolumne von martin suter. ich nehme an, martin suter wusste beim schreiben dieses textes noch nichts von erkrankung von judith miller


      Martin Suter aus New York



      Reporter wähnen sich unverwundbar. Mit geschärften Sinnen schlüpfen sie in die Rolle von Beobachtern, zeichnen möglichst präzis die Ereignisse um sich herum auf. Aber was geschieht, geht immer andere an.
      So war es auch am 11. September. In der Nähe der brennenden Doppeltürme des World Trade Center stehend, suchte ich das Geschehen genau zu registrieren. Trotz der unfasslichen Dimensionen dachte ich immer auch an die Story, die sich daraus ergeben würde - bis der erste Turm krachte. Irgendetwas signalisierte mir mit physischer Dringlichkeit: Nichts wie weg. Hinter der schützenden Tür eines Gebäudes fuhr es mir durch den Kopf: So muss es Kriegsreportern ergehen.
      In den Tagen darauf fand ich rasch ins frühere Sicherheitsgefühl zurück. «Lebt euer Leben weiter wie vorher», rief uns Mayor Rudy Giuliani zu, und keinen Appell hätten wir lieber hören wollen. Die mit rüder Härte gewappneten New Yorker lassen sich so schnell nicht unterkriegen. Wenn andere Amerikaner Giftangst beschleicht, sie sich um Gasmasken balgen, schützen wir uns mit Betriebsamkeit.
      Doch am letzten Wochenende kam die Wende. Zum Brunch serviert Präsident Bush die Nachricht vom Beginn der Bombenschläge in Afghanistan, dann verspricht Osama Bin Laden in einem Video, dass jetzt «weder Amerika noch die Menschen, die dort wohnen, Sicherheit erhoffen können». Der Terrorgeneral ruft seine Truppen in den Kampf - wieder gegen New York?
      Was uns droht, erfahre ich an einem Vortrag von Judith Miller. Die Journalistin der «New York Times» und Autorin des gerade erschienenen Buchs «Germs» (Keime) ist Fachfrau für Bin Laden, Terrorismus und biologische Waffen.


      «Dies ist die neue Front, die Front des Todes», erklärt sie, und den Lunchern bleibt das Konfekt im Hals stecken. «Wenn gesagt wird, es brauche komplizierte Apparaturen zur Verteilung der Erreger - vergesst es! Es genügt, einen Glasbehälter im Subway-Tunnel zu zerschlagen.»
      Ich fahre nach Hause, mit dem Taxi. In Florida hat eine zweite Person Milzbrandsporen eingeatmet. Am Fernsehen referieren Experten über die Infektionswege von Anthrax via Lunge, Haut und Darm und die jeweiligen Überlebenschancen. So genau habe ich das eigentlich gar nie wissen wollen.
      Florida ist weit weg. Aber im Lauf der Woche wird mir immer mulmiger. Vorher habe ich die ständigen Feuerwehrsirenen kaum wahrgenommen, jetzt schrecke ich auf, drehe das Radio an. Wenig hilfreich warnt Washington, neue Anschläge seien zu erwarten, aber man wisse nicht welche.
      Am Freitag haben Milzbrandsporen das NBC-Studio im Rockefeller Center erreicht und womöglich die Redaktion der «New York Times». Es kam, wie es kommen musste: New York, seine Medien, seine Journalisten sind ins Fadenkreuz gerückt. Der Krieg hat nach Hause gefunden. Der Terror ist daheim. Bei mir.

      http://www.sonntagszeitung.ch/sz/szArtikel?artikelid=132608

      bücher von martin suter:

      :cool: Richtig leben mit Gerri Weibel. von Martin Suter

      :cool: Die dunkle Seite des Mondes. von Martin Suter

      :cool: Business Class. Geschichten aus der Welt des Managements. von Martin Suter


      :cool: Small World. von Martin Suter
      Avatar
      schrieb am 14.10.01 12:05:25
      Beitrag Nr. 12 ()
      THE LETTER




      Fear Hits Newsroom in a Cloud of Powder

      By JUDITH MILLER (new york times)

      t looked like baby powder. A cloud of hospital white, sweet- smelling powder rose from the letter — dusting my face, sweater and hands. The heavier particles dropped to the floor, falling on my pants and shoes. An anthrax hoax, I thought.

      My mind had been on something else. At my desk at The New York Times, I was already focused on what I thought was going to be the story of the day: the Bush administration`s effort to seize the assets of more people and groups it said supported terrorism. It was after 9:15 a.m. on Friday, and Treasury Secretary Paul H. O`Neill would soon begin discussing the list of 39 additions to his agency`s roster of rogue financiers of terror. I was on the phone, talking to Jeff Gerth, my colleague and friend, about the article we were planning to write. As we spoke, I was picking my way through the pile of unopened mail beside my computer.

      I had been getting many letters since Sept. 11. Some were complimentary; others were angry about the government`s failure to protect Americans from terrorism. But most writers wanted to know how they could protect themselves and their families from bioterrorism, having seen two colleagues and me on television discussing our book, "Germs: Biological Weapons and America`s Secret War."

      Had I not been distracted, I probably would not have opened the stamped letter in the plain white envelope with no return address and a postmark from St. Petersburg, Fla. My sources and I had been discussing the threat of anthrax attacks ever since the death of a man this month who contracted an inhaled form of the disease at a newspaper office in Boca Raton, Fla. — not far from where one of the hijackers of the Sept. 11 attacks had done his flight training.

      But I wasn`t thinking. I was rushed, absorbed in my work, and only half paying attention to the mail.

      The powder got my full attention. I immediately asked the reporters and editors around me to call security. I didn`t want to touch the phone.

      They looked alarmed. It`s O.K., I told them. It`s probably just a hoax.

      Just then the phone rang. Instinctively, I pressed the headphone button. It was a source. Had I heard, he asked, about Tom Brokaw`s assistant? She had contracted anthrax from powder in a letter she opened in late September.

      The envelope, he said, had a Florida postmark.

      Calm down, I thought. It`s still probably a hoax. But when The Times security officials arrived — promptly — I was relieved to see that they were carrying a plastic garbage bag and wearing gloves. As I moved away from the desk, they gingerly placed the letter and envelope in the bag, and sealed it, along with the glove that had touched them. Perfect, I thought.

      As I washed my hands and tried to dust off the powder that clung to my pants and shoes, I thought about what Bill Patrick, my friend and bio-weapons mentor, had told me: anthrax was hard to weaponize. To produce a spore small enough to infect the lungs took great skill. Bill knew that firsthand. He had struggled to manufacture such spores for the United States in the 1950`s and 60`s as a senior scientist in America`s own germ weapons program, which President Richard M. Nixon had unilaterally ended in 1969.

      Growing anthrax that would penetrate the skin — cutaneous infection, it was called — was less difficult, though still not easy.

      That`s why Bill had been very concerned when he heard about the Florida case. Whoever had done this had been able to produce the tiny spore of roughly one to five microns that could enter the lungs.

      The other cases, Bill told me, could well have involved a larger spore that was cut with baby powder or another substance to mask the deadly pathogen with a smell that was reassuringly familiar. Anthrax itself had no smell. And it was almost never white.

      By now, I was no stranger to this deadly agent. My education had started with Bill Patrick`s demonstration of how easily anthrax could be slipped past airport security. Bill had shown me how the fine powder in the small vial he kept on his desk dissolved like magic into the air when the vial was shaken and poured. Since 1998, I had been touring the laboratories and plants that had been part of the Soviet Union`s vast germ empire. I had visited the decaying laboratories in once secret cities and interviewed some of the tens of thousands of Soviet scientists who had worked to perfect mankind`s most vicious, efficient killers. I was now familiar with the stench of such places — the haunting mix of bleach, dust, animal waste — the smell of death.

      The research had terrified me at first. Not even the terrorism I had covered as a Times correspondent in the Middle East in the 1980`s had so unnerved me. But I had remained, through it all, detached from the reality of my often awful subjects. To do our work, journalists had to be. We were trained to be the cool, professional observers that our business requires and readers demand.

      Yet now I was no longer covering a story. I was the story.

      Returning to my desk, I was determined to remain calm. Or at least appear calm. If my exquisitely observant colleagues felt that one of their in-house experts was frightened, they, too, might lose their professional cool.

      Had The Times planned for such an emergency, I would have been isolated from my colleagues and the potentially deadly letter. But like most organizations, we had not conducted drills for a biological or chemical attack. So a senior editor and friend put his arm around me and went with me to the medical department on another floor. When I returned, concerned colleagues and editors also rushed to my side. Someone brought a cup of tea for me. They, too, are now taking Cipro.

      Within 20 minutes of the incident, almost a dozen law enforcement officials from almost as many agencies had arrived in the building, each with its own idea of what to do. While the newsroom floor was evacuated, photographs were made and tests conducted at my desk by police officers, many of them in tan head-to-toe bio- suits with gas masks. I stayed with them to show them where the powder had fallen and where I went after I had opened the letter. I shall never forget the sight of these moon men moving through our normally bustling, now empty newsroom, silent save for the ringing of unanswered phones.

      They began questioning me almost immediately. Whom did I know in Florida?

      Had I been there recently? Did I usually open my own mail? Was there a reason for someone to want to send me such a letter? Could I describe the powder; where and how had it fallen? I knew they were checking to verify the particle size. The joint terrorism task force officers, dressed in civilian clothes, were polite, professional and clearly concerned. So was Don Weiss, the doctor who headed a surveillance unit of New York City`s Department of Health Communicable Disease Program.

      Calm, reasoned and well informed, he answered questions from reporters and editors, many of whom had by then drifted back into the newsroom. He and his team stayed with us most of the day, taking swab samples from our noses, dispensing Cipro to those who were at risk and answering the questions all of us had about the situation in New York.

      Several times, he was called away to the phone.

      At 6 p.m., I started writing my part of the Treasury Department article for the Saturday paper.

      By Saturday evening, it was still unclear whether the powder contained anthrax. Two preliminary tests had come back negative and a third definitive test seemed to suggest that the powder was benign.

      But I was sure of one thing: similar letters had been sent to a nationally distributed supermarket tabloid published in Florida and to NBC, and now one had been sent to The New York Times. Maybe there was anthrax in my letter, or maybe there wasn`t.

      It almost didn`t matter. What did matter was that this was a relatively inexpensive way to spread maximum terror without having to solve the technical challenges of spreading the disease widely. Whoever did this had spread panic with only a few anthrax spores, or perhaps only baby powder, and the price of a few stamps.


      dieser artikel ist momentan online in der new york times - ob es stimmt, die bild-online berichtet, dass judith miller erkrankt ist, weiss ich nicht- im aktuellesten artikel in new york times-online steht:

      Health officials were awaiting a final round of tests on the letter sent to The New York Times, which was received Friday morning by Judith Miller, a reporter who covers bioterrorism. After opening that letter, which had been sent from St. Petersburg, a white powder dusted Ms. Miller`s face, hands and sweater. But Dr. Cohen said he was very confident that these final tests would also come back negative, meaning that none of the letters sent from St. Petersburg are contaminated.

      Avatar
      schrieb am 17.10.01 09:46:42
      Beitrag Nr. 13 ()
      Ein furchtbarer Polizeieinsatz im Tarnmantel des Krieges

      Aber Tony Blair gibt weiter mit nobler Erregung den Sprecher Amerikas / Von John Le Carré


      8. Oktober 2001: "Die Luftangriffe beginnen", schreit an diesem Tag die Schlagzeile des sonst so zurückhaltenden "Guardian". "Bereit zur Schlacht", ruft, George W. Bush zitierend, die für gewöhnlich ähnlich bedachtsame "Herald Tribune". Aber gegen wen wird die Schlacht geführt? Und wie wird sie ausgehen? Wird Usama Bin Ladin, gefesselt und noch ernster dreinblickend und noch mehr Erlösergestalt denn je, vor ein Tribunal seiner Bezwinger treten, wobei Johnny Cochrane den Anwalt gibt? An den Gagen würde es bestimmt nicht scheitern.

      Vielleicht wird Bin Ladin aber auch von einer dieser schlauen Bomben zerrissen, die die Terroristen in ihren Höhlen erwischen, aber das Küchengeschirr unversehrt lassen. Oder habe ich eine Lösung übersehen, wie man verhindert, daß unser Erzfeind ein Erzmärtyrer in den Augen all derer wird, für die er ohnehin schon eine Art Halbgott ist?

      Dennoch müssen wir ihn bestrafen. Wir müssen ihn zur Verantwortung ziehen. Wie jeder vernünftige Mensch sehe ich keine andere Möglichkeit. Schickt Lebensmittel und Medizin, liefert Hilfsgüter, kümmert euch um die hungernden Flüchtlinge, um die verkrüppelten Waisenkinder und die zerfetzten Leichen, pardon, die "Kollateralschäden" - aber Bin Ladin und seine schrecklichen Gefolgsleute müssen gejagt werden, uns bleibt nichts anderes übrig.

      Dummerweise möchte Amerika im Moment aber mehr Freunde und weniger Feinde haben. Amerika wird sich indes, genau wie wir Briten, noch mehr Feinde machen; denn trotz aller Bestechungsgelder, Drohungen und Versprechungen, mit denen diese wacklige Koalition zusammengeschustert wurde, läßt sich nicht verhindern, daß ein zweiter Selbstmordattentäter geboren wird, sooft ein fehlgeleiteter Marschflugkörper ein unschuldiges Dorf vernichtet, und niemand kann uns sagen, wie wir diesen teuflischen Kreislauf aus Verzweiflung, Haß und neuerlicher Rache durchbrechen können.

      Die inszenierten Fernsehbilder und Fotos von Bin Ladin lassen einen homoerotischen Narziß vermuten, und vielleicht können wir daraus sogar ein kleines bißchen Hoffnung schöpfen. Wenn er mit einer Kalaschnikow posiert, bei einer Hochzeit zugegen ist oder einen heiligen Text liest, vermittelt er mit jeder selbstverliebten Geste das Kamerabewußtsein eines Schauspielers. Er ist hochgewachsen, sieht gut aus, besitzt Gewandtheit, Intelligenz und Anziehungskraft - alles großartige Eigenschaften, sofern man nicht der meistgesuchte Verbrecher der Welt ist, denn in diesem Fall sind sie, weil kaum zu verbergen, eher von Nachteil. Noch bemerkenswerter erscheint mir aber seine kaum gezügelte männliche Eitelkeit, sein Hang zur Selbstdarstellung und seine heimliche Sehnsucht, im Rampenlicht zu stehen. Und vielleicht wird ihm genau dieser Zug zum Verhängnis, wenn er sich zu einem letzten dramatischen Akt der Selbstzerstörung hinreißen läßt, einem Schauspiel, dessen Produzent, Regisseur, Drehbuchschreiber und Schauspieler Usama Bin Ladin persönlich ist.

      Nach den üblichen Gesetzen des Terrorismus ist dieser Krieg natürlich schon längst verloren. Und wir - welchen Sieg können wir überhaupt erringen, der unsere erlittenen Niederlagen wettmachte, ganz zu schweigen von denen, die uns noch bevorstehen? "Terror ist Theater", erklärte mir 1982 ein Palästinenser in Beirut. Gemeint war die Ermordung der israelischen Sportler bei der Olympiade in München, aber genausogut hätte er von den Zwillingstürmen und dem Pentagon reden können. Bakunin, der Prediger des Anarchismus, sprach gern von der Propagandawirkung des Terrorakts. Theatralischere, potentere Akte als diese sind kaum vorstellbar.

      Bakunin in seinem Grab und Bin Ladin in seiner Höhle müssen sich die Hände reiben, wenn wir jetzt genau die Dinge tun, die Terroristen ihres Schlages so schätzen: wenn wir Polizei und Geheimdienste eilends verstärken und mit noch mehr Befugnissen ausstatten, die bürgerlichen Rechte suspendieren und die Pressefreiheit einschränken, Nachrichtensperren verhängen und stille Zensur ausüben, wenn wir einander ausspionieren und im schlimmsten Fall Moscheen überfallen und Leute hetzen, deren Hautfarbe uns ängstigt.

      Alle diese Ängste - "Kann man noch fliegen? Sollte ich die Polizei auf die merkwürdigen Leute in unserem Haus hinweisen? Sollte ich heute vormittag lieber nicht nach Whitehall fahren? Ob mein Kind sicher aus der Schule zurückkommt? Ist der Wert meiner Ersparnisse gesunken?" - sind genau die Ängste, die unsere Angreifer uns einjagen wollen.

      Bis zum 11. September waren die Vereinigten Staaten nur allzugern bereit, Wladimir Putin wegen der Metzeleien in Tschetschenien zu kritisieren. Man erklärte ihm, daß Rußlands Menschenrechtsverletzungen im Kaukasus - wir reden von unzähligen Folterungen und Ermordungen, die nach allgemeinem Verständnis auf Völkermord hinausliefen - engeren Beziehungen zur Nato und zu den Vereinigten Staaten im Weg stünden. Ein paar Leute (zu denen auch ich gehörte) schlugen sogar vor, Putin vor den Haager Gerichtshof zu bringen - vielleicht gleich zusammen mit Milosevic. Nun ja, das kann man jetzt vergessen. In der großen neuen Koalition steht Putin - verglichen mit einigen seiner Bettgenossen - wie ein Heiliger da.

      Erinnert sich noch jemand an die Proteste gegen den Wirtschaftskolonialismus der G-8-Staaten? Gegen die Plünderung der Dritten Welt durch Multis, die sich jeder Kontrolle entziehen? Prag, Seattle und Genua brachten uns verstörende Bilder von blutigen Köpfen, zerbrochenen Glasscheiben, gewalttätigen Demonstranten und brutalen Polizisten. Tony Blair war zutiefst schockiert. Doch die Debatte war berechtigt, bis sie in einer Woge patriotischer Gefühle unterging, was von amerikanischen Unternehmen geschickt ausgenutzt wurde.

      Wer heute an Kyoto erinnert, setzt sich dem Vorwurf des Antiamerikanismus aus. Es ist, als hätten wir eine neue Orwellsche Welt betreten, in der unsere persönliche Zuverlässigkeit als Mitstreiter im Kampf danach beurteilt wird, wie weit wir bei der Diskussion über die Gegenwart die Vergangenheit einbeziehen. Jeder Hinweis darauf, daß die jüngsten Anschläge in einem historischen Zusammenhang stehen, gilt als Rechtfertigung. Wer auf unserer Seite steht, tut dergleichen nicht, und wer es doch tut, ist gegen uns.

      Vor zehn Jahren ging ich den Leuten mit meinem Hinweis auf die Nerven, daß wir nach dem Ende des Kalten Kriegs die einmalige Chance versäumt hätten, die Welt neu zu gestalten. Wo denn der neue Marshallplan sei, fragte ich. Warum die jungen amerikanischen Entwicklungshelfer und ihre europäischen Kollegen nicht zu Zehntausenden in die ehemalige Sowjetunion strömten? Wo denn der weise Staatsmann sei, der Mann der Stunde, der die Stimme und die Vision besitze, uns die realen, wenn auch unspektakulären Feinde der Menschheit vor Augen zu führen: Armut, Hunger, Sklaverei, Tyrannei, Drogen, Krieg, Rassismus, religiöse Intoleranz, Habgier?

      Dank Bin Ladin und seinen Helfern sind unsere Politiker jetzt über Nacht weise Staatsmänner geworden, die in fernen Flughäfen ihre Stimme erheben und Visionen entwerfen und doch nur an ihre Klientel denken.

      Leider ist das Wort Kreuzzug gefallen, und nicht nur Berlusconi hat davon gesprochen. Dieses Wort offenbart eine amüsante Unkenntnis der Geschichte. Wollte Berlusconi wirklich dazu aufrufen, die heiligen Stätten des Christentums zu befreien und die Heiden zu schlagen? Wollte Bush das? Ist es unangebracht, wenn ich daran erinnere, daß wir die Kreuzzüge verloren haben? Aber keine Sorge: Signor Berlusconi fühlte sich nur mißverstanden, und damit hat sich die Sache erledigt.

      Tony Blair macht derweil in seiner neuen Rolle als furchtloser Sprecher Amerikas rasch Fortschritte. Er ist ein guter Redner, weil Bush ein schlechter Redner ist. Vom Ausland aus gesehen, ist Blair in beider Verhältnis der erfahrene elder statesman mit einer unangreifbaren Machtbasis daheim, wohingegen Bush - darf man das heute sagen? - überhaupt nur mit knapper Not gewählt wurde.

      Doch wofür steht der elder statesman Blair eigentlich? Beide Männer sind zur Zeit enorm populär, aber wenn sie im Geschichtsunterricht aufgepaßt haben, wissen sie, daß große Beliebtheit am Tag eins einer gefährlichen militärischen Aktion im Ausland nicht unbedingt einen Sieg bei den nächsten Wahlen garantiert.

      Wie viele amerikanische body-bags wird Mr. Blair aushalten können, ohne die Unterstützung im Volk zu verlieren? Nach den schrecklichen Anschlägen auf die Zwillingstürme und das Pentagon ruft das amerikanische Volk nach Vergeltung, aber es riskiert, daß noch mehr amerikanisches Blut vergossen wird.

      Tony Blair - die ganze westliche Welt findet das, außer ein paar säuerlichen Stimmen daheim - ist Amerikas eloquenter weißer Ritter, der furchtlose, vertrauenswürdige Anwalt jenes heiklen transatlantischen Verhältnisses.

      Ob er damit Wählerstimmen gewinnt, ist eine andere Sache, denn er wurde gewählt, um Britannien vor dem Niedergang und nicht vor Usama Bin Ladin zu retten. Das Britannien, das er in den Krieg führt, ist das in sechzig Jahren entstandene Monument einer unfähigen Verwaltung. Die Krankenhäuser, die Schulen, das Verkehrswesen sind eine einzige Katastrophe. Gern redet man bei uns von Verhältnissen wie in der Dritten Welt, doch es gibt Länder in der Dritten Welt, die sehr viel besser dastehen als wir.

      Das Britannien, das Blair regiert, krankt an institutionalisiertem Rassismus, an der Vorherrschaft weißer Männer, an chaotischen Polizeistrukturen, an einer überlasteten Justiz, an obszönem privaten Reichtum und einer beschämenden und unnötigen öffentlichen Armut. Bei seiner Wiederwahl, die von einer trostlosen Wahlbeteiligung gekennzeichnet war, räumte Blair diese Übel ein und versprach demütig, Abhilfe zu schaffen.

      Wenn wir also diese noble Erregung in seiner Stimme hören, mit der er uns in den Krieg führt, und seine widerspruchslos hingenommenen rhetorischen Floskeln uns ergreifen, sollte man vielleicht auch den leisen Hinweis heraushören, daß seine Mission so wichtig ist, daß man noch ein weiteres Jahr auf die dringend erforderliche Operation warten muß und noch sehr viel länger, bis man in sicheren und pünktlichen Zügen fahren kann. Ich bin nicht sicher, ob solche Sachen ihm in drei Jahren zum Wahlsieg verhelfen werden. Wenn ich Blair beobachte und höre, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er sich in einem Traum bewegt, aus dem es ein böses Erwachen gibt.

      Habe ich Krieg gesagt? Haben Blair oder Bush schon mal ein Kind gesehen, das in Stücke zerfetzt wurde, oder die Auswirkungen einer Streubombe erlebt, die auf ein Flüchtlingslager abgeworfen wurde? Solche Dinge gesehen zu haben ist nicht unbedingt ein Befähigungsnachweis für oberste Befehlshaber, und ich wünsche beiden diese Erfahrung nicht. Aber es macht mir doch angst, wenn ich diese leuchtenden Politikergesichter sehe und diese jugendlichen Politikerstimmen höre, die mich zur Schlacht rufen.

      Und Mr. Bush - und Sie auch, Mr. Blair! -, kommen Sie uns bitte nicht mit Gott. Sich vorzustellen, daß Gott Krieg führt, hieße, ihm die schlimmsten Torheiten der Menschheit zuzutrauen. Wenn wir auch nur irgend etwas von Gott wissen (was ich von mir nicht behaupte), dann wohl, daß er eher für abgeworfene Lebensmittelpakete ist, eher für engagierte Ärzteteams, gute Zelte für die Flüchtlinge und Trauernden und ein aufrichtiges Eingeständnis unserer Verfehlungen und die Bereitschaft, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Ihm ist es lieber, wenn wir weniger habgierig, weniger arrogant und weniger missionarisch sind und etwas aufmerksamer denjenigen gegenüber, die auf der Verliererseite stehen.

      Es geht nicht um eine neue Weltordnung, noch nicht, und es ist nicht Gottes Krieg. Es ist eine furchtbare, notwendige, demütigende Polizeiaktion, die das Versagen unserer Geheimdienste wettmachen soll und unsere politische Blindheit, die uns dazu brachte, islamische Fanatiker zu bewaffnen und als Kämpfer gegen die sowjetische Invasion zu instrumentalisieren. Und sie dann in einem verwüsteten Land ohne Führer sich selbst zu überlassen. Nun ist es unsere elende Pflicht, ein paar modern-mittelalterliche religiöse Eiferer zu jagen und zu bestrafen, die in dem Tod, den wir für sie vorgesehen haben, noch zu mythischen Helden werden.

      Und wenn alles vorbei ist, wird nichts vorbei sein. In dem heillosen Durcheinander nach Bin Ladins Vernichtung werden seine Schattenarmeen eher weiteren Zulauf erhalten als verschwinden. Das gilt auch für das Hinterland stiller Sympathisanten, die logistische Unterstützung bereitstellen. Vorsichtig, zwischen den Zeilen, wird uns glauben gemacht, daß sich das Gewissen des Westens wieder dem Dilemma der Armen und Heimatlosen dieser Welt zuwendet. Und vielleicht wird - aus Angst, Notwendigkeit und Rhetorik - tatsächlich eine neue politische Moral entstehen. Aber wenn der letzte Schluß gefallen und eine Art Frieden geschlossen ist, werden die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten dann auf ihrem Posten bleiben oder, wie am Ende des Kalten Kriegs geschehen, die Stiefel ausziehen und nach Hause gehen? Selbst wenn man sich in diesem Zuhause nie wieder so sicher fühlen wird wie zuvor.

      Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. (FAZ)

      Der Schriftsteller John Le Carré, Jahrgang 1931, lebt in England. Zuletzt erschien sein Roman "Der ewige Gärtner".
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      schrieb am 23.10.01 12:30:35
      Beitrag Nr. 14 ()
      Essay von Umberto Eco

      Leidenschaft und Vernunft

      Der italienische Schriftsteller Umberto Eco über die Vernunft in Zeiten terroristischer Bedrohung.


      AP

      Umberto Eco, 69, gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen Italiens. Mit seinem Schelmenroman "Baudolino" feiert der Philosoph und Schriftsteller derzeit Erfolge in den Bestsellerlisten


      Alle Religionskriege, die jahrhundertelang die Welt mit Blut getränkt haben, sind aus dem leidenschaftlichen Festhalten an vereinfachenden Gegensätzen entstanden, wie etwa Wir und die Anderen, Gut und Böse, Weiß und Schwarz. Wenn die westliche Kultur sich als fruchtbar erwiesen hat, so auch deshalb, weil man im Licht der Untersuchungen und des kritischen Geistes gezwungen wurde, sich von den schädlichen Vereinfachungen zu "befreien".

      Natürlich hat sie es nicht immer so gehalten, weil zur Geschichte der westlichen Kultur auch Hitler gehört, der die Bücher verbrannte, die "entartete Kunst" verdammte und die Angehörigen "minderwertiger Rassen" umbrachte.

      Es sind aber die besten Aspekte unserer Kultur, die wir mit den jungen Menschen aller Hautfarben diskutieren müssen, wenn wir verhüten wollen, dass auch in jenen Tagen, die sie nach uns leben werden, neue Türme einstürzen.

      Was oft Verwirrung schafft, ist die Tatsache, dass verschiedene Dinge nicht auseinander gehalten werden: die Identifikation mit den eigenen Wurzeln; das Verstehen dessen, der andere Wurzeln hat; das Urteil darüber, was gut und was schlecht ist.

      Zu den Wurzeln so viel: Würde man mich fragen, ob ich meine Zeit als Rentner lieber in einem kleinen Dorf im Monferrato ( Hügelland in Piemont, A. d. Ü.), in der majestätischen Bergwelt des Abruzzen-Nationalparks oder in den sanften Hügeln Sienas verbringen möchte, so würde ich mich für das Monferrato entscheiden. Dies aber bedeutet noch lange nicht, dass ich die anderen italienischen Gegenden als dem Piemont unterlegen bewerte.

      Jeder identifiziert sich mit der Kultur, in der er aufgewachsen ist - die Fälle von Wurzelverpflanzungen sind in der Minderzahl

      Wenn daher unser Ministerpräsident mit seinen Worten (für die Menschen im Westen gesprochen und nicht etwa an die Araber gerichtet) ausdrücken wollte, dass er lieber in der Nähe von Mailand als in Kabul leben und sich lieber in einem Mailänder als in einem Bagdader Krankenhaus behandeln lassen würde, so bin ich bereit, seine Meinung zu unterschreiben. Und dies sogar dann, wenn man mir sagte, dass man in Bagdad über das am besten ausgestattete Krankenhaus der Welt verfüge: In Mailand wäre ich zu Hause, und dies würde auch meine Heilungskräfte beflügeln. Die Wurzeln können auch über die rein regionalen oder nationalen Wurzeln hinausreichen. Ich würde, um ein Beispiel zu nennen, lieber in Limoges als in Moskau leben. Wieso das, ist Moskau denn etwa keine wunderschöne Stadt? Gewiss doch, aber in Limoges würde ich die Sprache verstehen.

      Jeder identifiziert sich also mit der Kultur, in der er aufgewachsen ist, und die Fälle von Wurzelverpflanzungen, die es auch gibt, sind in der Minderzahl. Lawrence von Arabien kleidete sich genau wie ein Araber, aber letzten Endes ist er nach Hause gezogen.

      Beschäftigen wir uns jetzt mit dem Gegensatz der Zivilisationen, weil es um diesen Punkt geht. Der Westen, wenn auch nur und häufig aus Gründen der wirtschaftlichen Expansion, ist auf die anderen Zivilisationen neugierig gewesen. Häufig hat er sie verächtlich abgetan: Die Griechen bezeichneten diejenigen als Barbaren, das heißt also als Stotterer, die nicht die griechische Sprache beherrschten, und daher war es, als ob sie überhaupt nicht sprechen könnten.


      AP

      Ruine des New Yorker World Trade Centers: "Wir müssen verhüten, dass in Zukunft neue Türme einstürzen"


      Aber reifere Griechen, wie die Stoiker (vielleicht weil einige unter ihnen phönizischen Ursprungs waren), haben bald darauf bemerkt, dass die Barbaren eine andere als die griechische Sprache benutzten, sich aber auf dieselben Gedanken bezogen. Marco Polo hat versucht, die Sitten und Bekleidung der Chinesen mit großem Respekt zu beschreiben; die großen Kirchenlehrer der christlichen Theologie des Mittelalters haben sich darum bemüht, sich die Texte der arabischen Philosophen, Medici und Astrologen übersetzen zu lassen; die Männer der Renaissance haben sogar in ihren Bemühungen übertrieben, verloren gegangene Weisheiten der Orientalen, von den Chaldäern bis zu den Ägyptern, aufzuspüren; Montesquieu hat sich vorzustellen versucht, wie wohl ein Perser die Franzosen verstehen würde; und die modernen Anthropologen haben sich als erstes Forschungsobjekt die Salesianer ausgesucht, die zwar zu den Bororo gingen, um sie - nach Möglichkeit - zu bekehren, aber auch um zu verstehen, wie sie dachten und lebten.

      Ich habe die Anthropologen erwähnt und sage nichts Neues, wenn ich daran erinnere, dass sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kulturanthropologie als Versuch entwickelt hat, die Gewissensbisse des Westens angesichts der Anderen zu besänftigen - besonders angesichts jener Anderen, bei denen es sich um definitiv Wilde, Gesellschaften ohne Geschichte und primitive Völker handelte.

      Die westliche Kultur hat die Fähigkeit entwickelt, ihre eigenen widersprüchlichen Bedingungen freimütig offen zu legen und zu diskutieren

      Der Westen ist mit den Wilden nicht gerade zartfühlend umgegangen: Er hat sie "entdeckt", sie zu bekehren versucht, sie ausgebeutet und viele von ihnen auch mit Hilfe der Araber in die Sklaverei gebracht, denn die Sklaven, die in New Orleans von gepflegten Edelleuten französischen Ursprungs entladen wurden, waren an den afrikanischen Küsten von muselmanischen Händlern verschifft worden. Die Aufgabe der Kulturanthropologie bestand darin aufzuzeigen, dass Logiken existierten, die von der westlichen Logik verschieden und ernst zu nehmen, nicht aber zu verachten und zu unterdrücken waren.

      Dies hatte nicht zu bedeuten, dass die Anthropologen, nachdem sie einmal die Logik der Anderen erklärt hatten, beschlossen haben, wie diese zu leben; daher kehrten sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach Beendigung ihrer langjährigen Feldarbeit in Übersee nach Devonshire oder in die Picardie zurück, um dort einen unbeschwerten Lebensabend zu genießen. Liest man jedoch ihre Bücher, so könnte man zu dem Schluss kommen, die Kulturanthropologie nehme eine relativistische Position ein und behaupte, eine Kultur sei so gut wie eine andere. Das scheint mir nicht so zu sein. Höchstens sagt der Anthropologe uns, dass man ihre Lebensweise respektieren müsse, jedenfalls so lange, wie die Anderen zu Hause bleiben.




      REUTERS

      Italiens Ministerpräsident Berlusconi: "Jeder identifiziert sich mit der Kultur, in der er aufgewachsen ist"


      Die eigentliche Lektion, die man aus der Kulturanthropologie lernen muss, ist viel eher, dass man sich auf Parameter einigen muss, wenn man sagen will, dass eine Kultur einer anderen überlegen sei.

      Eine Sache ist es zu sagen, was eine Kultur ist, und eine andere Sache, auf Grund welcher Parameter wir sie beurteilen. Eine Kultur kann auf objektive Weise beschrieben werden: Diese Personen verhalten sich so, glauben an Geister oder an einen einzigen Gott, der allein die ganze Natur erfüllt, leben nach diesen oder jenen Regeln in Familienverbänden, halten es für schön, sich die Nase mit Ringen zu perforieren (dies könnte eine Beschreibung der Jugendkultur im Westen sein), halten Schweinefleisch für unrein, lassen sich beschneiden, ziehen Hunde groß, um sie an Festtagen in den Kochtopf zu geben, oder - wie noch die Amerikaner über die Franzosen sagen - essen Frösche.

      Eine andere Sache sind die Parameter der Beurteilung. Sie hängen von unseren Wurzeln ab, von unseren Präferenzen, unseren Gewohnheiten, unseren Leidenschaften, unserem Wertesystem.

      Nehmen wir ein Beispiel. Halten wir die Verlängerung der menschlichen Lebensdauer von durchschnittlich 40 auf 80 Jahre für einen Wert? Ich persönlich bin davon überzeugt, aber Mystiker könnten mir entgegenhalten, dass zwischen einem Schlemmer, der 80, und dem Heiligen Luigi Gonzaga, der nur 23 Jahre alt wurde, der Letztere ein erfüllteres Leben gehabt habe. Aber nehmen wir einmal an, die Verlängerung der Lebensdauer sei ein Wert an sich: Wenn dem so ist, so sind die westliche Medizin und Wissenschaft gewiss vielen anderen Wissensformen und medizinischen Praktiken überlegen.

      Glauben wir, dass die technologische Entwicklung, die Expansion des Handels, die Geschwindigkeit der Transporte Werte an sich sind? Viele sind davon überzeugt und haben das Recht, unsere technische Zivilisation für überlegen zu halten.

      Aber innerhalb der westlichen Welt gibt es eben jene, die einem Leben in Harmonie mit einer unzerstörten Umwelt einen höheren Wert beimessen und daher bereit sind, auf Flugreisen, Autos und Kühlschränke zu verzichten, um Körbe zu flechten und zu Fuß ins Dorf zu gehen, nur um kein Ozonloch zu haben.

      Und daher sehen Sie, dass - will man eine Kultur als der anderen überlegen definieren - es nicht genügt, sie zu beschreiben (wie der Anthropologe dies tut), sondern man sich auf ein Wertesystem berufen muss, das wir für unverzichtbar halten. Nur in diesem Punkt können wir sagen, dass unsere Kultur, für uns, besser ist.

      Man stelle sich vor, die islamischen Fundamentalisten würden eingeladen, den christlichen Fundamentalismus zu studieren - sie würden den eigenen besser verstehen

      Die Verfechter des Dialogs fordern von uns Respekt vor der islamischen Welt und erinnern daran, dass es Männer wie Avicenna (der in Buchara geboren wurde, unweit des heutigen Afghanistan) und Averroes gegeben hat - und es ist eine Sünde, dass immer wieder nur diese beiden angeführt werden, als wären sie die Einzigen. Nicht die Rede dagegen ist von Alkindus, Avempace, Avicebron, Ibn Tufail oder von jenem großen Historiker des 14. Jahrhunderts, der Ibn Chaldun hieß und den der Westen als eigentlichen Begründer der Sozialwissenschaften betrachtet. Wir erinnern uns, dass die Araber aus Spanien schon Geografie, Astronomie, Mathematik oder Medizin pflegten, als man in der christlichen Welt noch ziemlich weit hinterherhinkte.

      Das alles stimmt, aber es handelt sich nicht um Argumente. Denn wollte man auf diese Weise räsonieren, so hieße dies zu behaupten, dass Vinci, eine vortreffliche Gemeinde in der Toskana, New York deshalb überlegen sei, weil Leonardo in Vinci zu einer Zeit geboren wurde, in der in Manhattan vier Indianer auf dem Boden saßen und mehr als 150 Jahre darauf warteten, dass die Holländer landeten, damit diese ihnen die Halbinsel für 60 Gulden abkauften. Dies ist aber unzutreffend, und - ohne irgendjemanden beleidigen zu wollen - das Zentrum der Welt ist heute New York und nicht etwa Vinci. Die Dinge verändern sich.

      Es nützt nichts, sich daran zu erinnern, dass die Araber aus Spanien sich Christen und Juden gegenüber als ziemlich tolerant erwiesen, während von uns die Ghettos überfallen wurden, oder dass Saladin nach der Rückeroberung Jerusalems den Christen gegenüber viel barmherziger war, als die Christen den Sarazenen gegenüber gewesen waren, nachdem diese Jerusalem erobert hatten. Alles Tatsachen, aber in der arabischen Welt gibt es heute fundamentalistische und theokratische Regime, die die Christen dort nicht tolerieren, und Osama Bin Laden ist mit New York nicht gerade barmherzig umgegangen. Andererseits haben die Franzosen in der Bartholomäusnacht ein Massaker veranstaltet, aber dies gestattet es niemandem, sie heute als Barbaren zu bezeichnen.

      Wir wollen nicht die Geschichte bemühen, da sie eine zweischneidige Waffe ist. Die Türken haben gepfählt (und das ist schlecht), aber die orthodoxen Byzantiner rissen den gefährlichen Verwandten die Augen aus, und die Katholiken verbrannten Giordano Bruno; die sarazenischen Piraten machten Rohes und Gekochtes aus ihren Opfern, während die Korsaren mit Freibrief der britischen Krone die spanischen Kolonien in der Karibik in Brand setzten; Bin Laden und Saddam Hussein sind zwar eingeschworene Feinde der westlichen Zivilisation - aber innerhalb dieser westlichen Zivilisation hatten wir es mit Herren zu tun, die Hitler oder Stalin hießen (Stalin war so böse, dass er immer als Orientale definiert wird, auch wenn er im Seminar studiert und Marx gelesen hat).


      AP

      Terroristenführer Osama Bin Laden: "Mit New York nicht gerade barmherzig umgegangen"


      Nein, das Problem der Parameter stellt sich nicht in historischen, wohl aber in zeitgenössischen Kategorien. Einer der lobenswerten Aspekte der westlichen Kulturen (frei und pluralistisch, und dies sind die Werte, die wir für unverzichtbar halten) ist heute, dass man sich seit langem bewusst geworden ist, dass ein und dieselbe Person dazu veranlasst werden kann, bei unterschiedlichen Problemen mit diversen und auch widersprüchlichen Parametern umzugehen. Wir halten beispielsweise die Verlängerung der Lebensdauer für gut und die Umweltverschmutzung für schlecht, aber empfinden es als gut, dass man vielleicht - um die großen Labors zu unterhalten, in denen über die Verlängerung der Lebensdauer geforscht wird - ein energetisches Kommunikations- und Versorgungssystem benötigt, das seinerseits die Umweltverschmutzung nach sich zieht.

      Die westliche Kultur hat die Fähigkeit entwickelt, ihre eigenen widersprüchlichen Bedingungen freimütig offen zu legen. Vielleicht löst sie diese nicht, aber man weiß, dass es sie gibt, und man spricht darüber. Letzten Endes findet sich die ganze Debatte um Global-ja und Globalnein hier: Wie ist ein Ausmaß an positiver Globalisierung erträglich, das die Risiken und Ungerechtigkeiten der perversen Globalisierung vermeidet; wie kann man das Leben auch der Millionen Afrikaner verlängern, die an Aids sterben (und zugleich auch das unsere verlängern), ohne eine weltumspannende Ökonomie zu akzeptieren, die die an Aids Erkrankten vor Hungers sterben und uns verseuchte Nahrung herunterschlucken lässt?



      Doch genau diese Kritik der Parameter, die der Westen verfolgt und ermutigt, lässt uns begreifen, dass die Frage der Parameter delikat ist. Ist es richtig und zivilisiert, das Bankgeheimnis zu schützen? Viele sind davon überzeugt. Wenn aber dieses Geheimnis den Terroristen erlaubt, ihr Geld in der City von London zu halten? Ist dann die Verteidigung der so genannten Privacy ein positiver oder ein zweifelhafter Wert?


      EPA/DPA

      Gefangener Taliban-Kämpfer: "Man stelle sich vor, die islamischen Fundamentalisten würden eingeladen, den christlichen Fundamentalismus zu studieren - sie würden den eigenen besser verstehen"


      Wir stellen unsere Parameter ständig zur Diskussion. Die westliche Welt macht dies in einem solchen Ausmaß, dass sie es den eigenen Bürgern zugesteht, den Parameter der technischen Entwicklung nicht als positiv anzuerkennen und Buddhisten zu werden oder aber in einer Gemeinschaft zu leben, die keine Reifen benutzt, nicht einmal für Pferdekutschen. Die Schule muss lehren, die Parameter, auf denen unsere leidenschaftlichen Behauptungen beruhen, zu analysieren und zu diskutieren.

      Das Problem, das die Kulturanthropologie nicht gelöst hat, lautet: Was macht man, wenn ein Mitglied einer Kultur, deren Prinzipien wir sogar zu respektieren gelernt haben, zu uns zieht und bei uns leben möchte? In Wirklichkeit ist die Mehrzahl der rassistischen Reaktionen im Westen nicht auf die Tatsache zurückzuführen, dass in Mali Animisten leben, sondern dass sich die Animisten bei uns ansiedeln. Was ist aber, wenn sie den Tschador tragen und wenn sie ihre Mädchen infibulieren (Vernähen der Vagina bis zur Hochzeitsnacht, A. d. Ü.) wollen, wenn sie (wie dies bei bestimmten Sekten im Westen der Fall ist) die Bluttransfusion für ihre kranken Kinder ablehnen, wenn der letzte Menschenfresser aus Neuguinea (falls es diese noch gibt) zu uns emigrieren und sich wenigstens jeden Sonntag einen kleinen Jungen rösten möchte?

      Bei dem Menschenfresser sind wir alle einer Meinung: Er wird ins Gefängnis gesteckt. Bei den Mädchen, die im Tschador zur Schule gehen, sehe ich nicht ein, weshalb wir daraus eine Tragödie machen sollten, wenn es ihnen gefällt. Über die Infibulation dagegen ist die Debatte eröffnet (das gilt sogar für denjenigen, der so tolerant ist vorzuschlagen, diese solle von ört-lichen Krankenstationen vorgenommen werden, weil dann die Hygiene gesichert ist). Was aber machen wir beispielweise mit der Forderung, die muslimischen Frauen sollten für die Passfotos mit Schleier fotografiert werden dürfen?

      Wir haben Gesetze, die für jedermann gelten und die Kriterien für die Identifizierung der Bürger aufstellen. Und ich glaube, dass man davon nicht abweichen kann. Wenn ich eine Moschee besuche, ziehe ich mir die Schuhe aus, weil ich die Gesetze und Gebräuche des Gastgeberlandes beachte. Wie halten wir es da mit einem Foto mit Schleier? Ich glaube, dass man in solchen Fällen verhandeln kann. Letzten Endes sind Passfotos ohnehin nur bedingt tauglich. Womöglich hilft man sich demnächst mit einem Fingerabdruck im Pass. Wenn Musliminnen ihrem eigenen Kleiderkodex folgen, aber unsere Schulen besuchen würden, könnten sie auch von Rechten erfahren, die sie nicht zu besitzen glauben - so wie viele aus dem Westen die Koranschulen besucht und sich aus freien Stücken entschlossen haben, Muslim zu werden.

      Seit einigen Jahren gibt es eine internationale Organisation mit dem Namen Transcultura, die eine "alternative Anthropologie" verficht. Sie hat afrikanische Forscher, die nie im Westen gewesen sind, dazu angeregt, die französische Provinz und die Gesellschaft von Bologna zu beschreiben, und ich versichere Ihnen, dass - als wir Europäer gelesen haben, dass zwei der überraschendsten Beobachtungen das Faktum betrafen, dass die Europäer ihre Hunde spazieren führen und man am Strand nackig herumläuft - der gegenseitige Blick von beiden Seiten zu funktionieren begonnen hat und daraus interessante Diskussionen entstanden sind.

      Man stelle sich vor, die islamischen Fundamentalisten würden eingeladen, den christlichen Fundamentalismus zu erforschen - diesmal kommen keine Katholiken ins Spiel, sondern protestantische Amerikaner, die fanatischer als ein Ajatollah sind und in den Schullehrbüchern jeden Hinweis auf Darwin tilgen möchten. Nun, ich glaube, dass das anthropologische Studium des Fundamentalismus anderer dazu dienen könnte, die Natur des eigenen besser zu verstehen. Sie kämen dazu, unser Konzept des Heiligen Krieges zu ergründen (ich könnte ihnen viele interessante Schriften empfehlen, auch neueren Datums), und vielleicht sähen sie die Vorstellung vom Heiligen Krieg in ihrem Fall mit kritischeren Augen. Eigentlich haben wir im Westen über die Grenzen unserer Denkweise nachgedacht, indem wir "La pensée sauvage" ("Das wilde Denken") beschrieben haben.


      DPA

      Schwule beim Hamburger Umzug am Christopher Street Day: "Wie stellt man es an, die Akpzeptanz der Differenz zu lehren?"


      Einer der Werte, von denen in der westlichen Zivilisation viel gesprochen wird, ist die Akzeptanz der Differenzen. Theoretisch sind wir uns alle einig, dass es politically correct ist, in der Öffentlichkeit zu sagen, jemand sei gay, aber zu Hause redet man dann kichernd von einem Schwulen. Wie stellt man es an, die Akzeptanz der Differenz zu lehren? Die Académie universelle des cultures hat eine Website ins Internet gestellt, auf der sich Materialien über diverse Themen finden lassen (Hautfarben, Religionen, Sitten und Gebräuche und so weiter), und zwar für Pädagogen eines jeden Landes, die ihren Schülern beibringen möchten, wie sie jene akzeptieren, die anders sind als sie selbst.

      Zunächst hat man beschlossen, den Kindern keine Lügen aufzutischen, indem man behauptet, alle Menschen seien gleich. Die Kinder bemerken sehr wohl, dass einige Nachbarn oder Klassenkameraden nicht so sind wie sie selbst, sondern eine andere Hautfarbe, Mandelaugen, volleres oder glatteres Haar haben, seltsame Dinge essen und nicht zur Ersten Heiligen Kommunion gehen. Auch genügt es nicht, ihnen zu sagen, dass jeder ein Geschöpf Gottes sei, weil auch die Tiere Geschöpfe Gottes sind, und dennoch haben die Kinder nie eine Ziege im Klassenzimmer gesehen, die ihnen die Rechtschreibung beibringt.

      Man muss den Kindern also beibringen, dass die menschlichen Wesen untereinander sehr verschieden sind, und ihnen genau erklären, worin diese sich unterscheiden, um dann aufzuzeigen, dass diese Unterschiedlichkeiten ein Quell der Bereicherung sein können. Ein Lehrer in einer italienischen Stadt müsste seinen italienischen Schülern helfen zu begreifen, warum andere Kinder zu einer anderen Gottheit beten oder eine andere Musik spielen, die sich anders anhört als Rock`n`Roll. Natürlich müsste ein chinesischer Lehrer chinesischen Kindern, die in der Nachbarschaft einer christlichen Gemeinde leben, dasselbe beibringen. Der nächste Schritt wäre dann aufzuzeigen, dass deren und unsere Musik Gemeinsamkeiten besitzen und dass auch ihr Gott einige gute Dinge empfiehlt.

      Möglicher Einwand: Wir tun es in Florenz, aber machen sie es auch in Kabul? Nun, dieser Einwand ist so weit wie nur möglich von den Werten der westlichen Zivilisation entfernt. Wir begreifen uns als pluralistische Gemeinschaft, weil wir es zulassen, dass bei uns Moscheen gebaut werden, und wir nicht darauf verzichten können, nur weil sie in Kabul die christlichen Propagandisten ins Gefängnis werfen. Wenn wir es doch täten, würden auch wir zu Taliban werden.

      Wir hoffen, dass - da wir die Moscheen bei uns zulassen - es eines Tages christliche Kirchen bei ihnen gibt oder sie die Buddha-Figuren bei sich nicht bombardieren.


      In diesen Zeiten kommen viele merkwürdige Dinge ans Tageslicht. Es scheint so, als wäre die Verteidigung der westlichen Werte die ureigenste Angelegenheit der Rechten geworden, während die Linke sich wie üblich philo-islamisch gibt.

      Dabei ist die Verteidigung der Werte der Wissenschaft, des technischen Fortschritts und der modernen Kultur des Westens im Allgemeinen stets ein Merkmal der laizistischen und fortschrittlichen Flügel gewesen. Auf eine Ideologie des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts haben sich auch alle kommunistischen Regime berufen. Das Kommunistische Manifest von 1848 beginnt mit einer unbefangenen Würdigung der bürgerlichen Expansion. Marx sagt nicht etwa, dass man das Rad neu erfinden und zur asiatischen Produktionsweise übergehen müsse - er sagt vielmehr, das Proletariat müsse sich bestimmte Werte und Errungenschaften des Bürgertums aneignen.

      Umgekehrt ist es immer das reaktionäre Denken (im vornehmsten Sinn des Wortes) gewesen, zumindest beginnend mit der Ablehnung der Französischen Revolution, das sich der laizistischen Ideologie des Fortschritts entgegengestellt hat mit der Forderung, man müsse sich den Werten der Tradition zuwenden. Die ernsthafteren unter den Denkern der Tradition haben sich immer, neben den Riten und Mythen der primitiven Völker oder der buddhistischen Lehre, dem Islam als noch stets aktuellem Quell alternativer Spiritualität zugewendet. Es waren stets sie, die uns daran erinnert haben, dass wir - wenngleich von der Ideologie des Fortschritts ausgetrocknet - nicht überlegen sind und dass wir die Wahrheit bei den mystischen Sufis oder bei den tanzenden Derwischen suchen müssen.

      In diesem Sinn öffnet sich derzeit eine sonderbare Kluft. Aber vielleicht ist dies auch nur ein Zeichen dafür, dass in einer Zeit großer Verwerfungen (und gewiss leben wir in einer solchen) niemand mehr weiß, auf welcher Seite er steht.

      Gerade in einer solchen Zeit muss man es verstehen, dem eigenen Aberglauben wie dem der anderen entgegenzutreten: mit den Waffen der Analyse und Kritik. Ich hoffe, dass diese Themen nicht nur bei Pressekonferenzen angesprochen werden, sondern auch in den Schulen.



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      Übersetzung aus dem Italienischen: Helmut Mennicken.
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      schrieb am 24.10.01 13:52:32
      Beitrag Nr. 15 ()
      Das jüdische Schicksal holt uns ein: David Grossmans israelisches Tagebuch

      Von der Sehnsucht, kein Opfer mehr zu sein: Ein israelisches Tagebuch / Von David Grossman


      Samstag, 13. Oktober

      Der Schabbat eignet sich wunderbar dazu, den Luftschutzraum aufzuräumen. Während meine Frau und ich emsig all das Gerümpel hinausschaffen, das sich seit der Zeit, in der wir das letzte Mal einen Krieg befürchteten (vor einem Jahr, beim Ausbruch der Intifada), dort angesammelt hat, brütet meine kleine Tochter über der Gästeliste für ihren bevorstehenden Geburtstag. Die große Frage lautet: Soll man Tali einladen, obwohl sie bei deren Geburtstag nicht eingeladen war? Wir erörtern das Problem mit dem gebührenden Ernst, schon um wenigstens einen Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Seit den Anschlägen in den Vereinigten Staaten ist uns sogar die Illusion einer täglichen Routine genommen, die Möglichkeit, auf eine logische Kontinuität zu vertrauen. Ständig schwebt der Gedanke in der Luft: Wer weiß, wo wir in einem Monat sein werden.

      Wir wissen bereits, daß unser Leben nicht mehr so aussehen wird wie vor dem 11. September. Als die Zwillingstürme einstürzten, tat sich ein langer, tiefer Riß in der alten Wirklichkeit auf, und durch diesen Spalt dringt nun das dumpfe Donnergrollen all dessen, was daraus hervorbrechen könnte - Gewalt, Brutalität, Fanatismus und Wahnsinn. Alles ist plötzlich möglich. Durch die neue Lage ist die Versuchung, zu zerstören und zu metzeln, gewissermaßen losgetreten und an die Oberfläche der menschlichen Verhaltensweisen geschwemmt worden, ist die Verlockung entstanden, alles Lebende in Stücke zu reißen, vom Körper des einzelnen bis zum Zerschlagen von Gesellschaft, Recht, Staat und Kultur. So nackt und zerbrechlich wirkt plötzlich der Wunsch, das Bestehende und Alltägliche zu wahren. So rührend und sogar heroisch erscheint das Bemühen, irgendeine Routine fortzuführen, Familie, Haus und Freunde zusammenzuhalten (wir beschließen, Tali einzuladen).

      Sonntag, 14. Oktober

      Zum Glück kam der Vorschlag, dieses Tagebuch zu verfassen, in einer Zeit, in der ich gerade eine neue Geschichte zu schreiben begonnen habe. Andernfalls wäre mein Tagebuch vermutlich sehr deprimierend ausgefallen. Es sind schon etliche Monate vergangen, seitdem ich das vorige Buch abgeschlossen habe, und ich spürte, daß die Schreibpause sich bereits negativ bei mir bemerkbar machte. Wenn ich nicht schreibe, habe ich das Gefühl, in Wahrheit nichts zu verstehen. Alles, was mir passiert, sämtliche Ereignisse, Aussprüche und Begegnungen, scheint nebeneinander herzulaufen, ohne sich zu berühren. Aber sobald ich eine neue Geschichte angefangen habe, reiht sich plötzlich alles an einem Faden auf. Jedes Geschehnis nährt und belebt die anderen. Jede Szene, die ich sehe, jeder Mensch, dem ich begegne, ist ein verborgener Hinweis, der darauf wartet, von mir entschlüsselt zu werden.

      Ich schreibe eine Geschichte über einen Mann und eine Frau. Das heißt, sie hat als Kurzgeschichte über einen Mann angefangen, aber die Frau, die er traf - ursprünglich nur als Zufallsbekanntschaft konzipiert, die sich seine Geschichte anhört -, interessiert mich plötzlich nicht weniger als er. Ich frage mich, ob es in literarischer Hinsicht richtig ist, ihr derart nachzugeben. Sie stört das labile Gleichgewicht, das diese Geschichte braucht. Gestern nacht bin ich aufgewacht mit dem Gedanken, ich müßte sie vielleicht ganz herausnehmen und durch eine andere, "blassere" Figur ersetzen, die den Helden meiner Geschichte nicht überschatten würde. Aber als ich sie am Morgen geschrieben sah, konnte ich mich nicht von ihr trennen, zumindest nicht, ohne sie erst ein bißchen besser kennengelernt zu haben. Ich schrieb sie den ganzen Tag.

      Jetzt ist es fast Mitternacht. Wenn ich eine Geschichte schreibe, versuche ich, mit einem unfertigen Gedanken einzuschlafen, einem Gedanken, der mir nicht gänzlich plausibel ist, in der Hoffnung, daß er nachts, im Traum, ausreift. Es ist so aufregend und stärkend, mit Hilfe einer Geschichte der Abstumpfung zu entfliehen, die mir das Leben in dieser Katastrophengegend auferlegt. Es ist so gut, sich wieder lebendig zu fühlen.

      Montag, 15. Oktober

      Immer wieder lese ich in der europäischen Presse feindselige Bemerkungen über Israel. Teils schiebt man dem Land gar die Verantwortung für die jüngsten Ereignisse in die Schuhe. Es empört mich, wie begierig gewisse Kreise Israel als Sündenbock benutzen. Als wäre Israel der eine simple, fast schon alleinige Grund, um den Terror und Haß, den der Westen derzeit zu spüren bekommt, zu "rechtfertigen". Bestürzend ist auch die Tatsache, daß Israel nicht eingeladen wurde, sich der Allianz gegen den Terror anzuschließen, während Syrien und Iran (!) dazugebeten wurden.

      Mir scheint, diese und andere Ereignisse (die Durban-Konferenz und ihre Haltung zu Israel; die rassistische islamische Hetze in dieser Richtung) bewirken einen tiefen Wandel im israelischen Selbstverständnis: Die Israelis, die in ihrer Mehrzahl geglaubt hatten, irgendwie schon der Tragik des jüdischen Schicksals entkommen zu sein, haben jetzt das Gefühl, von ebendieser Tragik wieder eingeholt zu werden. Plötzlich wird klar, wie weit sie noch von dem "verheißenen Land" entfernt sind, wie verbreitet die stereotypen Vorstellungen von "dem Juden" noch leben, ebenso wie der Antisemitismus, der sich häufig hinter extremem (vermeintlich "legitimem") Antiisraelismus verbirgt.

      Ich habe große Kritik an Israels Verhalten, aber in den letzten Wochen spüre ich, daß sich die Feindseligkeit in den Medien nicht nur aus dem Verhalten der Scharon-Regierung speist. Der Mensch spürt so was tief drinnen, subkutan. Ich empfinde es als leises Vibrieren, das bis in meine archaischsten Gedächtniszellen einsickert, bis in die Zeiten, in denen der Jude nicht als Mensch von Fleisch und Blut galt, sondern immer als Sinnbild für etwas anderes herhalten mußte, als Exempel oder haarsträubende Metapher. "Sie stellen also fest", sagte gestern der Moderator am Schluß eines BBC-Programms zu einem arabischen Interviewgast, "daß Israel der Grund für das Unheil ist, das die Welt heute vergiftet. Ich wünsche allen Zuschauern einen guten Abend."

      Dienstag, 16. Oktober

      Schon seit zwei Tagen etwa ist die Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern im Rückgang begriffen. Das an Enttäuschungen gewöhnte Herz weigert sich noch, Optimismus einzulassen, aber wegen der Beruhigung der Lage darf man sich ohne Gewissensbisse dem Schreiben widmen. Die Frau in meiner Geschichte nimmt immer mehr Raum ein. Ich habe keine Ahnung, wohin sie mich führen wird. Sie hat etwas Bitteres und Grenzenloses an sich, das mich ängstigt und anzieht. Immer gibt es diese riesige Erwartung zu Beginn einer Geschichte: daß diese Geschichte mich überraschen wird. Ja, mehr noch - ich möchte, daß diese Geschichte mich regelrecht betrügt; daß sie mich entgegen meiner ausdrücklichen Absicht an den Haaren packt und zu den mir gefährlichsten Orten zerrt. Daß sie alle bequemen und schützenden Gerüste meines Lebens niederreißt und zerbröselt. Daß sie alles auseinandernimmt: mich, meine Beziehung zu meinen Kindern und zu meiner Frau und zu meinen Eltern, zu meinem Land, zu der Gesellschaft, in der ich lebe, und zu meiner Sprache.

      Kein Wunder, daß es so schwierig ist, in eine neue Geschichte einzusteigen. Die Seele erschrickt. Wie alles Lebende strebt sie danach, in ihrer Routine zu verharren. Warum sollte sie bei diesem Selbstzerstörungswerk mitmachen? Was fehlt ihr denn jetzt? Vielleicht brauche ich deshalb so lange, um einen Roman zu schreiben. Als müßte ich in den ersten Monaten Schicht für Schicht einen "grauen Star" von der widerstrebenden Seele abtragen.

      Mittwoch, 17. Oktober

      Nur wer die neuesten Nachrichten nicht gehört hat, lächelt. So schrieb Bertolt Brecht. Morgens um halb acht meldet das Radio den Anschlag auf den israelischen Minister Rechaweam Seewi. Seewi gehörte zu den extremsten israelischen Politikern, was die Haltung gegenüber den Palästinensern betraf. Ich habe seinen Anschauungen nie zugestimmt. Aber ein solcher Terrorakt ist furchtbar und ungerechtfertigt. Dieser Meinung bin ich auch dann, wenn Israel eine palästinensische Führungspersönlichkeit ermordet. Israel - und jeder andere Staat - hat selbstverständlich das Recht, sich zu schützen, wenn ein Terrorist mit einer "tickenden Bombe" am Leib zu einem Anschlag unterwegs ist. Rechaweam Seewi war, trotz seiner Ansichten, nicht so einer.

      Es wird einem angst ums Herz: Wer weiß, wie die Lage jetzt eskalieren wird. In den letzten zwei Tagen hatte sie sich relativ beruhigt, fast wagten wir schon wieder voll durchzuatmen. Nun ist die Falle für uns mit einem Schlag erneut zugeschnappt. Wieder werde ich daran erinnert, wie sehr die unerträgliche Leichtigkeit des Todes über uns herrscht (ich schreibe in dem Gefühl, hier die letzten Tage vor einer großen Katastrophe zu dokumentieren).

      Trotzdem hatte ich gestern einen kleinen, privaten Trostmoment: Wie jeden Dienstag lernte ich mit meiner Chawruta, einem Freund und einer Freundin, mit denen ich mich treffe, um Bibel und Talmud, aber auch Kafka und Agnon durchzunehmen. Die Chawruta ist eine uralte jüdische "Institution", eine Studiengruppe, die in Debatte und spitzfindiger Exegese gemeinsam lernt und den Geist schärft. Mit den Jahren haben wir eine Art privates Idiom der Assoziationen und Erinnerungen entwickelt. Ich bin der "Freidenker" unter ihnen, aber mit diesen guten Freunden führe ich schon zehn Jahre lang einen lebhaften, anregenden und aufregenden Dialog. Wenn wir lernen, finde ich Anschluß an die jahrtausendealte Folge jüdischer Gelehrter und Dichter. Ich stoße zum Urgrund der hebräischen Sprache und des jüdischen Denkens vor. Ich verstehe plötzlich den Code, der im gesellschaftlichen und politischen Verhaltenskodex des heutigen Israel verborgen liegt. Bei aller Verwirrung und Verlorenheit, die mich umgeben, habe ich plötzlich ein Gefühl der Zugehörigkeit.

      Donnerstag, 18. Oktober

      Alles bricht zusammen. Israelische Truppen dringen in das palästinensische Ramallah vor. Ein Tag der Gefechte. Sechs Palästinenser werden getötet, darunter ein zehnjähriges Mädchen und ein hoher PLO-Mann, der für die Ermordung mehrerer Israelis verantwortlich war. Ein israelischer Staatsbürger wird von Palästinensern erschossen, die aus dem Dorf des zuvor getöteten PLO-Mannes stammen. Der labile Waffenstillstand ist dahin, und wer weiß, wie lange es dauern wird, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Ich rufe einen der Menschen an, mit denen ich in solchen Momenten die Verzweiflung teilen kann: Achmed Harb, ein palästinensischer Schriftsteller aus Ramallah. Ein Freund. Er erzählt mir von den Schüssen, die er hört. Erzählt auch von dem Optimismus, der bis vorgestern, bis zur Ermordung Seewis, unter den Palästinensern aufgekommen war. "Sieh dir an, wie die Extremisten beider Seiten zusammenarbeiten", sagt er, "und sieh, mit welch durchschlagendem Erfolg . . ." Vorgestern hatte Israel, erstmals seit Wochen, die Abriegelung Ramallahs aufgehoben. Nach dem Mord an Seewi wurden die Blockaden wieder errichtet. Ich frage, ob ich irgendwie helfen könne. Er lacht: "Wir wollen nur Bewegungsfreiheit, aus der Stadt ein- und ausgehen können."

      Zwischen den Nachrichtensendungen, den Sirenen der Krankenwagen und dem Geknatter der Hubschrauber, die ständig am Himmel kreisen, versuche ich mich abzuschotten und darum zu ringen, an meiner Geschichte weiterzuschreiben. Nicht um der Wirklichkeit den Rücken zu kehren - die Wirklichkeit ist da, wirkt ohnehin wie eine Säure, die jede Schutzschicht "auffrißt" -, sondern in dem Gefühl, daß in der gegenwärtigen Lage allein schon der Akt des Schreibens zur Protesthandlung wird, zu einem Akt der Selbstbestimmung in einer Lage, die mich buchstäblich auszulöschen droht. Wenn ich schreibe oder phantasiere oder auch nur eine einzige neue Wortverbindung schaffe, gelingt es mir gewissermaßen - für kurze Zeit -, die Willkür und Despotie "der Lage" zu überwinden. Einen Augenblick lang bin ich kein Opfer.

      Freitag, 19. Oktober

      Die Woche geht ihrem Ende zu. Die Ereignisse haben sich derart überstürzt, daß ich über viele wichtige und liebe Dinge nicht mehr schreiben konnte: über meinen Sohn, der ein surrealistisches Stück für die Theatergruppe seiner Oberschule verfaßt, und über das Fußballspiel zwischen Manchester United und Deportiva la Coruña, das wir uns gemeinsam angesehen haben (mit dem skandalösen Tor, das Barthez einstecken mußte); über meine Tochter, die eine wissenschaftliche Studie über ihren Wellensittich anfertigt; über meinen Ältesten, der seinen Militärdienst leistet und um den ich ständig in Sorge bin; und auch über unseren fünfundzwanzigjährigen Hochzeitstag diese Woche, den wir in großer Sorge feierten: Wird es uns gelingen, diesen verletzlichen Familienverband auch in den kommenden Jahren zu bewahren?

      So viele geliebte Dinge und private Momente gehen wegen Angst und Gewalt verloren. Soviel Kreativität, Phantasie und Verstand werden heute auf Zerstörung und Tod gerichtet (oder auf den Schutz der eigenen Existenz gegen Zerstörung und Tod). Manchmal hat man das Gefühl, daß die meisten Energien in die Wahrung der Daseinsgrenzen investiert werden. Ich fürchte, wenn es hier keinen Frieden gibt, werden wir alle langsam wie eine Rüstung, in der kein Ritter mehr steckt.

      Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.

      Der israelische Schriftsteller David Grossman lebt in Jerusalem, wo er 1954 geboren wurde. Zuletzt erschien der Roman "Wohin du mich führst".
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      schrieb am 25.10.01 16:09:49
      Beitrag Nr. 16 ()
      Im Auge des Hurrikans: Ruhe, wo man sie nicht vermutet hätte

      In Teheran findet sich, wovon Europa derzeit nur träumen kann / Von Hans Magnus Enzensberger


      Personenverzeichnis

      Die germanistische Nonne. Man darf ihr nicht die Hand geben; das gehört sich nicht; man begrüßt sich, indem man die linke Hand aufs Herz legt. Tief verhüllt, scheint sie schüchtern. Ihr Deutsch ist leise und vorzüglich. Nach einer Viertelstunde vorsichtiger Höflichkeit das erste Lächeln. Bald zeigt sich, daß sie mit der Herrschaft des Klerus nichts im Sinn hat. Sie liebt Hölderlin und Goethe. Was fromm ist, entscheidet sie selber.

      Die Künstlerin. Kaum im Haus, nimmt sie das Kopftuch ab. Aber dann zeigt sich, daß sie von Tatsachen nichts wissen will. Das Attentat vom 11. September haben auf keinen Fall islamische Terroristen zu verantworten. Die Amerikaner haben es selber organisiert; eine Intrige der Zionisten, hinter welcher der Mossad steckt. Zwölf iranische Gäste hören ihr höflich zu, heben die Augen gen Himmel. Sie sind Dummheiten gewöhnt. Ihre Toleranz beweist, daß sie die Meinungsfreiheit über alles schätzen.

      Der Bazari als Außenseiter. Er lädt den Fremden, der nichts kaufen will, zum Tee ein, weil er sich unterhalten möchte. Auf seinem Schreibtisch steht ein Fähnchen mit dem Sternenbanner. Er wünscht sich, daß die Amerikaner eine Bombe auf die "Mullahs" werfen. Mit dieser Ansicht steht er vermutlich ziemlich allein. Aber darin, daß er sagt, was er denkt, ist er sich mit der Mehrheit der Iraner einig; niemand nimmt hier ein Blatt vor den Mund.

      Der kleine Kardinal. Das feine Priesterlächeln der hochgestellten Persönlichkeit, die formvollendete Geste, das leutselige Händereiben, wie man es aus dem Vatikan kennt. Ein islamischer Gelehrter, der an der Weisheit der Theokratie zweifelt. Der politische Zwang schade der Religion; die Jugend wende sich von der reinen Lehre ab. Das Argument wird in sibyllinischen Wendungen geäußert. Die folgende Diskussion, an der sich andere beteiligen, erinnert an die erasmischen Disputationen der Reformationszeit in Europa.

      Der zielbewußte Student. Er spricht den Fremden auf dem Naghsh-e-Jahan, dem herrlichen zentralen Platz Isfahans, an. Er hat vor, in Deutschland Informatik zu studieren; deshalb möchte er seine Sprachkenntnisse ausprobieren. Schon allein, daß er keinen Bart trägt, ist eine kleine Herausforderung an die Revolutionswächter. Zu Hause verfügt er über einen Internetanschluß. Triumphierend erzählt er, daß ihm sein Vater erlaubt, zwei Freundinnen ins Elternhaus einzuladen. Überall tastet die zivile Kühnheit die Grenzen des Erlaubten ab.

      Der Star des Leidens. Markantes Profil, weißer, buschiger Schnurrbart. Scharen von schwarzverhüllten jungen Mädchen umschwärmen den berühmten Schriftsteller. Seine Erzählungen sind vom schwärzesten Pessimismus eingefärbt. In der Diskussionsrunde drückt er seine Verzweiflung über sein Land und über die Menschheit aus. Nirgends ein Ausweg. Beim Mittagessen in Schiraz, im Garten des Palastes, gibt er sich gutgelaunt und speist mit gutem Appetit.

      Der Dichter als Orakel

      Alle lesen, singen, zitieren Hafis. Das ganze Land scheint, was dieser Mann vor siebenhundert Jahren hervorgebracht hat, auswendig im Kopf zu haben. Sein Buch der Lieder liegt neben dem Koran auf dem Nachttisch, und die einfachsten Leute benutzen es als Orakel. Man öffnet das Buch aufs Geratewohl, sticht auf ein paar Zeilen, und sogleich weiß der Dichter Rat in allen Lebenslagen. Auf der Straße kann man für ein paar Pfennige ein Glücksbriefchen kaufen; der Zettel, den man herauszieht, sagt einem Perser offenbar mehr als jedes Horoskop.

      Einen Dichter, der eine vergleichbare Rolle spielen könnte, wird man auf der ganzen Welt schwerlich finden. In seiner Heimatstadt Schiraz wird Hafis Jahr für Jahr gefeiert. An seinem prächtigen Grab versammeln sich Tausende. Auch drei deutschsprachige Schriftsteller waren diesmal zum Fest eingeladen, und in ihrer Statistenrolle wurden sie freudig begrüßt. Lange Unterhaltungen im Spiegelsaal eines kleinen Palastes über den "West-Östlichen Divan", Hafis und Goethe; aber was anderswo zur akademischen Übung geraten wäre, hier ging es bald um die zentralen Probleme des Irans. Wie Salman Rushdie wurde Hafis einst zur Zielscheibe einer Fatwa; seine Lieder wurden verbrannt; nur die mündliche Überlieferung hat sie gerettet. Der Dichter war ein großer Kenner des Korans. Das hat ihn nicht gehindert, ein ausschweifender Liebhaber zu sein, den Knaben wie den Frauen zu huldigen, zu trinken, was das Zeug hält, und sich über Schriftgelehrte und Pharisäer lustig zu machen:

      Zweiundsiebzig Glaubenslehren

      klauben Worte leer und tot;

      ihnen tagt, sie zu bekehren,

      nie der Wahrheit Morgenrot.

      Vergeblich versucht die Orthodoxie seit Jahrhunderten, den Skandal der Poesie loszuwerden, indem sie dem Dichter mit haarsträubenden Interpretationen das Wort im Munde herumdreht - ein weiteres Indiz dafür, daß die alten Landessitten, und sei`s auch nur sub rosa, jeder Diktatur widerstehen.

      Die Dunkelkammer

      der Reformen

      Das Schachspiel, eine persische Erfindung: verboten. In der Öffentlichkeit singen: ein strafwürdiges Vergehen. Rasieren: Indiz für Ketzerei. So hat es angefangen nach der islamischen Revolution vor zweiundzwanzig Jahren. Heute macht man sich über solche Vorschriften lustig, und längst hat eine ordentliche Stadtverwaltung im Park die steinernen Schachtischchen wieder aufgestellt: eins der vielen winzigen Anzeichen dafür, daß ein Wind der Veränderung durch das Land weht.

      "Millimeterarbeit", sagt der Architekt aus alter Familie, der wieder bauen darf, was er will. "Ein lautloses Tauziehen. Wie alle Reformprozesse der Geschichte ein ständiges Stop-and-go. Nach dem Tauwetter der Rückfall in den Frost. Dann werden ein paar Schriftsteller vom Geheimdienst ermordet und alle Zeitungen verboten, die schreiben, was der Fall ist. Bis die Ajatollahs, die allmählich dazugelernt haben, einsehen müssen, daß der Terror keine gute Idee ist, daß er die Erosion des Regimes nur beschleunigt. Das kann sich noch ein Jahrzehnt lang hinziehen. Aber wir sind ein geduldiges Volk, und wir wollen kein Blut sehen. Lieber leben wir in der Schizophrenie."

      Schizophren ist auch die Verfassung der Islamischen Republik Iran, ein bizarres Dokument - einerseits gibt es eine parlamentarische Demokratie mit allen Institutionen, die dazugehören, andererseits, hoch darüberschwebend, mit Allah als einziger Legitimation, einen Wächterrat und einen Obersten Führer, die niemand gewählt hat und die im Zweifelsfall immer das letzte Wort haben. Nur das Machtkalkül kann ihren Eifer bremsen. Aber man hat dazugelernt. Man weicht zurück, wo es nicht anders geht, und übt sich in der ruhigen Hand. So in der neuen außenpolitischen Konstellation; daß das Land sich aus dem Krieg heraushält, gefällt allen, auch der großen Mehrheit, die das Regime satt hat. Auf den Straßen von Teheran herrscht eine Gelassenheit, von der Europa nur träumen kann.

      Die Asymmetrie des Dialogs

      Eigentlich ist es gar nicht erlaubt, sich nach einer Reise in ein Land, dessen Sprache man nicht versteht, über dessen Lage zu äußern. Aber wenigstens kann man zuhören und notieren, was man nebenbei erfährt.

      "Immer werft ihr uns mit den Arabern in einen Topf. Islam, Islam, Islam, ich kann es nicht mehr hören. Den Iran hat es schon längst gegeben, bevor der Erzengel Gabriel den Propheten zum Diktat einbestellte. Der Koran ist ein Import der muslimischen Eroberer. Was ist der Irak, was ist Jordanien? Das sind Länder, die das Foreign Office in London erfunden hat! Wir dagegen wissen seit ein paar tausend Jahren, wer wir sind.

      Aber davon wollt ihr ja nichts wissen. Für uns ist der Westen eine Sehnsucht, die ihr nicht erwidert. Eure Medien halten sich lieber an das, was ihr verabscheut."

      So deutlich wie dieser Soziologe äußert sich selten jemand im Iran. Dafür sorgt schon die exquisite Höflichkeit, der man in allen Schichten begegnet und für die es im Westen kein Beispiel gibt.

      Wer etwas von der Größe und der Tragik dieser Kultur verstehen will, der sollte sich vielleicht gar nicht erst auf die labyrinthischen Diskurse der Politik einlassen, sondern auf die Erzählungen, auf die Gedichte der Iraner hören oder sich die erstaunlichen Filme eines Kiorastami, eines Makhmalbaf, eines Majidi ansehen. Dort erfährt man mehr als aus jeder Zeitung von Zorn und Hoffnung, Depression und Vitalität einer Gesellschaft, die zu verkennen ziemlich albern ist. Wer sich blind und taub stellt, und das gilt für beide Seiten, der wird so leicht keinen Ausweg finden.

      Gemeinsam mit seinen Kollegen Adolf Muschg und Raoul Schrott ist der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in diesen Tagen von einer Reise nach Iran zurückgekehrt. Die Eindrücke, die die Schriftsteller aus Teheran, Schiraz oder Isfahan mitgebracht haben, werden wir im Verlauf der nächsten Tage im Feuilleton veröffentlichen.

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.10.2001, Nr. 248 / Seite 47
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      schrieb am 25.10.01 16:14:49
      Beitrag Nr. 17 ()
      "Ground Zero" der Gewalt


      Gestern wurde in der Zürcher Wasserkirche der Fischhof-Preis an Josef Estermann und Rolf Bloch verliehen. Der Laudator nahm dies zum Anlass, über Gewalt nachzudenken.

      Von Adolf Muschg


      Als mich Herr Feigel zu einer Rede über Gewalt einlud, hatte ich sie schon vor dem 11. September fertig; danach konnte ich sie wegwerfen. Das Datum hat die Welt verändert. Oder hat es sie zur Kenntlichkeit entstellt?
      .....
      .....Meine Stieftochter lebte in Lower Manhattan, an der 14. Strasse. Am 11. September war sie nicht erreichbar. Als sie sich mit lebendiger Stimme meldete, berichtete sie von einem Kirchenbesuch im Sperrbezirk. Die Leute bildeten einen Kreis, hielten einander fest, tauschten sich über ihre Angst aus, die schreckliche Sorge um die Vermissten. Plötzlich sagte ein junger Mann: "Ich möchte wissen, warum wir so gehasst werden." Die Runde sei verstummt. Einer nach dem andern sei hinausgegangen, und der Letzte habe sich nach dem jungen Mann, der fast alleine geblieben sei, umgedreht und drei Worte gesagt: "Shame on you." ......

      .....Jetzt verwenden sie Hitzeschutzkörper, um die Sting-Raketen von sich abzulenken, die sie den Taliban, ihren Freunden, gegen den russischen Feind geliefert hatten. Wer Menschen, die er eigentlich nicht getötet haben will, als "Collateral Damage" bezeichnet, scheint früher oder später "Friendly Fire" auf sich zu ziehen . . .


      Shame on me.


      Doch wie vermeide ichs nur, dass mir in dieser plötzlich ver-rückten Welt verräterische Zusammenhänge auffallen, umgekehrte Analogien, Spiegelverkehrtheiten? Unser Freund, das Kino, hat das Lebensgefährliche auf ein harmloses Format heruntergefahren. Unser Feind, der Terrorist, sprengt das Format. Um uns zu töten, setzt er harmlos aussehende Mittel ein. Kartonschneider. Oder ein Bio-Gift, das man mit Backpulver verwechseln kann. Mit der Folge, dass anonyme Komplizen mitten unter uns nur Backpulver in einen Briefumschlag tun müssen, um beim Empfänger, der es mit Anthrax verwechselt, die grösste Wirkung zu erzielen. Das Terrorpotenzial der Spassgesellschaft muss erheblich gewesen sein, wenn sie auf solchen Jux scharf bleibt
      .....


      der artikel, die rede ist lang.... sehr lesenswert.. bitte ausdrucken und bei gelegenheit lesen!

      http://www.tages-anzeiger.ch/ta/taZeitungRubrikArtikel?ArtId…
      Avatar
      schrieb am 26.10.01 10:39:52
      Beitrag Nr. 18 ()
      Das Firmament ohne Schweizer Kreuz

      Himmelsöhi, hilf! Mein Land in seiner größten Krise / Von Thomas Hürlimann


      Nachdem Dieter Wellershoff, Ingo Schulze und ich den Joseph-Breitbach-Preis erhalten hatten, standen wir rauchend zusammen und fragten uns, wie wir die hohe Preissumme vermehren könnten. "Machen wir es wie Breitbach", schlug Schulze vor, "gehen wir an die Börse! Hürlimann, haben Sie einen Tip?" Ich nickte. Die Swissair-Aktie, erklärte ich mit Kennermiene, sei im Keller, aber unsere Regierung, der Bundesrat, werde einen Konkurs mit allen Mitteln verhindern. Drei Tage später schlugen die Banken zu. Der Bundesrat war machtlos. Das Schweizer Wappen, bisher auf allen Startbahnen der Welt ein flagrantes Heckzeichen für unsere Potenz, blieb am Boden. Ende einer Airline. Ende einer Ära?

      Glücklicherweise sind weder meine Kollegen noch ich dem Börsentip gefolgt, aber ich gebe zu, daß ich meiner Sache völlig sicher war. Ein Firmament ohne Schweizer Kreuz konnte ich mir nicht vorstellen, womit ich des weiteren zugebe, daß auch ich, wie die meisten meiner Landsleute, im sicheren Glauben lebte, unser Ländchen reiche sternenweit über sich selbst hinaus. Ja, bis in diese unseligen Herbsttage hinein, da das weiße Kreuz im roten Feld vom Himmel fiel, bewohnten wir Schweizer nicht eine, sondern zwei Schweizen. Wir führten ein perfektes Doppelleben, und wir führten es, was sonst nur Wahnsinnigen gelingt, die zur gleichen Zeit in der Zelle einer Klinik und als Napoleon in einem Kommandozelt sitzen, gleichzeitig in zwei grundverschiedenen Räumen. Zum einen gehörte uns eine große, transzendentale Schweiz: Hier wurden unsere Geschäfte besorgt, und zum andern eine kleine, konkrete, überschaubare: Hier wurde das Politische erledigt. Natürlich war uns eine gewisse Gefahr stets bewußt. In Wien, das wußten wir, hatte man die Libido entdeckt, in Zürich die Schizophrenie. Doch waren beide Räume demselben Prinzip unterstellt, einem protestantischen Leistungs- und Erfolgszwang, weshalb es uns keine Mühe machte, unser Doppelwesen als Einheit zu empfinden. Das Sturmgewehr des Bürgersoldaten und die Anzüge des international tätigen Geschäftsmannes paßten gut in denselben Schlafzimmerschrank, schließlich trieb man beides mit demselben Eifer, ja mit religiöser Inbrunst, das Schießen und das Scheffeln.

      Nur wer im Wohlstand lebt, hatte Calvin den Genfern ins Gewissen gepredigt, sei Gott ein Wohlgefallen. Das bedeutet, daß sowohl der einzelne als auch die Gemeinschaft, also der Staat, an der eigenen Bonität den Grad der göttlichen Gnade ermessen konnten. Man mußte prosperieren, allein dazu war der Mensch auf der Welt. Als Zwingli das verludert-fröhliche Zürich in eine sittenstrenge Krämerstadt verwandelte, verbot er folgerichtig das Theater und die Bilder. Wozu brauchte es die Kunst, da wir doch selber, wir mit unseren Taten, das Abbild einer höheren Ordnung waren. Seither weist der Schweizer seine Frömmigkeit auf dem Konto nach, selbstverständlich anonym, es geht ja nur IHN etwas an, und ebenso pflichteifrig sucht er an den Sonntagen, wenn die alten Glocken läuten, die Wahl- oder Abstimmungsurnen auf, um einen der Seinen zum Rat zu küren, eine neue Schnellstraße zu verhindern oder den Kredit für den Umbau eines Kindergartens zu genehmigen. Letzteres fällt uns leicht. In den engen Bezirken des Landes läßt sich auf persönlicher Ebene sachbezogen, das heißt radikal demokratisch, politisieren. Aber nur schwer, sehr schwer war der göttliche Auftrag im Wirtschaftlichen zu erfüllen, da gab der arme karge Boden am Alpenrand kaum lösbare Probleme auf. Also haben ihn unsere Gründerväter verlassen und ihr Vermögen in den Versuch investiert, die Produkte des Landes planetenweit zu lancieren. Das Risiko wurde belohnt. Die Schweiz entwickelte sich zu einem global player vor der Zeit. Unsere Uhren, Psychopharmaka, Schokoladen eroberten den Weltmarkt, und vor allem das religiös besetzte Geldwesen ließ das dörfliche Städtlein zu einem Super- und Supragebilde werden, das die geographischen Grenzen unermeßlich weit überstieg.

      Ein Staat, zwei Räume. Im Trust der Schweiz AG waren wir globale Kapitalisten und im "Schweizerhaus", wie wir das Land in Liedern preisen, wurzelgrundverbundene Eidgenossen. Und weil wir, ähnlich wie die Schizophrenen, beide Figuren nicht etwa hälftig, sondern total waren, sah es ganz danach aus, als würden wir mit unserem Doppelleben doppelt so erfolgreich sein wie die Eindimensionalen der anderen Staaten. Die zweifache Schweiz, die große und die kleine, hatte sich im Griff. Während die Trust-Türme wuchsen, blieb die Kirche im Dorf. Nein, wir drehten nicht durch, höchstens hielten wir, auch darin den Verrückten ähnlich, einzig uns für normal.

      Dann passierte es. Der Eiserne Vorhang fiel, die alte Ordnung stürzte ein, und die bis anhin blockierte West-Ost-Welt warf sich in eine rasante Beschleunigung hinaus. So bekamen wir Doppelraumbewohner ein Problem mit der Zeit, genauer: mit zwei Zeiten. Denn im Schweizerhaus galt nach wie vor das Postkutschentempo, da ging der Bürger im sonntäglichen Spazierschritt. Die andere Welt jedoch, die große, worin wir mit unseren Geldern und Marken ja ebenfalls zu Hause waren, drehte sich immer schneller, sie machte die Börse zum Roulettetisch und religiös fundierte Geschäftstugenden zu alten Zöpfen. Die neue Weltzeit war das kapitalistische Blitztempo, und bei uns herrschte nach wie vor die gut eidgenössische Langsamkeit mit Landsgemeinden, Volksinitiativen und einem Bundespräsidenten, der wie alle anderen in der Straßenbahn zur Arbeit fuhr.

      Mit den beiden Räumen, wie gesagt, waren wir gut und anständig zurechtgekommen. Es war uns geglückt, mit beiden Beinen im Trust, im Schweizerhaus und auf dem Boden der Tatsachen zu stehen. Aber nun begannen wir die alte Standsicherheit zu verlieren, und wir verloren sie so rasch, wie die beiden Zeiten auseinanderliefen.

      Ich stamme aus Zug und weiß, wovon ich rede. Als ich Primarschüler und Ministrant war, lebte das Städtchen am See im trauten Trott des neunzehnten Jahrhunderts, man war bürgerlich, bieder, brav. Dann beschloß man, den Steuerfuß zu senken, und wie durch Zauberei war man über Nacht ein internationaler Finanzplatz geworden, eine von Haifischreitern aus aller Welt angeschwommene Bucht. Ohne daß sich äußerlich viel geändert hätte - nach wie vor hingen Geranientöpfe von den Perrondächern der Bahnstation -, erfuhr der knapp 20 000 Einwohner zählende Kantonshauptort einen Aufsturz zum viertgrößten Ölumschlaghandelsplatz der Welt, und natürlich funktionierte dieser nach anderen Gesetzen und Geschwindigkeiten als die Kommune mit ihren Parteien, Zünften, Vereinen. Ein Städtchen. Zwei Räume. Zwei Zeiten, und da die eine immer langsamer, die andere immer schneller wurde, entwickelten sie mit- und gegeneinander eine explosive Kraft - da tickte, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Zeit-Bombe. Als sie hochging, hat sie uns den doppelten Heimatboden wohl für immer unter den Füßen weggerissen. Vielleicht, ein gefährliches Vielleicht, geschah es nicht zufällig in diesem Herbst, kurz vor dem Swissair-Debakel. Ein Wahnsinniger hatte die Spannung der Zeitspaltung nicht mehr ausgehalten. Die Bilder sah die Welt. Im Kantonsparlament, das für den Nachmittag einen gemeinsamen Ausflug ins Zisterzienserkloster Frauental traktandiert hatte, lagen vierzehn Menschen in ihrem Blut, von einem Einheimischen mit dem Sturmgewehr erschossen.

      Am Vorabend seines siebzigsten Geburtstags saß hoch über dem Vierwaldstättersee auf einer Hotelterrasse Gottfried Keller und entdeckte in einem Glückwunschtelegramm, das ihm der Bundesrat geschickt hatte, einen grammatikalischen Fehler. Korrigiert ließ er das Blatt zurückgehen. Dann loderten auf allen Höhen die Feuer auf. Sie feierten ihn, den Staatsdichter, und erinnerten Keller an seine ursprüngliche Absicht, den "Martin Salander" mit einer Brandkatastrophe enden zu lassen. "Sodom und Gomorrah über dieses Goldgrüblein", hatte er notiert, "Pech und Schwefel über eine Republik, die nur noch ein Basar ist, ein Kapitalistenkontor."

      Keller, ein bärtiger Achtundvierziger, sah am Abend seines Lebens den "wahren liberalen Staat, die echte Demokratie", zu einer "Fest-, Schwindel- und Kapitalhütte" heruntermusiziert. Prophetische Worte! Aber als Interpretation der eigenen Zeit erscheinen sie mir zu hart. Was Keller verschimpfte, war immerhin ein Staat, der sich zu Recht als Sonderfall verstand, als risiko- und selbstbewußter Gegenentwurf zu den Kaiserreichen. Wer dort verfolgt wurde, war in der Schweiz willkommen. Im Tessin unterhielt Bakunin eine Anarchistenschule, von den Behörden offiziell genehmigt. Dem abwesenden Friedrich Nietzsche zahlten die Basler ein volles Jahrzehnt lang sein Professorengehalt. Und Henri Dunant war es gelungen, unser Landeswappen in ein Symbol für Hilfe und Rettung zu transformieren.

      Damals, Kellers bitterer Bilanz zum Trotz, scheinen sich Ideal und Wirklichkeit in einer gesunden Balance gehalten zu haben. Gewiß, schon bewohnte man zwei Räume. Aber noch liefen die Zeiten im Schweizerhaus und im Kapitalistenkontor synchron. So konnte, was wahre Staats- und Gesellschaftsfreunde geschaffen hatten, von einem Volk der Ober-, Mittel- und Unterschicht wacker weitergetragen werden, ins neue Jahrhundert hinaus, dem Land und seinem Ruf zum Nutzen. Lenin oblag im Zürcher Niederdorf seinen Hegel-Studien (und ärgerte sich über Schweizer Sozialdemokraten, die, bevor sie ihre Abstimmungsparolen diskutierten, erst einmal einen Wurstsalat bestellten). Ein paar Schritte weiter tanzten die Dadaisten, und der Limmat entlang spazierte James Joyce in die Kronenhalle, wo den damals noch unbekannten Dichtern und Malern gelegentlich die Zeche erlassen wurde. Sie dankten es mit Gedichten und Bildern. Heute sind sie Millionen wert. Hulda Zumsteg, der Wirtin, erging es wie dem Land. Die Gastfreundschaft hat sich ausgezahlt, und wie.

      Wieso bekam Keller trotzdem recht? Wann ging die Balance zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen den beiden Zeitgeschwindigkeiten verloren?

      Am 8. Mai 1945, als der Krieg zu Ende war, debattierte die Landesregierung, ob man sich zu den Verlierern rechnen oder zu den Siegern zählen dürfe. Die Botschafter der Alliierten waren abgetaucht. Sie wollten mit diesen Tresoristen, die vom Krieg prima gelebt hatten, nichts zu tun haben. Da faßte der Bundesrat einen Beschluß: Fahnen heraus! Glockengeläute aller Kirchen! Auch wir, lautete die Botschaft, sind Helden. Aufrechte, gute Eidgenossen, die dem Bösen widerstanden haben. Ein Pyrrhussieg. Es mag ja clever gewesen sein, sich unblutig durch den Krieg zu schummeln, aber gefährlich wurde es, die Schummelei in eine Heldensage umzufrisieren. Vorerst allerdings sah es aus, als würden die Wunden der Geschichte ohne Narben verheilen. Die Schweiz AG funktionierte wie geschmiert. Und nur dann, wenn allzu bodenständig auf die frühe Vergangenheit verwiesen wurde, nicht mehr auf den Liberalismus von 1848, sondern auf 1291, auf die Rütliwiese und Vater Tell, wurde merkbar, daß das Land zwanghaft bemüht war, die jüngste Geschichte auszublenden. Die Spannung zwischen der modernen Schweiz und ihrem historischen Unterbau wurde größer. Schon knirschte es im Gebälk. Aber die politische Schweiz, vom wirtschaftlichen Erfolg geblendet, dachte nicht daran, sich der Zeit zu stellen. Lieber flüchtete sie in ein "Mythenspiel" (1991, zur Siebenhundertjahrfeier). Das Ur-Alte, gleichsam Ewige, sollte die Moderne tragen.

      Eines Nachmittags saßen der Schriftsteller Otto F. Walter und ich am Ufer des Vierwaldstätter Sees. Walter war krank auf den Tod, Lungenkrebs, aber dennoch ließ ihn das Schicksal des Landes nicht los. Es ging um eine wichtige Abstimmung, Beitritt zum EWR: ja oder nein. Hoben wir den Blick, sahen wir zur Terrasse hinüber, wo vor gut hundert Jahren der große Keller saß. Wie hätte er gestimmt, fragten wir uns. Und waren der Meinung, daß die Schweiz noch einmal den Mut zum Sonderfall haben müßte. Die Eurokratie lehnten wir ab. Unsere Bürgerrechte wollten wir bewahren. Sollte es uns gelingen, die jüngste Geschichte aufzuarbeiten, davon waren Walter und ich überzeugt, würden wir eine Chance haben, die real existierende Schweiz ihrem Ideal wieder näher zu bringen. Am Abstimmungssonntag machte es den Anschein, als gehörten wir zu den Siegern. Das Gegenteil war der Fall. Nicht wir, nicht die Grünen, nicht die radikale Linke hatte gewonnen - unser Fähnlein war der eigentliche Verlierer. Denn über Nacht hatte sich von der Rechten her eine Figur auf die Schweizer Politbühne gewuchtet, die unsere Absichten diskreditierte und die tumultuöse, teils handgreifliche Schlacht gegen Europa praktisch im Alleingang entschied.

      Blocher heißt die Figur. Pfarrerssohn und Chemieunternehmer. An seiner Seite eine sympathische, strategisch denkende Gattin. In seinem Rücken eine Mannschaft, die sich aus der ehemaligen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei rekrutierte. Wackere Mannen mit Hosenträgern. Politfolkloristen, hoffnungslos aus der Zeit gefallen, aber Blocher, dem selbsternannten Landesbewahrer, gelang ein Kunststück. Nein, er war dieses Kunststück. Ja, in seiner Person verkörperte der fromme Zwinglianer zwei Zeiten, zwei Geschwindigkeiten, zum einen das Schneckentempo der demokratischen Abläufe und zum andern die Rasanz des global player, der an allen Börsen der Welt gleichzeitig präsent ist. Wahrhaft ein Tribun! Und das Volk liebte ihn, weil Blocher ebenjenen Widerspruch in sich vereinte, der das Land zu spalten drohte: hie die kapitalismusgeschwinde Wirtschaft, hie die währschaft bedächtige Politik; hie die Verwurzelung auf der kleinen Rütliwiese und hie die Zugehörigkeit zum weltengroßen Handelsraum.

      Blocher wird die Schweiz nicht übernehmen. Denn Blocher, alles andere als ein bewegender Geist, ist ganz und gar ein Körper, in dem die Spannung, die an und in uns reißt, eine Zeitlang Platz nehmen konnte. Eine Zeiterscheinung. Allerdings eine mit zwei Zeiten, zwei Geschwindigkeiten, und wenn ich nun, ein Resümee wagend, sagen soll, wo wir heute stehen, kann ich melden: kurz nach Blocher. Er hat seinen Zenit überschritten. Beide Vektoren haben ihre Endpunkte erreicht. Rasanter, globaler kann sich unsere Wirtschaft nicht mehr geben, und verzweifelter, dümmlicher dürfen wir Eidgenossen nicht versuchen, uns an den Hosenbeinen der Rütliväter festzuhalten. Dafür war die Swissair ein Fanal. Das Schweizer Kreuz ist aus dem globalen Himmel abgestürzt.

      Also ein Untergang? Nein. Das Ende einer Airline, das Ende einer Ära. Eine Enttäuschung, gewiß, aber es muß und wird uns gelingen, sie als Ent-Täuschung wahrzunehmen. Zukünftig darf es nicht mehr angehen, daß wir uns über die totale Differenz unserer Zeitgeschwindigkeit hinwegmogeln. Wir müssen wissen: Der Riß ist da. Das einst so stabile Land hat sich dynamisiert. Die Politik sollte schleunigst aus ihrem Sonntagsschritt herausfallen und endlich dafür sorgen, daß die Zeiten der Financiers, die unseren Staat zur Gangsterbank gemacht haben, vorbei sind, für immer vorbei. Eile tut not. Sollten nämlich die Amerikaner, was viele Schweizer, auch ich, befürchten, in den Höhlen Afghanistans ein paar Kontonummern finden, die in unsere Tresorschächte verweisen, würde es dem Land ergehen wie seiner Fluggesellschaft.

      Möge Gott, in dem wir ja seit je eine Art Himmelsöhi sehen, diese schlimmstmögliche Wendung der Geschichte verhindern. Möge es uns vergönnt sein, ein paar gut eidgenössische Eigenheiten durch den Sturzfluß der Neuzeit zu retten, zum Beispiel die direkte Demokratie, die perfekt funktionierende Bundesbahn und last but not least deren Kondukteure, von denen schon Bakunin geschwärmt hat. Wer kein Billet habe, könne an seinem Ankunfts- oder Wohnort nachzahlen. Das sei die wahre, die gütige Herrschaft. Im übrigen würde der Schweizer Kondukteur, so Bakunin, seine Uniformmacht nie dazu mißbrauchen, die Passagiere zu schikanieren, sondern sei stets dafür besorgt, daß die Züge rechtzeitig abführen und rechtzeitig ankämen. Richtig, Michail Alexandrowitsch, genau darum geht`s: um ein vorsichtiges Einhalten der Zeiten.

      Der Schriftsteller Thomas Hürlimann, geboren 1950 in Zug, lebt in Einsiedeln. Zuletzt erschien sein Roman "Fräulein Stark".

      Ein Staat, zwei Räume. Wir waren globale Kapitalisten und wurzelgrundverbundene Eidgenossen.

      Als die Zeit-Bombe hochging, hat sie uns den doppelten Heimatboden wohl für immer unter den Füßen weggerissen.

      Wenn ich nun, ein Resümee wagend, sagen soll, wo wir heute stehen, kann ich melden: kurz nach Blocher.

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2001, Nr. 249 / Seite 49
      Avatar
      schrieb am 26.10.01 10:57:30
      Beitrag Nr. 19 ()
      SCHMEEERRRRRZZZZ!!!!

      ICH BIN BETROFFEN

      es ist kaum auszuhalten, welches bild sich seit mittwoch bietet: unsere airline am boden zerstört und jetzt:




      Ein Bild des Grauens

      Nach der Brandkatastrophe, bei der mindestens elf Menschen starben, soll der Schweizer Gotthardtunnel bis Ende des Jahres geschlossen bleiben. Rettungsdienste befürchten, dass unter den Trümmern weitere Tote liegen. 128 Personen sind noch vermisst gemeldet.
      ******

      die wohl wichtigste nor-süd verbindung europas wird für lange zeit ausfallen........

      es ist, als ob alles zu einem riesigen programm gehören würde, alles lahmzulegen !!!!!


      DIESER THREAD GEFÄLLT MIR SOWEIT GUT, NACH DEM 11.SEPT. SIND VIELE VIELE GUTE ARTIKEL ERSCHIENEN, TEXTE, DIE MAN SONST IN DER QUALITÄT EHER IN BÜCHERN FINDET.

      ABER

      WAS THOMAS HÜRLIMANN (SCHWEIZER AUTOR) DA IM ARTIKEL SCHREIBT:

      Die Swissair-Aktie, erklärte ich mit Kennermiene, sei im Keller, aber unsere Regierung, der Bundesrat, werde einen Konkurs mit allen Mitteln verhindern

      DAS ÄRGERT MICH ÜBER ALLE MASSEN...... DAS IST/WAR DIE BLINDHEIT, DIE SICH DIE SCHWEIZER LEISTETEN: HÜRLIMANN IST BUNDESRATSSOHN, ERKENNT VIELE EINFLUSSREICHE LEUTE ETC. - DASS SOGAR DIE OBERE KLASSE AN DIESEN MIST GEGLAUBT HAT, DASS DIE AIRLINE ZU RETTEN SEI, DAS GIBT SCHWER ZU DENKEN!!

      DER ARTIKEL WURDE VOR DEM UNGLÜCK IM GOTTHARD GESCHRIEBEN, MAN HAT DEN LEUTEN JA AUCH GESAGT, DIE TUNNELS SEIEN SICHER....

      TJA
      Avatar
      schrieb am 26.10.01 11:06:29
      Beitrag Nr. 20 ()
      Teilsperrung der Schweiz für den Schwerverkehr?

      --------------------------------------------------------------------------------

      Weil der Gotthardtunnel während mehrerer Monate gesperrt bleiben dürfte, will der Bund mit der EU über eine Teilsperrung des Landes für den Schwerverkehrtransit verhandeln.




      Michel Egger, Vizedirektor des Bundesamts für Strassen.

      [TA/ap] - Die hochalpinen Passstrassen über San Bernardino, Simplon und Grossen St. Bernhard können den zusätzlichen Verkehr niemals auffangen, sagte der Vizedirektor des Bundesamts für Strassen, Michel Egger, in einem am Freitag veröffentlichten Interview der «Neuen Zürcher Zeitung». Fraglos müssten deshalb möglichst bald Gespräche mit der EU über eine Teilsperrung der Schweiz für den Schwerverkehrtransit aufgenommen werden.
      Avatar
      schrieb am 26.10.01 13:32:09
      Beitrag Nr. 21 ()
      Folgende texte sind in diesem thread zu finden:


      paul auster

      Jetzt beginnt das 21. Jahrhundert
      paul auster gibt ein buch heraus mit seinen texten zum 11.9.2001



      gore vidal

      Terroranschläge in Amerika Terrorismus, und was nun? Ein Gespräch mit Gore Vidal



      mario erdheim

      Gegenterror ist nicht das Gegenmittel



      kurzkommentare von

      Hugo Loetscher, Schriftsteller

      Georg Kohler Professor für Philosophie

      Peter Stamm Schriftsteller

      Frederick Forsyth Thriller-Autor



      Arundhati Roy

      Terror ist nur ein Symptom



      judith miller

      Fear Hits Newsroom in a Cloud of Powder



      John Le Carré

      Ein furchtbarer Polizeieinsatz im Tarnmantel des Krieges



      Umberto Eco

      Der italienische Schriftsteller Umberto Eco über die Vernunft in Zeiten terroristischer Bedrohung



      David Grossman

      Von der Sehnsucht, kein Opfer mehr zu sein: Ein israelisches Tagebuch



      Hans Magnus Enzensberger

      Im Auge des Hurrikans: Ruhe, wo man sie nicht vermutet hätte



      Adolf Muschg

      "Ground Zero" der Gewalt



      Thomas Hürlimann

      Das Firmament ohne Schweizer Kreuz
      Avatar
      schrieb am 27.10.01 13:39:02
      Beitrag Nr. 22 ()
      Günter Grass

      Die Politik des Westens geht unterm Strich auf Kosten der Dritten Welt


      Bei den Wahlen in Berlin ist fast jede zweite Stimme im Osten Berlins an die PDS gegangen. Fühlen Sie sich in Ihrer alten These bestärkt, daß bei der Wiedervereinigung vieles falsch gemacht wurde und daß wir noch immer unter den Fehlern der Wendezeit zu leiden haben?

      Ja. Und nun wird hoffentlich die Gelegenheit genutzt, Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Einheit künftig nicht nur auf dem Papier steht. Der Regierende Bürgermeister von Berlin wäre wohlberaten, aus dem Wahlergebnis die Konsequenz zu ziehen und eine Koalition gemeinsam mit den Grünen und der PDS einzugehen. Der FDP wäre als Regierungspartei bei einer knappen Mehrheit von nur zwei Mandaten ohnehin nicht zu trauen. Sie legt sich zur Zeit mit jedem ins Koalitionsbett, auch mit Herrn Schill, wie wir in Hamburg erlebt haben. Das Votum fast der Hälfte der Bürger, die in Ost-Berlin leben, zu ignorieren wäre regelrecht verhängnisvoll. Der PDS gehört nicht meine Liebe, weiß Gott nicht, und ich kenne ihre Macken und ihre Mängel, aber ich sehe auch, daß sie sich verändert hat, was nicht allein Gysis Verdienst ist; ich glaube, daß Bisky in seiner ruhigen Art beim Abstreifen der SED-Vergangenheit die entscheidende Rolle gespielt hat. Die Stadt Berlin sollte eine Partei dieser Größenordnung beim Wort nehmen. Bis jetzt konnte die PDS den Bürgern große Versprechungen machen, aber wenn sie es mit dem kargen Berliner Haushalt zu tun bekommt, wird sie merken, was das heißt, Regierungsverantwortung zu übernehmen, und das sollte man ihr nicht ersparen.

      Die PDS hat Macken? Das ist aber milde formuliert. Wenn man über Berlin hinaussieht, muß man sich doch fragen, ob es in der gegenwärtigen weltpolitischen Situation das richtige Signal ist, wenn eine Partei mit der Geschichte der PDS Regierungsverantwortung in der Hauptstadt trägt.

      In der Nachkriegszeit konnten Sie in allen Parteien alte Nazis finden, einige in der SPD, weitaus mehr in der CDU und zeitweise noch ausgeprägter in der FDP. Ich will das nicht verdammen. Viele von ihnen haben dann versucht, sich zu Demokraten zu läutern, und wären sie nicht aufgenommen worden, hätten wir eine sehr starke rechte Partei in Deutschland gehabt. Wenn man damals so gehandelt hat, welches Recht haben wir heute, auf unsere angeblich reine westdeutsche Weste zu verweisen? Abgesehen davon ist nur ein Bruchteil der SED-Mitglieder in die PDS eingetreten. Aber die Partei und Gysi haben natürlich den Anfangsfehler gemacht, auf eine Neugründung zu verzichten, weil man das SED-Vermögen an Land ziehen wollte. An diesem Fehler trägt die PDS noch immer. Man kann jedoch nicht vom Vorherrschen der alten Kader sprechen, im Gegenteil, das Erscheinungsbild der Partei läßt erkennen, wie viele junge Leute in die PDS gegangen sind.

      Gegen die klammheimliche Aufnahme alter Nazis in demokratische Parteien haben die Achtundsechziger vehement protestiert, Stichwort Restauration. Der Vorwurf war berechtigt. Und nun befürworten Sie das gleiche unter anderen Vorzeichen?

      Wenn ich nur daran denke, daß wir einen Bundeskanzler Kiesinger hatten, einen Ministerpräsidenten Filbinger, die beide in der Nazizeit Schlimmes gemacht haben - Kiesinger war Parteigenosse seit 1933 und während des Krieges im Auswärtigen Amt für Propaganda zuständig -, dann zeigen Sie mir einen in der heutigen PDS, der aus SED-Zeiten etwas Vergleichbares am Stecken hätte.

      Aber welchen Nutzen hätte Berlin von einer Regierungsbeteiligung der PDS?

      Zuerst einmal den wohltuenden Effekt, daß sich die ganze Stadt vertreten fühlt, was bis jetzt nicht der Fall ist. Das Wahlergebnis spiegelt das sehr deutlich. Zum anderen, wie ich schon sagte, würde die PDS in Regierungsverantwortung genommen und müßte mit dem kargen Berliner Haushalt wirtschaften. Der dritte Vorteil ist eine stabile Koalition, zu der auch die Grünen gehören sollten. Ich halte Gysi übrigens durchaus für befähigt, auch ein schwieriges Ressort zu übernehmen.

      So schwierig wie das des Kultursenators?

      Zum Beispiel, ja.

      Außenpolitisch stellt sich Schröder dar als jemand, auf den die Vereinigten Staaten hundertprozentig zählen können. Kann er das mit derselben Glaubwürdigkeit, wenn die Hauptstadt mit von der PDS regiert wird?

      In Frankreich haben Kommunisten Regierungsverantwortung übernommen, und Frankreich hat dadurch außenpolitisch nicht an Glaubwürdigkeit verloren. Ich glaube, daß das zögerliche Verhalten der Industrie, als es um die Zwangsarbeiter ging, dem Ruf Deutschlands mehr geschadet hat, als eine Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin es jemals könnte. Doch die schrittweisen Veränderungen der PDS in den letzten Jahren bedeuten nicht, daß die SPD all das vergessen darf, was seit der Zwangsvereinigung zur SED mit Sozialdemokraten in der DDR geschehen ist. Ich bin sicher, daß Klaus Wowereit, falls er das Wagnis einer Koalition eingeht, das im Gedächtnis haben wird.

      Gut, um die PDS machen Sie sich also keine Sorgen. Aber wie steht es mit Ihrer alten Partei, der SPD, mit Schröders Versprechungen, mit der Regierungsrhetorik seit dem 11. September?

      Bei aller Geneigtheit meinerseits zur rot-grünen Koalition, die nach wie vor da ist: Von Schröders Formulierung, mit der er "uneingeschränkte Solidarität" zusagt, halte ich nichts. Ich halte sehr viel von Solidarität mit dem großen, übermächtigen Bündnispartner Vereinigte Staaten, aber eine uneingeschränkte Solidarität ist ein schlechter Freundschaftsdienst. Wenn ich mit jemandem befreundet bin und mich mit ihm solidarisch fühle, muß ich auch in der Lage sein, ihm dann, wenn er etwas falsch macht, in den Arm zu fallen, ihm zu widersprechen; sonst kommt eine blinde Solidarität heraus, die das Denken einschränkt. Entsprechend sind mittlerweile die Reaktionen. Jede Kritik am Verhalten der USA wird sofort mit dem Schlagetotwort "Antiamerikanismus" eingeebnet. Selbst der Innenminister bringt solche Wortungeheuer ins Spiel. Das ist töricht. Der einzelne Intellektuelle, der in der Gruppe mitgescholten wird, wird das überleben, aber diese Art, demokratische Grundrechte einzuschränken, Maulkörbe verpassen zu wollen, ist vom Ergebnis her jedesmal ein Triumph der Terroristen. In dem Augenblick, in dem wir das schmälern, was wir verteidigen müssen und zu Recht verteidigen wollen - die Demokratie und ihre Grundrechte -, besorgen wir das Geschäft der Terroristen.

      Aber wo sind die Maulkörbe hier bei uns in Deutschland?

      Die Schelte, die von Herrn Schily pauschal den Intellektuellen in Deutschland gegenüber geäußert wurde, muß zurückgewiesen werden. Was in Deutschland kritisch gesagt wird - und ich schließe mich da ein -, ist ja noch harmlos gegen das, was amerikanische Intellektuelle in ihrem eigenen Land sagen. Und auch dort gibt es mittlerweile eine Stimmung, die an McCarthy-Zeiten erinnert. Was zum Beispiel in Ihrer Zeitung Susan Sontag in zwei Artikeln geschrieben hat (F.A.Z. vom 15. September und 11. Oktober) oder John Le Carré (F.A.Z. vom 17. Oktober) und Arundhati Roy (F.A.Z. vom 28. September) veröffentlicht haben, geht weit über das hinaus, was unsereins zu sagen gewagt hat.

      Permanent wird in diesen Tagen von der Rolle Deutschlands in der Weltpolitik gesprochen. Hat Deutschland sein Selbstbewußtsein noch immer nicht gefunden?

      Das ist natürlich ein weiteres Zeichen von Unsicherheit: großspuriges Auftreten einerseits, mangelndes Selbstbewußtsein andererseits. Deshalb meint man, der Versicherung der Solidarität, die ich als geboten ansehe angesichts der Terroranschläge in New York und Washington, ein vermeintlich stützendes Wort wie "uneinge-schränkt" hinzufügen zu müssen; deshalb buhlt man nun geradezu darum, einen militärischen Beitrag leisten zu dürfen. Das halte ich für übertrieben und unangemessen. Überdies wirkt es fast schon beschämend, wenn von amerikanischer Seite aus welchen Gründen auch immer bis jetzt darauf verzichtet wurde. Ich sehe ganz andere Möglichkeiten für einen deutschen Beitrag. Militärische Aktionen werden das Problem nicht lösen. Wir müssen aus unserer Erfahrung Dinge einbringen, die die Vereinigten Staaten offenbar nicht zu leisten imstande sind, weil sie ganz aufs Militärische setzen. Wir sollten gemeinsam mit anderen europäischen Ländern jetzt und rechtzeitig vor Einbruch des Winters mit großangelegten Hilfsaktionen die Versorgung der afghanischen Bevölkerung gewährleisten. Wenn man Mut beweisen will, gibt es viele Gelegenheiten, das in Afghanistan zugunsten der Zivilbevölkerung zu tun. Und noch etwas könnte von Deutschland ausgehen, und es hätte noch mehr Gewicht. Wir haben in den sechziger und siebziger Jahren einen Politiker in Deutschland gehabt, der erst Bundeskanzler war und dann Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission: Willy Brandt. Wenn man seinen "Nord-Süd-Bericht", den er damals vorlegte, heute zur Hand nimmt, sieht man, was vom Westen versäumt wurde und was den virulenten Terrorismus mit verursacht hat. Während uns alle noch der Ost-West-Konflikt beschäftigte, hat Brandt rechtzeitig auf den kommenden Nord-Süd-Konflikt hingewiesen. Helmut Schmidt hat kürzlich in einem Fernsehinterview zugegeben, daß die SPD-Regierung damals alle Hände voll mit Ost-West zu tun hatte und weder die Brisanz des Nord-Süd-Problems noch die Hellsichtigkeit Brandts wahrnehmen wollte oder konnte. Willy Brandt forderte eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, bei ihm fiel zum ersten Mal der Begriff "Weltinnenpolitik". Daran fehlt es bis heute. Man kann nicht die Demokratie verteidigen wollen, wenn man sich mit Staaten verbündet, die vorher in der Sprache des amerikanischen Präsidenten als Schurkenstaaten bezeichnet worden sind. Und was zur Zeit auf militärischem Feld geschieht, schafft eine neue Generation von Terroristen.

      Aber was tun, wenn Willy Brandts Erbe selbst in seiner eigenen Partei in Vergessenheit geraten ist?

      Dann bin ich jetzt derjenige, der die Partei daran erinnert. Sie soll das Buch aus den Bibliotheken herauskramen und nachschlagen. Dann wird sie auf den zweiten Pfeiler von Brandts politischem Erbe stoßen - neben der Entspannungspolitik. Brandt konnte nicht voraussehen, daß die Globalisierung die Lage der Staaten der Dritten Welt zusätzlich erschweren würde, das muß man heute mit berücksichtigen. Die Denkrichtung jedoch hat Willy Brandt vorgegeben.

      Die Denkrichtung seiner Parteigenossen heute ist aber eine ganz andere. Wenn sie das Wort "Globalisierung" hören, denken sie nicht an den Nord-Süd-Konflikt, sondern an die Green Card.

      Da haben Sie sicher recht, doch das wird mich nicht hindern, und sei es auf penetrant unangenehme Weise, der SPD, der nach wie vor meine Sympathie gehört, mahnend auf die Sprünge zu helfen.

      Sie haben ja nie davor zurückgeschreckt, anzuecken oder sich unbeliebt zu machen. Vor einigen Tagen hat der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, Sie wegen einer Interview-Äußerung heftig attackiert. Sie haben der israelischen Regierung "kriminelle" Handlungen vorgeworfen. Spiegel hat daraufhin gesagt, Sie stellten Israels Existenzrecht in Frage: "Sieht man sich seine (Grass`) Worte näher an, dann lautet seine Botschaft: Israel muß weg."

      Wer mein Interview liest, wird feststellen, daß ich etwas gesagt habe, was viele Kritiker der jetzigen israelischen Politik auch als Bürger Israels fordern und viele Juden in Deutschland und sonstwo in der Welt: Daß man sich auf das Abkommen von Oslo zurückbesinnen muß, daß die besetzten palästinensischen Gebiete geräumt werden müssen. Zusätzlich habe ich betont, daß auch die widerrechtlichen, auf kriminelle Art und Weise ins Land gesetzten israelischen Siedlungen geräumt werden müssen, wenn man Frieden will. Ich habe nie davon gesprochen, daß der Staat Israel in seinen Grenzen in Frage gestellt werden soll. Wie käme ich dazu? Ich bin mit vielen Menschen in Israel befreundet und bin auf ihrer Seite; und weil ich auf ihrer Seite bin - wie in meinem Verhältnis zu Amerika, aber auch zu Deutschland -, fühle ich mich zur Kritik verpflichtet. Und ähnlich wie im Fall Amerikas wird diese Kritik an den herrschenden Verhältnissen jetzt als antiisraelisch bezeichnet. Ich begreife Herrn Spiegel, den ich für einen vernünftigen Mann halte, nicht. Ich behalte mir vor, kriminelle Handlungen als kriminell zu bezeichnen. Ich bin auch der Meinung, daß der jetzige Ministerpräsident von Israel sich im Libanon kriminell verhalten hat und daß sein Besuch auf dem Tempelberg in Jerusalem eine bewußte Provokation war, verurteilungswürdig in einer so gefährlichen Situation. Das wird man sagen dürfen und sagen müssen.

      Paul Spiegel sagt, daß Ihre Äußerungen Sie auf eine Stufe mit den radikalen Feinden Israels stellen.

      Auch Herr Spiegel wird mich nicht daran hindern, weiter ein Freund Israels zu sein.

      Manche Reaktion in diesen Tagen mag einem übertrieben erscheinen, anderes wirkt wie aus der Vergangenheit zurückgekehrt. Wer Otto Schily über "Rasterfahndung" sprechen hört, muß der sich nicht auf seltsame Weise in die siebziger Jahre zurückversetzt fühlen?

      Wobei man ironischerweise anmerken muß, daß es Schily guttäte, wenn er sich selbst erinnern würde an eine Zeit, in der er zu Recht als Anwalt den Staat und seine Maßnahmen kritisiert hat, wie die Isolationshaft, um nur ein Beispiel zu nennen. Damals mußte man ihm zustimmen. Er war auf der anderen Seite und hat genau das befürchtet, was ich heute befürchte: daß der Rechtsstaat seine Basis schmälert. Andererseits ist die Bedrohung nicht von der Hand zu weisen, und ich fürchte, daß der Terrorismus, der mit dem 11. September zutage trat, noch verstärkt werden könnte. Ich sehe das rechtsradikale Potential, Wut und Enttäuschung, die in Haß umschlagen, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Dieses Potential und der Terrorismus, der aus den Staaten der Dritten Welt kommt, könnten sich verbünden. Schon heute verbindet sie der Haß auf die Juden. Mich hat deshalb nicht überrascht, daß der amerikanische Präsident zugeben mußte, daß die jüngsten Anschläge mit Milzbrandbakterien nicht etwa auf Bin Ladin zurückzuführen sind, sondern womöglich aus Amerika kommen. Dort gibt es ein starkes, bis an die Zähne bewaffnetes rechtsradikales Potential, größer als in jedem anderen Land auf dieser Welt. Ich kann nur hoffen, daß ich mich irre. Aber die Gefahr eines solchen Bündnisses sollte zumindest gesehen werden.

      Kann man da wirklich von einer Verbindung sprechen? Handelt es sich nicht vielmehr um die Gleichzeitigkeit von Phänomenen, die inhaltlich gar nichts miteinander zu tun haben?

      Ich sage nur, daß die Praxis, unheilige Allianzen zu schließen, Schule macht. Und eine unheilige Allianz zwischen den Terroristen um Bin Ladin oder ähnlich motivierten anderen Gruppierungen und rechtsradikalen terroristischen Ambitionen ist durchaus denkbar. Gemessen an der Gefahr, ist es falsch und simpel, alles auf den Namen Bin Ladin zu reduzieren. Schlim-mer: Es ist ein Zeichen von Hilflosigkeit. Die Situation ist komplexer. Und so muß auch die Antwort komplexer sein. Ich habe ja schon darauf hingewiesen, daß militärische Schläge keine Lösung sind, nur zu mehr Opfern, zu mehr Haß führen. Der Westen muß die Kraft finden, zu fragen, was er falsch gemacht hat. In Brandts "Nord-Süd-Bericht", der vor mehr als zwanzig Jahren erschien, kann man nach-lesen, welche Fehler gemacht worden sind - Fehler, die seitdem wiederholt wurden. John Le Carré hat in Ihrer Zeitung beschrieben, welche Chancen wir verpaßt haben, als die Sowjetunion zusammenbrach. Die große Chance des Westens 1990 wäre gewesen, die frei werdenden Ressourcen für so etwas wie einen großen Marshallplan zugunsten des Ostens und der Länder der Dritten Welt zu nutzen.

      Der Westen - eine endlose Kette von Verbrechen, Fehlern, Versäumnissen?

      Das sage ich nicht. Natürlich gibt es ein Mitverschulden in den einzelnen betroffenen Ländern, etwa wenn sie mit korrupten Regierungen auf ungute Weise gesegnet sind; wobei man allerdings auch sagen muß, daß etliche dieser korrupten Regierungen von den reichen Staaten gefördert wurden und sich nur deshalb halten konnten. All das müßte man im einzelnen untersuchen, aber unterm Strich geht die Politik des Westens bislang immer auf Kosten der Staaten der Dritten Welt. Und ich habe meine Zweifel, ob der Westen die Kraft aufbringt, von eigenen vordringlichen Interessen abzusehen, sich wirklich globale Gedanken zu machen und die Dritte Welt als gleichberechtigt miteinzubeziehen. Wenn man das täte, wäre es ein entscheidender Schritt, um dem vorhandenen Terrorismus auf Dauer das Wasser abzugraben, ihn auszudörren. Wenn man es nicht tut und sich nur auf Militärschläge und Geheimdienstaktionen verläßt, wird eine Generation von Terroristen nach der anderen heranwachsen. Aber ich will noch auf etwas anderes hinweisen, das bezeichnend ist für das Verhältnis des Westens zur Dritten Welt: die Art und Weise, wie wir Tote zählen. Darin liegt eine ständige Beleidigung der Toten in den Staaten der Dritten Welt. Die Anschläge in Washington und New York mit annähernd sechstausend Toten sind eine furchtbare und durch nichts zu entschuldigende Tat. Als innerhalb von zwei, drei Jahren in Bosnien annähernd 250 000 muslimische Bosnier durch Kroaten und Serben ermordet wurden, standen Trauer und Nachdenklichkeit in keinem Verhältnis zu dem, was die sechstausend Toten in New York und Washington ausgelöst haben. In Ruanda, wo der Westen sich sträflicherweise aus der Verantwortung gezogen hat, gab es groben Schätzungen zufolge 800 000 Ermordete, die die Welt kaum zur Kenntnis genommen hat. Vor dieser unterschiedlichen Zählweise muß ich mich selber hüten, weil ich natürlich in dieser reichen westlichen Welt lebe und mit Erschrecken, mit Trauer erlebt habe, was in New York geschah. Erst mein zweiter oder dritter Gedanke gilt den vielen, vielen Toten, die nach dem Embargo gegenüber dem Irak zu beklagen waren und von denen kaum jemand spricht. Oder denken Sie jetzt an Afghanistan. Ich rede nicht von den zivilen Opfern durch Bombenangriffe, das Sterben hat in Afghanistan viel früher angefangen. Wenn wir nicht lernen, diese Toten als gleichwertige Tote zu sehen, werden wir den Kampf für unsere eigenen demokratischen Grundrechte verlieren.

      Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy hat unlängst auf die verhungerten Kinder im Irak und die durch sowjetische Minen verkrüppelten Kinder in Afghanistan hingewiesen.

      Zu Recht! Ihr Hinweis sollte sich uns ins Gedächtnis graben und uns dazu bringen, in Zukunft zumindest den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich hätte diesen Text nie so schreiben können; bei Arundhati Roy spürt man die Wut, die kontrollierte Wut einer Betroffenen. Ich finde ihre Kritik berechtigt, zumal sie nicht mit Kritik an der eigenen Regierung spart, an der indischen wie der pakistanischen. Sie sieht auch das Versagen im eigenen Land.

      Eine Passage dieses intensiv diskutierten Artikels hat besonders heftige Reaktionen heraufbeschworen. Darin bezeichnet Arundhati Roy Bin Ladin als dunklen "Doppelgänger" von George W. Bush.

      Es ist ein überspitztes Bild, aber was den Sprachgebrauch betrifft, ist da etwas dran. Amerika ruft gerne voreilig Kreuzzüge aus: Gut gegen Böse, the american way of life als einzig gangbaren Weg menschlicher Existenz. Es ist eine Anmaßung, jetzt auch noch die Welt teilen zu wollen in eine zivilisierte Hälfte und eine andere, die unausgesprochen die "unzivilisierte" Welt heißt. Gleichzeitig verbündet sich Amerika unter Inkaufnahme des Tsche-tschenien-Krieges mit Putin und unter Inkaufnahme der Unterdrückungsmaßnahmen in China mit dem chinesischen Staatspräsidenten, also nach amerikanischen Kategorien mit Schurkenstaaten. Wenn man die USA ein wenig kennt, weiß man, wie stark dort in den verschiedensten Glaubensgemeinschaften fundamentalistische Traditionen gepflegt werden, woraus sich manche Formulierung Bushs erklären läßt. Mich erinnert dies auf eine sehr unangenehme Weise an religiöse Fundamentalisten, und zwar christliche wie muslimische.

      Mit V. S. Naipaul erhält in diesem Jahr ein Kritiker des Islam den Literaturnobelpreis. Ähnlich wie Sie gehörte er viele Jahre lang zum engsten Kandidatenkreis. Zählte Naipaul auch zu Ihren Favoriten?

      Nein. Naipaul ist ein bemerkenswerter Schriftsteller, dessen politische Äußerungen zur Dritten Welt in mir jedoch einen Gegner finden.

      Naipaul kritisiert den Islam auch aufgrund persönlicher Erfahrungen. Welches Verhältnis haben Sie zum Islam?

      Ich war mehrfach in Indien und auch kurz in Bangladesch, einem zwangsislamisierten Land, wo man die hinduistische Bevölkerung vertrieben oder ermordet hat. Zur Rolle des Islam in diesen Ländern, aber auch zur gemeinsamen blutigen Geschichte verweise ich auf die Bücher meines liebenswerten Kollegen Salman Rushdie: "Mitternachtskinder" und "Scham und Schande". Man kann nur hoffen, daß die ganze Region - Pakistan mit seiner Grenze zu Indien und dem Kaschmir-Konflikt - nicht explodiert. Während meines halbjährigen Aufenthalts in Indien war ich an einigen Orten, Slums vor allem, wo Muslime und Hindus friedlich zusammenleben. Und dann, so hat man mir dort erzählt, kommen fanatische Politiker und stiften ein paar Jugendliche an, ein Schwein durch die kleine Moschee zu hetzen. Und sofort sind die Messer gezückt.

      Sie haben gerade Rushdie erwähnt. Hätten Sie erwartet, daß in diesem Jahr vielleicht Rushdie den Nobelpreis bekommt? Anders gefragt: Hätten Sie es der Akademie empfohlen?

      Ich darf Empfehlungen aussprechen, und in diesem Fall kann ich es ja sagen: Ich habe der Schwedischen Akademie Mut gemacht, einmal unbescheiden zu sein und im Jubiläumsjahr einem schwedischen Schriftsteller, nämlich Per Olof Enquist, den Nobelpreis zu geben. Seine Grundhaltung, seine gesellschaftliche und politische Einmischung bei großem schriftstellerischen Können, das schätze ich sehr. Aber man hat nicht auf mich gehört.

      Sie haben sich in letzter Zeit mehrfach für die umstrittene Novellierung des Urheberrechtsgesetzes engagiert.

      Wir müssen endlich ein Urheberrechtsgesetz bekommen, das die magere Bezahlung von Schriftstellern und Übersetzern, auch was die Zweit- und Drittverwertung von Rechten betrifft, beendet. Wir können als einzelne gegen die Lobby der Verlage und der Rundfunkanstalten nicht ankommen, aber ich möchte darauf hinweisen, daß jedes Verlagshaus ohne die Arbeit der Autoren ein leeres Gehäuse wäre, es mag noch so prächtig gebaut sein. Die Verlags- und Verwerterseite neigt dazu, diese Urheberschaft zu übersehen, zu vernachlässigen. Im Grunde genommen sind wir Autoren die Arbeitgeber der Verleger.

      Aber noch nie haben Autoren soviel Geld bekommen, so hohe Vorschüsse bekommen wie zur Zeit.

      Ich rede nicht von Vorschüssen; das neuerdings herrschende Vorschußwesen ist ein Blödsinn ersten Ranges. Wer einem jungen Autor fürs nächste Buch einfach eine Million auf den Tisch blättert, macht ihn kaputt. Unter diesem Druck kann er das Buch womöglich nie schreiben. Überdies geht der falsche Einkauf von Verlagsseite, wenn man irgendwo einen Bestseller vermutet, auf Kosten der jungen und noch unbekannten Autoren und auf Kosten der Verlagsgehäuse, nämlich des Lektorats und anderer wichtiger Positionen. Das übertriebene Vorschußwesen hat mit Literatur überhaupt nichts zu tun. Auch in Zeiten, in denen ich kein Geld hatte, habe ich nie einen Verlagsvorschuß angenommen, weil das ein Stück weit meine Unabhängigkeit eingeschränkt hätte.

      Und Ihr nächstes Buch - ohne Vorschuß geschrieben - wird eine Novelle mit dem Titel "Im Krebsgang"?

      Aber darüber möchte ich jetzt nicht sprechen.

      Tun Sie ja nie.

      Ich würde das gerne machen, aber die Zeiten sind leider vorbei: Sowie ich etwas über ein neues Buch sage, sind schon die ersten Vorbeurteilungen da. Ich bedauere das.

      Ist das Tier im Titel, der Krebs, eine Anspielung auf das "Tagebuch einer Schnecke"?

      Nein, es beschreibt in erster Linie die Erzählhaltung. Die Krebse haben ja eine merkwürdige Gangart: Sie scheren seitlich aus, täuschen fast einen Rückwärtsgang vor und kommen dennoch voran.

      Der Krebs trifft Ihre Erzählstruktur viel besser als die Schnecke.

      Die Schnecke bezieht sich auch nicht auf die Erzählform, sondern auf den Fortschritt. Das Buch wurde in einer Zeit geschrieben, in der viele meinten, es gäbe "Sprungschnecken". Das war aber nicht der Fall, und es gibt sie immer noch nicht.

      Das Gespräch führte Hubert Spiegel.
      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.2001, Nr. 250 / Seite 45
      Avatar
      schrieb am 28.10.01 11:14:52
      Beitrag Nr. 23 ()
      Adolf Muschg (r.) mit Raoul Schrott (l.) und Hans Magnus Enzensberger im Iran

      «Ich habe keine Sympathie für den Terrorismus gefunden»

      Adolf Muschg über seinen Besuch im Iran, die Taliban und warum ein toter Bin Laden gefährlicher ist als ein lebender

      VON CHRISTIAN HUBSCHMID
      SonntagsZeitung: Adolf Muschg, Sie haben mit den Schriftstellern Hans Magnus Enzensberger und Raoul Schrott drei Wochen nach den Terroranschlägen in den USA eine Reise in den Iran gemacht. Was haben Sie festgestellt: Wie tief ist die Kluft zwischen der westlichen und der islamischen Welt?

      Adolf Muschg: Sie ist sehr tief. Und zwar wahrscheinlich darum, weil Christen und Muslime dieselbe religiöse Tradition haben, nämlich eine Heilige Schrift. Der Unterschied aber besteht darin, dass der Koran für den Islam bis heute wörtlich zu gelten hat. Er ist Gottes Wort, ohne Metaphern. Bei uns hat die Säkularisierung eine Spaltung von Gott und Welt hervorgebracht. Diesen Riss gibt es im Islam nicht.

      Warum kommt es aber zu solchen Spannungen zwischen den Kulturen?

      Muschg: Weil in diesem Riss die Moderne gedeiht und weil sich in der islamischen Kultur alles, was mit Modernisierung zu tun hat, an der unerschütterlichen Botschaft von Gottes Wort stösst.

      Iran ist ein Nachbarland von Afghanistan und ein islamischer Staat. Wurden Sie als Freund oder Feind empfangen?

      Muschg: Ich bin mit einer winzigen Ausnahme während der ganzen achttägigen Reise keiner Spur von Aggression begegnet. Eher einer fast übertriebenen Identifikation unserer Gesprächspartner mit dem, was sie für den Westen halten, bis in die Ränge der Mullahs hinein. Die Iraner haben keinen Grund, sich mit den Taliban zu solidarisieren, denn die Taliban destabilisieren das Land. Ich habe nicht die geringste Spur von Sympathie für den Terrorismus gefunden.

      Halten Sie die Angst des Westens vor dem Hass in den islamischen Gesellschaften für übertrieben?

      Muschg: Was den Iran betrifft, ganz sicher. Unsere Angst ist die Angst vor unserem eigenen Schatten. Ich will Bin Laden nicht verharmlosen, aber er ist auch eine Projektionsfigur. Er musste ganz schnell dazu dienen, die grosse Lücke in Lower Manhattan abzudichten. Nicht zuletzt darum, weil Bin Laden gestern noch zu unseren Freunden gezählt hat. Es ist dasselbe wie mit Saddam Hussein und den Taliban: Wer schützt uns morgen vor den Freunden von heute? Das riesige Folgeproblem des Krieges wird die Destabilisierung Pakistans sein. Die Strafaktion der USA halte ich für ein ganz gefährliches Spiel mit dem Feuer.

      Ist sie falsch?

      Muschg: Ja. Was in diesem ohnehin schon zerbombten Land jetzt angerichtet wird, ist jenseits aller Humanität. Auf dem Schulhof würde man sagen: Der Grosse, der einen so Kleinen zusammenhaut, muss gestört sein. Ich sehe allerdings nicht, was ich an Bushs Stelle getan hätte. Denn da schrie die Kollektivseele nach einer Tat.

      Bomben auf Afghanistan halten Sie für falsch, aber eine Reise von drei Schriftstellern leistet etwas für den Frieden?

      Muschg: Nein, natürlich nicht. Man ist auch dem Zweiten Weltkrieg nicht mit Dichterkongressen beigekommen. Es handelt sich um zwei ganz verschiedene Konzepte: Als Schriftsteller sind wir gespannt auf das Ergebnis der Gespräche. Im Krieg ist das Ziel klar: Der Feind muss vernichtet werden, dann ist das Problem gelöst. Ich glaube allerdings, dass man damit ein noch grösseres bekommt.

      Halten Sie einen toten Bin Laden für gefährlicher als einen lebenden?

      Muschg: Darauf wette ich meinen Kopf. Der nächste Bin Laden wartet bereits. Die Taliban sind eine Reaktion auf die Entwurzelung durch Modernisierung. Die Menschen reagieren auf eine für sie unheimliche Verweltlichung.

      Muss man diese Gewaltausbrüche also hinnehmen?

      Muschg: Nein, das glaube ich nicht. Wir gehen durch einen schmerzhaften globalen Prozess. Der Iran ging da hindurch, Afghanistan hat ihn noch vor sich. Aber unser Vorwurf an den Islam, dass er einen mörderischen Ausweg aus dem Dilemma sucht, fällt auf uns zurück. Auch bei uns wird die Selbstkritik der Zivilisation stärker werden, und ich hoffe, es geht ohne Erschütterungen ab.

      Die arabischen Intellektuellen scheinen auf ihrer Opferrolle zu beharren. Gibt es einen kulturellen Minderwertigkeitskomplex in den islamischen Ländern?

      Muschg: Wie denn nicht? Im 11. und 12. Jahrhundert war der Islam mit seiner Astronomie, Medizin und Mathematik die überlegene Kultur. Doch den schöpferischen Bruch des Westens mit der Renaissance und der Aufklärung, den haben sie nicht gehabt. Die islamische Zivilisation ist einerseits noch ganz eng an den Koran gebunden, anderseits aber auch enorm auf den Westen ausgerichtet. Sie können in Teheran durch die Strassen gehen und begegnen Menschen wie in Paris oder New York.

      Nach der Revolution war der Iran die Hochburg des islamischen Fundamentalismus. Nun zeichnet sich eine Liberalisierung ab. Hat sie eine Chance?

      Muschg: Absolut, auch wenn es eine Zitterpartie ist. Ich hatte das Gefühl, dass es gut gehen kann. Darum haben alle unsere Gesprächspartner um die Themen des Krieges und des Terrorismus eine Mauer gezogen. Sie verhielten sich neutral, aus Vorsicht, weil sie eine absolut tödliche Ansteckung befürchten für den Heilungsprozess ihres Fundamentalismus. Die Iraner verhalten sich gegenüber der Weltlage sehr gelassen. Sie sind bedrückt, aber viel weniger hysterisch als wir.

      Im Westen ist das Bedürfnis nach Informationen und Einschätzungen so gross wie schon lange nicht mehr. Die Intellektuellen sind plötzlich wieder gefragt.

      Muschg: Die Spassgesellschaft hatte andere Sorgen als das Gespräch mit Intellektuellen. Doch jetzt ist die Hinterseite offensichtlich geworden. Pulver in einem Couvert ist für viele Schweizer Bürger offenbar eine unwiderstehliche Versuchung, ihre Mitbürger zu terrorisieren. Das heisst: Terror ist kein auf Afghanistan beschränkbarer Befund. Über solche Zusammenhänge machen sich die so genannt Intellektuellen ihre Gedanken.

      Unmittelbar nach dem 11. September galt, dass die Welt nicht mehr dieselbe ist wie zuvor. Nun zeigt sich, dass dies nicht stimmt. Es werden bereits Bin-Laden-Witze gemacht. Hat sich für Sie als Schriftsteller etwas verändert?

      Muschg: Nein, nichts. Die Welt hat sich bloss zur Kenntlichkeit gebracht. Man hat ja alle diese Bilder schon gesehen, nur waren sie virtuell, nicht real. Und auch die Verarbeitung des Traumas folgt einem Hollywoodschema, nämlich dem der Soap. Es muss ein Täter her, ein Bösewicht. Diese Mechanismen zu untersuchen, das war und ist das Geschäft des Schriftstellers.
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      schrieb am 28.10.01 11:23:07
      Beitrag Nr. 24 ()
      Wem gilt der Haß von Usama Bin Ladin? Die Deutschen wissen es am besten

      Bin Ladins Haß ist Judenhaß / Von David Gelernter


      Es gibt zwei konkurrierende Theorien zu den Massakern vom 11. September. Nach der Israel-Theorie ist Amerika deshalb angegriffen worden, weil die Vereinigten Staaten weltweit der einzige Freund Israels sind. Nach der Theorie vom "Großen Satan" ist die Verbindung zu Israel jedoch nur nebensächlich. Die Terroristen des Nahen und Mittleren Ostens hassen Amerika um seiner selbst willen.

      Die Theorie vom "Großen Satan" wird hauptsächlich von Freunden Israels vertreten, die Israel-Theorie dagegen von dessen Feinden. Israels Freunde wollen den Amerikanern sagen, die Israelis treffe keine Schuld. Die Theorie vom "Großen Satan" soll Israel schützen, bewirkt in der Praxis aber das Gegenteil - und außerdem ist sie falsch.

      Die Theorie vom "Großen Satan" sieht in der Ermordung amerikanischer Zivilisten durch Bin Ladin und der Ermordung israelischer Zivilisten durch Palästinenser zwei ganz verschiedene Dinge. Das ist angenehm für Heuchler, welche Freunde Amerikas sein wollen, aber nicht Freunde Israels. In Wirklichkeit haben alle diese Morde denselben Ursprung. Die Israel-Theorie ist nämlich richtig. Und die Deutschen sind die einzigen, die uns den Grund dafür erklären können.

      Am 11. Dezember 1941, vier Tage nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, erklärte das Deutsche Reich Amerika den Krieg. Warum? Mit der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten war Deutschlands Niederlage besiegelt, schon damals war es vielen Menschen klar. Warum tat Hitler es dennoch? Auch heute noch behaupten manche Historiker, der Haß auf die Vereinigten Staaten sei der Grund gewesen. Gewiß verachteten die Nazis Amerika; sie sahen in den Vereinigten Staaten eine verweichlichte, dekadente, unmännliche, von Juden beherrschte und von schrillen Frauenstimmen übertönte Gesellschaft, einen Sumpf moralischer Verderbnis. Darum erklärte Hitler Amerika den Krieg.

      Aber das ist alles Unsinn. Zwar haßten die Nazis Amerika, aber im Vergleich zu ihren eigentlichen Haßobjekten war Amerika bedeutungslos. Jedenfalls hatten die Deutschen weitaus konkretere Gründe für ihre Kriegserklärung. Amerika suchte und erwartete diesen Krieg. Seit Deutschlands Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 hatten die Vereinigten Staaten Moskau mit kriegswichtigen Hilfslieferungen unterstützt. Und mit ihrer Unterstützung der Briten hatte die Roosevelt-Regierung sich längst an den Rand des Krieges manövriert. Churchill zitiert eine private Äußerung Roosevelts: "Ich werden keinen Krieg erklären, ich werde ihn führen."

      Was all das mit den Massakern vom 11. September zu tun hat? Sehr viel. Der Gedanke, die arabischen Terroristen handelten aus purem Haß auf Amerika und die westliche Welt, ist absurd. Warum ermorden sie keine Pariser oder Berliner? Sind sie dort weniger "westlich" als wir? Sind sie weniger wohlhabend? Oder sind sie gar "frommer" oder "traditionsbewußter"? Gibt es in Deutschland keine Feministinnen? Keine kurzen Röcke oder Bikinis? Sind Sie nicht ebenso demokratisch wie wir und nicht mindestens ebenso "liberal", wenn nicht noch liberaler?

      Natürlich ist Amerika eine besonders herausragende westliche Macht. Aber was ist zum Beispiel mit Frankreich? Seit dem Spätgaullismus Ende der sechziger Jahre hat Frankreich sich sehr um eine herausragende Position in den arabischen Ländern bemüht. Und natürlich kann das Land (anders als Amerika) auf eine wahrhaft imperialistische Geschichte in der arabischen Welt - in Nordafrika, in Syrien und im Libanon - zurückblicken. Aber aus irgendeinem Grunde kümmert das die Terroristen im Nahen und Mittleren Osten nicht, obwohl sie doch den Westen und jeden westlichen Einfluß in ihrer Region hassen.

      Und da wir gerade von "herausragenden westlichen Mächten im Nahen und Mittleren Osten" sprechen - diese Rolle haben im ganzen letzten Jahrhundert viele europäische Staaten gespielt, und zwar sehr viel deutlicher als Amerika heute. Italien hielt Libyen besetzt. Spanien hatte koloniale Besitzungen in Nordwestafrika. Großbritannien kontrollierte den Suezkanal und (zusammen mit Ägypten) den Sudan; das Empire übte wesentlichen Einfluß in Arabien, Jordanien und im Irak aus; es kontrollierte im Auftrag des Völkerbundes Palästina und über die Anglo-Persian Oil Company auch die Ölförderung im Iran. Von etwa 1920 bis Anfang der fünfziger Jahre war Großbritannien die entscheidende Großmacht im Nahen und Mittleren Osten. Arabische Kämpfer hatten es überall mit Kolonialarmeen zu tun, doch niemals richtete sich ihr Haß mit solch vergifteter Leidenschaft gegen Europa wie heute gegen Amerika. Die arabischen Nationalisten schickten keine Terroristen nach London, Rom oder Madrid.

      Vielleicht weil damals der Terrorismus noch nicht erfunden war? Aber er war schon erfunden. In Hebron ermordeten 1929 arabische Terroristen sechzig Juden in einem, wie die Briten es nannten, "brutalen Angriff". Im selben Jahr töteten sie 45 Juden in Safed und mehrere Dutzend weitere in ganz Palästina. Dies nämlich ist das eigentliche Thema des heutigen Nahen und Mittleren Ostens: nicht Haß auf den Westen, sondern auf die Juden. Und Haß auf Amerika als das einzige Land der Welt, das den Juden in Israel beisteht.

      Viele Europäer (und auch manche Amerikaner) glauben, der Haß der Araber auf Israel habe seine Ursache in der israelischen Politik gegenüber den palästinensischen Flüchtlingen und in den jüdischen Siedlungen auf der West Bank. Doch schon 1913 veröffentlichte eine arabische Zeitung in Palästina ein Gedicht: "Die Juden, das schwächste und geringste aller Völker, machen uns unser Land streitig; wie können wir da weiterschlafen?" In einem Flugblatt, das 1929 in Jerusalem verteilt wurde, heißt es: "O Araber! Vergeßt nicht, daß der Jude euer schlimmster Feind ist und von jeher der Feind eurer Vorfahren war." Im selben Jahr stellte der britische Hochkommissar in Jerusalem fest: "Der latente, tiefverwurzelte Haß der Araber auf die Juden ist nun in allen Teilen des Landes ausgebrochen." In der Abschlußentschließung eines von 400 Teilnehmern besuchten Treffens in Damaskus hieß es 1937, Großbritannien muß "zwischen unserer Freundschaft und den Juden wählen". Und ebenfalls 1937 erklärte der britische Außenminister Anthony Eden in einem Memorandum, Großbritannien müsse von seinem Versprechen, den Juden eine nationale Heimstatt in Palästina zu ermöglichen, abrücken, weil sonst "die dauerhafte Feindschaft aller arabischen und moslemischen Mächte im Nahen und Mittleren Osten" drohe.

      Man achte auf das "sonst". Man achte auf das "muß wählen". Es ist keine Rede von einer automatischen arabischen Feindschaft, nur weil Großbritannien eine herausragende westliche Supermacht im Nahen und Mittleren Osten darstellte. Als das Land in den späten dreißiger Jahren die Juden in Palästina fallen ließ, waren die Haßprediger und Terroristen sogleich zur Vergebung bereit. Natürlich hat sich das Denken der Araber ebenso verändert wie der Terrorismus und die Welt. Ohne Zweifel hassen die Terroristen Amerika um seiner selbst willen. Ohne Zweifel würden sie Amerika auch dann hassen, wenn es Israel niemals gegeben hätte. Aber das fanatische Böse, das wahllos Männer, Frauen und Kinder mordet und diese Morde dann feiert, trägt die blutigen Merkmale des Judenhasses.

      Bin Ladin ist geradzu obsessiv auf New York fixiert. New York ist die reichste und mächtigste Stadt der Welt. Zugleich ist es die größte jüdische Stadt der Welt. Amerikanische Juden belegen den Ausrottungsfeldzug der Nazis (wie Deutsche und Araber wissen) mit dem griechischen Wort "Holocaust". Dieses Wort bezeichnet ein alles verzehrendes Brandopfer. Bin Ladins Terroristen haben versucht, die größte jüdische Stadt der Welt in ein Brandopfer zu verwandeln. Ich weiß nicht, ob diese Symbolik intendiert war; aber ich weiß, daß die Deutschen dies der Welt erklären sollten. Die Amerikaner verstehen das nicht: reiner, unmotivierter Haß auf die Juden? Purer Haß aus Prinzip? Deutsche verstehen das sehr wohl: Solcher Haß scheint unlogisch und unverständlich. Er ist unlogisch und unverständlich. Aber es gibt ihn.

      Viele Juden waren überrascht, als Joschka Fischer sich mit Jassir Arafat auseinandersetzte, wie noch kein hochrangiger europäischer Politiker es getan hat. Weil Deutschland seine eigene Vergangenheit ernst nimmt, ist es wieder zu einer moralischen Kraft geworden. Weil das Land in einer langen dunklen Nacht mit seiner Schuld gekämpft hat, ist Deutschland wieder zu einer anerkannten Nation geworden und trägt daher heute eine entsprechende Verantwortung.

      Deutschland ist in der Position, den Europäern zu erklären: Amerika unterstützt Israel, nicht weil Israel vollkommen oder liebenswert oder ohne Fehler wäre, sondern weil Israel ein Lebensrecht hat. Deutschland ist in der Position, den Israelis zu sagen: Diskutiert oder verhandelt niemals mit Leuten, die eure Kinder ermorden wollen. Wenn sie kommen, um eure Familie zu töten, dann nehmt euer Gewehr und versucht, sie vorher zu töten. Das ist schmerzlich für euch, aber vergeßt nicht, ihr Juden habt die christliche Nachsicht erfunden und zweitausend Jahre lang praktiziert, aber das ist schlimm für euch ausgegangen. Glaubt niemals, die Vernunft würde siegen. Glaubt uns: Sie wird nicht siegen.

      Deutschland ist in der Lage, der Welt zu sagen: Ihr könnt nicht gegen Bin Ladin, aber für Hamas und die PLO sein. Ihr könnt nicht die Ermordung amerikanischer Zivilisten "böse" nennen, aber die Ermordung israelischer Zivilisten "unglücklich". Wenn ihr aus grundsätzlichen moralischen Gründen und nicht nur aus politischen Opportunitätserwägungen gegen terroristische Morde seid, müßt ihr auch dann dagegen sein, wenn die Opfer keine Amerikaner, sondern nur Juden sind; wenn sie nicht in New York oder Washington, sondern in Tel Aviv oder Jerusalem leben. Wenn ihr so denkt, werden die Terroristen erreicht haben, was sie am wenigsten wünschen: die Gerechtigkeit in der Welt zu mehren.

      Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.

      David Gelernter ist jener an der Universität Yale lehrende Computerwissenschaftler, den der Una-Bomber mit einer Briefbombe schwer verletzte. Der terroristische Anschlag hat seinerzeit die wissenschaftlich-industrielle Gemeinschaft der Vereinigten Staaten in tiefste Beunruhigung versetzt. Bill Joy schrieb seinen wegweisenden Essay zur Frage von Wissenschaft, Terrorismus und Technologie ("Warum die Zukunft uns nicht braucht") unter dem Eindruck dieses Attentats. Jahrelang schwieg David Gelernter, zurückgezogen versuchte er, wie er es ausdrückte, die Erfahrung zu verarbeiten, "Todfeind eines Terroristen" zu sein. Wir haben Gelernter gebeten, mit dem hier abgedruckten Essay auf die gegenwärtige Krise zu reagieren, in der Terror und High-Tech eine ganz neue Rolle zu spielen scheinen. F.A.Z.
      Avatar
      schrieb am 28.10.01 11:28:54
      Beitrag Nr. 25 ()
      «Die Schweiz war nie ein geniales Land»: Peter von Matt




      «Das Swissair-Debakel ist mit dem Titanic-Untergang vergleichbar»

      Peter von Matt über Schweizer Mythen, überhebliche Wirtschaftsführer und den Menschen als unglückliches Wesen

      VON REMO LEUPIN
      SonntagsZeitung: Herr von Matt, sind SVP-Politiker besonders heissblütige Liebhaber?

      Peter von Matt: Das kann ich glücklicherweise nicht beurteilen. Wie kommen Sie denn darauf?

      In Ihrem neuen Buch «Die tintenblauen Eidgenossen» beschreiben Sie den Patriotismus als ein «erotisches Ereignis». Ein gewagter Vergleich.

      Von Matt: Ich meine erotisch im alten Sinne des Eros, also der intensiven gefühlsmässigen Bindung. Wo immer Sie auf Patriotismus stossen, finden Sie eine gefühlsmässige Bindung an das Land, aus dem jemand stammt.

      Manche Beziehungen haben aber auch wahnhafte Züge.

      Von Matt: Entscheidend ist, wie kultiviert eine Beziehung ist. Eine Demokratie funktioniert nur, wenn eine gefühlsmässige Bindung zwischen den einzelnen Staatsbürgern und dem Land existiert. So wie eine Familie nur funktioniert, wenn eine gefühlsmässige Bindung zwischen den einzelnen Mitgliedern besteht.

      Im Fall der Schweiz muss man aber eher von einem gestörten Liebesverhältnis sprechen. Immer weniger Leute beteiligen sich aktiv am Staatsleben - und wenn, dann vor allem mit Schimpfen und Fluchen am Stammtisch. Woran liegt das?

      Von Matt: Es gehört zum Gefühlshaushalt jedes Menschen, dass er hie und da Dampf ablässt. Das «Biertisch-Politisieren» ist nicht das eigentliche Problem. Problematisch ist vielmehr die mangelnde Informiertheit der Bürger. Jeder tut so, als wisse er, was los sei mit der Schweiz. Ein grosser Teil der Schweizer weiss aber nicht, was mit unserem Land passiert. Es fehlt den Leuten so etwas wie eine «Rede zur Lage der Nation», wie das in den USA üblich ist.

      Auch US-Präsidenten sagen nicht immer die ganze Wahrheit.

      Von Matt: Das stimmt. Aber viele Schweizerinnen und Schweizer wissen nicht, wo das Land steht und wo es hin soll.

      Wo steht denn unser Land?

      Von Matt: Es gibt ein chinesisches Sprichwort: «Wer auf einem Tiger reitet, kann nicht abspringen.» Das Sprichwort passt gut zur Situation der Schweiz. Unser Land hockt inmitten eines europäischen Kontinents, der in einem immensen Bewegungs- und Veränderungsprozess ist. Doch die Schweizer sind der Meinung, die Weltgeschichte sei so etwas wie ein Bildschirm, dem man im Lehnstuhl gegenübersitzt und den man einfach an- und abschalten kann. Das ist eine fatale Haltung. Die Schweiz kann sich nicht separieren vom Prozess, der in der Tiefe langsam und gewaltig abläuft.

      Braucht es denn wieder einmal einen heftigen aussenpolitischen Flirt, damit das Land aus der Lethargie erwacht?

      Von Matt: Falls Sie jetzt auf die EU anspielen, sage ich: Die Diskussion darf sich nicht auf ein «EU - Ja oder Nein» beschränken. Aber Politiker und Parteien sollten den Leuten klar machen, wie sehr das Land verflochten ist mit dem internationalen Geschehen - nicht nur in Bezug auf die EU. Denn das ist ja auch so eine Verengung: Wenn man von Europa spricht, meinen alle immer die EU. Und dann kommen Sprüche über die «Beamten von Brüssel», die uns vorschreiben, wie lang die Bananen sein dürfen. Dabei sind ja viele Vorschriften, die unsere eigene Verwaltung macht, genauso abstrus wie die Vorschriften von Brüssel. Die Leute müssen unterscheiden können zwischen den wichtigen, aber langsamen Prozessen, die unser Land bestimmen, und den spektakulären, aber vordergründigen Ereignissen, die uns täglich von den Medien serviert werden. Man reagiert heute nur auf der Oberfläche. Man reagiert auf das Swissair-Debakel, auf den Amoklauf in Zug - doch das ist alles nur Symptombekämpfung. Über das, was in der Tiefe passiert, wird nicht nachgedacht und gesprochen.

      Aber die tragischen Ereignisse der letzten paar Wochen und jetzt auch noch der Unfall im Gotthard beschäftigen die Leute sehr. Viele möchten wissen, wie es zu den Attentaten auf die USA kommen konnte, was hinter dem Amoklauf in Zug steckt und wie es mit der Schweizer Luftfahrt weitergeht.

      Von Matt: Nach den Tragödien in den USA und in Zug wurde gesagt, es sei nichts mehr so, wie es war. Stimmt denn das wirklich? Genau diese Formel haben wir auch nach dem Atomunfall in Tschernobyl gehört. Und was ist passiert? Gar nichts! Fragen Sie heute mal zehn Leute, wann sich das Unglück ereignete. Die wenigsten werden Ihnen das Jahr sagen können. Es wird immer wieder behauptet, so schnell und schlimm wie heute sei es noch nie gewesen. Doch das ist eine Selbststilisierung der Gegenwart. Es gab Epochen, in denen die Dinge viel schneller und radikaler abliefen als heute. Denken Sie etwa an den Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Erste Weltkrieg über Europa hinwegfegte, als auf einen Schlag alle grossen Kaiserreiche verschwanden und die russische Revolution über Europa hereinbrach.

      Dann ist das vielfach prophezeite «Ende der Spasskultur» bloss eine hohle Phrase?

      Von Matt: Das ist einerseits ein Klischee, andererseits ist sicher etwas an dieser Aussage dran. Der erschütterte Glaube an die Wunder einer total entfesselten Wirtschaft hat auch im kulturellen Bereich Spuren hinterlassen. Ich kann mir denken, dass nun wieder andere Stimmen hörbar werden und ein anderer Ernst in der Kultur produktiv wird.

      Sie leben derzeit in München. Machen Sie Ferien von der Schweiz?

      Von Matt: Ich habe von der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung ein halbjähriges Studienjahr zugesprochen bekommen. Im Februar kehre ich aber zu meinen Studenten in die Schweiz zurück.

      Und aus dem Münchner Studienjahr resultiert ein weiteres Buch?

      Von Matt: Ja, aber den Titel verrate ich Ihnen nicht. Nur so viel: Es geht um Verstellung, Täuschung und Intrigen in der Literatur.

      In Ihren früheren Büchern schreiben Sie über «verkommene Söhne» und «missratene Töchter» oder über die «Treulosen in der Literatur» und den «Zwiespalt der Wortmächtigen». Warum beschreiben Sie nicht ein Mal das Schöne in der Literatur?

      Von Matt: Sollte ich denn über Hochzeitsnächte schreiben, in denen alle glücklich sind? Das Glück kann man nicht beschreiben. Der Mensch ist ein unglückliches Wesen, weil er in einer unseligen Stunde die Idee des Glücks erfunden hat. Seither ist er unglücklich. Die Vorstellung, es gäbe Bücher, in denen man nur Glückszustände beschreibt, ist so schrecklich wie die Vorstellung des Himmels. Man kann sich den Himmel ja auch nicht vorstellen. Die Hölle hingegen schon. Die Bilder von der Hölle sind unglaublich interessant und spannend.

      Rührt daher auch Ihr schriftstellerisches Interesse an der Schweiz, weil hier einiges im Argen liegt?

      Von Matt: Ich habe keine Probleme mit der Schweiz. Und ich finde es interessant, mich mit den Problemen dieses Landes auseinander zu setzen.

      Warum verhalten sich die Künstler und Literaten so ruhig in diesen schwierigen Zeiten?

      Von Matt: Was sollen sie denn erklären? Ein Amoklauf wie in Zug braucht keine Erklärung. Die Schweiz war in einem Schockzustand, aber nicht in einem Erklärungsnotstand.

      Ist es nicht eher so, dass die Intellektuellen uns heute nichts mehr zu sagen haben? Zum Beispiel die Schriftsteller: Wo bleiben die klaren Worte der Wortmächtigen?

      Von Matt: Schriftsteller sind nicht dazu da, um politische Statements abzugeben. Ihr Job ist in erster Linie, gute Bücher zu schreiben. Ein Beispiel: Im Kalten Krieg herrschten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs betonierte politische Systeme. Die Intellektuellen von damals mussten für Freiräume kämpfen. Sie mussten ärgern und provozieren, um etwas zu verändern. Heute ist das nicht mehr so. Warum soll die Schriftstellerin X zum Krieg in Afghanistan oder zum Swissair-Debakel etwas Besseres zu sagen haben als etwa der politische Kommentator einer Zeitung? Schriftsteller sind keine Fachleute für Realpolitik, sie sind Experten für unkonventionelle Zusammenhänge.

      Autoren wie Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch oder Niklaus Meienberg waren moralische Autoritäten in diesem Land. Haben die heutigen Autoren einfach zu wenig Format?

      Von Matt: Sie beschönigen jetzt etwas. Dürrenmatt und Frisch hatten in den Siebzigerjahren einen grossen Teil ihrer Autorität verloren. Zudem ist die Tatsache, dass ein Land einen Autor von Weltruhm hat, nur dann von Belang, wenn dieser Autor in einem bestimmten Moment etwas sagt, was kein anderer formuliert. Max Frisch sagte zum Beispiel einmal: «Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.» Der Satz erlangte Weltruhm. Viele andere, weit bekanntere internationale Schriftsteller haben nie einen ähnlichen Satz gesagt. Es war so etwas wie ein Glückstreffer.

      Solche Sätze würden heute wieder gut tun. Gibt es denn keine gescheiten Köpfe mehr in unserem Land?

      Von Matt: Das würde ich so nicht sagen. Ich glaube aber, dass es Aufgabe der verantwortungsbewussten Politikerinnen und Politiker wäre, den Leuten zu sagen, wie die Schweiz in fünf, zehn, zwanzig Jahren aussehen könnte. Viele Politiker reagieren nur auf das Tagesgeschehen. Nächstes Jahr wird der Euro eingeführt. Dann wird man auch in der Schweiz mit der neuen Währung zahlen können. Und man wird wieder nur auf den Euro als Geld schauen, ihn nicht als Symptom einer grossen Veränderung verstehen.

      Wieso täuschen sich die Schweizer so offensiv selbst? Woher kommt der Abwehrreflex gegen alles Neue?

      Von Matt: Es ist eine Frage der Information und des Geldes. Welches Geld steckt hinter welcher Politpropaganda. Viele Abstimmungen entscheiden sich wegen weniger Prozente. Zudem ist es eine Frage der Redlichkeit, wie der Informationsstand der Bevölkerung beeinflusst wird.

      Die Redlichkeit stand auch bei der Bewältigung des Swissair-Groundings auf dem Spiel. In der Schuldfrage schoben sich Staat und Wirtschaft gegenseitig den schwarzen Peter zu. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?

      Von Matt: Ich habe gedacht: Die Vertreter der Banken haben noch immer nichts gelernt. Auch während der Debatte über die nachrichtenlosen Vermögen haben die Banken innerhalb von wenigen Monaten das weltweite Ansehen des Staats geschädigt. Wenn bei den Wirtschaftsführern nur ein Quentchen politischen Denkens vorhanden gewesen wäre, wäre die Krise nicht so gross gewesen. Niederschmetternd ist, dass sich dasselbe Verhaltensmuster in der ersten Phase der Swissair-Affäre wiederholt hat. Viele Wirtschaftsleute machen den Denkfehler, dass sie glauben, eigenen Gesetzen gehorchen und die Politik links liegen lassen zu können.

      Jetzt scheinen Staat und Wirtschaft wieder an einem Strick zu ziehen: Gemeinsam soll eine neue Airline auf die Beine gestellt werden. Ein Silberstreifen am Horizont?

      Von Matt: Es ist zu hoffen, dass man auf beiden Seiten etwas gelernt hat - nämlich, dass die Wirtschaft auch einen politischen Aspekt und die Politik einen wirtschaftlichen Aspekt hat. Die Politiker dürfen sich nicht mehr zu den Lakaien der Banken machen, und die Wirtschaftsführer müssen ihre verblendete Verachtung staatspolitischer Überlegungen aufgeben. Die Verweigerung eines Teils der Hochfinanz und Wirtschaft, staatspolitisch zu denken, hat verheerende Auswirkungen gehabt.

      Das Swissair-Debakel wurde zur nationalen Identitätskrise hochstilisiert. Ist die Airline denn das einzige Nationalsymbol, das die Schweiz noch hat?

      Von Matt: Das Debakel der Swissair ist nicht als solches eine Identitätskrise. Das Ganze muss symbolisch verstanden werden und ist in etwa vergleichbar mit dem Untergang der «Titanic». Das war nicht nur eine grosse menschliche Tragödie, sondern zugleich ein Symptom für das Scheitern einer Ideologie: der nicht hinterfragten Technikgläubigkeit. Man hatte plötzlich gemerkt, dass die technische Zivilisation über sich selber stolpern kann. Das Swissair-Debakel ist keine Katastrophe, die dem Land ans Existenzielle geht. Aber es ist ein Symptom für Dinge, die noch kommen können.

      Die Gefahren eines wirtschaftlichen und politischen Alleingangs also?

      Von Matt: Ja. Ein Land, das sich falsch einschätzt und selber täuscht, muss mit Komplikationen rechnen.

      Gibt es überhaupt noch verbindliche Mythen, worauf unser Land bauen kann?

      Von Matt: Ich glaube schon. Es gibt in der Schweiz noch ein Bewusstsein von guter Arbeit, den Willen, auch kleine Arbeiten anständig und gewissenhaft auszuführen. Von diesem Bewusstsein leben ein grosser Teil der kleineren und mittleren Betriebe. Davon lebt auch die Politik in den Gemeinden und Städten. Die Schweiz war zwar nie ein Land der grossen Würfe und nie ein geniales Land. Selbst die Bundesverfassung haben wir den Amerikanern abgeschrieben. Aber wir haben sie sorgfältig abgeschrieben.

      Dieser Mentalitätsvorteil wurde beim Swissair-Debakel teilweise verspielt.

      Von Matt: Das sollte man nicht überbewerten.

      Dann sind Sie optimistisch, dass die neue Airline Erfolg haben wird?

      Von Matt: Wenn jetzt die schweizerische Leidenschaft für gute Arbeit zum Tragen kommt, dann kann die neue Airline Erfolg haben. Und wenn es gelingt, den Ausgleich zwischen Aggression und Versöhnung zu schaffen. Wir verdrängen immer wieder die Tatsache, dass die Schweizer Geschichte nie harmonisch verlief. Unser Bundesstaat entstand auf dem Boden harter Auseinandersetzungen. Aber man hat sich stets in einem entscheidenden Moment zusammengerauft.

      Max Frisch sprach im Zusammenhang mit der Fichenaffäre vom «verluderten Staat». Ist jetzt die Wirtschaft so verludert, dass sie wieder einen starken, fürsorglichen Staat braucht?

      Von Matt: Wie alle Glaubenssysteme operiert auch die Wirtschaft mit quasireligiösen Begriffen. Man spricht vom Markt, wie die alten Griechen vom Schicksal gesprochen haben. Als sei der Markt eine höhere Macht, die man nicht beeinflussen könnte. Ein ganz seltsames halbmythisches Denken hat die Wirtschaft erfasst und hat uns zu Gläubigen solcher parakonfessioneller Haltungen gemacht. Politisches Denken wurde dabei fahrlässig vernachlässigt. Was für eine Überheblichkeit, dass man an eine Abschaffung des Staats denken konnte!

      Begriffe wie Sicherheit und Staatsschutz haben plötzlich wieder Konjunktur. Droht die Renaissance des «Schnüffelstaats»?

      Von Matt: Es besteht natürlich eine gewisse Gefahr, dass bestimmte Leute Morgenluft wittern und die demokratischen Rechte wieder einschränken wollen. Aber die Staatsbürger haben ja die Mittel, dem Staat, den sie wollen, auf die Finger zu schauen. Dafür haben wir auch die Medien. Sie kontrollieren den Staat und die Parteien. Aber eigentlich müssten Sie diese Fragen einem Politikwissenschaftler stellen.

      Was sind Sie eigentlich: Literaturprofessor oder Schriftsteller?

      Von Matt: Ich bin ein Literaturprofessor, der gerne Bücher schreibt. Und zwar auch deswegen, weil ich der Meinung bin, dass die Universität sich öffnen und ihr Knowhow in die Öffentlichkeit hinaustragen muss.

      Sie schreiben über das Lesen und erzählen vom Erzählen - wann kommt der erste Roman von Peter von Matt in die Buchhandlungen?

      Von Matt: Vergessen Sies. Ich bin Literaturwissenschaftler und kein Romanschriftsteller.

      Woher kommt denn Ihre Leidenschaft zur Literatur?

      Von Matt: Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die seit mehreren Generationen Bücher druckt, bindet und verkauft. Ich bin in einer Bücherwelt aufgewachsen, die Liebe zur Literatur war sozusagen genetisch programmiert.

      Was machen Sie eigentlich, wenn Sie sich ausnahmsweise mal nicht mit Büchern beschäftigen?

      Von Matt: Ich kann stundenlang durch eine Stadt flanieren und mich in Strassen und Vierteln verlieren. Ich gehe aber auch gern in die Berge und bin ein Blumenfan. Zudem koche ich gerne, allerdings nicht Haute Cuisine, sondern simple Alltagsküche. Es ist ein Problem von mir, dass ich mich für jeden Kram interessiere.
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      schrieb am 28.10.01 11:38:55
      Beitrag Nr. 26 ()
      @ schnucke
      du gestattest, dass ich gelegentlich querverweise in anderen sräds anbringe ;) der beitrag von muschg/enzensberger war hochinteressant. von matt kenne ich aus anderen zusammenhängen und werde mich gleich an die lektüre machen. thanks.

      gruss antigone
      Avatar
      schrieb am 28.10.01 14:25:18
      Beitrag Nr. 27 ()
      sehr lieb antigone!! :kiss:

      erst, als ich kurz nach dem 11.9. ein paar texte gepostet hatte, dachte ich, was soll das? wieso tu ich das? ich druck eh alle diese texte aus und lege sie in einen ordner.

      dann gab es noch den thread: Enzensberger: Die Wiederkehr des Menschenopfers von Heizkessel der mir sehr gut gefiel - mit interessanten texten.

      ich wollte schon aufhören mit diesem autoren-thread, da schrieb mir eine userin, sie sei sehr froh um den thread, sie habe keine zeit alle zeitungen zu durchblättern und hole die artikel aus diesem thread... und ich machte weiter. inzwischen freut mich dieser thread richtig.
      Avatar
      schrieb am 28.10.01 14:28:20
      Beitrag Nr. 28 ()
      :)
      Avatar
      schrieb am 28.10.01 14:34:04
      Beitrag Nr. 29 ()
      in diesem thread befinden sich bereits texte von enzensberger und muschg, hier noch ein reisebericht von raoul schrott

      Adolf Muschg (r.) mit Raoul Schrott (l.) und Hans Magnus Enzensberger im Iran



      Zur afghanischen Grenze

      Aber da war nichts, woran ich glaubte

      Journal einer Reise vom 16. bis zum 22. Oktober von Teheran bis an den großen Wall / Von Raoul Schrott



      Isfahan. Was Kalligraphie war, ließ sich von den Arabesken der stilisierten Ranken und der Geometrie der filigranen Ornamente nicht unterscheiden. Sie liefen ineinander über und verschlangen sich um die Ecken der Sheikh Lotfollah Moschee, bis sie sich zu runden schienen, eine optische Täuschung, damit der Blick nirgendwo ruhen bleiben konnte; sich ein Bild zu machen, ließ jedes Gebet wieder nichtig werden. Nur durch das züngelnde Maßwerk des Steingitters im Spitzbogen oben in der Kuppel fiel Licht und zeichnete einen Pfau in das Gewölbe, den heiligen Vogel Persiens, weil sein Fleisch unverweslich ist und sein Gefieder nur Augen.

      Schritt man denn hinüber zur großen Imam Moschee auf der anderen Seite des Platzes, war der Dom ein Kopf, darunter Hals und Rumpf, die Minarette wie erhobene Hände. Innen lag der Madraseh, die Mönchszellen mit ihren farbigen Fenstern, rot und gelb, die die Mücken im Freien unter den Maulbeeren und Feigen hielt, den Paradiesbäume. Sah man unter der Arkade des östlichen Iwans auf zu der verwinkelten Architektur von Mauern und Türmen, ließen sich die Worte ,Allah’ und ,Mohammed’ in kufischen Schriftzügen lesen.

      Auf der Terrasse des Chehel Sotun Palastes spiegelten sich zwanzig Säulen im Wasserbecken des Gartens. Die Wände waren voller Fresken, die Schlachten und das Hofleben darstellten, Musiker, Wein in gläsernen Karaffen, barbusige Frauen. Die afghanischen Invasoren im 18. Jahrhunderten hatten die Gesichter zerstört und die Malereien weiß übertüncht, aber man sah jetzt noch, wo die Schönheit eines Porträts den Axthieb hatte innehalten lassen und den Schlag ablenkt hatte. Das Bild eines Mannes, der den Fuß einer halbnackten Tänzerin küßte, und eine Hofdame, die ihre Hand unter das Kleid auf die Schenkel einer anderen gleiten ließ, hatten selbst die Islamische Revolution überstanden, dank eines Wächters, der sich davorstellte.

      Im Teehaus lagen wir draußen auf dem Teppich und aßen saffrangelbes Eis, Magnus im Schneidersitz, seinen Borsalino auf dem Kopf. Es war der erste stille Tag, und wir redeten über die Episodik des Reisens, die Vor- und Nachteile von bezahlten Führern, Zwangsgemeinschaften und Zufallsbekanntschaften, Liebesgeschichten und Abschiede. Als das Taxi kam, um sie zum Flughafen zu bringen, begann da wie immer diese eine Stunde, in der man sich nur fragte, was man überhaupt hier tue, eine von allem und allen abgeschnittene, leere Einsamkeit. Ich ging zurück, rund um das Becken und warf einen Stein in das stehende Wasser.

      Auf dem Weg zum Hotel ging ich in drei Reisebüros, um einen Flug nach Mashad an der afghanischen Grenze zu buchen. Es war alles bis weit über das Wochenende voll, aber ich ließ mich in jedem auf die Warteliste setzen, beim ersten als österreichischer Botschaftsangehöriger, beim zweiten als deutscher Schriftsteller, beim dritten als Schweizer Filmemacher, mit der Begründung, man habe mich von offizieller Seite eingeladen, es wäre unabdinglich, daß ich morgen abend dort anwesend sein müsse.

      Vom Zimmer aus telefonierte ich dann mit Haleh, einer iranischen Journalistin, die als Stringer arbeitet und ausländische Kollegen im Land herumführt. Sie gab mir die Nummer von Darra, der mich in Mashad begleiten und dolmetschen könnte. Er war nirgendwo zu erreichen, also versuchte ich es mit den anderen Nummern, die sie mir gegeben hatte, die Büros von MSF, der WFP, dem UNCHR, Namen, die ich vom Hörensagen nachbuchstabierte, während ich weiterverwiesen wurde: ein Holländer namens Marius, De Gaay-Fortmann, Françoise, einer, den man Beau Shack hieß und Shaft nannte; es war eine Liste wie aus einem zweitklassigen Roman, und ich auf der Suche nach Darra.

      Abends ging ich in den Bazar, entdeckte eine kleine, dicke Lederscheibe an einem Halsband, in der mit winzigsten Buchstaben eine Abschrift des Koran eingenäht war. Dann setzte ich mich in das Café über den Dächern und dachte an nichts oder an das Mädchen gegenüber, das von zwei Burschen flankiert wurde und die Aufmerksamkeit genoß. Es dauerte lange, bis mir auffiel, daß sie ihr schwarzes Kopftuch über ihrem kohlschwarzen Haar vollständig abgelegt hatte. Mein lesender Sitznachbar sprach mich auf Englisch an und meinte, daß man vor ein paar Tagen zwei Mädchen ihrer Kleider wegen abgeführt habe, das Rot sei zu rot gewesen. Er hatte den Finger zwischen den Seiten eines Hafez-Bandes, und ich fragte ihn, wie sein Orakel ausgefallen sei. Gut, sagte er, aber der Kommentar zu der Stelle riet ihm, der Kirche einen Obolus zu entrichten. Wir schwiegen und sahen über den, einen halben Kilometer langen Khomeni-Platz.

      Bis vor zwanzig Jahren hatte er Naghsh-e Jahan geheißen, der Plan der Welt. Auf seinen Längen liegen sich, perspektivisch verkürzt, Königspalast und Königsmoschee gegenüber, auf seinen Enden der Bazar und die Imam Moschee. Dazwischen standen die Pfeiler für das Polo, das man gespielt hatte, einen abgeschlagenen, in einen Sack gewickelten Kopf als Ball. Die Berge dahinter lagen gerade noch in der letzten Dämmerung. Er zeigte mit dem Finger, daß der Platz um 18° von der eigentlichen Nordachse der Stadt abweiche, der Sonneneinstrahlung auf dieser geographischen Breite wegen, und davon die Ausrichtung der Moschee an seinem Ende wieder um 45° gen Mekka. Und mit dem Postkartenblick über diesen Grundriß und seinen Abweichungen schien einen Augenblick lang alles begriffen.

      Am nächsten Morgen war noch kein OK von Iran Air da. Ich vertrieb mir die Zeit bei dem Windturm und der Chubi-Brücke mit ihren abgegriffenen Granitlöwen, in deren Maul ein Soldat steckte, als Ausdruck seiner Furchtlosigkeit. In Shiraz waren die Kanten an Hafez` alabasternem Sarkophag ebenso rund geschliffen gewesen von den vielen, die an seinem Grab gekniet waren und nun an diesem, zum nationalen Ereignis erklärten Feiertag vor ihm knieten, die Stirn dagegen gepreßt, zwei Finger auf dem mit Arabesken verzierten Relief, um ein Gebet zu murmeln; abends dann, bei der Festveranstaltung, sprachen Tausende Menschen Zeilen seines Diwans aus dem Gedächtnis mit. Hier, unter den Bögen der Brücke, sangen Männer eine seiner Ghaselen, Koloraturen von Stimmen, die über dem trockenen Flußbett im Gewölbe widerhallten. Daneben wurden auf einer Decke Kugelschreiber verkauft, Militärhemden, Rubbelbilder und Plastikwecker, die unablässig surrten.

      Im dritten Reisebüro war die Rückmeldung aus Teheran da; auf dem Schirm sah ich unter remarks, daß man mich als , iranian director cultural films’ führte. Ich zahlte an die vierzig Mark; der Flug ging in zwei Stunden. Neben der Eingangshalle war eine Glasvitrine, in der neben Photos eines bärtig grinsenden Mannes Relikte lagen, ein Rasierer, eine Haarbürste, ein Löffel, ein Kompaß und eine zerborstene Granathülse. Darunter stand zweisprachig die getippte Legende: „Märtyrerkommandant Mostafa Raddani Pour. M.R.P. war ein Student des Theologieseminars von Khom. Er schloss sie 1979, nach der Islamischen Revolution,ab, um den Unterdrückten in den armen Gegenden zu helfen. Zu Beginn des aufgezwungenen Krieges, als ein Teil des islamischen Heimatlandes besetzt wurde, unterstützt vom allgemeinen Imperialismus, schloß er sich dem Heer im Süden an und nahm bis zu seinem Martyrium an allen Schlachten gegen den aggressiven Feind teil. Für seine Fähigkeiten und seine Intelligenz wurde er vor seinem Tod zum Postenkommandanten erhoben. Eine seiner berühmten Charakteristiken war, daß er während der Nacht Gott huldigte. Geboren: 1957 / Martyrium: Region von Haj Omran / Datum des Martyriums: 15.8.1983.“

      Am Flughafen in Mashad hatte der Taxifahrer seinen abgegriffenen Hafez am Sitz neben sich liegen, wollte zuerst wissen, wie alt ich sei und las mir dann, bevor er sich erkundigte, wohin er mich noch bringen könne, den Anfang der 37. Ghasele vor, übersetzte und legte ihn mir aus. Er setzte mich an einem der großen Hotels gegenüber des Komplexes, in dem der Heilige Schrein steht, eine golden aufglänzende Kuppel, zu der alle Straßen führen. Auch er schrieb Gedichte.

      Mashad bedeutet wörtlich ,Ort des Martyriums’ – jenes des Imam Reza, der unter Harun ar-Rashid zum achten Imam wurde und von dessen Nachfolger mit einem vergifteten Granatapfelsaft umgebracht wurde, weil der Islam seine Macht zu untergraben drohte. Es ist eine der Heiligen Stätten der Schiiten, ihr Mekka, umgeben von einem Moloch aus Betonbauten; unter dem Iran- Irak Krieg zogen die Menschen in Scharen hierher, weil sie am weitesten von der Front entfernt war, dem Giftgas und den Raketen. Der Krieg, hatte man mir in Teheran erklärt, war nur deshalb schon lang vergessen, weil es ungleich viel mehr Tote als Verwundete gab; es sind nur die Verwundeten, für die er dann zum Trauma wird.

      François von den Médecins Sans Frontières hinterließ ich eine Nachricht, Henning Scharpff von der WFP hatte dagegen spät abends Zeit. Das eine Fenster im Zimmer war vermauert, das andere ließ sich nicht schließen; das Laken war voll Spermaflecken, der Vorhang aus Plastik, die Stühle vor dem Fernseher im riesigen Vorzimmer auch. In der Lobby, die immer noch voller eincheckender Pilger war, stach ich als einziger Ausländer heraus; der Hotelangestellte, der das Schaltbrett der Telephonanlage bediente, winkte mich zu sich. Er hieß Khosro, hatte als Professor in Punjab unterrichtet und neben der Arbeit im Transportwesen war dies hier sein zweiter Job: um sein Englisch zu üben; in zwei Stunden habe er frei, was ich denn sehen wollte? Den Schrein, erwiderte ich. Er nehme mich gerne mit, aber ich müsse mir andere Schuhe kaufen; man erkenne die Ausländer immer an ihren Schuhen, meinte er.

      Im Bazar kaufte ich Safran, den es hier in den verschiedenst geformten Fläschchen gab, von den säuerlichen roten Berberitzenbeeren, die man hier unter den Reis mischt, weiß kandierte Pistazienschnitze, wie wie winzige Birkenkätzchen aussahen und wie Manna schmeckten, bis ich ein paar billige schwarze Schuhe fand. Ein Junge in einem weiten, weißen Hemd rannte währenddessen mit offenem Mund die unendlich lange Gasse der schmalen Halle hinunter, stöhnende Schreie dabei ausstoßend; eine Viertelstunde später kam er wieder, aus derselben Richtung, schwitzend, die Augen weit aufgerissen.

      Khosro begutachtete mich, rückte mein Jackett zurecht und nickte. Am Eingang wurden seit dem Bombenattentat 1994 Sicherheitskontrollen durchgeführt. Dann schlossen wir uns der fast unübersehbar großen, schwarzen Menschenmenge an, die über die Innenhöfe zog; ich zog mir die Schuhe wieder aus, machte die Waschungen mit und versuchte seine rituel gemurmelten Gebete nachzusprechen, während mein Blick wieder nur die filigranen Ranken der glasierten Fassaden absuchte. Sie waren stilisiert, hatten mit ihren Schwüngen und Linien alles Figürliche verloren und waren längst zur Wahrheit einer Metapher geworden. Keine dieser Fronten mit ihren Spandrillen, Voluten, Kapitellen und Säulchen, Waben und Nischen war in sich spiegelbildlich; fast unscheinbare Details brechen stets den Anspruch auf eine vollkommene Symmetrie, die nur Gott zusteht.

      Vielleicht geriet die Bibel deshalb zunehmend in Vergessenheit, weil sie in Bildern und Personen erzählte, während die Metaphorik des Koran, und seine viel ungegenständlicher Ästhetik alterlos schien. Zumindest waren es diese historischen Bilder und alttestamentarischen Geschichten gewesen, die die Wissenschaft im letzten Jahrhundert zusammen mit ihrem Gott zu Grabe getragen hatten, während es im Koran eine Welterklärung ganz anderer Art gab, die abstrakter blieb, rein symbolisch und dadurch paradoxerweise einem gegenwärtigen wissenschaftlichen Weltbild, seiner mehrdimensionalen Mathematik, seinen Wellen, Partikeln und Superstrings, besser zu entsprechen schien.

      Hier war Gott Licht, war es wirklich, war nichts anderes als Licht, das in Spiegeln reflektierte, im Gold und Silber aufleuchtete; und er hatte nichts vom Dunkel unserer Kirchen. Dem Schrein näherte ich mich nicht. Ich stand in der Mihrab, dort wo man betet, um seinen inneren Dämon zu besiegen, aber da war nichts, an das ich glaubte, als wollte ich diese agnostische Leere bewahren; ich schritt langsam gebückt und rückwärts gehend zurück zum Portal, die Hand auf der Brust.

      Henning Scharpff vom World Food Program holte ich in seiner Absteige ab. Seine Augen war vor Müdigkeit rotumrandet, er war erst vor vier Tagen aus Herat in Afghanisten gekommen, wo er die Versorgung mit Nahrungsmitteln koordiniert hatte. Von den anfangs 200 000 in den offenen Lagern hielten sich jetzt nur 150 000 dort auf, von Talibansoldaten bewacht, die einzelne Blockführer für die Verteilung der Lebensmittel verantwortlich machte. Sie unterbreiteten oft auch gefälschte Listen oder holten sich ihren Schnitt eben anders. Als man deshalb mit Steinen auf seinen Geländewagen losging, war es schwer zu sagen, ob sie deswegen aufgebracht oder aufgehetzt worden waren. Inzwischen aber war das erste Lager geplündert worden und der Nachschub zum Erliegen gekommen, weil sich die Lastwagenfahrer weigerten, sich in der unsicheren Lage auf den Weg zu machen. Von den 8000 Tonnen, die seit dem 11. September notwendig gewesen wären, war kaum mehr als die Hälfte ausgeliefert, deshalb versuchte er jetzt von Mashad aus den Transport zu organisieren; übermorgen gingen erst einmal 150 Tonnen Hafer und Weizenmehl zur afghanischen Grenze. Das Verhältnis zwischen dem Iran und Afghanistan war immer schon gespannt gewesen, seit in Mazar-e Shariff einmarschierende Taliban damals die persischen Diplomaten der Botschaft dort massakriert hatten. Im Augenblick aber suchte er nur ein Büro. Und etwas zu Essen. Wir marschierten eine halbe Stunde durch die dunklen Straßen, bis wir schließlich ein umgetauftes Kentucky Fried Chicken fanden; das Menü, die Tische und Tabletts waren die gleichen, nur das Fanta hieß Zam-Zam.

      Es war spät geworden und ich schnappte mir ein Taxi. Kurz nach Sonnenaufgang weckte mich das Klingeln; François stand mit Pascal von den MSF unten in der Lobby, um mich zu ihrer Runde mitzunehmen. Pascal war der Doktor, jünger als ich, aber fast grau im Gesicht, eine Krankenschwester saß mit im Bus und François kümmerte sich um den Rest, aber nur wenn ich meinen Flachmann herausrückte, meinte er in seinem Marseiller Dialekt und grinste. Noch einmal, erwiderte ich, und notierte mir ihre Namen; Pierre-Pascal Vandini und François Vinsot. Der Flüchtlingsstrom, begann Pascal ohne viel Floskeln, habe nach der russischen Besetzung angefangen; aus 700 000 Menschen 1979, denen man offiziell Asyl gewährte, waren 1993 eine 1.5 Millionen geworden, und anteilsmäßig die meisten lebten hier in Mashad. Dann begann man sie zurückzuschicken, nur dafür hab es hier jemals Camps gegeben. Man säuberte Viertel für Viertel, um sie für afghanenfrei zu erklären, worauf sie untertauchten oder bei ihren Verwandten und Bekannten Unterschlupf fanden; grob geschätzt waren es jetzt 2.5 Millionen, im ganzen Land verstreut, ohne Krankenversorgung oder Schulen für die Kinder. Und kaum ein Volk, das man hier mehr als Schmuggler, Diebe und Opiumhändler verachtete. Deshalb auch habe der Iran sich neutral erklärt, sonst würde die Lage im Land unhaltbar.

      Ich sah, was er meinte, als wir aus den Vorstädten draußen waren und auf ein halb verfallenes Dorf zufuhren. Wir hielten vor der Tür eines Hauses, an dem die Lehmziegel bröckelten; neben der Schwelle lag ein großer Haufen Pistazienschalen. In jedem Zimmer, das mit dreckigen dünnen Teppichen ausgeschlagen war, wohnte eine Familie, zu fünft, zu sechst, zu acht; alle zusammen teilten sie sich die Küche und den Abtritt. Das Wasser kam von einem tropfenden Hahn, unter dem ein aufgeschnittener Plastikkanister stand. Während Pascal am Lager eines gebrechlichen Alten mit eingefallenen Wangen saß, erzählte François mir dessen Geschichte.

      Sein Sohn war ein schiitischer Mullah, in einem Dorf irgendwo nördlich von Herat, der vor den Talibanmilizen flüchten mußte. Statt seiner bedrohte man daraufhin ihn als den Vater, so daß er mit seinen gut sechzig Jahren untertags in die Berge ging und sich nur nachts zum Essen ins Haus stahl. Das ging so ein erstes Jahr, bis darauf auch die Dürre in ihrem dritten Jahr Dürre noch nicht aufhörte und sie schließlich alles Geld zusammenkratzten, gut tausend Mark pro Person, was soviel war, wie der Verkaufspreis eines Kilos Opium hier. Bis zur Grenze waren sie vierzig Tage unterwegs; einmal angelangt, wollten die Schlepper dann noch einmal soviel. Weil sie nichts mehr besaßen, wurde sein jüngster Sohn als Geisel genommen; er schuftete irgendwo als Zwangsarbeiter, solange bis sie das Geld vorstrecken könnten, von dem sie nicht wußten woher. Telefonieren durften sie nicht mit ihm, ob er oder der ältere der Sohne noch am Leben war, wußten sie genaussowenig. Vor seine Diabetes akut geworden war, hatte sich der Vater für knapp zehn Mark als Ziegelarbeiter verdingt; wenn es regnete, gab es keine Arbeit, dann sammelte er Schrott, um ihn weiterzuverkaufen. Die Frauen waren froh, Pistazien schälen zu dürfen; alle drei Tage brachte man eine neue Ladung, für die sie noch weniger erhielten; die Amerikaner, sagten sie, wären ihnen egal, sie warteten hier, bis sie sicher zurückkehren könnten.

      Dann wurde in der Moschee ein paar Leintücher aufgespannt und dahinter die mobile Krankenstation aufgebaut; die Schlange der Leute war lang, aber Zeit blieb bloß bis zum Mittagsgebet. Durch die Gassen hörte man einen schrillen Lautsprecher, die Stimme gepreßt in ihrem Staccato, bis schließlich ein dreirädriges Gefährt um die Ecke kam und aggressiv hupte. Ich fragte François; es hieß, sagte er, daß er billige Kartoffeln zu verkaufen habe, billige Kartoffeln.

      Am Nachmittag fuhr ich mit dem Taxi in Richtung afghanische Grenze; der Fahrer fragte nicht weiter, wir verständigten uns mit Brocken. Ich weiß nicht, was ich sehen wollte; vielleicht nur die Leere. Erst brache Felder, dann Kiesebenen bis zum Horizont, vergilbtes Alfalfagras, die Berge, an denen sich das Licht brach, immer heller blau schattiert dahinter. Dorther, wo einmal der Lapislazuli kam. Der Himmel seit Tagen wolkenlos, beinahe transparent. Irgendwo im staubigen Dunst drüben lief ein vierhundert Kilometer lang ein vor kurzem vom Militär aufgeschobener Wall der Grenze entlang, pyramidenförmig und selbst noch für Geländefahrzeuge zu hoch.

      Nach mehr als einer Stunde stand ein Minibus am Straßenrand, der Fahrer winkend. Wir hielten und halfen ihm mit einem Wagenheber aus. Vor den Fenstern waren Vorhänge zugezogen und man hörte Frauenstimmen leise von innen. Niemand stieg aus, also bockten wir den Wagen mit dem ganzen Gewicht auf. Beim Radwechsel sah ich, daß die Spur scharf vom Asphalt abbog und sich irgendwo in der Steppe verlief. Bei der ersten Militärkontrolle wurden wir dann zurückgewiesen; ich hatte keine Genehmigung. Ein Soldat kauerte in einer Betonröhre, den Helm auf, das Gewehr innen angelehnt; er starrte zu uns hinüber, dann wieder nach Norden, in die Wüste der Tataren.

      Auf dem Rückweg hielt ich am Flughafen, um zurück nach Teheran zu kommen. Diesmal brauchte ich nur die Visitenkarte hinzuhalten, die mir ein Ayatollah nach einem mittelalterlichen Disput mit anderen Theologen über Religion und Sprache überreicht hatte; er trug einen schwarzen Turban, zum Zeichen, daß er seine Abstammung auf Mohammed zurückverfolgen konnte. Beim Essen danach in der Botschaft mit Adolf und Magnus war ich neben ihm zu sitzen gekommen; er schwieg, ignorierte uns, schmatzte und hob dann die Tafel mit einem obszönen Witz auf. Ich roch ihn, sah die Poren in seinem Gesicht, ein säuerlich teigiger Geruch ging von ihm aus; vielleicht war es das, worin die Macht aufging. Aber so erhielt ich binnen fünf Minuten einen der in jedem Flugzeug für die Nomenklatur reservierten Sitzplätze.

      Morgens um acht war ich wieder in Teheran. Ich klapperte den Taxistand ab, bis ich einen Fahrer gefunden hatte, der genug Englisch sprach, handelte den Preis für den Tag aus. Nach einer guten Stunde waren wir ins Qazvin, das durch die Safaviden, die auch Isfahan groß werden hatten lassen, zur Hauptstadt Persiens geworden war. Danach hielten wir ins Elbrus-Gebirge, weitere drei Stunden durch die kahlen, karstigen Berge, Kehre um Kehre höher, durch Schluchten voller Walnußbäume, mehr Piste als Straße, die Berggipfel bedeckt mit dem ersten Schnee, in einer Kurve dann hinter einem Kar das kaspische Meer, in der Ferne. Die letzten zwanzig Minuten stieg ich dann den Pfad dem Felsvorsprung entlang nach Alamut hinauf, Hassan Sabahs Burg.

      Der Alte Mann vom Berg hatte dort im elften Jahrhundert seine Assassiyun um sich geschart, eine schiitische Sekte, die die Wiederkunft des verborgenen Imams und den Anbruch eines neuen Millenniums erwarteten, dem , Assass` treu, dem Fundament des Glaubens. Von dieser Basis schickte er seine Anhänger in Selbstmordkommandos, Fedayin, aus, weniger gegen die Kreuzritter, als um die bestehenden Herrschaftsverhältnisse der seljukischen Türken durch öffentliche Anschläge zu untergraben. Die Attentate fanden meistens Freitag mittags in der vollen Moschee statt, als politisches Statement, bei dem sich auch der Mörder hinrichten ließ als Martyrium, das ihm das Paradies verhieß. Der größte Terror aber hatte im Ausbildungslager dieser Burg geherrscht. Daß er sie, wie Marco Polo berichtete, durch Haschisch gefügig hielt, war ein naheliegendes Mißverständnis, aber falsch. Wein, Tanz und Musik waren in seinen Mauern verboten; wer dagegen verstieß, wurde geköpft, seine eigenen Söhne eingeschlossen. Die Legende weiß aber auch noch, daß Omar Khayyam zu seinen Jugendgefährten gehörte, jener Dichter des Weins und des Carpe Diem, dem wir als Mathematiker auch das x als Symbol verdanken, das für ihn noch xay hieß, die Sache und ihre dogmatische Gleichung mit dem Unbekannten.

      Die Wälle der Burg waren von den tatarischen Reitern Chingis Khans geschliffen worde; was jetzt auf diesem schmalen Plateau vor mir lag, war nur mehr ein Grundriß, ein anderer längst zerstörter, apokalyptischer Plan der Welt. Und der Feind längst schon eingefallen.

      Als wir wieder abends nach Teheran zurückgelangten, hatte ich Kopfweh von den Abgasen des kaputten Auspufftopfs, die nach innen drangen. Ich stieg im ehemaligen Hyatt ab, froh um ein heißes Bad und etwas anderes als Reis und Kebab. Und ein Maß der Freiheit, das sich in der Lobby durch jeden Fingerbreit zeigte, mit dem die Frauen ihre Kopftücher zurückgeschoben hatten. Im Fernsehen liefen lautlos die reruns der Luftangriffe, flirrend grün im Nachtsichtgerät, das Flackern der Luftabwehr.

      Am nächsten, dem letzten Tag sah ich im Nationalmuseum ein Relief von Gilgamesh und seinem Löwen und einen Grundstein aus Granit, in den die gleiche Keilschrift eingemeißelt war wie für seine Geschichte, diese älteste Geschichte der Welt. Auch er hatte die Pässe des Elbrus-Gebirges überschritten und war dahinter auf ein Meer gestoßen hinter dem er das ewige Leben glaubte, ohne es zu finden; er wehrte sich gegen die Götter, um mit leeren Händen in seine Stadt zurückzukehren und im Schutt wieder mit seinem Mauerbau von vorne zu beginnen. Das Relief war nicht beschriftet; niemand kannte hier mehr sein Epos, obwohl man überall Bruchstücke davon ausgegraben hatte. Es hatte sich dennoch weitertradiert; und bereits darin waren die Frauen verschleiert gewesen, selbst noch die, die er für Göttinnen hielt: aus gesenkten Lidern aufblickend.

      Den Nachmittag verbrachte ich in der Schweizer Botschaft; wir redeten die letzte Woche mit Adolf und Magnus durch, die mir ein ganz anderes, aber ebenso zweispältiges Persien vor Augen geführte hatte. Auf dem Tisch lag eine alte Zeitung, eine Luftaufnahme vom Flughafen in Kabul auf der Titelseite, die Bombenkrater auf den Landepisten wie markierte Punkte in einem Koordinatensystem, ein weiterer, schwarz-weißer Plan der Welt. Wir redeten über eine Reise der Seidenstraße nach bis Sinkiang und dann durchs Karakorum nach Lahore.

      Zum Abendessen waren wir bei Haleh eingeladen. Sie erzählte von der Grenze in Beluchistan, den beiden englischen Journalisten, die sie mitgenommen hatte, der halb für sie inszenierte Aufruhr, vor dem sie eine ruhig zusehende Polizei schließlich abgeführt hatte. Iran gegen Bahrein wurde übertragen; Iran verlor 1:3. Auf den Straßen war dann dennoch ein Auflauf, immerhin haben sie noch den zweiten Platz in der Qualifikation zur Weltmeisterschaft, hinter Saudi-Arabien. Hupen und Tröten, um im Stau zu stehen, die Fenster herunterzukurbeln und sich Anzüglichkeiten an den Kopf zu werfen, dass ich zwei Stunden zum Flughafen brauchte. Im Flugzeug nach Paris später las ich Haleh`s Story im Economist; die Journalisten hatten sie gebührend dramatisiert, sie war nicht einmal mehr zwischen den Zeilen wiederzuerkennen; genauso wie sie erzählt hatte, nahmen sie alles für bare Münze: at face value.
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      schrieb am 30.10.01 10:27:07
      Beitrag Nr. 30 ()
      Gegen Macht und Übermacht liest man Hafis

      Mit Vieldeutigkeit gegen die Widersprüche des Lebens: Wie uns das Warten auf Herrn D. den Iran nahebrachte

      Von Adolf Muschg

      Adolf Muschg (r.) mit Raoul Schrott (l.) und Hans Magnus Enzensberger im Iran

      Vor mir liegt der "Westöstliche Divan", aufgeschlagen beim Titel "Vergleichung" in den "Noten und Abhandlungen". Seit zehn Minuten warten wir auf Herrn D.

      Barrierentraktat, Extrablätter, Kardinäle, Nebenrezeß, Billard, Bierkrüge, Reichsbänke, Sessionsstühle, Prinzipalskommissarius, Enthusiasmus, Zepter-Queue, Bruststücke, Eichhornbauer, Agioteur, Schmutzfink, Inkognito, Kolloquia, kanonischer Billardsack, Gipsabdruck, Avancement, Hüttenjunge, Naturalisationsakte, Pfingstprogramm, maurerisch, Manualpantomime, amputiert, Supranumerar, Bijouteriebude, Sabbaterweg u.s.f.

      Den Basar kurioser Wörter hat Goethe aus dem zehnten "Hundsposttag" von Jean Pauls "Hesperus" herausgepickt. "Wenn nun diese sämtlichen Ausdrücke einem gebildeten deutschen Leser bekannt sind oder durch das Konversations-Lexikon bekannt werden können, gerade wie dem Orientalen die Außenwelt durch Handels- und Wallfahrtskarawanen, so dürfen wir kühnlich einen ähnlichen Geist für berechtigt halten, dieselbe Verfahrungsart auf einer völlig verschiedenen Unterlage walten zu lassen." Gedruckt 1819 als Legende zu einer virtuellen Morgenlandfahrt des inzwischen Siebzigjährigen. Er "gewältigte" die europäische Sintflut, indem er sich dem "reinen Osten" zuwandte, in der Rolle des Kindes, das mit einer Muschel den Ozean in sein Grübchen schöpfen will. Der poetische Teil des verjüngenden Maskenspiel war absolviert, auch wenn nur sein biographischer Teil, das "Buch Suleika" (mit den Gedichten der Spielgefährtin Marianne von Willemer), als "abgeschlossen gelten" konnte. Ein unerledigtes Geschäft blieb das Aperçu des österreichischen Hafis-Übersetzers Joseph von Hammer: Als besten deutschen Annäherungswert an die persische Poesie sei ein gewisser Jean Paul zu betrachten. Ausgerechnet Jean Paul, von dem Goethe zu seinen Klassiker-Zeiten nur (so sein Freund, der Kunscht-Meyer) ein paar Seiten zu lesen brauchte, daß ihn ein Ekel überkam, "und er müsse das Buch weglegen". Aber nachdem Napoleon die Welt aus den Angeln gehoben und der Wiener Kongress sie schief genug wieder eingerenkt hatte, konnte sogar aus Jean Paul, dem "personifizierten Alpdrücken der Zeit" (an Riemer, 1807) "unser so geschätzter als fruchtbarer Schriftsteller" werden, "ein wohldenkender Mann", in dessen Nähe "man sich behaglich fühlt".

      Jetzt, Oktober 2001, hat die kleine Gesandtschaft deutschsprachiger Schriftsteller auf dem "künftigen Divan" Platz genommen, den der Meister 182 Jahre früher bereitgestellt hat. Vergangenen Juni zettelten Tim Guldimann (der Schweizer Botschafter) und ich anläßlich einer Audienz im Kulturministerium spontan ein Goethe-Hafis-Symposion an, bevor (!) Präsident Khatami bei seinem Deutschland-Besuch in aller Form zum "Dialog der Kulturen" aufrief. Damit die zwei leeren Stühle, die er in Weimar einweihte, kein bloßes Denkmal bleiben, sitzen wir jetzt in Schiraz zwei iranischen Kollegen gegenüber und warten auf den dritten, Herrn D.

      Ich blicke durch die Lücke auf der anderen Tischseite geradewegs auf Hafis` Grab, einen offenen runden Pavillon, dem die Stadt zu Füßen liegt, in das noch kaum gedämpfte Herbstnachmittagslicht getaucht, auf allen Seiten von wüstenartigen Anhöhen gesäumt. Der Zeithintergrund paßt besser, als uns lieb ist: Seit dem 11. September geht die Welt unter, wie zu Goethes Zeiten das alte Europa, wie aber auch im vierzehnten Jahrhundert Hafis` Persien im Mongolensturm. Seit dem Tag unserer Ankuft suchen nebenan in Afghanistan smarte Bomben passende Ziele.

      Dagegen ist Jean Pauls kalter Wörtersalat die reine Schonkost. Zu Hause weiß ich einen lieben Kollegen, der den Speicher seines Taschencomputers schon immer mit Jean-Paul-Zitaten füllte, um, auf Abruf sozusagen, zu überleben. Das praktizieren die Perser seit siebenhundert Jahren mit ihrem Hafis. Goethe stach sich mit der Nadel Botschaften zur Lebenshilfe aus dem "Divan"; jetzt erfahren wir, daß man im Iran bis heute das Hafis-Orakel befragt, vom religiösen Führer des Landes bis zum Müllmann. Und vor allen andern die Liebenden. Hafis genießt als Dichter der Liebe im nichtarabischen Persien kaum geringere Autorität als der heilige Koran, dem der Dichter seinen Ehrennamen "Hafez" verdankt. Nur: Dieser "Bewahrer des Korans" verfügte über 99 Lesarten von Allahs Wort, und über vier gleichermaßen bindende Kommentare dazu. Als verfügte keiner über ihn, und seine Poesie blieb vergleichsweise ungebunden. Dank ihres Zaubers darf das Wort auch in Volkes Munde immer wieder werden, was es bei Hafis von Haus aus war: fromm, frech und frei.

      Keiner habe Hafis tiefer begriffen als Goethe, hat Herr D. gestern beteuert; man könne sich zwischen den Kulturen keine bessere Brücke denken. Denn zuerst trage sie von Mensch zu Mensch, Herr D. hat wegen Frechheit und Freiheit im Gefängnis gesessen. Und wäre fast wieder dort gelandet, wie andere Intellektuelle seines Landes, die an der Berliner Tagung der Böll-Stiftung teilgenommen haben. Die grünen Veranstalter haben unvermeidliche Protestler weder am Ausstoßen regimefeindlicher Parolen noch am Entblößen roter Unterwäsche zu hindern gewagt. Für soviel schöne Liberalität haben ihre Gäste, als sie nach Hause kamen, teuer bezahlt. Inzwischen sei, grinste Herr G., das Gefängnis unter Schriftstellern so beliebt, daß man rechtzeitig buchen müsse, um wieder einmal in Ruhe schreiben zu können. Die Bücher D.s, die ich vor der Reise gelesen habe, handeln von Menschen in der bitterarmen Provinz, und der Reichtum an Grautönen, mit denen er arbeitet, strahlt eine fast faszinierende Hoffnungslosigkeit aus. Ein Meister. Er darf auf sich warten lassen.

      Tim Guldimann greift zum Handy; ich bin ein wenig stolz auf einen Schweizer Diplomaten, der auf persisch fließend schimpfen kann. D.s Kollegen bewahren gute Miene; Magnus probiert auf dem Blatt, das ich ihm geliehen habe - er scheint ohne Gepäck zu reisen - Wörter wie "Kuckuck" in allen denkbaren Schriftarten aus. Raoul unterhält sich mit einer Mitarbeiterin der Botschaft; im Rahmen ihres schwarzen Kopftuches ist sie das Bild einer schönen Frau. Mit den persischen Kollegen rennt Guldimann offene Türen ein. Hafis, ein ketzerischer Autor? dessen Verse, der Fatwa ausgesetzt, im Samisdat zirkulieren mußten? Allah sei Dank! Wie sonst hätte er seiner Kultur so viel bedeuten können?

      Wieviel, haben wir am Vorabend erlebt, an der freien Luft, und saßen dabei in der ersten Reihe. Die Stadt feiert Hafis` 700. Geburtstag in der Gartenanlage vor seinem Grab mit einer Art Weihefest-Musical. Voraus ging ein Redemarathon, bei dem auch wir drei Zugeflogenen einigen tausend Zuschauern unsere Grußbotschaft ausrichten durften. Der Zufall hatte mich neben die bildschöne Dolmetscherin gesetzt, die mir, die Lippen an meinem Ohr, hineinschrie, was ich auf der Bühne sehen, doch nur ausnahmsweise verstehen konnte. Schreien war notwendig, weil wir dicht neben einem Lautsprecher saßen, und so hatte auch der Körperkontakt, in dem wir beim Dialogisieren gerieten, überaus sachliche Gründe. Immerhin schien mir seine Unbefangenheit im bemerkenswerten Kontrast zum Verbot zu stehen, einem weiblichen Wesen auch nur die Hand zu reichen.

      Auch hier gehörte zu den Themen, in die meine Nachbarin und ich diskret brüllend vertieft waren, unvermeidlich die Person des Herrn D. Er saß mit seinem gesträubten fuchsfarbenen Schnauzbart im charaktervoll entfleischten Steppenreitergesicht nur wenige Sitze entfernt im Rampenlicht, und seine wasserhellen Augen sprühten. Er sei Kandidat für den ersten persischen Nobelpreis, hauchte mir die Schöne überlaut ins Ohr, vielleicht erhalte er ihn schon dieses Jahr.

      Aber nun fehlte er immer noch.

      Ich blickte durch die offene Tür auf das luftige Dichtergrab in der Nachmittagssonne. Es war wieder entvölkert, bis auf eine Gruppe junger Frauen, die sich in ihrer Nonnentracht um den Sarkophag sammelten, einen schlichten Alabasterkasten. Aber er stand nicht im Zentrum des Gedränges, das immer neue Mädchen anzog. Plötzlich sprang die Runde auf, und eine männliche Gestalt wand sich heraus, die mit jedem Schritt, den sie in unsere Richtung tat, unverkennbarer wurde. Kein anderer als Herr D. hatte sich, wie Orpheus den Mänaden, der Umarmung seiner Leserinnen entrungen, schon konnte man seinen Husarenbart wippen sehen. Während er seinem versäumten Arbeitsplatz entgegenhüpfte, rückte er sich die Krawatte auf dem gelben Seidenhemd zurecht, winkte mit der Hand, konnte gar nicht aufhören zu erscheinen und war schließlich da, ganz und gar. Für die Verspätung machte er Dichterschicksal geltend: so viele Küsse, die er sich von seinen Fans hatte gefallen lassen müssen! Küsse? Wir hatten uns nicht verhört, er trug die Spuren der Zumutung deutlich im Gesicht. Aber fast unvermittelt lag dieses wieder in den tiefen Falten, die der Dialog der Kulturen, noch mehr: die Trauer über seine eigene gebot, und war dabei keine Spur weniger glaubwürdig.

      Gegen Macht und Übermacht, Gewalt und Zerstörung liest man in Persien den Hafez, wie er selbst den Koran gelesen hat: mit der nötigen - dem Leben unter allen Umständen nötigen - Vieldeutigkeit. In ihr findet man etwas von dem mehrfachen Sinn wieder, den der allmächtige Gott seinen Geschöpfen mitgegeben hat und auch die heiligste Lesart Seiner Schrift nicht verkürzen darf, wenn sie vor den profanen Widersprüchen des Lebens bestehen soll. Subtile Lektüre von Gottes doppelter Buchführung mag nicht die Kraft haben, Unglück abzuwenden, oft nicht einmal: das Leben zu retten. Aber sie rettet seinen Doppelsinn, "des Lebens Leben", das Goethe in seinem Divan "Geist" genannt hat.

      Um - beispielsweise - den mehrfachen Sinn des Tschador kennenzulernen, muß man eine emanzipierte Iranerin reden hören: Ohne das "Symbol der Unterdrückung" wäre es keinem Mädchen - schon gar nicht auf dem Lande - von Vater und Brüdern erlaubt worden, Haus und Hof unbegleitet zu verlassen, um ihren eigenen Weg zu suchen, in der Berufslehre oder an der Universität. Oder, nochmals beispielsweise: Der landläufige Männerblick kann eine Frau nicht ansehen, ohne zugleich ihre Figur zu taxieren. Auch wenn diese "vorteilhaft" sein sollte: Die Tyrannei dieser Abschätzung können viele Frauen entbehren. Das im schwarzen Rahmen gezeigte weibliche Gesicht verlangt nicht nur einen anderen Blick, es erlaubt ihn auch. Bin ich für Schönheit jemals so ungezwungen aufmerksam gewesen wie in Iran, wo sie mir in dieser konzentrierten, für jede Schattierung des Ausdrucks empfindlichen Form begegnete? Die Kultur des Austauschs zeigt sich in der Verknappung des Angebots, nicht in seiner Inflation.

      Den Abschluß der Tage in Schiraz bildete eine gemeinsame Lesung aller sechs beteiligten Schriftsteller in einem Theatersaal. Der Applaus begann schon, bevor wir die Bühne betraten, und beim Auftritt Herrn D.s steigerte er sich zur Ovation. Sein älterer Kollege las ein Stück vor, das nur aus klagenden A-Lauten zu bestehen schien; da sprang D. auf und umarmte ihn lange. Als er auf seinen Stuhl zurückgekehrt war, tropften ihm Tränen auf das Manuskript, was ihn nicht hinderte, mit mächtigem Baß daraus vorzutragen. Es war das letzte Wort des Abends, und was hätte Herr D. anderes sagen und singen können als ein Lob Goethes? Lieblos betrachtet, war es nichts weiter als eine Vorstellung seiner Lebens- und Werkdaten; geistvoll vorgetragen, war es die Legende eines Wunders, das sich weit weg, in einem westlichen Paradies der Weltseele, zugetragen hatte und dem, außer Ehrfurcht, nichts beizufügen war. Goethe hatte Hafis verstanden, und in diesem Geist verstanden nun auch wir einander, dankbare Söhne und Töchter von beiden.

      Das Publikum bestand überwiegend aus Töchtern, und so ereignete sich das nächste Wunder: Fast alle stürmten sie die Bühne und deckten uns förmlich zu. Sie drängten auf unsere Schriften, wenigstens Unterschriften, auf unsere Adressen, selbstverständlich E-Mail. So schrieben die Schriftsteller ihren Namen auf die hingehaltenen Programmränder, überwältigt von einem schwarzen Getümmel, das ihnen kaum genug Raum ließ, die Ellbogen zu spreizen. All diese schönen Mädchen kannten uns nicht, die wenigsten konnten uns lesen, aber sie hatten uns gehört und gesehen, und schon waren sie unsere Fans. Wehe dem Land, das soviel Liebe zu den Dichtern nötig hat! Herrn D., der in der schwarzen Welle untergegangen war, mögen sie wieder geküßt haben - doch angefaßt, das werde ich noch am Jüngsten Gericht beschwören, angefaßt hat uns nicht eine.

      Erst als ich, wieder in Teheran, Bilder des Fußballspiels Iran - Irak sehe, das, obwohl es (Allah sei gepriesen) 2:1 ausgeht, einen bedrohlichen Volksauflauf hervorruft, fällt mir auf, daß auch die außerislamische Welt ein Spiel kennt, in dem es (außer dem Torhüter) verboten ist, Hände zu gebrauchen. Mit allen Mitteln darf der Ball transportiert werden, außer denen, die eigentlich dafür geschaffen sind. Sollte es seinen Reiz, seine weltweite Popularität gerade dieser künstlichen Invalidität verdanken, die einen um so besser gekonnten, manchmal akrobatischen Einsatz des übrigen Körpers gebietet und eine elaborate Mannschaftsorganisation? Sind die elf Freunde auf dem Platz so etwas wie die Antwort des Westens auf den Prätext des Korans, wie geschaffen für wahre Meister des Spiels wie Hafis oder wie heute unser Freund D.?

      Oder wie Jean Paul? Was hat Schillers kollegiale Zunge über den "Tragelaphen" (teils Hirsch, teils Elefant) Juni 1796 nach Weimar zu melden gewußt? Dieser sei "herzlich geneigt, die Dinge außer sich zu sehen, nur nicht mit dem Organ, womit man sieht". Quod erat demonstrandum, so schließt sich der Kreis - und runde sich ein Vergleich, zu dem Goethe seinen Segen gesprochen hat, nicht ohne den kameralistischen Stil seines Alters zu würzen mit der Ironie des Schlingels: "Gestehen wir also unserem Schriftsteller zu, daß er, in späteren Tagen lebend, um in seiner Epoche geistreich zu sein, auf einen durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb so unendlich verklausulierten, zersplitterten Zustand mannigfaltigst anspielen müsse, so glauben wir ihm die zugesprochene Orientalität genugsam bestätigt zu haben."

      Hans Magnus Enzensberger hat es schon anders gesagt, aber, glaube ich, nicht ganz anders gemeint.

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.2001, Nr. 252 / Seite 53
      Avatar
      schrieb am 31.10.01 14:33:28
      Beitrag Nr. 31 ()
      Essay von Arundhati Roy

      Krieg ist Frieden

      Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy nennt den amerikanischen Bombenkrieg "nur einen weiteren terroristischen Akt"



      Autorin Roy


      Als sich am Sonntag, dem 7. Oktober 2001, die Dunkelheit auf Afghanistan senkte, startete die US-Regierung ihre Luftangriffe auf Afghanistan, unterstützt durch die Internationale Koalition gegen den Terror (den neuen, fügsamen Ersatz für die Vereinten Nationen). Die Fernsehsender brachten computeranimierte Bilder von Marschflugkörpern, Stealth Bombern, "Bunkerbrechern" und MK-82-High-Drag-Bomben. Auf der ganzen Welt schauten kleine Jungen mit großen Augen zu und vergaßen, nach neuen Videospielen zu quengeln.

      Die Uno, inzwischen auf ein unwirksames Kürzel reduziert, wurde nicht einmal ersucht, die Luftangriffe zu genehmigen. (Wie denn Madeleine Albright einst bemerkte, handeln die USA "multilateral, wenn wir können, und unilateral, wenn wir müssen".) Die "Beweise" gegen die Terroristen wurden in der "Koalition" unter Freunden herumgereicht. Nach dem Treffen ließ man verlauten, es spiele keine Rolle, ob die "Beweise" vor einem ordentlichen Gericht Bestand hätten oder nicht. Auf diese Weise wurden in einem Augenblick Jahrhunderte der Rechtsprechung fahrlässig zunichte gemacht.

      Nichts kann einen terroristischen Akt entschuldigen oder rechtfertigen, ganz gleich, ob er von religiösen Fundamentalisten, von Milizen, von Widerstandsbewegungen begangen wird - oder ob er als Vergeltungskrieg einer anerkannten Regierung daherkommt. Die Bombardierung Afghanistans ist keine Rache für New York und Washington. Sie ist nur ein weiterer terroristischer Akt gegen die Menschen auf der Welt. Jede unschuldige Person, die getötet wird, muss hinzugezählt werden, nicht verrechnet mit der entsetzlichen Zahl der in New York und Washington gestorbenen Zivilisten.

      Zorniger Protest gegen die Bomben auf Afghanistan
      In einem SPIEGEL-Essay nennt die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, 41, den amerikanischen Bombenkrieg gegen das Taliban-Regime in Kabul "nur einen weiteren terroristischen Akt" und beklagt den Tod vieler unschuldiger afghanischer Zivilisten. Roy, die mit dem 1996 veröffentlichten Roman "Der Gott der kleinen Dinge" - der Geschichte einer Liebe, die gegen die Regeln des indischen Kastensystems verstößt - weltberühmt wurde, versteht sich schon seit Jahren als Polit-Aktivistin. Bereits wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September hatte Roy mit einem von der "Frankfurter Allgemeinen" gedruckten Beitrag für Diskussionen gesorgt: Widerspruch erregte vor allem ihre Behauptung, der Terroristenführer Osama Bin Laden sei der "dunkle Doppelgänger" des US-Präsidenten George W. Bush, und die Politik der USA trage eine Mitverantwortung für die Terrorattacken. Roy, die während ihrer Ausbildung zur Architektin unter anderem in Florenz studierte, kam über die Arbeit an Drehbüchern und Dokumentarfilmen zur Literatur. Wegen ihres politischen Engagements, das sich auch gegen indische Atombombentests und ein Staudammprojekt richtet, droht ihr in ihrem Heimatland eine Haftstrafe.



      Selten werden Kriege von Menschen gewonnen, selten werden sie von Regierungen verloren. Menschen kommen um, Regierungen häuten und regenerieren sich wie das Haupt der Hydra. Sie verwenden Flaggen, um erst die Hirne der Leute luftdicht einzuwickeln und echtes Nachdenken zu ersticken und dann, um sie als feierliche Leichentücher über die verstümmelten Toten zu breiten. Auf beiden Seiten, in Afghanistan wie in Amerika, dienen Zivilisten heute ihren Regierungen und deren Aktionen als Pfand. Ohne es zu wissen, teilen die Leute in beiden Ländern eine Gemeinsamkeit: Sie müssen mit dem Phänomen des blinden, unvorhersehbaren Terrors leben. Jeder Bombenladung, die auf Afghanistan fällt, entspricht die wachsende Massenhysterie in Amerika angesichts von Milzbrand, Entführungen und anderen terroristischen Untaten.

      Es gibt keinen einfachen Weg aus dem brodelnden Morast von Terror und Brutalität, dem die Welt heute gegenübersteht. Es wird Zeit für die Menschen innezuhalten. Was am 11. September geschah, hat die Welt für immer verändert. Freiheit, Fortschritt, Wohlstand, Technik, Krieg - diese Begriffe haben eine neue Bedeutung. Regierungen müssen die Veränderung einsehen und ihre neuen Aufgaben mit einem Körnchen Ehrlichkeit und Demut angehen. Leider fehlt bis heute jedes Zeichen von Einsicht bei den Führern der Internationalen Koalition. Oder den Taliban.

      Als Präsident Bush die Luftangriffe ankündigte, sagte er: "Wir sind eine friedliche Nation." Amerikas Lieblingsbotschafter Tony Blair (gleichzeitig Premier von Großbritannien) betete nach: "Wir sind ein friedliches Volk."

      Jetzt wissen wir Bescheid. Schweine sind Pferde. Mädchen sind Jungen. Krieg ist Frieden.

      Ein paar Tage später sagte Präsident Bush in einer Rede vor dem FBI: "Dies ist unsere Berufung. Die Berufung der Vereinigten Staaten von Amerika. Der freiesten Nation der Welt. Einer Nation, die sich auf fundamentale Werte gründet, gegen Hass, gegen Gewalt, gegen Mörder und gegen das Böse. Wir werden nicht weichen."

      Hier folgt eine Liste von Ländern, mit denen Amerika seit dem Zweiten Weltkrieg Krieg geführt hat, die es bombardiert hat oder in denen es zumindest in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt war: Korea (1950 bis 1953), Guatemala (1954, 1967 bis 1969), Indonesien (1958), Kuba (1959 bis 1961), Belgisch-Kongo (1965), Laos (1964 bis 1973), Vietnam (1961 bis 1973), Kambodscha (1969 bis 1970), Grenada (1983), Libyen (1986), El Salvador (achtziger Jahre), Nicaragua (achtziger Jahre), Panama (1989), Irak (seit 1991), Bosnien (1995), Sudan (1998), Jugoslawien (1999). Und jetzt Afghanistan.

      Bestimmt wird sie nicht weichen - diese freieste Nation der Welt. Doch welche Freiheit hält sie denn aufrecht? Innerhalb der eigenen Grenzen Redefreiheit, Religionsfreiheit, Gedankenfreiheit; die des künsterischen Ausdrucks, der Essgewohnheiten, der sexuellen Vorlieben (na ja, bis zu einem gewissen Grad) und vieles andere, alles ganz musterhaft und wunderbar. Außerhalb der eigenen Grenzen die Freiheit zu dominieren, zu erniedrigen und zu unterwerfen - gewöhnlich unter die wahre Religion Amerikas, den "freien Markt". Wenn also die US-Regierung einen Krieg Operation "Grenzenlose Gerechtigkeit" tauft oder Operation "Dauerhafte Freiheit", dann spüren wir in der Dritten Welt mehr als leise Furcht. Weil wir wissen, dass Grenzenlose Gerechtigkeit für die einen Grenzenlose Ungerechtigkeit für die anderen bedeutet. Und Dauerhafte Freiheit für die einen Dauerhafte Unterjochung für die anderen.

      Die Internationale Koalition gegen den Terror ist vor allem eine Intrige der reichsten und mächtigsten Länder der Welt. Sie produzieren und verkaufen fast alle Waffen der Welt, sie besitzen den größten Bestand an chemischen, biologischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen. Sie haben die meisten Kriege geführt, sind die Hauptverantwortlichen der modernen Geschichte für Völkermorde, Unterwerfungen, ethnische Säuberungen und Menschenrechtsverletzungen, haben ungezählte Diktatoren und Despoten gefördert, bewaffnet und finanziert. Sie huldigen einem Kult der Gewalt, sie haben den Krieg förmlich zum Gott erhoben. Bei all ihren abscheulichen Vergehen kommen die Taliban da wirklich nicht mit.

      Die Taliban entstanden in den Nachwehen des Kalten Krieges im brüchigen Sammelbecken voll Schutt, Heroin und Landminen. Ihre ältesten Führer sind gerade Anfang vierzig. Viele von ihnen sind entstellt und verkrüppelt, haben ein Auge verloren oder einen Arm, ein Bein. Sie sind aufgewachsen in einer beschädigten und durch den Krieg verwüsteten Gesellschaft. Insgesamt sind aus der Sowjetunion und Amerika seit über 20 Jahren Waffen und Munition im Wert von etwa 45 Milliarden Dollar nach Afghanistan geflossen.


      Die neuesten Waffen waren das einzig Moderne, das in diese im Innersten mittelalterliche Gesellschaft vordrang. Die kleinen Jungen - viele von ihnen verwaist -, die damals aufwuchsen, hatten Gewehre als Spielzeug und erlebten nie die Geborgenheit und den Trost einer Familie, nie die Gesellschaft von Frauen. Heute, als Erwachsene und Herrscher, da schlagen, steinigen, vergewaltigen und misshandeln die Taliban Frauen, sie scheinen nicht zu wissen, was sie sonst mit ihnen anfangen sollen. Jahrelanger Krieg hat ihnen ihre Sanftheit genommen, sie gegen Freundlichkeit und Mitgefühl immun gemacht. Sie tanzen zu den stampfenden Rhythmen der Bomben, die um sie herum niederregnen. Jetzt richten sie ihre Grausamkeit gegen das eigene Volk.



      Bei allem Präsident Bush geschuldeten Respekt: Die Menschen auf der Welt müssen nicht zwischen den Taliban und der US-Regierung wählen. Alles Schöne der menschlichen Zivilisation - unsere bildende Kunst, unsere Musik, unsere Literatur - befindet sich jenseits dieser beiden fundamentalistischen, ideologischen Pole. Die Aussicht, dass alle Menschen auf der Welt zu mittelständischen Verbrauchern werden können, ist ebenso unrealistisch wie die, dass alle einer einzigen Religion folgen werden.


      REUTERS


      Opfer der US-Angriffe vom 21. Oktober: "Ein Morast von Brutalität"


      Es geht ja nicht um Gut gegen Böse oder um Islam gegen Christentum, sondern um Raum. Darum, dass man Unterschiede miteinander in Einklang bringt, dass man den Drang nach Hegemonie zügelt - jeder Art von Hegemonie, sei sie ökonomisch, militärisch, sprachlich, religiös oder kulturell. Jeder Ökologe wird Ihnen sagen, wie gefährlich und empfindlich eine Monokultur ist. Eine hegemoniale Welt lässt sich mit einer Regierung ohne gesunde Opposition vergleichen. Sie wird zu einer Art Diktatur. Als stülpte man eine Plastiktüte über die Welt und hinderte sie am Atmen. Doch diese Tüte wird schließlich aufgerissen.


      Eineinhalb Millionen Afghanen haben ihr Leben verloren in den mehr als 20 Jahren des Konfliktes, der diesem neuen Krieg vorausging. Afghanistan wurde in Trümmer gelegt, jetzt werden diese Trümmer zu feinem Staub zerrieben. Am zweiten Tag des Luftangriffs kehrten die US-Piloten zu ihren Basen zurück, ohne die ihnen zugeteilte Nutzlast an Bomben abgeworfen zu haben. Einem der Piloten zufolge ist Afghanistan "kein an Zielen reiches Territorium". Donald Rumsfeld, US-Verteidigungsminister, wurde auf einer Pressekonferenz im Pentagon gefragt, ob Amerika die Ziele abhanden gekommen seien.

      "Erstens werden wir Ziele zum zweiten Mal treffen", sagte er, "und zweitens, nicht uns kommen die Ziele abhanden, sondern Afghanistan." Was im Konferenzsaal mit einer Lachsalve begrüßt wurde.

      Regierungen verwenden Flaggen erst, um die Hirne der Leute Luftdicht einzuwickeln - und dann, um sie als feierliche Leichentücher über die Toten zu breiten.

      Am dritten Tag des Luftschlages prahlte das US-Verteidigungsministerium, man habe die "Lufthoheit über Afghanistan erlangt". (Wollten sie damit sagen, dass sie beide - oder sind es gar 16? - afghanischen Flugzeuge zerstört hätten?)

      In Afghanistan gewinnt die Nordallianz - der alte Feind der Taliban und damit der neueste Freund der Internationalen Koalition - an Boden beim Vorstoß auf die Eroberung Kabuls. (Für die Archive soll noch erwähnt sein, dass die Taten der Nordallianz sich von denen der Taliban nicht sonderlich unterscheiden. Doch wird dieses störende Detail vorerst vertuscht.) Der sichtbare, moderate, "akzeptable" Führer der Allianz, Ahmed Schah Massud, starb Anfang September durch ein Selbstmord-Attentat. Der Rest der Nordallianz ist ein brüchiger Verband brutaler Kriegsherren, Ex-Kommunisten und unbeugsamer Kleriker. Eine in verschiedene ethnische Fraktionen zerrissene Gruppe, deren Mitglieder früher die Wonnen der Macht in Afghanistan gekostet haben.

      Bis zu den US-Luftschlägen kontrollierte die Nordallianz etwa zehn Prozent Afghanistans. Heute, mit Hilfe der Koalition und "Unterstützung aus der Luft", ist sie bereit, die Taliban zu stürzen. Mittlerweile laufen die Soldaten der Taliban zur Nordallianz über, aus Angst vor einer unmittelbar drohenden Niederlage. Die kämpfenden Truppen sind also damit beschäftigt, die Seiten und die Uniformen zu wechseln. Doch bei einem zynischen Unterfangen wie diesem hat das wohl wenig zu bedeuten. Liebe ist Hass, Nord ist Süd, Frieden ist Krieg.

      Die globalen Mächte reden davon, eine "repräsentative Regierung einzusetzen". Oder aber den 87-jährigen ehemaligen König von Afghanistan wieder "einzusetzen", Zahir Schah, der seit 1973 im römischen Exil lebt. So läuft das Spiel. Erst heißt es: Unterstützt Saddam Hussein, dann: Schafft ihn beiseite; erst: Finanziert die Mudschahidin, dann: Zerbombt sie in tausend Stücke; jetzt also: Setzt Zahir Schah ein und wartet ab, ob er artig ist. (Kann man eine repräsentative Regierung "einsetzen"? Kann man sich eine Portion Demokratie bestellen - mit Extra-Käse und Jalapeño-Chilis?)

      Langsam sickern Berichte über die Opfer in der Zivilbevölkerung durch, über sich leerende Städte, weil die afghanischen Landeskinder an die Grenzen drängen, die geschlossen sind. Wichtige Durchgangsstraßen wurden in die Luft gejagt oder gesperrt. Sachkundige, die in Afghanistan gearbeitet haben, sagen, dass bis Anfang November keine Lebensmitteltransporte bei den Millionen Afghanen (7,5 Millionen laut Uno) eintreffen können, die unmittelbar davon bedroht sind, im kommenden Winter zu verhungern. Sie sagen, dass es in den wenigen Tagen bis Winteranbruch entweder den Krieg oder den Versuch geben kann, Lebensmittel zu den Hungernden zu bringen. Nicht beides.

      Als Geste der Menschlichkeit hat die US-Regierung zu Beginn der Luftangriffe 37 000 Notrationen über Afghanistan abgeworfen. Sie sagt, sie plane, insgesamt 500 000 Päckchen abzuwerfen. Auch das bedeutet nur eine einzige Mahlzeit für 500 000 der Millionen von Menschen, die dringend Nahrung brauchen. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen verdammen dies als eine zynische, gefährliche PR-Maßnahme. Sie halten Lebensmittelrationen aus der Luft für mehr als sinnlos. Erstens, weil die Päckchen nie bei denen landen, die sie wirklich nötig haben, zweitens und schlimmer, weil alle, die hinlaufen, um sie einzusammeln, riskieren, von Landminen zerrissen zu werden. Ein tragisches Rennen um Almosen.

      Immerhin bekamen die Notpäckchen ihren exklusiven Fototermin. Ihr Inhalt wurde in den großen Zeitungen aufgelistet. Sie waren vegetarisch, erfuhren wir, gemäß den muslimischen Ess-Regeln(!). Die gelben, mit der amerikanischen Flagge verzierten Päckchen enthalten: Reis, Erdnussbutter, Bohnensalat, Erdbeermarmelade, Kekse, Fladenbrot, einen Apfel-Müsli-Riegel, Gewürze, Streichhölzer, Plastikbesteck, eine Serviette und eine illustrierte Gebrauchsanweisung.

      Nach drei Jahren anhaltender Dürre ein Airline-Mahl vom Himmel hoch in Dschalalabad! Das Niveau der kulturellen Dummheit, das fehlende Verständnis dafür, was monatelanger, erbarmungsloser Hunger und bittere Armut wirklich bedeuten, der Versuch der US-Regierung, noch durch das äußerste Elend das eigene Selbstverständnis aufzubessern, lässt sich nicht in Worte fassen.

      Drehen Sie doch dieses Szenario einmal um. Stellen Sie sich vor, die Taliban-Regierung bombardierte New York und redete unentwegt davon, ihr wahres Ziel sei die US-Regierung und deren Politik. Und angenommen, in den Bombenpausen würfen die Taliban ein paar tausend Päckchen mit Nan und Kebab ab, aufgespießt auf kleine afghanische Flaggen. Hätten die guten Leute von New York je die Größe, der afghanischen Regierung zu vergeben? Selbst wenn sie hungrig wären, wenn sie das Essen bräuchten und wenn sie es äßen, wie könnten sie je diese Beleidigung vergessen, diese Herablassung? Der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani schickte das Geschenk eines saudischen Prinzen über 10 Millionen Dollar zurück, weil ein kleiner freundlichen Rat zur amerikanischen Nahost-Politik beilag. Ist Stolz ein Luxus, der nur den Reichen zusteht?

      Weit davon entfernt, den Terrorismus auszumerzen, lässt eine solche Wut ihn erst entstehen. Hass und Vergeltung können nicht mehr rückgängig gemacht werden, sind sie einmal entstanden. Für jeden "Terroristen", jeden "Handlanger" der getötet wird, werden auch Hunderte unschuldiger Menschen getötet. Und an die Stelle von hundert Unschuldigen, die sterben mussten, treten wahrscheinlich ein paar künftige Terroristen.

      Wo wird das alles enden?

      Vergessen Sie einmal die Rhetorik und überlegen Sie, dass die Welt bisher keine vernünftige Definition von "Terrorismus" kennt. Des einen Terrorist ist nur allzu oft des anderen Freiheitskämpfer. Im Kern der Sache steckt eine weltweit tief sitzende Ambivalenz gegenüber der Gewalt. Ist Gewalt erst einmal als legitimes Instrument der Politik akzeptiert, wird aus der Moral und der politischen Akzeptanz von Terroristen (Aufständische oder Freiheitskämpfer) umstrittenes, unwegsames Terrain.

      Weltweit hat auch die US-Regierung zahlreiche Rebellen und Aufständische finanziert, bewaffnet und beherbergt. Die CIA und Pakistans ISI haben die Mudschahidin instruiert und bewaffnet - in den achtziger Jahren Terroristen für die Regierung im sowjetisch besetzten Afghanistan. Während der damalige Präsident Reagan mit ihnen für ein Gruppenfoto posierte und sie als moralisches Ebenbild der amerikanischen Gründungsväter hinstellte.



      Heute fördert Pakistan - Amerikas Verbündeter in diesem neuen Krieg - Aufständische, die ins indische Kaschmir gehen. Pakistan rühmt sie als "Freiheitskämpfer". Indien nennt sie "Terroristen". Indien wiederum brandmarkt Länder, die Terrorismus fördern und begünstigen, doch Indiens Armee hat früher separatistische tamilische Rebellen ausgebildet, die eine Heimat für sich in Sri Lanka forderten - sie sind verantwortlich für zahllose blutige Terroranschläge. (So, wie die CIA die Mudschahidin fallen ließ, als sie ihren Zweck erfüllt hatten, kehrte Indien den tamilischen Rebellen aus vielerlei politischen Gründen abrupt den Rücken. Es war eine aufgebrachte tamilische Selbstmordattentäterin, die 1991 den ehemaligen indischen Premier Rajiv Gandhi ermordete.)

      Regierungen und Politiker müssen begreifen, dass es zwar kurzfristige Resultate bringen kann, diese enormen, blindwütigen Gefühle der Menschen für eigene, engstirnige Zwecke zu manipulieren, dass dergleichen aber unerbittlich katastrophale Folgen hat. Religiöse Gefühle aus Gründen der politischen Nutzbarkeit zu entfachen und auszunutzen ist das gefährlichste Vermächtnis, das Regierungen oder Politiker einem Volk hinterlassen können - auch ihrem eigenen. Menschen, die in einer durch religiöse oder kommunale Bigotterie zerrütteten Gesellschaft leben, wissen, dass jeder religiöse Text - von der Bibel bis zur Bhagawadgita - untergraben und fehlinterpretiert werden kann, um alles vom Atomkrieg über Völkermord bis zur kollektiven Globalisierung zu rechtfertigen.

      Für jeden Terroristen sterben hunderte unschuldiger Zivilisten. Und an deren Stelle treten ein paar künftige Terroristen. Wie soll das enden?

      Dies soll nicht heißen, dass die Terroristen, die am 11. September das Entsetzliche getan haben, nicht verfolgt und zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Das müssen sie. Ist aber ein Krieg der beste Weg, um sie aufzuspüren? Wird man die Nadel finden, wenn man den Heuhaufen niederbrennt? Oder wird es den Zorn schüren und die Welt zur wahren Hölle für uns alle machen?

      Wie viele Leute kann man denn schließlich ausspionieren, wie viele Bankkonten einfrieren, wie viele Gespräche belauschen, wie viele E-Mails abfangen, wie viele Briefe öffnen, wie viele Telefone abhören? Schon vor dem 11. September hatte die CIA mehr Informationen zusammengetragen, als sich in einem Menschleben auswerten lassen. Das schiere Ausmaß der Überwachung wird zum logistischen, ethischen und bürgerrechtlichen Alptraum. Es wird uns glatt um den Verstand bringen. Und die Freiheit - dieses kostbare Gut - wird ihr erstes Opfer. Sie ist jetzt schon schwer verletzt und blutig geschlagen.



      Regierungen in der ganzen Welt verwerten die herrschende Paranoia zynisch für ihre eigenen Interessen. Alles Mögliche an unvorhersehbaren politischen Kräften wird freigesetzt. In Indien, zum Beispiel, sind Mitglieder des "All India People`s Resistance Forum" im Gefängnis, weil sie in Delhi Antikriegs- und Anti-US-Pamphlete verteilten. Sogar der Drucker dieser Streitschriften wurde verhaftet. Die rechtsgerichtete Regierung (die gleichzeitig extremistische hinduistische Gruppen wie die "Vishna Hindu Parishad" und die "Bajrang Dal" schützt) hat das "Students Islamistic Movement of India" verboten und versucht, ein Antiterror-Gesetz neu aufzulegen, das kassiert wurde, nachdem die Menschenrechtskommission berichtete, es werde mehr missbraucht als gebraucht. Millionen indischer Bürger sind Muslime. Bringt es irgendeinen Nutzen, wenn man sie ausgrenzt?

      Mit jedem Tag, den der Krieg dauert, überschwemmen blindwütige Emotionen die Welt. Die internationale Presse hat wenig oder gar keinen freien Zugang zum Kriegsgebiet. Die Mainstream-Medien, besonders die amerikanischen, sind jedenfalls mehr oder weniger umgefallen und lassen sich gern den Bauch pinseln durch Pressemappen von Militärs und Regierungsbeamten. Afghanische Radiosender sind ausgebombt. Die Taliban hatten für die Presse schon immer nur tiefes Misstrauen übrig. In einem Propagandakrieg gibt es keine genaue Einschätzung darüber, wie viele Menschen getötet wurden oder wie groß die Zerstörung war. Ohne verlässliche Informationen wuchern die Gerüchte.

      Wenn Sie in diesem Teil der Welt Ihr Ohr auf die Erde legen, dann können Sie das Dröhnen hören, den tödlichen Trommelwirbel des aufwallenden Zorns. Bitte, bitte stoppen Sie den Krieg jetzt! Genug Menschen sind gestorben. Die schlauen Raketen sind einfach nicht schlau genug. Sie bringen endlose, unterdrückte Wut zum Explodieren.

      Präsident George Bush prahlte neulich, es sei ja wohl Unsinn, "mit einer Zwei-Millionen-Dollar-Rakete auf ein leeres Zelt oder einen Kamelhintern zu schießen". Präsident Bush sollte wissen, dass es in Afghanistan keine Ziele gibt, die den Preis seiner Raketen wert sind. Vielleicht sollte er ein paar billigere Raketen für billigere Ziele und billigere Leute in den armen Ländern der Welt bauen, und wäre es nur für den Etatausgleich. Doch das erschiene am Ende den Waffenherstellern der Koalition als nicht sehr vernünftig, geschäftlich gesehen.

      Nach drei Jahren anhaltender Dürre ein Airline-Mahl vom Himmel hoch in Dschalalabad. Wer hinläuft, riskiert, von Landminen zerrissen zu werden.

      Und vergessen Sie nicht, dass Präsident George Bush junior und Vize-Präsident Dick Cheney beide ihr Vermögen der Ölindustrie verdanken. Allein Turkmenistan, das an den Nordwesten Afghanistans grenzt, verfügt über gewaltige Gasvorkommen und geschätzte drei Milliarden Barrel Ölreserven. Amerika hat Öl immer als Sicherheitsfrage betrachtet und mit allen Mitteln geschützt, die es für nötig erachtete. Wenige von uns bezweifeln, dass seine militärische Präsenz im Golf weniger mit seinen Sorgen um die Menschenrechte als mit seinem strategischen Interesse am Öl zusammenhängt.

      Öl und Gas aus der Kaspischen Region fließen gegenwärtig nordwärts auf die europäischen Märkte zu. Geografisch wie politisch bilden Iran und Russland große Hindernisse für die amerikanischen Interessen. 1998 sagte Dick Cheney - damals Chef von Halliburton, einem wichtigen Player in der Ölindustrie: "Ich kann mich an keinen Zeitpunkt erinnern, wo für uns eine Region so plötzlich strategisch so wichtig wurde wie die kaspische. Fast scheint es, als wären die Gelegenheiten über Nacht entstanden." Wie wahr.

      Seit einigen Jahren nun verhandelt ein amerikanischer Ölgigant namens Unocal mit den Taliban über die Genehmigung, eine Ölpipeline durch Afghanistan nach Pakistan bis ins Arabische Meer zu bauen, weil Unocal sich einen Zugang zu den lukrativen "Emerging Markets" in Süd- und Südost-Asien erhofft. 1997 reiste eine Abordnung der Taliban nach Amerika und traf in Houston sogar mit Beamten des US-Außenministeriums und mit Unocal-Führungskräften zusammen.

      Anders als heute galten damals die Vorliebe der Taliban für öffentliche Hinrichtungen und ihre Behandlung afghanischer Frauen nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Während der folgenden Monate übten Hunderte erzürnter amerikanischer Feministinnen-Gruppen Druck auf die Clinton-Regierung aus. Erfreulicherweise schafften sie es, den Handel platzen zu lassen. Und jetzt kommt die große Chance der US-Ölindustrie.

      In Amerika werden die Waffenindustrie, die Ölindustrie, die großen Medien-Konglomerate und selbst die US-Außenpolitik sämtlich von den gleichen Kartellen kontrolliert. Daher kann man kaum erwarten, dass ein Diskurs über Gewehre und Öl und Verteidigungsabkommen ernsthaft in den Medien behandelt wird. Jedenfalls trifft das Geschwätz über den "Kampf der Kulturen", das Gerede von "Gut gegen Böse" genau auf ein ratloses Volk, dessen Stolz gerade verwundet wurde, dessen Angehörige tragisch ums Leben kamen, dessen Zorn frisch und heftig ist. Der wird von Regierungssprechern zynisch verbreitet, als handelte es sich um die tägliche Dosis Vitamine oder Antidepressiva. Diese regelmäßige Arznei garantiert, dass Amerika weiterhin das Rätsel bleibt, das es immer war - ein merkwürdiges Inselvolk, verwaltet von einer krankhaft aufdringlichen, verworrenen Regierung.

      Und was ist mit dem Rest von uns, den betäubten Empfängern all dessen, das wir als groteske Propaganda wahrnehmen? Den täglichen Konsumenten von Lügen und Brutalitäten, die mit Erdnussbutter und Erdbeermarmelade beschmiert aus der Luft in unsere Köpfe abgeworfen werden, ganz wie diese gelben Lebensmittelpäckchen? Sollen wir wegschauen und schlucken, was man uns zuwirft? Sollen wir das grimmige Theater ungerührt mitansehen, das sich in Afghanistan abspielt, bis wir im Kolletiv röcheln und mit einer Stimme rufen, dass wir genug haben?

      Während das erste Jahr des neuen Millenniums dem Ende entgegeneilt, fragt man sich: Haben wir das Recht zu träumen verwirkt?

      Werden wir uns je wieder Schönheit vorstellen können? Wird es je wieder möglich sein, den langsamen, erstaunten Lidschlag eines neugeborenen Geckos in der Sonne zu beobachten oder einem Murmeltier leise zu antworten, das uns etwas ins Ohr gewispert hat - ohne dass wir an das World Trade Center denken müssen oder an Afghanistan?

      ÜBERSETZUNG: ILSE LANGE-HENCKEL


      SPIEGEL ONLINE - 31. Oktober 2001, 11:28
      http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,165236,00.html
      Avatar
      schrieb am 31.10.01 14:38:39
      Beitrag Nr. 32 ()
      US-Völkerrechtler

      "Dieser Krieg ist illegal"

      Der renommierte amerikanische Völkerrechtler Francis Boyle wirft der US-Regierung vor, mit den Angriffen auf Afghanistan gegen die Resolution des Uno-Sicherheitsrates zu verstoßen. Selbst wenn es Beweise für Bin Ladens Schuld gäbe, müsste Bush nach dem Völkerrecht mit den Taliban über eine Auslieferung verhandeln, sagt Boyle im Interview mit SPIEGEL ONLINE.


      Völkerrechtsexperte Boyle: "Keine neue Dimension"


      SPIEGEL ONLINE: Herr Boyle, ist das bestehende Völkerrecht überhaupt in der Lage, Anschläge wie die auf New York und Washington zu beurteilen?

      Boyle: Auf jeden Fall. Die Angriffe haben eindeutig die Montreal-Konvention von 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt verletzt, die sowohl die USA als auch Afghanistan sowie über 150 andere Staaten unterzeichnet haben. Dieses Abkommen bietet einen exzellenten juristischen Rahmen, um auf diese Anschläge zu reagieren.

      Francis Boyle
      ist Professor für Völkerrecht an der University of Illinois. Der Harvard-Absolvent verteidigte den Staat Bosnien-Herzegowina vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und berät unter anderem die Menschenrechtsorganisation Amnesty International.



      SPIEGEL ONLINE: Verträge klingen immer gut. Aber brauchen wir nicht - angesichts dieser neuen Dimension des Terrors - eine internationale Organisation zu Bekämpfung des Terrorismus?

      Boyle: Ich würde nicht von einer neuen Dimension sprechen. Dieses Problem gibt es seit den sechziger Jahren. Neu ist nur die große Zahl der Opfer in den USA. Diese Zahl ist ohne Zweifel schrecklich. Aber das Völkerrecht kommt mit solchen Anschlägen zurecht - vorausgesetzt die Regierungen stufen sie als terroristische Aktionen ein. Wenn wir sie dagegen als Kriegsakt bezeichnen, geben wir Kriminellen eine Würde, die ihnen normalerweise nicht zuteil würde.


      SPIEGEL ONLINE: US-Präsident George W. Bush hat die Anschläge als "Akt des Krieges" bezeichnet und nicht als Terror-Aktion.

      Boyle: Das waren eindeutig terroristische Akte, wie sie im amerikanischen Gesetz definiert sind.

      SPIEGEL ONLINE: Was ist denn die Definition eines terroristischen Aktes?

      Boyle: Dabei handelt es sich um nichtstaatliche Akteure, die Gewalt gegen zivile Objekte oder gegen Zivilisten ausüben mit der Absicht, die Bevölkerung oder die Regierung in Angst zu versetzen.

      SPIEGEL ONLINE: Aber im Völkerrecht gibt es eine solche Definition nicht.

      Boyle: Es gibt keine von allen Seiten akzeptierte Definition. Aber die internationale Gemeinschaft hat sich darauf verständigt, dass terroristische Anschläge illegal sind und als kriminelle Handlungen eingestuft werden sollen. Neben der Montreal-Konvention gibt es zum Beispiel das "Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus" von 1999 und die "Konvention gegen Geiselnahme" aus dem Jahr 1979.

      SPIEGEL ONLINE: Warum hat Bush die Anschläge dann als kriegerischen Akt gewertet?


      Boyle: Auf der ersten Pressekonferenz nannte er sie noch terroristische Akte. Dadurch unterlägen sie der Durchsetzung nationalen und internationalen Rechts. So wurde auch der Anschlag in Oklahoma behandelt, den Timothy McVeigh 1995 verübte. Genauso eingestuft wurden auch die Anschläge auf die beiden US- Botschaften in Kenia und Tansania. Aber nach Beratung mit Außenminister Powell entschied Bush, die Anschläge einen "Act of War" zu nennen und mit militärischen Mitteln zu reagieren.

      SPIEGEL ONLINE: Aber der amerikanische Kongress hat dem zugestimmt!

      Boyle: Ja, leider. Nachdem Bush seine Rhetorik eskaliert und die Anschläge mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Jahre 1941 gleichgesetzt hatte, schloss sich der Kongress dem Präsidenten an und autorisierte ihn, militärische Mittel einzusetzen. Diese Resolution war sogar schlimmer als die Tonkin Gulf Resolution, die Präsident Johnson 1964 erwirkte, um den Krieg in Vietnam zu führen.

      SPIEGEL ONLINE: Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat Bush freie Hand gegeben.


      Boyle: Das stimmt nicht. Die erste Resolution des Sicherheitsrats vom 12. September sprach von einem terroristischen Anschlag. Es war nie die Rede von einem bewaffneten Angriff. Erst dadurch wäre Artikel 51 der Uno-Charta zum Tragen gekommen.

      SPIEGEL ONLINE: ...das Recht eines Staates auf Selbstverteidigung.

      Boyle: Bush versuchte die Zustimmung für militärische Gewalt zu bekommen und scheiterte. Er wollte vom Sicherheitsrat eine ähnliche Resolution bekommen wie sein Vater im Golfkrieg. Bush senior wurde damals ermächtigt, zur Vertreibung des Iraks aus Kuweit "alle notwendigen Mittel" zu benutzen. Am 29. September scheiterte Bush erneut. Am 7. Oktober schickte dann der amerikanische Botschafter bei der Uno, John Negroponte, einen Brief an den Sicherheitsrat, der mitteilte, dass die USA ihr Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen. Aber dies ist ganz eindeutig kein Fall von Selbstverteidigung. Nach den Regeln des Völkerrechts ist dieser Krieg illegal.

      SPIEGEL ONLINE: Warum nicht?


      Boyle: Es gibt keinen Beweis dafür, das die Regierung in Afghanistan die Anschläge in New York autorisierte oder billigte. Die Angriffe auf Afghanistan sind bestenfalls Vergeltung.

      SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt doch wohl Beweise, dass Bin Laden die Anschläge in Auftrag gegeben hat. Und er handelte schließlich von afghanischem Territorium aus.

      Boyle: Dafür gibt es keinen Beleg. Außenminister Powell versprach ein so genanntes "White Paper", in dem er die Beweise darlegen würde. Bush untersagte ihm das. Aber in einem Interview mit der "New York Times" sagte Powell, dass es gegen Bin Laden nicht einmal Indizien gebe. Das ist ein Rechtsfall, der nicht einmal vor einem normalen Strafgericht standhalten würde.

      SPIEGEL ONLINE: Aber die Nato-Staaten haben die Unterrichtung durch den Sondergesandten Taylor als Beweis akzeptiert.

      Boyle: Nach Aussage eines westlichen Diplomaten legte Taylor in der Sitzung des Nato-Rates keinerlei Beweise vor, dass Bin Laden die Anschläge anordnete oder die Taliban davon wussten. Beweise waren auch nicht wichtig, weil sich Bush ohnehin schon für den Krieg entschieden hatte.

      SPIEGEL ONLINE: Aber spielt das denn eine Rolle? Der Nato-Rat akzeptierte den US-Bericht und rief den Bündnisfall aus.

      Boyle: Die Nato tut stets, was die USA von ihr verlangen. Die Allianz wurde gegründet, um Europa gegen einen Angriff der Sowjetunion zu verteidigen. Mit dem Kollaps des Warschauer Paktes war die Existenzgrundlage der Nato verschwunden. Bush senior brachte den Nato-Rat dazu, zwei neuen Legitimationsgründen für die Nato zuzustimmen. Sie sollte einerseits als eine Art Polizei in Osteuropa dienen. Andererseits sollte sie als Interventions-Truppe im Nahen Osten fungieren, um Ölreserven zu schützen.

      SPIEGEL ONLINE: Aber beim Washingtoner Gipfel 1999 schlossen die Nato-Mitgliedsländer auch den Kampf gegen den Terrorismus in ihre Ziele ein.

      Boyle: Der Nato-Vertrag wurde niemals um dieses Ziel erweitert. Der Vertrag wurde ursprünglich auf Basis von Artikel 51 der Uno-Charta geschlossen. Also kann der Bündnisfall nur eintreten im Falle eines bewaffneten Angriffs eines Staates auf ein Nato-Mitglied. Deshalb hatte die Nato auch kein Recht, Jugoslawien zu bombardieren, weil Serbien die Nato vorher nicht angegriffen hatte.

      SPIEGEL ONLINE: Wie hätte denn die US-Regierung reagieren sollen?

      Boyle: Sie hätten auf der Basis der Montreal Sabotage Convention Verhandlungen eröffnen sollen. Das passierte zum Beispiel mit Libyen im Lockerbie-Fall. Vor dem 11. September hat die US-Regierung ja auch mit den Taliban über eine Auslieferung Bin Ladens verhandelt wegen der Anschläge auf die US-Botschaften in Afrika und wegen der inhaftierten Shelter-Now-Mitarbeiter. Die Taliban waren damals bereit, Bin Laden an ein islamisches Land auszuliefern und auf Basis der islamischen Scharia anzuklagen. Nach dem 11. September machten sie weitere Konzessionen: Bin Laden könnte an ein neutrales Land ausgeliefert werden. Sie bestanden nicht mehr länger auf einem islamischen Gerichtsverfahren, forderten aber Beweise. Die Taliban haben sich an die Anforderungen des internationalen Rechts gehalten, Bush leider nicht.

      SPIEGEL ONLINE: Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Angebote der Taliban ernst gemeint waren?

      Boyle: Wie gesagt: Vor dem 11. September haben die USA auch mit den Taliban verhandelt. Und 1996 schickte Präsident Bill Clinton einen Diplomaten nach Afghanistan um über die Anerkennung der Taliban-Regierung zu verhandeln.

      SPIEGEL ONLINE: Wenn das Völkerrecht so eindeutig ist - warum ignorieren die Vereinigten Staaten es dann?

      Boyle: Ich glaube, dass sich die US-Regierung bereits vor dem 11. September für einen Krieg gegen Afghanistan entschieden hatte.

      SPIEGEL ONLINE: Aber mit welchem Ziel?

      Boyle: Die Öl- und Erdgasreserven in Zentralasien sind die zweitgrößten nach denen im Persischen Golf. Nach dem Kollaps der Sowjetunion nahm die US-Regierung sofort diplomatische Beziehungen zu den zentralasiatischen Staaten auf. Politiker wie der ehemalige Verteidigungsminister Caspar Weinberger sagten, dass die Ölfelder Zentralasiens zum vitalen Interesse der Vereinigten Staaten gehören...

      SPIEGEL ONLINE: ...und die amerikanische Ölgesellschaft Unocal verhandelte mit den Taliban über eine Pipeline aus Zentralasien durch Afghanistan nach Pakistan...

      Boyle: Die US-Regierung wollte nicht, dass irgendeine Pipeline durch Russland oder Iran laufen würde. Die billigste und einfachste Route läuft durch Afghanistan. Außerdem gibt es dort selbst auch Ölreserven. Öl und Gas sind die wahren Interessen der US-Regierung, nicht Bin Laden.

      Das Interview führte Christoph Schult.
      Avatar
      schrieb am 31.10.01 15:15:17
      Beitrag Nr. 33 ()
      Arbeit am neuen Weltbild


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      Der 11. September und seine geistigen Folgen: Deutsche Intellektuelle räsonieren über Staat, Religion und das Undenkbare - um am Ende bei ihren Lieblingsideen zu landen. Zusammenfassung einer oft thesenhaft und zuweilen ideologisch geführten Debatte


      von Jan Ross

      Die Welt, heißt es, sei eine andere geworden seit dem 11. September. Auch unsere Sicht auf die Welt? Das Bild, das wir von ihr haben? Unsere Ideen zu Gewalt und Glauben, Staat und Sicherheit, dem Westen und dem Rest der Menschheit? Seit den Anschlägen auf New York und Washington haben Intellektuelle allerorten versucht, sich einen Reim auf die Ereignisse zu machen. Von Anfang an stand dabei ein Theorieentwurf intellektuell Modell, eine Professorenthese, die zur Deutung der schlagartig revolutionierten Lage herangezogen oder als untauglich verworfen wurde, an der sich jedenfalls die Geister schieden: Samuel Huntingtons plötzlich prophetisch wirkende Vision vom "Kampf der Kulturen" als weltpolitischem Grundkonflikt, der die Blockkonfrontation des Kalten Kriegs abgelöst habe. Huntington selbst hat bestritten, dass die Massenmorde in New York und Washington einen clash of civilizations signalisierten oder ihn unausweichlich machten (ZEIT-EXTRA Nr. 39/01). Doch dass die neue Auseinandersetzung mehr mit Weltbildern und Gedankengebäuden zu tun hat als seinerzeit die Kriege am Golf oder auf dem Balkan - das hat man sofort empfunden.

      Die deutschen Intellektuellen waren, wie die Bundesrepublik überhaupt, von den Attentaten und ihren Folgen weniger direkt berührt als die Amerikaner oder die muslimische und nahöstliche Welt. Noch kämpfen keine deutschen Soldaten, und noch haben hierzulande keine Terrorakte stattgefunden. Es gibt daher auch nicht jene Äußerungen unmittelbarer Zeugenschaft: das trauernde, präzise und ganz und gar nicht leitartikelnde Hinsehen und Mitschreiben, das etwa das nachtschwarze New Yorker-Heft vom 24. September mit den Texten von John Updike, Denis Johnson oder Jonathan Franzen zu einem so eindrucksvollen Dokument macht. Die deutschen Wortmeldungen sind immer räsonierend, thesenhaft, oft genug auch ideologisch. Trotzdem sind sie keineswegs uninteressant oder irrelevant. Mag die Bundesrepublik vom Epizentrum des Erdbebens weit entfernt sein - ihr Selbstverständnis und ihre Identität sind stärker erschüttert als etwa die Frankreichs oder Großbritanniens: Die Veränderung der Weltlage betrifft alle, das "Erwachsenwerden" dagegen, das Hinausfahren auf die hohe See der internationalen Politik und in die Kältezone des Militärischen, ist ein spezifisch deutsches Thema.

      Zum Charakteristikum der deutschen Diskussion gehörte allerdings, dass sie auf merkwürdige Weise um sich selbst kreiste: Es wurde nicht einfach reagiert, es wurde auf Reaktionen reagiert, auf wirkliche, vorweggenommene oder unterstellte. "Jetzt warte ich nur noch darauf", bemerkte Henryk Broder schon am 15. September im Spiegel, "dass irgendeine edle Seele aufsteht und sagt, die Anschläge von New York und Washington müssten im Zusammenhang mit dem Kampf der Dritten Welt gegen die Erste gesehen werden. Wetten, dass es im Laufe der nächsten Tage passieren wird, sobald sich der Trümmerrauch über Manhattan gelegt hat?" Die Wette war schnell gewonnen.

      Es ist seither eine Menge Papier und Leidenschaft auf das Zensurenverteilen verwendet worden, auf die Unterscheidung von erlaubten und unstatthaften Gedanken, auf die Frage, ob die Geistesmenschen "ihrer Verantwortung gerecht werden" oder ob sie es an Ernst, Westlichkeit, Bündnissolidarität fehlen lassen. Den diesbezüglichen Höhepunkt im Debattengeschehen markierte ohne Zweifel die Aufregung über Ulrich Wickerts (in der Tat törichten) Vergleich zwischen dem amerikanischen Präsidenten und Osama bin Laden in der Zeitschrift Max: "Bush ist kein Mörder und Terrorist. Aber die Denkstrukturen sind die gleichen." Der Streit über die korrekte Sicht der Dinge erreichte damit die Bild-Zeitung und die CDU/CSU, aus der Wickerts Absetzung gefordert wurde, als habe er ein öffentliches Amt inne. Von Staats wegen hat dann jüngst Innenminister Otto Schily festgestellt: "Für verheerend halte ich die Behauptung, die Amerikaner hätten es als Repräsentanten eines globalisierten Kapitalismus gar nicht besser verdient. Das ist eine wirklich schlimme Entgleisung, die leider in gewissen intellektuellen Kreisen gegenwärtig zu hören ist" (Märkische Allgemeine). Schily wurde dafür wahlweise als neuer McCarthy (so Peter Sloterdijk) oder als neuer Franz Josef Strauß (Goethe-Institut-Präsident Hilmar Hoffmann) angegangen, was vielleicht auch wieder ein bisschen übertrieben war. Insgesamt zählt dieses ganze Hin und Her zwischen Abbürsten und Aufmucken zu den unerfreulichen und unfruchtbaren Elementen der Diskussion, wie sie sich seit dem 11. September in Deutschland entwickelt hat. Um die interessanten Fragen und Gedanken in den Blick zu bekommen, muss man das alles beiseite schieben.

      Die meisten deutschen Beobachter und Kommentatoren konzentrierten sich auf das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Westen, auf das Fundamentalismusproblem oder die internationale Rolle der Vereinigten Staaten. Weniger war vom Terrorismus und von der Figur des Terroristen die Rede, jenem Phänomen, das eigentlich in erster Linie erklärungsbedürftig gewesen wäre. Der Terror und seine Akteure sind hierzulande offenbar nach dem Ende der RAF kaum ein Thema mehr; es gibt keine Publizisten wie Walter Laqueur, die den Gegenstand seit den siebziger Jahren kontinuierlich und in allen Facetten verfolgt hätten, von der linksrevolutionären Gewalt über die nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zu den neuerdings drohenden Massenverbrechen mit ABC-Waffen.

      Hans Magnus Enzensberger war einer der wenigen, die sich nicht auf polemische oder wohlmeinende Kulturkunde einließen, sondern den idealtypischen Täter und dessen durchaus moderne, nicht etwa mittelalterliche Existenzbedingungen ins Auge fassten: "Die mörderischen Energien der Gegenwart lassen sich keineswegs auf irgendwelche Traditionen zurückführen. Gleichgültig, ob es sich um die Bürgerkriege auf dem Balkan, in Afrika, Asien oder Lateinamerika handelt, um die Diktaturen des Nahen Ostens oder um die zahllosen ,Bewegungen` unter der Fahne des Islam - in all diesen Fällen hat man es nicht mit archaischen Überresten, sondern mit absolut zeitgenössischen Erscheinungen zu tun, nämlich mit Reaktionsbildungen auf den gegenwärtigen Zustand der Weltgesellschaft" (FAZ). Diese sind freilich nicht revolutionär, sondern im Kern willkürlich und unproduktiv, Ausdruck einer stets mobilisierbaren Zerstörungs- und Selbstzerstörungsbereitschaft, die sich ihre Anlässe und Gegenstände nach Belieben sucht. "Natürlich", so Enzensberger weiter, "ist die Motivforschung für die Ermittler und die Geheimdienste von höchstem Interesse, weil sie auf die Spur der Täter führen kann. Auf die Frage, woher die psychische Energie stammt, die den Terror speist, kann die ideologische Analyse jedoch keine Antwort geben. Vorgaben wie links oder rechts, Nation oder Sekte, Religion oder Befreiung führen zu genau denselben Handlungsmustern. Der gemeinsame Nenner ist die Paranoia. Auch im Fall des New Yorker Massenmordes wird man sich fragen müssen, wie weit das islamistische Motiv trägt; jede beliebige andere Begründung hätte es auch getan."

      Wirklich? Es irritiert ein wenig, wie dauerhaft und vielseitig verwendbar Enzensbergers These von der Inhaltslosigkeit der Gewalt ist; in einem kurzen Essay aus dem Jahr 1986 (Die Leere im Zentrum des Terrors) war ihm zu den Politkriminellen von damals schon dasselbe eingefallen wie heute zu den Verbrechern im Namen des Glaubens. Und der berühmt-berüchtigte Vergleich zwischen Saddam und Hitler, mit dem Enzensberger 1991 während des Golfkriegs an die Öffentlichkeit trat, beruhte bereits auf jener Diagnose von Todes- und Tötungsverlangen, die jetzt den Attas dieser Welt gestellt wird.

      Nun mag das alles sogar stimmen; die ewige Wiederkehr des Gleichen ist ja gerade Enzensbergers These. Trotzdem gehört zum Bild der Diskussion seit dem 11. September auch ihr Selbstbestätigungsmoment, die Beobachtung, dass das angeblich nie Dagewesene und Unausdenkliche erstaunlich zuverlässig die eigenen Lieblingsideen bekräftigt: Christen erkennen wieder einmal die Vorzüge ihrer vertrauten Religion, liberale Agnostiker haben immer schon gewusst, dass Dogma und Jenseitssehnsucht zu blutiger Intoleranz führen. Konservativen Politikern ist vorgeworfen worden, dass sie die Terrorgefahr zum Anlass nehmen, um uralte Law-and-order-Wunschlisten abzuarbeiten, mit denen sie bislang nicht durchkamen. Diese Neigung zur Rechthaberei gibt es auch unter Intellektuellen.

      Ausgiebiger als das Phänomen des Terrorismus und die Gestalt des Terroristen sind die weltanschaulichen Implikationen des 11. September behandelt worden. Ob Huntington hier nun seinen clash of civilizations am Werk sah oder nicht - irgendeine Art Kulturkampf war es auf jeden Fall. Aber was für einer? Zwischen Islam und Christentum doch offenbar nicht - weder will sich der Westen eine Religion zum Feind machen, noch ist er, in Europa zumindest, selbst von starken religiösen Motiven bewegt. Als Silvio Berlusconi von der Überlegenheit des Abendlandes über den Islam gesprochen hatte, sah sich Kardinal Ratzinger, der Präfekt der römischen Glaubenskongregation, zur interreligiösen Schadensbegrenzung veranlasst. Er unterschied die eigentliche Glaubenssubstanz von ihren historischen, soziokulturellen Manifestationen - und nicht einmal dort, in der theologisch weniger heiklen Tatsachensphäre, mochte Ratzinger die islamische Welt als rückständig bezeichnen. Nein, das Christentum will sich nicht als Alternative und Gegenmacht zum Islam empfehlen. Allein Otto Schily hat sich getraut, etwas mehr Bekenntniseifer anzumahnen, im selben Interview, in dem er auch den intellektuellen Antiamerikanismus geißelte: "Vielleicht hat unsere Gesellschaft nicht immer die geistige Widerstands- und Offensivkraft, die in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus notwendig wäre. So scheinen mir auch die Kirchen als Verwalter von Glaubensinhalten nicht immer die Kraft zu haben, die geistige Auseinandersetzung mit dem Islam zu bestehen."

      Wenn es aber nicht um Islam und Christentum geht, dann müssen es Fanatismus und Aufklärung sein, die hier im Streit liegen, Dunkelmännerei und Moderne. Nur am Rande kommen die Geschichtskategorien des 20. Jahrhunderts noch einmal ins Spiel, die im Kosovo-Krieg gegen den großserbischen Nationalismus so prominent figurierten. Immerhin hat Außenminister Joschka Fischer die Anschläge vom 11. September als "totalitäre Herausforderung" bezeichnet, die er "unserer Generation" gern erspart gesehen hätte - also offenbar das Pendant zur Niederringung Hitlers (taz). Und Daniel Cohn-Bendit hält die Taliban für "faschistoid", meint aber zugleich, "der radikale Islamismus surft auf dem Unglück der arabischen Massen wie einst der Bolschewismus auf dem Unglück des Proletariats" (taz).

      Im allgemeinen denkt man bei bin Laden und den Seinen nicht an die Schrecken des 20. Jahrhunderts, sondern an "die Rückkehr des Mittelalters" (Spiegel). Der Fundamentalist als Angstgegner unserer Gesellschaft und Lebensform hat durchaus das Zeug, die Nachfolge des Revolutionärs, des Kommunisten, des Verfassungsfeindes anzutreten; seit Wochen blickt uns das bärtige oder verschleierte Grauen von den Titelseiten entgegen. Es ist nicht nur der Islam, der verstört, es ist das Wiedererstarken der Glaubensmächte überhaupt - ein Prozess, der auch den Westen selbst berührt. Jürgen Habermas hat davon gesprochen, am 14. Oktober in der Frankfurter Paulskirche in seiner Dankrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. "Als hätte das verblendete Attentat", sagte er, "im Innersten der säkularen Gesellschaft eine religiöse Saite in Schwingung versetzt, füllten sich überall die Synagogen, die Kirchen und die Moscheen." Er erinnerte daran, dass Glaube nicht notwendig zum Fürchten ist, sondern zur Selbstkontrolle einer diesseitig-demokratischen Bürgerschaft hilfreich, wenn nicht unentbehrlich.

      Habermas hatte die Bioethik im Blick und gab zu verstehen, dass in religiösen Überlieferungen wie dem Motiv der Gottebenbildlichkeit des Menschen Einsichten liegen, die auch eine weltliche Gesellschaft nur zu ihrem Schaden vernachlässigen kann. Die Rede war gleichsam Plädoyer und Angebot in zwei Richtungen: an den liberalen Westen mit dem Appell, die fromme Fortschrittsbedenklichkeit nicht als Obskurantismus abzutun, sondern ihr selbstkritisch Gehör zu schenken. Und an Fundamentalisten aller Couleur mit dem Rat, die kulturelle Einigelung aufzugeben und sich der Gesprächszivilisation der Gegenwart anzuvertrauen.

      Dem Religionsproblem hat sich auch Botho Strauß zugewandt, in einer kurzen Meditation über den Augenblick, "als die Türme von Manhattan, diese Schwurfinger des Geldes, mit einem fürchterlichen Schlag abgehackt wurden" (Spiegel). "Ein Schlag", notiert Strauß, "der durch alle Köpfe, Kassen und Kanäle ging; wahrscheinlich am wenigsten durch gläubige Herzen. Wer von den Betroffenen und Betroffenheitsrepräsentanten hat einen Anschlag auf den eigenen Glauben empfunden ...?" Der Glaube des Westens "ist lediglich unser Pragmatismus. Er hat die Welt nachhaltiger missioniert als jede Religion." Trotzdem, scheint Strauß zu vermuten, ist diese globalisierte Diesseitigkeit mit ihrer ersatzreligiösen Vernunft- und Werterhethorik am Ende machtlos gegen den Angriff der Überzeugungstäter: "Auf die Blinden des Glaubenskriegs wird kein noch so pathetisches Selbstbekenntnis der Ungläubigen Eindruck machen. Die ganze große Kommunikationsmaschine wird von diesem einen Korn der Nichtverständigung gestört - und läuft in den Teilen, die für die Verständigung unter schon Verständigten sorgen, doppelt leer und heiß."

      Die Bemerkungen von Botho Strauß sind vielfach als wickertartige Ungeheuerlichkeiten wahrgenommen worden, diesmal nicht getrieben von Dritte-Welt-Antiamerikanismus (den der Fernsehmoderator sich von der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy geborgt hatte), sondern von dunkeldeutschem Antiwestlertum. Strauß` Formulierung vom "Kampf der Bösen gegen die Bösen" schien in der Tat einen befremdlichen moralischen Gestus auszudrücken. Umgekehrt zeugte es allerdings von einigem Spießertum, die doch recht überdurchschnittliche Gedankendichte seines Textes zu verkennen. Es war ja nicht dumm, auf die durchaus vormoderne, religiöse Herkunft der Zivilisationswerte hinzuweisen, für die der fortschrittliche Westen jetzt ins Feld zog: "Stammen sie nicht aus einer ,Gesellschaft`, die diesen Namen noch nicht benutzte und weit davon entfernt war, ,offen` zu sein?"

      Wie bei Enzensberger (und anders als bei Habermas) verstimmte allerdings auch bei Botho Strauß der Recyclingcharakter der Thesen und Motive: Strauß lieferte exakt jene Liberalitäts- und Kulturkritik, die nach dem Anschwellenden Bocksgesang (1993) von ihm zu erwarten war: "Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben." Damals hatte der Dichter hauptsächlich an den Nationalismus gedacht. Nun ist es eben die Religion, die die Prophezeiung wahrgemacht hat; auch gut.

      Eine Überlegung von Strauß ist als besonders bizarr wahrgenommen worden: "Es gibt keinen Krieg, wo ein Friedensschluss nicht verhandelbar ist. Nur einen langen Abtausch von Überfällen. Ein panislamisches Reich vom Sudan bis nach China: Hätten wir es schon! Ein kalter Krieg wäre wieder möglich. Bedrohungspotenziale. Waffenruhe." Das klingt einigermaßen verrückt. In Wahrheit illustriert es einen sehr wesentlichen Aspekt der gegenwärtigen Gefahr, mindestens ebenso wesentlich wie ihre religiöse Motivation: Es ist der ungreifbare, weil nichtstaatliche Charakter der neuartigen Bedrohung. Stünde man einer feindlichen Territorialherrschaft oder einem Machtblock gegenüber, so würde die Herausforderung konkret; es wäre ein völkerrechtlich oder geopolitisch geregelter Umgang damit möglich. In gewisser Weise ist der Krieg gegen Afghanistan der Versuch, dem Kampf mit dem Terror diesen vertrauten Charakter des Staatenkonflikts zurückzugeben.

      Zu einiger Bekanntheit im Deutschland dieser Wochen ist der israelische Militärtheoretiker Martin van Creveld gelangt. Creveld predigt seit Jahren die Überholtheit des klassischen Krieges mit seinen regulären Truppen und hoch technologischen Waffensystemen; sein Buch Die Zukunft des Krieges ist eine mindestens so lehrreiche Lektüre wie der obligatorische Huntington. "Statt großer Einheiten uniformierter Soldaten mit ihren Flaggen und Paraden", so Creveld, "wird es Terroristen, Geheimagenten und Kommando-Gruppen geben. Statt riesiger Armeen, die gegeneinander kämpfen, wird es hin und wieder Explosionen geben, und wir werden wahrscheinlich zusehen müssen, wie heimtückische biologische und chemische Methoden der Zerstörung angewandt werden. Es wird keine Zeichen auf Landkarten mehr geben, die Vorrücken, Rückzug, Durchbrüche und Fronten markieren. Statt dessen wird es Symbole geben, die anzeigen, wo Schreckensereignisse stattfanden. Es wird Listen von Verdächtigen geben und dann und wann einen weißen Fleck für jemanden, der unbekannt ist oder eliminiert wurde" (Welt). Die Metamorphose des Krieges wirkt nach Creveld weit über das Militärische hinaus; mit ihr endet die ganze Epoche neuzeitlicher Staatlichkeit und wird von einer Art wiederkehrendem Feudalismus abgelöst - dezentral, mit privatisierter Gewalt und privater Sicherheitsversorgung. Ideologische Gewinnerin ist dabei die Religion, da sie im Angesicht des Todes Trost zu spenden vermag, wohingegen der Staat keinen Schutz vor der Tötung mehr garantieren kann.

      Es hilft ihm, was ebenso fatal ist, im Angesicht der neuen Feinde auch nicht mehr viel, dass er seinerseits über Gewaltmittel verfügt. Der Philosoph Robert Spaemann hat kürzlich in einem Rundfunkinterview an einen Gedanken von Thomas Hobbes erinnert, dem Stammvater der politischen Theorie der Neuzeit. Hobbes, bemerkte Spaemann, "hat davon gesprochen, dass die Todesfurcht das Eigentliche ist, was die Menschen zur Vernunft bringt und was es dem Staat erlaubt, den inneren Frieden zu erzwingen, weil er über das größte Drohpotenzial verfügt. In dem Augenblick, da Menschen keine Todesfurcht haben, wirkt die staatliche Drohung nicht mehr und damit auch die friedenserzwingende Kraft des Staates. Und wenn wir es mit einer größeren Zahl von Menschen zu tun haben, denen ihr eigenes Leben entweder nichts wert ist oder die von ihren religiösen Führern versprochen bekommen, dass sie in einem anderen Leben unendlich belohnt werden dafür, dass sie das hiesige geopfert haben - dann greift die staatliche Abschreckung nicht mehr." Der Interviewer fragte nach, ob Spaemann die Figur des Selbstmordattentäters im Sinn habe. Darauf der Philosoph, unüberbietbar lapidar: "Ja. Denen bedeutet es nichts, wenn sie mit dem Tode bedroht werden. Und mit mehr als mit dem Tod kann der Staat nicht drohen" (Deutschlandfunk).

      Von solchen beunruhigenden Fernperspektiven ist zumeist nicht die Rede, wenn "Antiterrorpakete" geschnürt werden. Das ist begreiflich, und es ist auch nicht ganz verkehrt, von einer "Renaissance des Staates" zu sprechen. Die Diskussion über Staat, Krieg und Feindschaft, auch über Politik und Religion hat in Deutschland unweigerlich und aufs Neue einen berühmt-berüchtigten Schatten aus dem Totenreich des Geistes aufsteigen lassen: den Juristen und Staatsrechtler Carl Schmitt, unzweifelhaft einer der anregendsten Köpfe des 20. Jahrhunderts, ebenso unzweifelhaft ein Spieler und Opportunist, der in der Weimarer Republik eine fragwürdige und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus eine ausgesprochen widerwärtige Rolle gespielt hat. Als konservative Leitartikler und Feuilletonisten jetzt vom Ernstfall schrieben und davon, dass man sich wieder an Feindschaft gewöhnen müsse, war das schmittianische Rhetorik, inspiriert von seinem Klassiker Der Begriff des Politischen aus dem Jahr 1932.

      Die eigentlich interessanten Schmitt-Ideen zur gegenwärtigen Lage finden sich aber anderswo, in der Theorie des Partisanen von 1963 etwa. Der Staatsdenker Schmitt hat darin selbst schon die Entstaatlichung von Krieg und Politik analysiert, am Beispiel der Guerilla, von den Befreiungskämpfen gegen Napoleon bis nach Indochina und Vietnam. Der neue Terrorist, so spann etwa Henning Ritter das Schmittsche Motiv fort (FAZ), "ist ein entwurzelter Partisan", ihm fehlt die Beziehung zu einem Territorium, die der Guerillero noch besaß, wenn er sein Land von fremden Armeen oder Kolonialmächten befreien wollte. Operierte der Partisan "wie ein Fisch im Wasser" seiner heimatlichen Umgebung, so taucht der Terrorist vom Typus Atta auch in der Fremde unerkannt unter, in der multikulturellen Gesellschaft, in der niemand auffällt.

      Die Veränderung des Kriegsbegriffs, das Ineinander von Militärischem und Polizeilichem, von Feind und Verbrecher, die Moralisierung der Politik - das alles mag dazu führen, sich über die Maßen im Recht zu fühlen. Schmitt, der Antiliberale, wird gerade an den liberalen Westen mit seinen universalistischen Ansprüchen gedacht haben, wenn er am Schluss seiner Theorie des Partisanen die Kriege der Zukunft vorhersagte: "Die Vernichtung wird dann ganz abstrakt und ganz absolut. Sie richtet sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind, sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die bekanntlich kein Preis zu hoch ist."

      Um das thematische Spektrum der deutschen Debatte zu fassen, ist es schließlich aufschlussreich, die Kurzformeln und Kernsätze zu mustern, mit denen die Zäsur des 11. September beschrieben wurde. Von der "Renaissance des Staates" und ihren wahrscheinlich recht engen Grenzen war die Rede, und viel hat man vom "Ende der Spaßgesellschaft" gehört; ein Gedanke, der, wie der Antiamerikanismusstreit, jedoch zu jenen Themen gehört, die man tunlichst meiden sollte: In unfruchtbarem Ideologiegerede stehen sich übellaunige Zivilisationskritiker und ebenso humorlose Heiterkeitsverfechter gegenüber, die entweder in irgendwelchen Fernsehsendungen ein Dekadenzphänomen oder umgekehrt in der "neuen Ernsthaftigkeit" eine Art Inquisitionsherrschaft sehen. Weitaus plausibler dagegen lassen sich konkretere Veränderungen machen: "Seit dem 11. September ist der Begriff der Menschenrechte politisch unbrauchbar geworden", hat Henning Ritter in der FAZ festgestellt; Terrorismusbekämpfung hat den Begriff der Menschenrechte als Argument für westliche Interventionen ersetzt. Der Soziologe Wolf Lepenies fand eine Formel, in der er die gewandelte Lage zusammenfasste: "Rückkehr von Krieg und Glauben" (Süddeutsche Zeitung).

      Wenn von der jetzt eingetretenen Situation etwas für die deutsche Debatte zu erwarten und zu erhoffen ist, dann eine Horizonterweiterung. Ausländer- und Migrationsfragen werden nicht mehr allein als humanitäre, sozialökonomische oder demografische Angelegenheiten zu diskutieren sein; man wird sich mehr über die kulturelle Seite des Zusammenlebens Gedanken machen müssen, über Normen und Bräuche, über Familie, Schule und Moschee. Deutsche und Nichtdeutsche in der Bundesrepublik werden einander genauer ansehen, kritischer auch - aber, da gibt es bisher Grund zur Zuversicht, ohne übertriebenes Misstrauen. Zugleich kommt der Öffentlichkeit zu Bewusstsein, dass eine Welt jenseits von Brüssel existiert. Man ist auf einmal peinlich berührt, dass es hierzulande kaum Interesse und Expertise für etwas fernere Winkel der Erde gibt, keine weise ergrauten Exbotschafter, die auch im Fernsehen eine gute Figur machen, keine Orientalisten mit Zeitungskolumne und reicher Erfahrung als Regierungsberater. Das vielberufene "Erwachsenwerden" der Bundesrepublik hat nicht in erster Linie mit Wehr und Waffen zu tun - das ist, wie wichtig auch immer, ein Nebenaspekt. Vor allem anderen geht es um Entprovinzialisierung.
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      schrieb am 06.11.01 14:37:27
      Beitrag Nr. 34 ()
      In der Angstfalle: Richard Ford über die amerikanischen Vorstädte

      Amerikas Vorstädte im Licht der Katastrophe

      Von Richard Ford


      Vom allerersten Tag an konnten wir diese Nachricht hören: Nun muß auch Amerika so leben wie der Rest der Welt - mit Bomben, Gift, Schrecken, Furcht, Opfern, Verlust und Drohungen -, also mit all den neuen weltweiten Begleiterscheinungen des ganz normalen Alltagslebens. Nirgendwo ist diese Nachricht weniger willkommen als in den amerikanischen Vororten. Die ruhigen laubbedeckten Straßen, unsere elysischen Felder, die sich dem Horizont entgegenstrecken und meilenweit von Ground Zero entfernt schienen, sind nun plötzlich dem grausamen, infamen Territorium des Terrorismus eingemeindet worden, und die Einwohner sehen es mit Schrecken.

      Anthrax - schon das Wort allein beißt in unseren Ohren - ist auch im Postamt von Hamilton angekommen. Bundespolizisten in orangefarbenen Schutzanzügen fegen Briefkästen aus. Nachbarn haben sich Chirurgenhandschuhe angezogen, um Briefe in den Mülleimer zu werfen. (Wo werden diese Briefe landen?) Wieder sind Menschen gestorben. Die sechs Längengrade, die einen Hausbesitzer in Basking Ridge von einem Feuerwehrmann in Bay Ridge trennen, sind womöglich nicht mehr genug, um sich noch sicher fühlen zu können.

      Dabei ist es nicht so, daß die Vororte bisher verschont worden wären. Keineswegs. So viele der athletischen jungen Väter und berufstätigen Mütter, die jeden Tag, das Leben generationstypisch aufeinander abgestimmt, nach Manhattan aufbrachen - sie sind von uns gegangen. Ihre Kinder, ihre Freunde, ihre Eltern - betäubt, für immer gezeichnet, verwundet ohne Aussicht auf Heilung, ratlos, wie es angesichts so großer Verluste überhaupt weitergehen soll. Aber Tragödien wie der Tod enthalten einen harten Kern, und irgendwann lernen wir, damit umzugehen. Vorbei ist vorbei. Wir müssen weitermachen.

      Aber mit der Angst ist es eine andere Sache. Die Vororte sind erfunden worden, um die Angst in Schach zu halten. Kriminalität, Enge, Lärm, schlechte Luft und die sogenannten "üblen Elemente", so hieß es, seien die Probleme. Aber all die Vorortzüge und Vorstadtparkplätze, die Gebührenstationen und Auffahrten sind genauso enervierend und schlecht belüftet wie Manhattans Canal Street. Und die sogenannten "Elemente", das "Andere" - es wird nie wirklich verschwinden.

      Aber es ging tatsächlich um die Angst. Kurvenlose Straßen, endlose Rasenflächen, Sackgassen, Doppelgaragen, Panoramafenster und Innenhöfe sollten den Sieg über die Angst symbolisieren. Wir haben Homogenität, die Isolation der Generationen, einen unreservierten Sitzplatz im Frühzug und das Mantra des "Hier wird schon nichts passieren" in Kauf genommen, um sorglos leben zu können. Die Vororte sind das Nirwana der urbanen Neurosen, ein frisches und friedfertiges Bezugsfeld, dessen Vokabular von lächelnden Immobilienmaklern kreiert wurde: "Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe", "das Paradies für Gartenliebhaber" und so weiter.

      Aber im Schatten des Chaos und in der Angst vor einem schleichenden Gifttod, der einen auf dem Rückweg vom Briefkasten ereilen könnte, erscheinen plötzlich all unsere Wahlmöglichkeiten und Verläßlichkeiten in einem unangenehmen grellen Licht. Dies ist das Licht, das von Katastrophen verbreitet wird. Was wir vor kurzem noch als die Qualität und Freiheit unseres Vorortlebens empfanden, wirkt nun wie Schutzlosigkeit, die Eintönigkeit unseres hypothekenbelasteten Lebens wie Gesichtslosigkeit: Wir beginnen, den ungeborgenen Opfern in Ground Zero zu gleichen.

      Zwar versuchen wir, munter weiterzumachen, die Tragödie und die Angst zu befrieden und sie in unseren Alltag einzugliedern. Manche fühlen sich an den Amoklauf an der Schule in Columbine erinnert. Aber der Vergleich hinkt. Wir registrieren die leeren Plätze im Lesekreis, im Fußballstadion und in der Tanzgruppe und empfinden das Schreckliche als Vergeblichkeit, als ungewollten Verlust, den wir bewältigen können. Aber es gelingt uns nicht wirklich, daran zu glauben. Unser Bezugssystem ist aus den Fugen geraten, und unser altes Koordinatensystem verweist nur wieder auf unsere Angst.

      Vor allem die Angst vor Anthrax verläßt uns nicht mehr, denn nun hat der Zauberlehrling begonnen, mit Gift zu hantieren. Und auch die anderen Bestien scheinen geduldig auf der Lauer zu liegen. Kaum hast du eine verscheucht, taucht schon die nächste auf. Wenn wir die Briefverteilungsmaschinen mit Staubsaugern reinigen, verbreiten wir dadurch die Sporen; die Therapie wird zur Bedrohung. Die Vororte, Epizentren für das Bedürfnis nach dem "ganz normalen Leben", sind vom Schicksal ereilt worden.

      Was können wir tun? Zunächst einmal dürfen wir nicht die Augen verschließen, denn die Ignoranz ist der hartnäckigste Komplize der Furcht. Mit zusammengekniffenen Augen starren wir auf unser Land, seine Wahlmöglichkeiten und sein Schicksal, und fragen uns, ob wir anderen und sogar uns selbst noch trauen können. Wir sollten in dieser Situation versuchen, in großem und kleinem Maßstab darüber nachzudenken, wer zu uns gehört und wer nicht und was wir überhaupt unter einer Gemeinschaft verstehen. Solches Nachdenken kann stille Panik erzeugen, es kann uns aber auch lehren, daß das Wissen darüber, was uns bevorsteht, was uns verängstigt, was uns erschauern und traurig werden läßt, eben das Wissen ist, das wir auch brauchen, um uns eine Vorstellung von unserer Stärke zu machen.

      Aus dem Amerikanischen von Julika Griem.

      Der Schriftsteller Richard Ford, Jahrgang 1944, lebt in Maine. Zuletzt erschien seine Novelle "Abendländer".




      buchvorschlag zum thema AMERIKA IM INNERN



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      schrieb am 06.11.01 18:46:18
      Beitrag Nr. 35 ()
      Avatar
      schrieb am 06.11.01 18:50:29
      Beitrag Nr. 36 ()
      Eigentlich wollte ich den sräd so liegen lassen, mit posting no. 33 am schluss, die

      zusammenfassung der debatte der deutschen intellektuellen.

      Doch war da dieses gefühl, dass dieser sräd nie zu ende gehen dürfte ..... dass immer weitergeschrieben werden muss, so wie schon vor dem 11.9. geschrieben wurde. Und da war der gedanke, dass auch eine sammlung von texten nie ganz ausgewogen sein kann, dass immer was fehlt!

      Falls jemand diesen sräd weiterführen würde, wäre das sehr schön.

      Hier noch aus büchern, die VOR dem 11.9.2001 geschrieben wurden !

      ... nach einer kurzen pause sprach er weiter. „merkwürdig, was die menschen zu lebzeiten fords des herrn über den fortschritt der wissenschaft geschrieben haben. Sie schienen sich einzubilden, dass die wissenschaft ewig fortschreiten dürfe, ohne rücksicht auf alles übrige. Erkenntnis war das höchste gut, wahrheit der erhabenste wert, alles andere war nebensächlich und untergeordnet. Allerdings begannen sich schon damals die anschauungen zu verändern. Ford der herr selbst trug viel dazu bei, das schwergewicht von wahrheit und schönheit auf bequemlichkeit und glück zu verlegen. Die massenproduktion verlangte diese verlagerung. Allgemeines glück lässt die räder unablässig laufen; wahrheit und schönheit bringen das nicht zuwege. Und natürlich ging es, sooft die massen an die macht kamen, stets mehr um glück als um wahrheit und schönheit. Trotz alledem war uneingeschränkte wissenschaftliche forschung noch immer erlaubt. Die menschen redeten immer noch von wahrheit und schönheit wie von den höchsten gütern. Bis zum neunjährigen krieg. Der liess sie einen anderen ton anschlagen. Was nützte wahrheit und schönheit oder wissen, wenn es ringsumher milzbrandbomben hagelt? ..........

      aus: schöne neue welt von aldous huxley
      Avatar
      schrieb am 17.11.01 14:50:19
      Beitrag Nr. 37 ()
      Das schwierige Böse

      Baudrillard und andere: Frankreich deutet den Terrorismus

      PARIS, 16. November

      Vom vielen Gutseinwollen möchte einem manchmal schwindlig werden. Am elften September sei er Amerikaner, seit den Bombenabwürfen in Afghanistan aber auch wieder Afghane geworden, sagte der Publizist Franz-Olivier Giesbert in dieser Woche bei einem Pariser Symposion über Globalisierung und erntete damit im Saal zuerst Protest- und dann Applausstürme. Oder umgekehrt. Immer mit den Opfern zu sein, das sei für ihn das einzig glaubwürdige Leitprinzip, stimmte der Humanitätshilfearzt und derzeitige Gesundheitsminister Bernard Kouchner seinem Podiumsnachbarn Giesbert gegen die Buhrufe aus dem Saal zu. Als Orientierung für eine intellektuelle Stellungnahme ist das wenig. Wo werden nach Afghanistan die nächsten Opfer sein?

      Die Debatte glänzt in Frankreich diesmal nicht mit großen Theoriemanövern und brillanten Wortführern. Man setzt eher auf kontroverse Einzelpositionen, fast ein bißchen à l`allemande, insofern die Intellektuellen nicht überhaupt mit sich selbst beschäftigt sind. Jacques Julliard, der in seinem Buch "La faute aux élites" ("Die Eliten sind schuld" ) bei Gallimard gerade mit seinesgleichen abgerechnet hat, fürchtet sich vor dem zwanghaften Antiamerikanismus, der Frankreichs Intellektuelle fast immer schon ins totalitätssüchtige Lager der Freiheitsgegner getrieben habe: Wie sie beim autoritären Sozialismus mehr das Autoritäre als das Sozialistische gemocht hätten, so fühlten sie sich beim neuen antikapitalistischen Terrorismus wohl vor allem vom Terror angezogen. Julliards Kritik trifft auch den vor einem Monat lancierten "Aufruf der 113 Intellektuellen". Der Krieg in Afghanistan sei nicht ihr Krieg, jede abgeworfene Bombe bringe nur neue Terroristen hervor, hieß es darin. Die Erledigung Bin Ladins sei mehr eine Sache für Spezialeinheiten als für Flugzeugträger, Bomber und Bodentruppen, erklärt der Historiker Pierre Vidal-Naquet, einer der Mitunterzeichner des Manifests.

      Die virulente Reaktion darauf hat sich indessen meist bei einem Detail aufgehalten: Haben die Aufrufunterzeichner die Attentate von New York und Washington eindeutig genug verurteilt? Die Verurteilung sei mit finster-komischer Fahrigkeit erfolgt und sofort von der allzu bekannten Verurteilungslitanei westlicher und israelischer Machtpolitik übertönt worden, empört sich Claude Lanzmann, Herausgeber der Zeitschrift "Les Temps Modernes": Dieses ideologische Schielen vor dem Unerhörten sei für ihn nichts anderes als "schleichender Neopétainismus". Auch Lanzmanns Redaktionskollegin Liliane Kandel kritisiert die eisige Gefühllosigkeit, mit der die Aufrufunterzeichner die Terroropfer zu Mittätern westlicher Machtpolitik umfunktioniert hätten. Manche Unterzeichner sahen sich zum Antworten veranlaßt und beteuerten ihr echtes Mitgefühl: Über die unmittelbaren amerikanischen Attentatsopfer hinaus gelte dieses aber auch den weniger spektakulär betroffenen Opfern des Terrorismus im Nahen Osten und anderswo. Das Überbieten mit Opfern ist zum Theorieersatz geworden.

      In der Frage, wie einzigartig die Ereignisse vom elften September gewesen seien, zeichnet sich aber schließlich doch noch der eigentlich stringente Fluchtpunkt der französischen Diskussion ab. Haben die Piloten der auf die Türme des World Trade Center zusteuernden Flugzeuge auch eine politisch lesbare Botschaft mittransportiert, oder war deren Zerschellen nichts als der makabre acte gratuit eines neuartigen terroristischen Nihilismus? An dieser Frage scheiden sich die Geister, lassen ihre Argumente aber in einer solchen Schieflage aufeinandertreffen, daß gegenseitige Verdächtigung oft vor Positionsklärung geht. Für die einen sind die Terroristenflugzeuge wie von einem fremden Planeten auf den Boden unserer Zivilisation gefallen und in ihrer radikalen Unfaßbarkeit nur dazu geeignet, unserer distanzseligen Erklärungsrationalität schockhaft die Existenz und die Nähe des "Bösen" in Erinnerung zu rufen. Für die anderen sind sie monströse, aber politisch deutbare Auswüchse unserer eigenen konfliktgeschüttelten Welt. Die einen wittern in jedem Erklärungsversuch schon latente Rechtfertigung, die anderen sprechen von moralisierender Panikmache.

      Wie scharf die Auseinandersetzung geführt wird, zeigt die Polemik, die einen Beitrag von Jean Baudrillard in der Zeitung "Le Monde" begleitet. Baudrillard gehört zu dem Lager, das die Anschläge in New York und Washington nicht von vornherein in einer Art humanistischer Mobilmachung aus unserer Zivilisation ausgrenzen mag, im Gegenteil. Uneingestandenerweise hätten wir bei aller moralischen Empörung insgeheim alle schon von einem solchen Selbstzerstörungsakt der dominierenden Weltordnung geträumt, der wir selbst angehören, schreibt der Autor. Wo die technokratische Wertschaffungslogik auf keine ernsthafte äußere Gegenkraft mehr stoße, wende ihr Zerstörungspotential sich nach innen und verstricke den heute triumphierenden Globalisierungsprozeß mit sich selbst: eine Verstrickung, deren paradigmatische Zerrbilder "Amerika" und "Islamismus" heißen. Das herkömmliche Gleichgewicht von Gut und Böse habe sich in einer schattenlosen Totalhegemonie des Positiven aufgelöst, in die das Negative sich nur noch als Terror einschleichen könne: ein Terrorismus, der die politische Handlungslogik mit Opfersymbolik überhöht habe, indem die (stellvertretend herausgegriffenen) Gegner nicht nur getötet, sondern im Tod vor den laufenden Kameras demütigend auch noch zur Schau gestellt würden. Durch eine Umkehrung der üblichen Sensationsperspektive, die dem Realen das Bild hinzufügt, habe die Perversion hier ihren Höhepunkt erreicht: Wo das Furchtbare sonst sichtbar gemacht werde, sei das Sichtbare in New York "real" furchtbar gemacht geworden.

      Baudrillards Kritiker werfen ihm nichts Geringeres als geistige Mittäterschaft am Terrorismus vor. Alain Minc stellt den Autor in die Tradition des französischen Antihumanismus, der schon Michel Foucault 1979 zum Exegeten des Ajatollah Chomeini gemacht habe. Dem Kritiker Minc ist in seinem polemischen Elan vielleicht gar nicht ganz bewußt, wie treffend sein Vergleich ist. Tatsächlich ist Baudrillards analytisches Modell nur von der politischen Theorie eines permanenten, reglementarisch nicht befriedbaren Machtkampfs begreifbar, wie Foucault sie in seinen Vorlesungen jener Jahre entwickelte, die allerdings nichts mit einem "Kampf der Kulturen" zu tun hat. Vor ihrem Hintergrund spielt sich aber die französische Debatte über die Lesbarkeit der terroristischen Akte ab. Olivier Mongin, Herausgeber der Zeitschrift "Esprit", glaubt jedenfalls nicht an einen nihilistischen, begriffsstutzig terroristischen Kamikaze-Heroismus, wie der Terrorismusforscher Walter Laqueur ihn schon diagnostiziert hat. Wir hätten es vielmehr mit einer Kombination aus gezielter Insiderbotschaft - an alle Muslime der Welt - und größtmöglicher zielloser Zerstörung zu tun, schreibt Mongin. Daß die Botschaft in einzelnen Wohnquartieren Frankreichs aufgeschnappt wurde, muß zu denken geben - es sei denn, man mache sich immer neu selbst Angst mit Visionen, wie Bernard-Henri Lévy sie in seinem neuen Buch "Réflexion sur la Guerre, le Mal et la fin de l`Histoire" (Grasset) skizziert. Der Autor setzte, so schreibt er, am elften September zum Abschluß seines Manuskripts an und konnte dieses im letzten Augenblick dann gerade noch umschreiben: Er sehe aus den dunklen Rändern der Welt ein Kamikaze-Heer aufziehen mit dem stummen Ausdruck im Gesicht: Lebend habe man sie auf der Geschichtsbühne nicht gewollt, so seien sie zumindest tot anwesend.

      JOSEPH HANIMANN
      Avatar
      schrieb am 17.11.01 14:58:14
      Beitrag Nr. 38 ()
      Das Amerika der Amerikaner

      Über den Irrtum, ein Land im Herzen treffen zu können
      Von Norman Manea

      Am Morgen des 11. September befand ich mich am Bard College - etwa eineinhalb Stunden von New York entfernt gelegen - und bereitete mich auf mein für den Nachmittag angekündigtes Seminar über «Exile and estrangement in modern fiction» vor. Erst gegen Mittag erfuhr ich von der Barbarei, die über Amerika hereingebrochen war. Die meisten Professoren liessen ihre Veranstaltungen ausfallen. Ich fragte meine völlig traumatisierten Studenten, ob wir wie geplant weitermachen - Nabokovs Roman «Pnin» stand auf dem Programm -, die Geschehnisse diskutieren oder das Seminar vertagen sollten. Ihre Anwesenheit bewies, dass sie nicht allein sein wollten, und das Thema des Seminars erlaubte eine umfassende Diskussion der Moderne - einer Welt, die besessen nach ihrem verloren gegangenen Zentrum sucht und nicht selten hysterisch auf die ihr eigenen Traumata und Mystifikationen reagiert.

      Angespanntes Schweigen in meiner Klasse. «Ihr seid von gerader Anzahl (16). Wenn die eine Hälfte sich für die eine Option entscheidet und die andere für die Alternative, muss auch ich Stimmrecht erhalten. Wie auch immer ich mich dann entscheiden würde, einige unter euch wären mit meiner Wahl nicht zufrieden. Diese könnten den Dialog als einen Kompromiss im Raum der Demokratie akzeptieren oder das Lehrgebäude in die Luft jagen.» Diese scheinbar triviale Situation gab die Essenz der globalen Alternativen wieder: Demokratie oder Krieg. Die Demokratie ist eine zuzeiten langweilige Suche nach einem Kompromiss, der die Aggressivität der menschlichen Natur zu domestizieren versucht. Manchen ist der Kompromiss unannehmbar, wie die nihilistischen «Botschafter» an jenem Morgen zeigten, und ihre einzige Antwort sind das Verbrechen und der Wille zu grösstmöglicher Zerstörung.

      Das Ressentiment gegen Demokratie und Freiheit macht heute mehr denn je Front gegen das «dämonische» Amerika. Religiöse Fanatiker, aber auch viele nichtreligiös Überzeugte zählen nur die Nachteile der «Globalisierung» auf, nicht aber deren Vorteile. Diese gehören längst schon zu unserem Alltag, um nur an Fernsehen, Computer oder Antibiotika zu denken. Von einer ethnischen, ideologischen oder politischen Vereinheitlichung kann kaum die Rede sein, eher von einer metageographischen Vernetzung, mit all ihren Verheissungen und Risiken. Die Letzteren zur Debatte zu stellen, wäre hilfreich, wenn nur nicht blinde Ablehnung herrschte.

      Und was wäre die Alternative?
      Worum es wirklich geht, ist die Frage, welche Art Globalisierung uns als Alternative hingestellt wird. Der mystische, mittelalterliche, totalitäre Patriarchalismus, der den Dialog, das Anderssein, die Dissidenz negiert? Einen «heiligen» Krieg zur Wiederherstellung alter kollektivistischer Traditionen führen nicht nur Islamisten, sondern auch Fundamentalisten des Christentums, Judentums und anderer Religionen. Nur scheint bei Ersteren auf Grund der Vielzahl fanatisierter Muslime die Gefahr grösser. Sollte der 11. September das Fanal sein für einen unversöhnlichen Kampf zwischen der jüdisch-christlichen Tradition, die das menschliche Leben, mit all seinen Idealen und Unzulänglichkeiten, ins Zentrum stellt, und den Fanatikern des Islam, die den Tod als höchste, heiligste Erfüllung der Existenz feiern? - Doch der Kult des Todes ist kein rein muslimisches Phänomen. Die extreme europäische Rechte zelebrierte ihn vor 1945, und das Desaster der reaktionären-nationalistischen Revolutionen ist uns genauso gut bekannt wie jenes der fortschrittlichen-internationalistischen Doktrin.

      Wie gut aber kennen wir den Islam? Ich schlug meinen Studenten vor, mit ihren muslimischen Kommilitonen in einen Dialog zu treten. Es ist wichtig, dass gerade jetzt nicht die Anhänger anderer Religionen oder Weltanschauungen den Islam interpretieren. Die Muslime selbst sind aufgefordert, zu erklären, ob der Glaube an Allah einen apokalyptischen Krieg gegen alle «Ungläubigen» impliziert oder ob die Terroristen nicht vielmehr geschickt einen religiösen Vorwand für ihr mörderisches Unternehmen benutzen.

      New York wurde am 11. September traumatisiert. Es wurden Tage der Belagerung, des Notstands. Die Bürger aber hielten sich tapfer, die Institutionen funktionierten weiter, und die Stadt begann allmählich zu ihrem alten Rhythmus zurückzufinden. Ich fühlte mich tatsächlich als Amerikaner, als New Yorker, mehr noch als damals, als ich die Staatsbürgerschaft erhalten und den Schwur auf die amerikanischen Werte abgelegt hatte. Nicht nur weil man die Demokratie und Freiheit selbst angegriffen hatte, sondern weil es in New York passiert war, dem modernen Babylon, mit einer grossen Chinatown, mit grossen russischen, jüdischen, italienischen, indischen «Städten», einer Zusammenballung aus Ethnien und Sprachen, die nicht nur Amerika, seine Ideale der Demokratie und Freiheit des Einzelnen, sondern unsere ganze moderne Welt symbolisiert. Nicht von ungefähr starben im World Trade Center Menschen aus achtzig Ländern.

      Es gibt nicht wenige, die fordern, dass Amerika nun seine Sünden und Desaster, seine Arroganz und Oberflächlichkeit, seinen Materialismus und Reichtum strengster Kritik unterwerfen sollte. Im Grunde ein selbstverständliches Vorgehen für jede Nation. Wer aber meint, dass «Amerika» nur aus einer Horde arroganter und bornierter Patrioten besteht, begreift nicht, dass Amerika in jedem Augenblick aus unzähligen Amerikas besteht. Seine explosive, widersprüchliche Diversität befremdet oft und reizt zur Reduktion auf plakative «Symbole» des Antiamerikanismus. Dieser ignoriert die beispiellosen wissenschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Errungenschaften Amerikas, den unabdingbaren Beitrag dieses Landes zur Bestimmung und Erhaltung der Demokratie. Es ist nicht auszuschliessen, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch die muslimische Bevölkerung der Vereinigten Staaten, nicht anders als die lateinamerikanische, die jüdische oder die koreanische Minderheit, die sich die Moderne angeeignet haben, zum Bezugspunkt für die Landsleute in aller Welt wird.

      Ich erinnere mich an eine Konfrontation Anfang der neunziger Jahre auf einer Schriftstellerkonferenz in Amsterdam. Da ich der einzige Teilnehmer aus den Vereinigten Staaten war, hielt man mich für einen «Yankee», obwohl ich damals nicht einmal die amerikanische Aufenthaltserlaubnis hatte. Nachdem er einige Fälle von Diskriminierung seiner Glaubensgenossen in den USA dargestellt hatte, wandte sich ein namhafter arabischer Autor aus Israel vor dem Publikum an mich und fragte ostentativ: «Ist dies eine Demokratie, mein Herr?» Für einen Augenblick war ich versucht, ihn meinerseits zu fragen, womit er Amerika denn vergleiche. Etwa mit den arabischen Staaten mit ihren korrupten Monarchien oder gewalttätigen Diktaturen? Doch ich begnügte mich zu präzisieren, ich spräche nur für mich selbst. Ja, Amerika sei eine reale, oft triviale, doch immer wieder sich neu erfindende Volksdemokratie. Aber es sei kein vollkommenes Land. Und dann fügte ich hinzu: «Ich habe den grössten Teil meiner Biographie in einer Gesellschaft verbracht, die sich für vollkommen hielt, und dieses Privileg möchte ich nicht mehr teilen. Ich bin froh, nun in einem Land zu leben, das genauso unvollkommen ist, wie seine Bürger es sind.»

      Eine Art Religion des Dialogs
      Amerika hat seine Sünden, aber in der Geschichte der grossen Mächte steht es, vermute ich, nicht allzu schlecht da. Ein Vergleich mit dem Osmanischen Reich, dem Zarenimperium, der Sowjetunion und der Naziherrschaft genügt. Gewiss, Amerika provoziert Frustration, Neid und auch Unrecht. Seine Prinzipien sind jedoch zutiefst humanistisch, sie werden von einer Art Religion des Dialogs und des pragmatischen Kompromisses gestützt. Vielen Völkern und Ländern liess und lässt Amerika Gutes zukommen, selbst ehemaligen Gegnern. Dies wird, hoffentlich, auch in Afghanistan der Fall sein. Der amerikanische Geist fördert den - oft harten - Konkurrenzkampf, doch er verlangt vom Sieger, den Verlierer nicht zu tief fallen zu lassen.

      In den Vereinigten Staaten wird nun über die politischen Fehler und neuen Optionen diskutiert. Es ist ein offener, selbstkritischer Diskurs, wie er in den Ländern, aus denen sich die Terroristen rekrutierten, undenkbar wäre. Umso verblüffender erscheinen manche Stellungnahmen im Westen, die von skandalöser Frivolität, rhetorischem Humanismus und einem naiven Altruismus zeugen. Diese Stellungnahmen stammen von Intellektuellen, die die jüngsten Ereignisse zum Anlass für die Wiederaufnahme alter antikapitalistischer, antiwestlicher und antiamerikanischer Slogans nehmen. Das Sündenregister der USA gerade jetzt zur Priorität zu machen, bedeutet aber, den Angegriffenen auf Grund seiner Unvollkommenheit anzuklagen. «Der Angreifer ist immer perfekt», heisst die Kehrseite dieser Logik.

      Wir stehen gegenwärtig unter dem Angriff eines Feindes, dem kein menschliches Leben etwas gilt und der auf Bundesgenossen in allen extremistischen Lagern zurückgreifen kann. Die Drohungen aus den Zentren des fanatischen, mystischen, mörderischen Hasses stellen eine absolut ernste Gefahr für die gesamte freie Welt dar. Dies ist eine Tatsache, die wir nicht länger ignorieren dürfen.

      Aus dem Rumänischen von Edward Kanterian


      Norman Manea, Jahrgang 1936, gehört zu den massgeblichen rumänischen Gegenwartsschriftstellern. Er lebt seit 1989 als Literaturdozent in New York. Zuletzt erschienen im Hanser-Verlag die Essays «Über Clowns» (1998).
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      schrieb am 17.11.01 16:50:44
      Beitrag Nr. 39 ()
      "Man will uns für dumm verkaufen"



      Die Globalisierung "made in America" lässt allzu viele Verlierer zurück - und stärkt den Fundamentalismus: Arundhati Roy, die indische Schriftstellerin und Aktivistin, im ZEIT-Gespräch

      von Jacqueline Hénard (Gesprächsführung)


      DIE ZEIT: Ihre Aufsätze über die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Machtverteilung und Terrorismus haben im Westen ein derartiges Echo ausgelöst, dass Sie mit einem Mal als die Globalisierungskritikerin erscheinen. Wie gefällt Ihnen diese Rolle?

      Arundhati Roy: Ich bin mir nicht sicher, ob ich all diese Aufmerksamkeit verdiene. Ich schreibe die Dinge, wie ich Sie sehe, und erhebe keinen Anspruch auf den Titel "Stimme der Dritten Welt".

      ZEIT: Aber warum finden Sie mit Ihrer Stimme so viel Gehör?

      Roy: Weil ich eine Schriftstellerin bin. Ich kümmere mich mit meiner literarischen Legitimierung um Anliegen, die nicht literarisch sind. Ich will die Globalisierungsdebatte auf keinen Fall den Ökonomen und Juristen überlassen. Man will die Leute für dumm verkaufen in Fragen, die an die Substanz ihres Lebens reichen: Wasser, Boden, Saatgut. Meine Aufgabe als Schriftstellerin ist es zu sagen: Halt, lasst mich mal genau hinschauen, und dann werde ich mit einfachen Worten erklären, was vor sich geht.

      ZEIT: Mancher, der auf der Seite Amerikas und des Westens steht, empfindet diese Worte als verletzend und oberflächlich.

      Roy: Sobald Familien und Opfer im Spiel sind, kochen die Gefühle hoch. Für Amerikaner ist die existenzielle Unsicherheit im Alltag ein neues, seltsames Gefühl, während es für viele von uns leider dazugehört. Manche der besten und kritischsten Aufsätze zum Hintergrund der Anschläge vom 11. September sind übrigens von Amerikanern geschrieben worden - aber sie werden nicht gedruckt, sie sind nur im Internet zu finden. Auch meine Aufsätze sind in Amerika nicht veröffentlicht worden. Es gibt viele wunderbare Dinge an Amerika, aber es gibt auch ein großes schwarzes Loch im Nachrichtenfluss.

      ZEIT: Bleiben Sie denn bei Ihren Worten, bin Laden sei der brutale Zwilling des amerikanischen Präsidenten, mittelbare Frucht der amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik?

      Roy: Die amerikanischen Hegemonialansprüche haben viele Ressentiments geschaffen. Die Terroristen nutzen sie für ihre Zwecke. Man muss verstehen, woher diese Ressentiments kommen, sonst besteht die Gefahr, dass die Gewalt nur immer weiter eskaliert. In diesem Frühjahr habe ich einen großen Aufsatz über die Privatisierung der indischen Strom- und Wasserversorgung und ihre gesellschaftlichen Folgen geschrieben. Damals, also lange vor den Terroranschlägen, habe ich gesagt, dass die Globalisierung mit dem Erstarken des Fundamentalismus einhergeht. Denn die Globalisierung hat erniedrigende Nebenwirkungen. Nehmen Sie nur die Call-Center, die in Indien sprießen, ein Millionengeschäft, das auf grotesken Lügen fußt: Da sitzen indische Frauen, denen ein amerikanischer Akzent antrainiert wird. Am Telefon müssen sie sich Susi und Jenny nennen und so tun, als säßen sie irgendwo in Amerika. Das logische, hausgemachte Gegenstück dieser Call-Center sind die Trainingscamps der Hindu-Fundamentalisten.

      ZEIT: Wenn Amerika die Quelle so vieler Erniedrigungen ist, wie erklären Sie dann, dass die Green-Card-Aktion der deutschen Regierung in Indien ein Flop war? Warum gehen die Softwareingenieure der Dritten Welt lieber nach Amerika?

      Roy: Das hat mit Sprache zu tun.

      ZEIT: Glauben Sie nicht, dass der amerikanische Traum auch in Indien wirkt?

      Roy: Doch, absolut. Aber wer sind die Softwareingenieure? Sie gehören zur Elite. Globalisierung ist kein Ding mit scharfen geografischen Grenzen: Amerika und Europa einerseits und der Dritten Welt andererseits. Auch die Eliten der Dritten Welt träumen von der Globalisierung und kollaborieren nach Kräften.

      ZEIT: Was treibt all die Wirtschaftsflüchtlinge, die westwärts durch Europa strömen und manchmal sehr einfacher Herkunft sind, wenn nicht der Traum vom persönlichen Erfolg nach den Spielregeln der Globalisierung?

      Roy: Nicht jeder Traum wird Wirklichkeit. Die Menschheit wird nicht geschlossen zum Islam konvertieren, und sie wird sich auch nicht in eine harmonische Masse von Mittelschichtsverbrauchern verwandeln. Die Globalisierung geht mit einem Prozess der Exklusion einher, und die Verlierer stehen am Ende schlechter da.

      ZEIT: Wie erklären Sie, dass gerade die vorgeblichen Verlierer die materiellen Begleiterscheinungen der Globalisierung so bereitwillig aufnehmen: Mobiltelefon, Satellitenfernsehen, Coca-Cola?

      Roy: In Indien ist vielleicht die Mittelschicht empfänglich dafür. Auf dem Land, wo es um essenzielle Dinge geht wie Wasser- und Stromversorgung, also die Ressourcenverteilung, sieht das ganz anders aus. Ich bin immer wieder erstaunt und beeindruckt, wie genau die Leute wissen, was mit ihnen geschieht und wie ihnen mitgespielt wird. Sie wissen, dass sie den Preis zahlen. Das zeigt auch, was für ein besonderer Ort Indien ist.

      ZEIT: Haben Sie nicht den Eindruck, dass Amerika zunehmend sich selbst und sein Auftreten in der Welt selbst infrage stellt?

      Roy: Ich weiß nicht, was in Amerika vor sich geht. Aber ich lese Zeitungen und schaue fern. Und die Worte des amerikanischen Präsidenten klingen nicht so, als würde er viel infrage stellen. Oder nehmen Sie einen Mann wie Dan Rather, einen anerkannten Journalisten, der vor der Kamera fragt: "Warum hassen sie uns?" - Und dann gibt er diese Antwort: "Weil sie böse sind, weil sie Verlierer sind. Und wir sind Gewinner."

      ZEIT: Kennen Sie Amerika?

      Roy: Ich bin da gewesen.

      ZEIT: Und nach Ihren Aufsätzen sind Sie nicht eingeladen worden, um dort zu diskutieren?

      Roy: Doch, ich sollte eigentlich schon unterwegs sein. Aber ich kann nicht, ich muss zurück nach Indien.

      ZEIT: Warum sind Sie eigentlich so pessimistisch, was die Zukunft Afghanistans angeht? Manche Länder haben sich politisch und wirtschaftlich sehr gut von der Befreiung durch die Amerikaner erholt, Frankreich oder Deutschland zum Beispiel ...

      Roy: Auch ein paar osteuropäische Länder ... aber es gibt viele Gegenbeispiele. Und Afghanistan, das ist nun einmal eine Weltgegend, in der die Amerikaner sich nicht auskennen.

      Arundhati Roy wurde um 1960 in Indien als Tochter syrischer Christen geboren. Die Schriftstellerin ("Der Gott der kleinen Dinge") erregte Aufsehen, als sie kürzlich Osama bin Laden einen "Zwilling des amerikanischen Präsidenten" nannte
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      schrieb am 17.11.01 16:53:33
      Beitrag Nr. 40 ()
      hier nochmal ein text von Paul Auster - von ihm ist auch der allererste beitrag dieses threads !

      Underground



      In diesen Tagen durch New York City

      von Paul Auster


      Mit der U-Bahn fahren, wenn viel los ist am Tag - im Berufsverkehr morgens oder im Feierabendverkehr -, und das Glück haben, einen Sitzplatz zu finden. Die ausländischen Zeitungen zählen; der Blick auf die Titel all der Bücher und die Leute beim Lesen beobachten (dieses Geheimnis, diese Unmöglichkeit, in den Geist einer anderen Person einzudringen); den Gesprächen zuzuhören und jemandem über die Schulter auf die Sportseite mit den Baseball-Ergebnissen zu sehen.

      Die dünnen Männer mit ihren Aktentaschen, die fülligen Frauen mit ihren Bibeln und religiösen Traktaten, die Highschool-Kids mit ihren kiloschweren Büchern. Schmöker, Comic-Hefte, Melville und Tolstoj, Wie man den inneren Frieden erlangt.

      Quer über den Gang all die Mitfahrer und ihre Gesichter studieren. Sich über die Vielfalt der Hauttöne und Merkmale wundern, ganz verblüfft von der Einzigartigkeit der Nase einer jeden Person, ihres Kinns; sich freuen am pausenlosen Geschiebe innerhalb dieser mächtigen Menschentraube.

      Die abgerissenen Typen mit ihren schrägen Songs und ihren Leidensgeschichten; die gereizten Standpauken missionarischer Menschenfänger; die Taubstummen, die ganz höflich Karten mit dem Zeichensprache-Alphabet in deinen Schoß legen; die stillen Männer, die durch die Gänge hasten und dabei Schirme, Tischtücher und billiges Blechspielzeug verkaufen.

      Der Lärm des Zuges, die Schnelligkeit des Zuges. Dieses unverständliche Rauschen, das bei jedem Halt aus den Lautsprechern quillt.

      Das Taumeln und plötzliche Verlieren des Gleichgewichts, Fremde, die zusammenstehen und aufeinander prallen. Dennoch, diese behutsame, alles in allem höchst zivilisierte Art, wie jeder sich um seinen eigenen Kram kümmert.

      Und dann, niemals aus einsichtigen Gründen, geht das Licht in den Waggons aus, die Ventilatoren surren nicht mehr, und ein jeder sitzt in der Stille und wartet darauf, dass der Zug wieder anfährt. Kein Wort, von niemandem. Nicht mal ein Seufzer. Meine New Yorker Mitbürger sitzen in der Dunkelheit, sie warten mit der Geduld von Engeln.
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      schrieb am 17.11.01 16:56:08
      Beitrag Nr. 41 ()
      Die gottgefällige Freiheit


      Lassen sich Menschenrechte, Säkularisierung, Demokratie und Pluralismus islamisch begründen? Im Iran streiten Gelehrte für die Versöhnung von Glauben und Moderne

      von Katajun Amirpur


      Radikale Islamisten bomben sich seit einigen Jahren schon in unser Bewusstsein. Weder ein Forum noch ein Bewusstsein gibt es hingegen im Westen für jene Intellektuellen, die sich selbst als "religiöse Aufklärer" bezeichnen und den Fanatikern ihre eigene, liberale Interpretation des Islams entgegensetzen.

      Ein gewisses kurzlebiges Interesse erfahren sie allenfalls als Opfer fundamentalistischer Gewalt. "Der Westen interessiert sich für unsere Köpfe nur, wenn sie rollen", hat der ägyptische Nobelpreisträger Nagib Machfus einmal verbittert festgestellt. So entsteht in westlichen Medien das Bild, der Islamismus sei überall in der islamischen Welt auf dem Vormarsch. Dabei werden dort heute sehr progressive Debatten über die Vereinbarkeit von Glauben und Moderne geführt.

      Erstaunlicherweise findet der interessanteste Diskurs im fundamentalistischen Gottesstaat Iran statt. Im Iran hatte man in den Jahren nach 1979 das islamistische Experiment gewagt. Eine Parole, mit der hier Ernst gemacht werden sollte, lautete: "Der Islam ist die Lösung." Bald zeigte sich im Realitätstest, dass dies keineswegs der Fall war: Wirtschaftliche, politische, soziale Probleme blieben bestehen. Im iranischen System, das Religion und Staat nicht trennt, wurde schließlich gar die Religion, die doch die Lösung sein sollte, für die Verfehlungen der Politik verantwortlich gemacht.

      Deshalb begannen ausgerechnet einige ehemalige Islamisten, die Säkularisierung des Staates zu fordern. Anfangs nur zwischen den Zeilen zu lesen, ist diese Forderung heute immer lauter zu vernehmen. Sie wird von Geistlichen wie von Nichttheologen, Journalisten und Politikern erhoben, die sich als eine Bewegung verstehen und von sich selbst sagen, sie wollten eine "religiöse Aufklärung". In ihren theoretischen Debatten aber haben die religiösen Aufklärer ein kniffliges Problem zu lösen. Sie müssen erklären, wieso ihre Forderungen nicht dem Islam widersprechen: Kann man nach einer säkularen Gesetzgebung leben und sich trotzdem als Muslim definieren?

      Radikale werden zu Reformern

      Dieses Problem stellt sich gerade ihnen in besonderer Schärfe, weil viele der heutigen Aufklärer eine islamistische Vergangenheit haben. Für die meisten Muslime in der Geschichte war es nie eine Frage, dass die Herrschaft von einem weltlichen Herrscher ausgeübt wird. Die Trennung von Staat und Religion - nicht deren Einheit - war historische Realität. Weil viele der "religiösen Aufklärer" diese Einheit einst selber angestrebt und in der iranischen Revolution auch durchgesetzt haben, müssen sie heute erklären, wie es auch ohne gehen kann.

      Ein Prüfstein für die Debatte ist die Diskussion über die Menschenrechte. Einst wurden sie vom iranischen Staatsgründer Ayatollah Khomeini bezeichnet als "eine Sammlung korrupter Regeln, die sich die Zionisten ausgedacht haben, um alle wahren Religionen zu zerstören". Der Philosoph Abdelkarim Soroush hingegen argumentiert, dass auch islamische Staaten die Menschenrechte ohne Schwierigkeiten übernehmen können. Es sei prinzipiell von der Existenz metareligiöser Werte auszugehen. Mit diesem Zugeständnis nimmt er im liberal-islamistischen Diskurs eine völlig neue Position ein. Auch andere Denker vor ihm meinten, dass Islam und Menschenrechte vereinbar seien, argumentierten aber, die Menschenrechte, zumindest die meisten, seien bereits im Koran vorformuliert oder gingen sogar auf den Islam zurück.

      Diese Argumentation, die sich immer den Vorwurf einer gewissen Beliebigkeit gefallen lassen musste, übernimmt Soroush nicht. Er bestreitet sogar ihre Prämissen, denn seiner Meinung nach sind die Menschenrechte keineswegs islamischen Ursprungs, sondern schlichtweg Gebote der menschlichen Vernunft. Trotzdem widersprechen sie seiner Meinung nach nicht der Religion: Denn grundsätzlich, sagt Soroush, könne keine Religion gegen die Vernunft sein. Im Gegenteil: Die Schiiten betrachten die islamische Offenbarung als die höchste Manifestation der Vernunft. Deshalb können die Menschenrechte übernommen werden, auch wenn sie ursprünglich in einem außerreligiösen Bereich definiert wurden.

      Für Soroush ist der Glaube durchaus mit der vollständigen Erneuerung von religiösen Konzepten vereinbar, denn er ist der Auffassung, dass jedes menschliche Verständnis der Religion von den Zeitumständen abhängig und also in einem dauernden Prozess der Verwandlung begriffen ist. Zur Reformierung der herrschenden restriktiven Islam-Deutung müsste man aus den alten Texten neue Interpretationen herausarbeiten, "wenn die menschliche Vernunft zur Überzeugung kommt, dass diese oder jene Bestimmung des Korans mit der Menschenwürde unvereinbar ist", schreibt Soroush.

      Von den Glaubensregeln, die mit der Menschenwürde nicht vereinbar sind, trennen sich die religiösen Reformer bereitwillig. Fast alle Glaubensregeln, einschließlich der so genannten fünf Säulen des Islams, seien ohnehin nur die "Haut", die die Religion nach außen hin zusammenhält, sie hätten gleichwohl nichts mit der eigentlichen Essenz der Religion zu tun. Soroush argumentiert, Schiit sei, wer an die fünf unumstößlichen Dogmen der Schia glaube: die Einheit Gottes, das Prophetentum, die zwölf Imame, die Auferstehung und die Gerechtigkeit Gottes. Gemäß dieser Argumentation muss auch das Kopftuchgebot nicht unbedingt eingehalten werden. Zwar gebiete der Islam das Tragen des Kopftuches durchaus, aber die Frau müsse es freiwillig tragen. Wolle sie das nicht, habe sie nicht gegen einen essenziellen Bestandteil der Religion verstoßen.

      Der Koran gibt keinen Staat vor

      Die Herrschaftsdoktrin der Islamischen Republik besagt, die Regierung obliege einem Rechtsgelehrten, der seine Legitimation direkt von Gott erhält und nicht vom Volk. Aber nach 20 Jahren Erfahrung mit einem nichtsäkularen Staat wird unter iranischen Denkern heute die erstaunliche Forderung nach der Einführung der Demokratie laut. Dass die Herrschaft weltlich sei, entspreche dem Islam, argumentiert der Geistliche Mohammad Schabestari. Er begründet die Notwendigkeit der Demokratie aus seiner Theologie. Für den iranischen Diskurs ist das von enormer Bedeutung, denn nur so können sich die religiösen Aufklärer des Vorwurfs erwehren, verwestlicht und vom Ausland gesteuert zu sein.

      Schabestari stellt fest, der Koran gebe lediglich vor, dass die politisch-gesellschaftliche Ordnung gerecht sein solle - mehr aber nicht. Aus den allgemeinen ethischen Prinzipien, die er enthält, könne man keine Staatsphilosophie ableiten, wie von den herrschenden Konservativen behauptet. Auch dass der Prophet selbst religiöser und politischer Führer in einer Person war, ist für Schabestari kein Argument gegen sein Plädoyer für eine Trennung von Staat und Religion. Diese Tatsache sei zwar Teil der islamischen Heilsgeschichte, dürfe aber nicht absolut gesetzt werden. Damit widerlegt Schabestari nicht nur islamische Fundamentalisten, sondern auch westliche Betrachter, die deren Argument übernehmen. Auch sie behaupten ja, der Islam schreibe die Einheit von Religion und Staat unabdingbar vor, und verweisen zum Beleg auf die Frühzeit des Islams.

      Schabestaris wichtigstes Argument dafür, dass der Koran nur die Prinzipien (usul) der Regierungsweise, nicht aber die genaue Form (schekl) vorgibt, ist der so genannte ahd, der Regierungsauftrag des Kalifen Ali an seinen ägyptischen Statthalter Malik al-Aschtar, der aus dem 7. Jahrhundert stammt. Ali, der religiös-autorisierte Führer, übergibt die Regierung Ägyptens ausdrücklich einem weltlichen, keinem religiösen Herrscher. Und in dem Regierungsauftrag erteilt Ali seinem Statthalter zwar ethische Anweisungen, die auf dem Islam gründen, aber er fordert nicht die Etablierung eines islamischen Staatssystems. Stattdessen verweist Ali darauf, dass bewährte Regeln und Traditionen nicht abgeschafft werden sollen. Islamisch und gottgefällig sei der neue Staat, wenn dort weder Unterdrückung noch Tyrannei herrsche. "Oh Malik, sei gerecht gegenüber Gott und dem Volk", heißt es in dem Regierungsauftrag. "Unterdrücke die Volksmassen nicht. Wer immer die Geschöpfe Gottes unterdrückt, wird sich die Feindschaft Gottes genauso zuziehen wie die Gegnerschaft jener, die er unterdrückt hat."

      Weil der Koran kein konkretes System vorgegeben hat, dürfen die Menschen laut Schabestari selbst entscheiden, in welcher Ordnung sie leben wollen. Schabestari plädiert für die Demokratie, und sein wichtigstes Argument für diese Staatsform ist dabei ein religiöses. Nur ein Glaube, zu dem man in Freiheit gefunden hat, sei ein wahrhafter und gottgefälliger Glaube, und in der Demokratie sei das Prinzip der Freiheit am besten verwirklicht.

      Auf dieser Linie liegen auch Soroushs Einlassungen zum Thema "Atheismus und Religionsfreiheit". Die Islamische Republik sieht sich als Vollstreckerin einer totalen religiösen Gesetzesethik befugt, gegen areligiöse, ketzerische Ideen vorzugehen, weil sie den Blick auf die koranische Wahrheit verstellen. Soroush dreht den Spieß um: "Die Menschheit hat in einer Ordnung, die sie gewaltsam mit der Wahrheit füttern wollte, mehr Fehler gemacht und mehr Schaden genommen als in einer Ordnung, in der man auch Fehler machen darf." Soroush weiß also um die Gefahren, die eine offene Gesellschaft möglicherweise für den Glauben mit sich bringt. Dennoch gibt er in seinem Gesellschaftskonzept auch Atheisten und Religionskritikern das Rederecht. Die Gegner der Freiheit greift Soroush in deutlichen Worten an: "Glaubt nicht, dass euer Hirn die Quelle der Wahrheiten ist und alles, was ihm entströmt, die reine Wahrheit."

      Obwohl Soroush Positionen eines Säkularisten einnimmt, haben seine Argumente immer ein religiöses Motiv. Ihm liegt etwas an seinem Glauben, gerade deshalb hat er aus den Erfahrungen von 22 Jahren real existierendem Islamismus die Konsequenz gezogen, dass Religion und Staat getrennt werden müssen: "Freie Gesellschaften, ob religiös oder areligiös, sind göttlich und menschlich zugleich. In totalitären Gesellschaften aber bleibt weder die Menschheit noch die Gottheit übrig."

      Dieser Diskurs um den Islam in der Moderne ist nicht nur auf einige Intellektuellenzirkel beschränkt. Die Zeitschrift Kiyan, in der Abdelkarim Soroush seine Ansichten verbreitete, hatte jahrelang eine hohe Auflage und wurde überwiegend von Studenten gelesen. Inzwischen ist sie allerdings verboten worden. Die Bücher der religiösen Aufklärer werden vor allem in den theologischen Hochschulen Irans gelesen und diskutiert. In diesen Ausbildungsstätten, die eigentlich die Kaderschmieden des Regimes sind, werden inzwischen progressive Ideen formuliert. Die Studenten verfügen nicht nur über eine klassische Ausbildung in koranischen Wissenschaften, sondern auch - nicht zuletzt durch die Schriften der religiösen Aufklärer - über Kenntnisse moderner Methoden wie Hermeneutik und Textkritik. So gerüstet, debattieren die jungen Mullahs über Fragen der Menschenrechte, das Staatsverständnis und die Rolle der Frau im Islam. Die jungen Mullahs lassen sich nicht auf die offiziell propagierte Deutung des Korans einschwören, sondern entwickeln alternative Lesarten.

      Andere religiöse Aufklärer verfügen über zunehmenden Einfluss in der aktuellen Tagespolitik. Der Soziologe Akbar Gandschi, ein Schüler Soroushs, hat sich beispielsweise in den letzten beiden Jahren als Enthüllungsjournalist hervorgetan und die Machenschaften hoher iranischer Konservativer aufgedeckt. Von ihm stammt der Begriff des "religiösen Faschismus", den auch der moderate Staatspräsident Mohammed Khatami übernommen hat. Der religiöse Faschismus, sagt Gandschi, akzeptiert nicht das "humane Verständnis der Religion, sieht im Menschen einen Sklaven des Herrschers, trennt zwischen Religion und Vernunft und ist aggressiv, fanatisch und bigott". Religiöse Faschisten sind für Gandschi zum einen die organisierten Schläger, die gegen kritische Intellektuelle und freizügig gekleidete Frauen vorgehen, aber auch diejenigen im Staate, die solches Vorgehen gutheißen.

      Es ist nicht ungefährlich, solche Worte auszusprechen in der Islamischen Republik. Gandschi ist vor einigen Monaten zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden, die Vorlesungen Soroushs wurden schon mehrfach von Schlägertrupps gestürmt, er selber mit dem Tode bedroht. Ein anderer exponierter Vertreter der Aufklärer wurde vor zwei Jahren zu 18 Monaten Haft verurteilt, weil er die Staatsdoktrin der Islamischen Republik kritisiert hatte. Die Haftstrafe allerdings, die Mohsen Kadiwar verbüßen musste, hat ihn zum Helden der Studenten werden lassen. Wo immer der Geistliche öffentlich auftritt, und sei es nur als Zuhörer einer Diskussionsrunde, empfängt ihn tosender Applaus.

      Wahrer Glaube braucht Freiheit

      Die Namen und Ideen der Reformer sind der Bevölkerung - vor allem den Jugendlichen - also durchaus ein Begriff. Kein Wunder, die religiösen Aufklärer finden bei Vorträgen und Predigten deutliche Worte. "Man kann Menschen nicht zwingen, eine Religion zu akzeptieren", sagte ein weiterer Protagonist der Bewegung, der stellvertretende Staatspräsident Abdallah Nuri, vor rund zwei Jahren vor Tausenden begeisterter Studenten in der Universität von Teheran: "Wenn man sie zwingt, ist es keine Religion mehr." Einige Tage zuvor hatte Nuri vor einer großen Menschenmenge in Ghom, dem theologischen Zentrum Irans, den Pluralismus in religiösen in politischen Dingen gefordert und Europa als Vorbild für die Islamische Republik bezeichnet: "Die Geistlichkeit im europäischen Mittelalter hat alles getan, um die Meinungsfreiheit einzuschränken, aber heute sind es die europäischen Demokratien, welche die islamischen Traditionen des Pluralismus und der Demokratie fortführen." Unmittelbar darauf lösten Schlägertrupps die Veranstaltung gewaltsam auf. Nuri wurde kurze Zeit später zu fünf Jahren Haft verurteilt. Zuvor allerdings konnte er seine Kritik zur besten Sendezeit im Fernsehen vortragen, weil der iranische Staatssender - bis er der Gefahren von Nuris Rede gewahr wurde - das Verfahren in den ersten Tagen live übertrug.

      Die iranische Debatte wird auf Persisch geführt. Das erschwert Arabern den Zugang, und außerdem sind manche Argumente der schiitischen Debatte nicht auf einen sunnitischen Kontext übertragbar. Dennoch findet der iranische Streit um Religion und Moderne auch Widerhall in der restlichen islamischen Welt, denn seit der Revolution sind die Augen der Gläubigen auf Iran gerichtet. Die Bücher einiger Reformer wurden bereits ins Arabische übersetzt, die Intellektuellen treffen sich auf Konferenzen. Fraglich bleibt trotzdem, ob die Anregungen der Aufklärer in der arabischen Welt breite Bevölkerungsschichten erreichen können. In der Islamischen Republik Iran hat schliesslich jedermann eigene, oft leidvolle Erfahrungen mit dem Islamismus. Das Problem, Islam und Moderne zu versöhnen, stellt sich hier viel dringender.

      Auf jeden Fall zeigt die iranische Debatte, dass es viele Ansätze gibt, den Islam neu zu interpretieren. Der Islam muss nicht unvereinbar sein mit der Moderne. Es ist hilfreich, die iranische Debatte zu betrachten, um dem simplizistischen Standardargument vieler Muslime und Islamkritiker entgegentreten zu können, der Koran schreibe dies und jenes nun mal so vor.

      Wenn selbst im Gottesstaat moderne Islam-Interpretationen entstehen können, warum dann nicht auch unter den Muslimen in Europa? Die iranische Debatte könnte ein Anhaltspunkt dafür sein, was dem Islam alles zugemutet werden kann.

      Katajun Amirpur stammt aus dem Iran, und lebt als Publizistin und Iranistin in Köln
      Avatar
      schrieb am 17.11.01 17:05:53
      Beitrag Nr. 42 ()
      IN EIGENER SACHE

      ich habe kürzlich gelesen, dass bundeskanzler schröder seit dem
      11.9.2001 "vermehrt in den feuilletons" lese und sich dort informiere ...

      in diesem thread sind wichtige texte publiziert aus den feuilletons der
      zeitungen ZEIT, FAZ, NZZ u.v.a.m. mit der neuen funktion

      Posting versenden

      kann man komfortabel jemandem diese ganze text-sammlung per mail zusenden.

      ist das nicht klasse? WO könnte damit ganz schön werbung machen.
      Avatar
      schrieb am 17.11.01 18:17:45
      Beitrag Nr. 43 ()
      Von Terror und von Genen

      Ein Plädoyer für die Enthysterisierung zweier Selbsterregungskampagnen

      von Peter Sloterdijk


      Es soll einen chinesischen Fluch gegeben haben, der auch das Abendland erreicht hat und gelegentlich von westlichen Rednern zitiert wird. Er lautete: "Möge es dir beschieden sein, in einer interessanten Zeit zu leben." Dieser Fluch hat sich für uns auf ziemlich dramatische Weise erfüllt. Wir sehen uns auf informative Art doppelt verflucht. Zwei Interessantheiten von eminentem Gewicht haben die Themenlandschaft des letzten Jahres überschattet. Das Hereinbrechen dieser unerbittlich interessanten Themen hat uns darüber aufgeklärt oder zumindest wieder daran erinnert, dass moderne Gesellschaften in ihrem massenmediatisierten Aggregatzustand in erster Linie Themenbörsen sind, in denen Aktualitäten emittiert und in Tagesgeschäften gehandelt werden. Zum Wesen von Aktualitätengeschäften gehört, dass jedes diensthabende Thema nur solange handelbar ist, bis es durch eine neue Höchst-Aktualität verdrängt wird. An keinem Themenwechsel lässt sich dies besser studieren als an den beiden großen Sujets des laufenden Jahres, zum einen der Thematik der Biotechnologie, die uns während des größten Teiles des Jahres 2001 in Atem gehalten hat, bis die andere Aktualität hereinbrach, die wir vereinfachend unter dem Begriff "Terrorismus" zusammengefasst und mit dem irreführenden Zusatz "Krieg gegen" versehen haben.

      Auf intuitiver Ebene ist uns schon heute gegenwärtig, dass diese beiden Motive zu den künftigen Langzeitthemen der Zivilisation gehören werden. Die aufkommende Biotechnologie ist zwar seit dreißig Jahren hinter halbgeschlossenen Türen ausführlich diskutiert worden - aber erst die wissenschaftlichen und publizistischen Durchbrüche der letzten beiden Jahre haben biotechnische und bioethische Fragen auf der politischen und kulturellen Agenda so weit nach vorne gebracht, wie wir es zwischen dem Herbst 1999 und dem Sommer des Jahres 2001 erlebt haben.

      Ähnliches lässt sich vom Terror sagen, der moderne Gesellschaften seit langem begleitet und doch erst nach dem 11. September mit einem jähen Qualitätssprung zu einer allesüberragenden Präsenz im Bewusstsein medienabhängiger Bevölkerungen aufgestiegen ist. Das wichtigste, was man zur Zeit über den Terrorismus wissen muss, ist, dass er keineswegs eine Erfindung der 80er oder der 90er Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts darstellt. Man kann den Eintritt des Terrorismus in die weltpolitische Szene, von den anarchistisch-nihilistischen Vorspielen im 19. Jahrhundert abgesehen, auf Tag und Stunde genau datieren. Der kritische Zeitpunkt ist der 22. April 1915, als um 18.00 Uhr abends an der Nordflanke von Ypern ein deutsches Gasbataillon - das erste seiner Art - einen Chlorgasangriff gegen französische Stellungen lancierte. In den Wochen zuvor hatten deutsche Soldaten, vom Gegner unbemerkt, 5700 Gasflaschen in die Gräben dieses Frontabschnitts eingebaut und von da an auf günstige meteorologische Bedingungen gewartet. Als schließlich der Wind mit den Deutschen war, erfolgte der Befehl zum Öffnen der Flaschen. Mehr als 150 Tonnen Chlorgas strömten aus und bildeten eine 6 Kilometer breite und zwischen 600 und 900 Meter tiefe Wolke, die mit einer Geschwindigkeit von zwei Metern pro Sekunde auf die französische Front zutrieb.

      Ob es dabei Tausende von Toten gab oder "nur" wenige Dutzend, gehört bis heute zu den ungeklärten Fragen der Militärgeschichtsschreibung. Sicher ist hingegen, dass dies die Geburtsstunde des modernen Terrorismus darstellt. Der 22. April 1915 ist ein Zentraldatum der jüngeren Weltgeschichte, auch wenn die aktuelle Erinnerungskultur wenig Anzeichen dafür bietet, dass sie bereit wäre, diese Vorgänge gebührend zu würdigen. Im Jahr 1915 ist der Terrorismus als Element des staatlichen Normalkrieges eingeführt worden und hat seither nicht aufgehört, in der Kriegführung von Staaten eine zentrale Rolle zu spielen.

      Der ideologisch oder religiös motivierte Banden- und Sektenterrorismus ist demgegenüber seit jeher eine eher marginale Erscheinung geblieben - auch wenn er heute übergroß im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Terrorismus ist eine Kampfmethode, kein Personenkreis. Deswegen ist die allgegenwärtige Politiker-Formel vom "Kampf gegen Terrorismus" ein Nonsense-Ausdruck. Gegen eine Methode kann man nicht kämpfen, man kann nur dafür sorgen, dass sie nicht angewandt wird. Daher ist es höchste Zeit, von der irreführenden Semantik des Krieges abzugehen und auf die allein angemessene Sprache einer Verbrechensbekämpfung auf umfassenderem Niveau zurückzukommen.

      Ich möchte vier Kriterien nennen, die für die Bestimmung dessen, was Terrorismus eigentlich sei, von Relevanz sind. Die allgemeinste Definition des modernen Terrors besteht darin, dass er den Feind nicht bei seiner militärischen Abwehr, sondern lateral angreift: von der Umwelt her - oder wie man am Beispiel des Gasangriffs von Ypern erkennt: von der Atemluft ausgehend. Dies erklärt sich nicht zuletzt aus der kriegstechnischen Situation an der Westfront seit dem Herbst 1914, als sich die Soldaten gegen die direkte Wirkung von Gewehrkugeln, zum Teil auch die von Brisanzgeschossen durch Eingraben geschützt hatten, so dass sich der Gedanke an ihre Tötung durch eine chemische Atemwaffe gewissermaßen nahelegte. Im Gaskrieg vollzog sich die Umstellung vom direkten Angriff auf den Feind zum Angriff auf die Umwelt des Feindes. Diese Wendung bleibt für alle Arten des Terrorismus grundlegend: Terrorismus ist wesensmäßig umweltterroristisch und atmoterroristisch angelegt. Sein bevorzugtes Medium ist die Luft, die durch ihre Unsichtbarkeit und allgemeine Ausbreitung das ideale Medium für den Einsatz von unwahrnehmbaren Giften darstellt. Kein Wunder, dass das 20. Jahrhunderts, als eigentliche Matrix des Terrors, ein Zeitalter der "Luft-Waffen" und des Todes aus der unlebbar gemachten Umwelt gewesen ist. Die aktuellen Eskalationen arbeiten diese Tendenzen aus.

      Das zweite Kriterium des Terrors ist die attentäterische Qualität seines Einsatzes: der Terrorist nutzt Lücken in der Abwehr des Feindes aus, indem er ihn in ungeschützten Augenblicken ohne Vorwarnung angreift. In diesem Sinn lässt sich sagen, dass der Terrorist seine Opfer besser versteht als sie sich selbst verstehen - er spürt Schwachstellen im Immunsystem des Gegners auf und greift von diesen her an, weswegen bei den Attackierten oft der Eindruck entsteht, es mit einem dämonischem Gegenüber zu tun zu haben, gegen das man sich nur unter Einsatz ungeheurer Maßnahmen zur Wehr setzen könne. Die Botschaft des Attentäters lautet stets: Du musst dein Leben ändern. Weil der Terror mit atmosphärischen Waffen arbeitet, ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, seinen Wirkungsbereich abzugrenzen: Auch wenn er de facto nur wenige Opfer fordert, greift er tief in die moralischen Lebensbedingungen der Angegriffenen ein.

      Für das Verständnis der aktuellen Phänomene ist das dritte Merkmal des Terrors das bedeutsamste: Der Terror setzt die kommunikative Leitfähigkeit der angegriffenen Lebenswelten voraus und spielt daher stets auf der Klaviatur der autogenen Ängste. Deswegen koexistiert der Terror mit der Mediengesellschaft und ist außerhalb derselben nicht denkbar. So schrecklich die einzelnen Terror-Aktionen sein mögen: Sie bleiben naturgemäß auf punktuelle Operationen beschränkt. Sie wären quantitativ nahezu bedeutungslos, wenn sie nicht in die Selbstgespräche der angegriffenen Partei übersetzt würden und dort in zehntausendfacher Vergrößerung zur Wirkung kämen. Daher kann man den inneren Zusammenhang zwischen Terror und modernen Massenmedien niemals hoch genug veranschlagen. Weil Massenmedien ihrer primären Funktionsweise nach immer schon Instrumente der Selbstirritation und der Selbsthysterisierung von strukturell übermediatisierten Gesellschaften sind, hängen sich Terrornachrichten als ideale informative Viren in das System der Tagesnachrichten und Sondersendungen ein. Sie lösen sofort eine Art von unfreiwilligem Krieg der Medien gegen die eigene Bevölkerung aus - ein Phänomen, das sich zwischen 1914 und 1918 zum ersten Mal vollständig entfaltet hatte. In der Kommunikation über Terror kommen die modernen Massenmedien zu sich. Die diesbezüglichen Einsichten von Karl Kraus sind wieder so aktuell wie zu der Zeit, als er Die letzten Tage der Menschheit aus den Zeitungen exzerpierte. Nie ist das Medium so sehr es selbst, wie wenn es von der Angst berichten kann, die es durch seine Berichterstattung erzeugt.

      Zum Verständnis der aktuellen Terrorismus-Unruhe ist ein viertes Moment in Betracht zu ziehen, mit dem wir auf das mögliche Gefälle zwischen dem Produzenten und dem Benutzer terroristischer Waffen aufmerksam werden. Beim deregulierten und entstaatlichten Terror, der zur Zeit mehr Aufmerksamkeit bindet als der Staatsterrorismus, treten Akteure auf, die zu ihren Kampfmitteln, es seien Bomben, Flugzeuge oder biochemische Substanzen, evidentermaßen ein bloßes Benutzerverhältnis haben. Der aktuelle Terrorist ist ein User von Material, zu dessen internen wissenschaftlichen und technischen Bedingungen er kein koproduktives Verhältnis hat, so wenig wie ein durchschnittlicher jugendlicher Pophörer in einer verstehenden Beziehung zu der Elektronik steht, die seine Ekstasen ermöglicht. Der deregulierte Terror funktioniert nach dem Prinzip der Zwei-Komponenten-Waffen - wobei an der einen Stelle die Kampfmittel erzeugt werden, an der anderen die Kampfgesinnungen.

      Unter den gegenwärtigen Bedingungen werden die beiden Komponenten in wilden Improvisationen zusammengebaut - mit dem Ergebnis, dass die kompetenten Produzenten der gefährlichsten Waffen ihre Kontrolle über diese verlieren und damit rechnen müssen, dass diese auf unvorhersehbare Weise gegen sie selbst gewendet werden. Die westliche Zivilisation begegnet im islamistischen User-Terrorismus einem abgespalteten Aspekt ihrer selbst.

      Es ist nicht zu verkennen, dass wir in einer geschichtlichen Phase leben, in der sich etwas zurückmeldet, was man im 19. Jahrhundert den Primat des Politischen genannt hat. Wir scheinen zu einer Situation zurückzukehren, in der die Stunde der Staaten von neuem schlägt. Der entsprechende Trend stammt nicht von gestern und heute. Seit mindestens zwei Jahrzehnten kämpfen die Sozialdemokratien in aller Welt gegen das an, was sie als Neoliberalismus bezeichnen; ihr Kampf hiergegen stand von Anfang an im Zeichen einer Neubetonung von Staatskompetenzen. Sozialdemokratien müssen per se an einer ausgebauten Staatlichkeit interessiert sein, weil sie ohne den starken Steuerstaat nicht existieren können - und ohne den glaubhaften Sicherheitsstaat nicht an der Macht bleiben. Die aktuelle politische Theorie arbeitet daran, die unentbehrlichen Staatsleistungen angesichts einer globalisierten Weltwirtschaft neu zu buchstabieren. Vor diesem Hintergrund hätte den politischen Klassen des Westens nichts Besseres passieren können als die Herausforderung "der Zivilisation" durch den "Terrorismus". In der gegebenen Lage kommt die Profilierung des Staates als eines unersetzlichen Sicherheits-Providers ganz vorne auf die Bewusstseins-Agenda moderner Gesellschaften. Hatte man von wertkonservativer Seite bereits während der Gen-Debatte nach dem Staat als Normensetzer und Hüter von Grenzen gerufen, so wird während der aktuellen Terror-Hysterie der Staat vollends als Akteur aller Aktionen und Garant aller Garantien in Anspruch genommen. Dass dies eine illusorische Konjunktur darstellt, ist eine Einsicht, auf die man erst später zurückkommen wird.

      Selbstverständlich ist die gegenwärtige Situation für einen offenen Diskurs über die Gentechnik nicht günstig. Es ist offenkundig absurd, über eine wie auch immer hypothetische genetische Verbesserung der conditio humana zu sprechen, während gleichzeitig der Anschein hervorgerufen werden soll, es seien die elementarsten Sicherheitsprämissen menschlicher Existenz nicht mehr gewährleistet. Warum also von der genetischen Front her die menschlichen Lebensbedingungen optimieren wollen, wenn gleichzeitig eine Destabilisierung primitiver Sicherheitserwartungen wahrgenommen wird? Wie soll man an den genetischen Primärtext rühren, während die kulturelle Sekundärliteratur in einer schrecklichen Weise floriert? Man muss allerdings nur einen Blick auf die zur Zeit aktiven Terroristen werfen, um zu begreifen, dass sie keinen direkten Bezug zu den Themen mitbringen, die die westliche Welt im letzten Jahr in Leidenschaft versetzt haben. Kein islamistischer Kämpfer ist in vitro fertilisiert worden, keiner von ihnen hat ein Gen zuviel oder ein Gen zu wenig. Die Herren sind naturbelassene Schurken, die aus der Hand der tradierten Verhältnisse hervorgegangen sind, ohne dass ein Doktor Frankenstein sich an ihrem genetischen Material zu schaffen gemacht hätte. Sie treten als metaphysische Machos von klassischem Zuschnitt auf, ohne jedes positive Verhältnis zu dem Abenteuer der westlichen Zivilisation, das sich in der Emanzipation der Menschen von den Fatalitäten der Fortpflanzung ausdrückt, nicht zuletzt in der Befreiung der Frauen von einer zwanghaften Zuordnung zu den Mutterfunktionen.

      Der aktuelle jähe Umschwung des öffentlichen Interesses vom Genetik-Thema zum Terror-Thema ist mehr als eine Medien-Laune. Die beiden Themen sind intern miteinander verknüpft, auf wie immer unterirdische Weise. Wenn die diskutierende Gesellschaft unter dem Druck der vermeintlichen Aktualität vom Thema der biologischen Optimierung des Menschen umstellt auf die Frage nach dem terroristischen Verbrechen, nach dem radikal Bösen und seinen Gründen, dann tauscht sie nur eine der ewigen Sorgen gegen die andere aus. Die Sorge um die Fortpflanzung und die Sorge um die Sicherung gegen das Böse - dies sind seit jeher Primärthemen der Kulturen. Indem die Öffentlichkeit des Jahres 2001 über Genetik und Terrorismus diskutiert, handelt sie nur im Jargon der Zeit von den aktuellen Manifestationen des unüberwindlichen Interesses an Nachkommen und an Immunität.

      Ich möchte den Vorschlag machen, die Situation zu nutzen, um von den Verwicklungen der überhitzten deutschen Gentechnik-Debatte einen Schritt zurückzutreten und zu fragen, worum es unserer Gesellschaft eigentlich zu tun ist, seit sie sich vor mehr als zweihundert Jahren auf das Experiment der beschleunigten und kumulativen Modernisierungen einließ. Werfen wir einen distanzierten Blick auf die geistesgeschichtliche Konstellation, so ergibt sich etwa folgendes Bild: Wir haben uns klar zu machen, dass der stärkste Gedanke des 19. Jahrhunderts, die Idee der Evolution, mit dem Hauptmotiv des 20. Jahrhunderts, dem Prinzip der technischen Konstruktion, zusammengeflossen ist. Evolutionismus trifft Konstruktivismus: Diese Überschrift steht über dem Hauptereignis auf der kognitiven Weltbühne unserer Zeit. Die Begegnung hat einen Intensitätsgrad erreicht, die noch vor wenigen Jahrzehnten in dieser Form nicht denkbar gewesen wäre. Wenn Konstruktivismus Evolutionismus trifft, fängt eine ganze Zivilisation an, darüber zu diskutieren, ob es zu allem, was der Fall ist, Alternativen gibt. Damit schlägt öffentlich die Stunde des Funktionalismus. Das funktionale Denken - bislang eine esoterische Affaire von Technikphilosophen und Kybernetikern - tritt heute in seine Popularisierungsphase ein. Das ist mehr als eine Reformation - es führt zu nicht weniger als einer Mutation im Stil des Menschseins überhaupt. Die Mitspieler der Hochkulturen haben sich während der letzten 2500 Jahre im Wesentlichen als Essentialisten oder Substantialisten dargestellt. Sie haben daher, wenn sie etwas genau wissen wollten, nicht anders gekonnt, als scharfe Was-Fragen (oder allenfalls Wer-Fragen) zu stellen - eben wie der Erzvater der alteuropäischen Rationalitätskultur, Sokrates, es vorgemacht hatte. Mit Hilfe solcher Fragen glaubten sie, ins Herz der Wirklichkeit vorzudringen. Die Welt von gestern legte das natürliche und soziale Universum als einen Essenzen-Kosmos aus, in dem alles in eben dieser und keiner anderen Gestalt aus den Händen der schöpferischen Primärintelligenz, die wir Gott nannten, hervorgegangen war. Daher waren die Bewohner dieser Welt in erster Linie von der Sorge bewegt, die ewigen Normen zu treffen und sich in den umfassenden Ordo einzugliedern.

      Wenn das 20. Jahrhundert aus der Sicht der Traditionalisten einen häretischen Grundzug aufweist, dann nicht zuletzt deswegen, weil es begonnen hat, auf breiter Front Wie-Fragen zu stellen. Wer "wie funktioniert das?" fragt, hat das traditionelle Interesse am Wesen schon fallen gelassen. Ich gehe dann nicht mehr auf eine normative Antwort aus, die mir vorsagt, was etwas ist - und wovor ich mich, weil es ist, was es ist, wie vor einer metaphysischen Institution zu verbeugen habe. Wenn ich die Wie-Frage stelle, bin ich an einer Funktionsantwort interessiert. Ich gebe hier einen Bereich an, innerhalb dessen mehrere Variablen zu einem akzeptablen Ergebnis führen. Wenn also der Funktionalist wissen will, wie eine Sache funktioniert, so ist er eo ipso darauf aus, in Erfahrung zu bringen, wie man es anders als bisher machen könnte. Hat man erst einmal verstanden, wie es anders geht, wird man auch die Varianten in die Welt setzen. Man ist dann nicht mehr so sehr an festen Mustern interessiert als an Variationsmöglichkeiten.

      Nach der Begegnung von Evolutionismus und Konstruktivismus ist die Frage unausweichlich geworden, ob es Alternativen zum Gang der Evolution bis zu uns selbst geben kann. Wir wissen, dass die Materie auf ihrem "ersten Bildungsweg" zu Leben, zu Geist, zu menschlicher Existenz geführt hat. Das lesen wir direkt an unserer Situation "in der Welt" ab: Wir glauben unmittelbar zu wissen, dass wir eine Schaumkrone der evolutionären Bewegung ersten Typs darstellen. Inspiriert durch die funktionalistische Revolution der Denkungsart fragen wir jetzt aber weiter: Gibt es einen zweiten Weg zum Leben, führt ein zweiter Weg zum Geist? Die Antwort hierauf heißt unmissverständlich ja. In dieser Bejahung steckt das kognitive Abenteuer der Zukunft. Aus vitaler Evidenz wissen wir, dass es einen ersten Weg zum Leben und Geist gegeben hat. Aus operativer Evidenz wissen wir, dass es einen zweiten Weg zu Leben und Geist gibt. Ob dieser zweite Bildungsweg des Geistes an organische Materie gebunden bleibt, ist jedoch fraglich. Es hat eher den Anschein, als ob Reflexion und Quasi-Leben künftig eher an Kristalle gebunden würden als an leidensfähige Materie. Die Zukunft ist heterobiologisch. In ideengeschichtlicher Sicht bleibt die Emergenz der künstlichen Intelligenz gegenüber der Gentechnologie das größere kognitive Ereignis. Die Hysterien von morgen werden den erwachsenen Maschinen gelten.

      Die Gentechnik hat nur deswegen zu einem so großen Thema werden können, weil die moderne Gesellschaft begonnen hat, Probleme, die früher in den großen Religionen prozessiert worden sind, in einer säkularen Sprache durchzubuchstabieren. Wir verstehen im Rückblick, dass die Erlösungsreligionen die ersten großen Formeln zu einer allgemeinen Ökonomie des Leidens angeboten hatten. Sie halfen den Menschen in Hochkulturen beim Tragen des Unerträglichen. Unsere Kultur wiederholt diese Formeln in einem technologischen Idiom. Das alte Chirurgenmotto: vulnerando sanamus wirft ein präzises Licht auf unsere Lage: Leben bedeutet immer, an Umverteilungsgeschäften des Schmerzes und der Unsicherheit beteiligt zu sein. Indem wir verletzen, heilen wir; indem wir heilen, verletzen wir. Analog hierzu muss es heißen: Indem wir Risiken eingehen, geben wir Sicherheit; indem wir Sicherheit herstellen, schaffen wir Risiken. Wer die Enthysterisierung der großen sozialen Debatten wünscht, sollte dafür sorgen, dass die Weisheit der Operateure und der Versicherer in Zukunft auf eine breitere Grundlage gestellt wird.



      Frankfurter Rundschau 2001
      Erscheinungsdatum 17.11.2001
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      schrieb am 17.11.01 18:47:42
      Beitrag Nr. 44 ()
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      schrieb am 18.11.01 11:18:35
      Beitrag Nr. 45 ()
      «Die USA haben es verpasst, mit den Taliban zu verhandeln»


      Der Friedensforscher Johan Galtung* hält das Rezept Krieg gegen Terror trotz scheinbarer Erfolge für falsch
      VON REMO LEUPIN

      SonntagsZeitung: Herr Galtung, nach den Terrorattacken auf die USA haben Sie vor Vergeltungsschlägen gewarnt - und wurden überhört. Der Erfolg der US-Intervention in Afghanistan scheint den Militärstrategen Recht zu geben.

      Johan Galtung: Das würde ich so nicht sagen. Im Moment ist die Situation in Afghanistan chaotisch. Die Taliban sind noch nicht besiegt, und selbst wenn es gelänge, Bin Laden und seine Leute zu beseitigen, bedeutet das noch lange nicht das Ende des Terrors. Vielleicht ist das Modell eines Teufels, der in einer Höhle in Afghanistan sitzt und als Drahtzieher des Terrorismus agiert, völlig falsch. Es ist gut möglich, dass es eine Menge autonomer terroristischer Gruppen gibt, die völlig unabhängig von Bin Laden zuschlagen können. Der Krieg in Afghanistan führt nicht zum Ziel.

      Eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung und die Regierungen vieler westlicher Staaten stellen sich aber hinter das Konzept des «gerechten Kriegs».

      Galtung: Auch der Taliban-Führer Mullah Omar funktioniert nach diesem Prinzip und unterscheidet zwischen «gutem» und «bösem» Terror. Solche Auffassungen führen aber nur zu noch mehr Hass und Terrorismus. Laut einer Gallup-Umfrage, die Mitte September in 33 Ländern durchgeführt wurde, waren durchschnittlich 80 Prozent der Befragten für eine Auslieferung Osama Bin Ladens und ein Gerichtsverfahren gegen den Terroristenführer. Ein Krieg gegen Afghanistan wurde nur in den USA, in Israel und Indien von einer Mehrheit der Befragten gutgeheissen. Doch Gewalt ist die falsche Antwort auf Terrorismus.

      Antikriegsparolen allein lösen das Terrorproblem aber auch nicht. Sind den Pazifisten die Argumente ausgegangen?

      Galtung: Nein. Es gibt eine sehr aktive Friedensbewegung im islamischen Raum. Diese Leute sind im Westen kaum bekannt. Sie entstammen der oberen Mittelschicht und kritisieren die Gewalt in der islamischen Welt. Wenn es gelingt, die islamischen und die westlichen Pazifisten zusammenzuführen, entsteht eine Riesenbewegung. Ein ähnliches Phänomen zeigte sich während des Kalten Kriegs. Die westlichen Pazifisten richteten sich gegen das Wettrüsten, und die Friedensbewegung in den sozialistischen Staaten kämpfte für Demokratie. 1983 kamen die beiden Bewegungen zusammen - und 1989 waren der Kalte Krieg und der Kommunismus überwunden.

      Wer sind denn die Wortführer der islamischen Friedensbewegung?

      Galtung: Sehr einflussreich ist etwa die malaysische Organisation International for the Just World von Chandra Muzaffar. Diese Leute wenden sich gegen die dogmatische wahabitische Richtung des Islams, der unter anderem die saudiarabische Regierung, die Taliban und Bin Ladens Gefolgschaft angehören.

      Im Westen werden die islamischen Pazifisten kaum wahrgenommen. Warum?

      Galtung: Im Westen wird vielfach zu wenig differenziert und der Islam als Ganzes dämonisiert. In einem gewissen Sinn handelt es sich bei diesem Konflikt um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Fundamentalismen: dem islamischen und dem christlichen. US-Präsident George W. Bush etwa hat gesagt, Jesus sei der bedeutendste politische Philosoph der Weltgeschichte, und Aussenminister Colin Powell vertritt die Auffassung, Gott habe Amerika eingesetzt, um die Welt zu führen. Eine fatale dogmatische Haltung.

      Die Friedensbewegung feierte ihren Höhepunkt zur Zeit des Kalten Kriegs. Seit dem Fall des Kommunismus verliert die Bewegung Mitglieder. Immer weniger Leute nehmen an den Ostermärschen teil. Wie erklären Sie sich diese Erosion?

      Galtung: Die Pazifisten können Erfolge aufweisen, die noch immer nachwirken. Sie haben sich erfolgreich gegen den Vietnamkrieg und das atomare Wettrüsten eingesetzt. Diese Leute demonstrieren heute zwar nicht mehr auf den Strassen, aber sie sind noch immer da. Sie wirken in regierungsunabhängigen Organisationen. Sie arbeiten in Afghanistan, und sie engagierten sich im Irak und in Ex-Jugoslawien. Zudem wächst jetzt eine junge Generation von Pazifisten heran. In vielen westlichen Ländern wird gegen den Krieg in Afghanistan demonstriert. Und das nach nur zwei Wochen Krieg. Während des Vietnamkriegs dauerte es zwei Jahre, bis sich die Leute erhoben.

      Zeichnen Sie jetzt nicht ein etwas geschöntes Bild? Die deutschen Grünen zum Beispiel sind in der Frage der Militäreinsätze gespalten. Offenbar spielt es selbst für die Mitglieder der pazifistischen Partei par excellence eine Rolle, ob die nukleare Aufrüstung oder die Verteidigung gegen Terroristen zur Debatte steht.

      Galtung: Die Grünen waren nie eine Pazifisten-Partei. Ich war mit Petra Kelly, die massgeblich an der Parteigründung beteiligt war, sehr eng befreundet. Kelly sagte immer, dass es bei den Grünen zwei Gruppierungen gibt: die Pazifisten und die Nationalisten. Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer zum Beispiel ist ein Nationalist. Er hat die pazifistische Strömung der Partei benutzt, um Stimmen zu bekommen. Fischers Ziel ist keine gewaltfreie Gesellschaft, er macht Politik für ein starkes Deutschland in der EU und eine starke EU in der Welt. Diese alten Spannungen innerhalb der Partei werden heute zum grossen Problem.

      Kritiker werfen der Friedensbewegung Naivität vor. Die herkömmlichen Konfliktlösungsmodelle seien für den Kampf gegen den Terrorismus nicht geeignet.

      Galtung: Ich halte es umgekehrt für naiv, mit Gewalt Änderungen herbeiführen zu wollen. Der Terrorismus kann nur mit Dialog und dem Willen zur Versöhnung bekämpft werden. Die Amerikaner haben es verpasst, mit den Taliban zu verhandeln. Letztere waren sogar bereit, Osama Bin Laden an einen andern islamischen Staat auszuliefern. Die USA haben das ausgeschlagen, einen Krieg begonnen und damit noch mehr Hass auf sich gezogen. Der Westen muss von seiner gewalttätigen Politik abkehren.

      Eine etwas einfache Erklärung. Wir haben es hier immerhin mit Leuten zu tun, die Flugzeuge in Hochhäuser rasen lassen.

      Galtung: Es gibt bestimmt unbelehrbare, dogmatische Muslime, die unbedingt Krieg wollen. Doch die Bombardements auf Afghanistan verschärfen das Problem nur. Jetzt profitieren die extremistischen Muslime von einer Welle des Hasses gegen die USA. Nochmals: Dialogbereitschaft ist der Schlüssel zur Lösung des Problems.

      Diplomatische Annäherungen scheinen aber nicht zu fruchten. Der Taliban-Führer Mullah Omar lehnt jede Beteiligung an einer künftigen afghanischen Regierung auf breiter Basis ab und droht den USA mit noch brutaleren Attentaten.

      Galtung: Ich war im Februar als Vermittler in Afghanistan und bin auf äusserst gesprächsbereite Partner gestossen. Es gibt moderate Wortführer in der Nordallianz und unter den Taliban, die sich für eine Koalitionsregierung einsetzen würden. Man muss sie nur aufsuchen und ihnen eine Stimme geben.

      Und wie soll das konkret gehen?

      Galtung: Warum schicken wir nicht deutsche Friedensbotschafter nach Washington und zu den Taliban? Die Deutschen hatten im Zweiten Weltkrieg 18 Länder besetzt, und sie wollten zwei Volksgruppen ausrotten: die Juden und die Roma. Deutschland hat sich mit der Welt versöhnt und geniesst einen hervorragenden Ruf. Warum nutzen wir nicht die Erfahrungen der Deutschen? Es muss jetzt auf beiden Seiten vermittelt werden: Die USA müssen ihre Politik ändern, und in der islamischen Welt müssen die harten Fronten aufgeweicht werden.


      * Der Norweger Johan Galtung, 71, ist einer der wichtigsten Begründer der Friedensforschung. 1959 baute er das Internationale Friedensforschungsinstitut in Oslo auf. Galtung ist Direktor des Friedensnetzwerks Transcend und lehrt an diversen Universitäten. 1987 erhielt er den alternativen Friedensnobelpreis.
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      schrieb am 18.11.01 11:51:35
      Beitrag Nr. 46 ()
      ... und weil es sonntag ist schlage ich passend zum artikel von johan galtung das buch eines theologen vor:






      Aus den vier reden gegen den krieg am golf geschrieben vor 10 jahren:

      ...man müsste nur warten. Doch george bush kann nicht warten. Er steht nun unter dem zugzwang seiner grosssprecherischen phrasen von kompromissloser härte und ultimativer drohung. Er hat bis jetzt nicht ein einziges mal in dieser krise das gespräch gesucht. „mit verbrechern redet man nichtg.“ Basta. Als ob ein krieg dem verbrechen der kuweit-besetzung nicht ein noch ein tausendfach grösseres verbrechen hinzufügen würde!...

      ....selbst wenn saddam hussein das wäre, wofür george bush ihn erklärt, eine ratte, dann weiss jedes kind im alter von zwölf jahren, dass man keine ratte in die ecke treiben kann, ohne ihr einen ausweg zu lassen, oder si e wird angreifen mit dem mut der verzweiflung. Genau das ist es, was wir jetzt vor uns haben. Eine politik des massiven gesichtverlustes des gegners ist psychologisch das schlimmste, was in der konfrontation der völker heute möglich wäre. Man kennt araber nicht in ihrem stolz, wenn man sie in dieser form versucht zu erniedrigen...

      ... darum will ich hier das wort eines mannes zitieren, der lungenkrank in einem basler sanatorium 1947 starb. Der dichter wolfgang borchert schrieb es als das letzte seiner vermächtnisse an eine welt von morgen an die welt von heute, die wir haben:
      mann an der werkbank, wenn sie dir sagen, du sollst statt rohre und kochtöpfe granaten und kanonen herstellen, sag nein! – wissenschaftler im labor, wenn sie dir befehlen, du sollst den neuen code erfinden gegen das alte leben, sag nein! – mann auf der kanzel, wenn sie dir sagen, du sollst den krieg rechtfertigen und den mord heiligsprechen, sag nein! – und mütter der welt, wenn sie euch sagen, ihr sollt kinder gebären, mädchen als krankenschwestern in den spitälern, jungen als soldaten für neue schlachten, sagt nein, mütter der welt! Denn wenn ihr nicht nein sagt, werden die menschen sich selber ihre apokalypse bereiten und es wird unter einem gelbschwefeligen himmel in menschenleeren wüstenähnlichen betonklotzigen städten die letzte frage des letzten tieres mensch: warum! ungehört in den blutlachen verhallen...
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      schrieb am 18.11.01 12:15:20
      Beitrag Nr. 47 ()
      Offener Brief an Usama Bin Ladin

      Der Atomstaat Pakistan wird zum Brennpunkt des Geschehens. Usama bin Ladin könnte dorthin fliehen. Der pakistanische Unternehmer Izzat Majeed hat ihm einen offenen Brief geschrieben.

      Schau Dir an, was Du getan hast, Usama Bin Ladin! Das Massaker von New York an diesem strahlend schönen Tag und vor den immer hungrigen TV-Kameras hat Kräfte freigesetzt, die so ambivalent und so heimtückisch sind wie ein Strudel im Fluß der Geschichte.
      Ambivalent, weil diese Kräfte imperialer Macht (genau wie Du) nur eines verstehen: Jeder Gefahr, wie eingebildet auch immer, kann nur mit nackter militärischer Gewalt begegnet werden. Allerdings muß diese Machtdemonstration auf einem schwierigen politischen und ethnischen Schlachtfeld durch politische Gefälligkeiten gemildert werden.
      Heimtückisch, weil im Schatten Deines Terrorismus und Deiner schon etwas angestaubten antikolonialen Beschwörungsformeln, die unter dem Deckmantel des Dschihad daherkommen, die weltweit einzige imperiale Supermacht in unsere Region gelangt ist. Mit Deiner Hilfe haben die Vereinigten Staaten endlich Fuß gefaßt in der einzigen Region, die ihnen seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums strategisch bislang verschlossen geblieben war. Das neue Jahrhundert wird einen zunehmenden Machtkampf zwischen den USA und China (und vielleicht Indien) erleben. In Afghanistan, Pakistan, Kaschmir und Nordindien haben die USA nunmehr freie Hand, denn es sollen ja die Usama Bin Ladins von heute und morgen bekämpft werden.
      Die Geschichte kennt keine Moral und gewiß keine Gerechtigkeit. Der Imperialismus kann sich die Welt nur nach seinem eigenen Bild vorstellen. Das Kapital kennt keine Religion und kein Heimatland. Um die Vereinigten Staaten zu bekämpfen, kannst Du also zetern und schreien, wie viele verbrecherische Regimes von den heutigen Cäsaren unterstützt (oder stillschweigend geduldet) werden. Solange Du aber militärisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell keine überzeugende Weltanschauung hast, bleibst Du ein Revolutionär, der in den Mohnfeldern und prähistorischen Höhlen Afghanistans eine Zeitlang für Schlagzeilen sorgte.
      Die meisten Muslime interessieren sich nicht für Deine flammenden Aufrufe und Deinen altmodischen Islam. Du hast den Taliban zur Macht verholfen (manche sagen, Du bist ihr Chef). Wenn die schiere Barbarei des Taliban-Regimes das ist, was Du unter islamischer Gesellschaft verstehst, dann mußt Du wirklich ein Träumer sein, wenn Du glaubst, daß Muslime, die auch nur halbwegs bei Verstand sind, Dir zuhören. Das einfache und asketische Stammesleben, das den Islam einst charakterisierte, interessiert heute niemanden mehr. Der durch eigene Hand herbeigeführte Tod des intellektuellen Lebens im Islam vor tausend Jahren ist die Hauptursache für die Rückständigkeit und Unaufgeklärtheit der muslimischen Gesellschaften von heute. Deine Heilsbotschaft ist viel zu hohl und opportunistisch, als daß sie zum politischen Ausdruck eines revolutionären Gefühls unter den entrechteten Muslimen der Welt werden könnte. Wenn Dich die Anwesenheit von US-Soldaten in Saudi-Arabien beleidigt, dann sage ich Dir: Den meisten von uns Muslimen ist das völlig schnuppe. Dem Westen wie dem Orient kommt es einzig auf das Öl an, ganz gleich, von welchem politischen Gebilde im Osten der arabischen Halbinsel es stammt.
      Und wenn Du uns jetzt weismachen willst, daß Du, einmal abgesehen von Deiner kleinen Privatfehde mit den Saudis, auch die Palästinenser anführst, dann kommst Du einfach zu spät, mein Lieber - die Palästinenser sind schon viel zu lange von ihren arabischen Brüdern verraten worden. Ihre Intifada beweist, daß sie für ihre Rechte selber kämpfen können und Dich nicht als Fürsprecher brauchen und auch nicht darauf angewiesen sind, daß Du ihren Kampf aus der Distanz per Fernsteuerung führst. Die meisten Afghanen wollen von Dir und Deinen "Ausländern" in Ruhe gelassen werden. Indem Du den Taliban zur Macht verholfen hast und dann als ihr Chef aufgetreten bist, hast Du jede Chance verspielt, die Herzen des leidenden Volks von Afghanistan zu gewinnen. Ich bin sicher, jede afghanische Frau würde Dich gern in eine Burqa stecken und Dich für Deinen mittelalterlichen und tyrannischen Islam auspeitschen.
      Anders als Saddam Hussein, der davonkam, weil die Amerikaner kurz vor Baghdad umdrehten, bist Du am Ende. Alle westlichen Experten beklagen mit lauter Stimme, daß Afghanistan nach der Vertreibung der Sowjets von den Amerikanern alleingelassen wurde. Wie kurzsichtig, wie unsensibel, wie kontraproduktiv! Doch genau das war ja beabsichtigt. Nach dem kalten sollte nunmehr ein anderer, schlimmerer, heißerer Krieg geführt werden. Schaffen wir ein neues Ungeheuer, diesen barbarischen muslimischen Fundamentalisten. (Wer hat dieses unsinnige Wort eigentlich in die Welt gesetzt?) Jemand wie Usama Bin Ladin könnte ein Netzwerk aus Haß, Warlords und Söldnern und globalem Terror aufbauen. Und dann lassen wir ihn auf die muslimische Welt los. Er fühlt sich stark und erfindet eine religiös-populistische Ideologie in einem Meer von Unwissenheit und Armut. Und versteigt sich immer mehr, wendet sich schließlich gegen seinen Herren. Er geht in die älteste Falle der Geschichte.
      Terrorismus ohne eine historische Situation, die eine nach Veränderung strebende Bewegung trägt, ist genau das: Terrorismus. Er kann hier und da ein paar dramatische Aktionen veranstalten, kann die Welt sogar für einen Augenblick erschüttern, aber er ist leicht zu vernichten. Was bleibt, ist eine zweite Terrorwelle, genährt, ja geschützt von dieser oder jener imperialen Macht. Und auch sie wird irgendwann ausgeschaltet.
      Du wirst ein Vermächtnis hinterlassen, das die Herzen der armen, unwissenden und erniedrigten Muslime der Welt für kurze Zeit wärmte und dann in Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit verschwand. Du hättest bei Deinem Kleinkrieg gegen die Saudis bleiben sollen und dort vielleicht sogar etwas Gutes bewirkt. Statt dessen hast Du den stolzen, aber hungernden und mißbrauchten Afghanen mit Deinen hohlen Sprüchen und Deinem Geld nur Elend gebracht und ihnen eine neue Hölle gezeigt, in der Bomben und Schokolade vom Himmel fallen.
      Wir Muslime können für unsere Unzulänglichkeiten nicht andauernd den Westen verantwortlich machen.
      chlossen geblieben war. Das neue Jahrhundert wird einen zunehmenden Machtkampf zwischen den USA und China (und vielleicht Indien) erleben. In Afghanistan, Pakistan, Kaschmir und Nordindien haben die USA nunmehr freie Hand, denn es sollen ja die Usama Bin Ladins von heute und morgen bekämpft werden.
      Wir müssen zuerst unser eigenes Haus in Ordnung bringen, bevor wir anfangen können, uns von Unwissenheit, Rückständigkeit und selbstgerechter Ablehnung der modernen Welt zu befreien. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) sagte nach einer Schlacht einmal: "Wir kehren aus dem kleinen Dschihad (dschihad asghar) zurück, um in einen großen Dschihad (dschihad akbar) zu ziehen." Der wahre Dschihad besteht heute nicht darin, Flugzeuge zu entführen, sondern sie zu bauen.
      Die Peinlichkeit unseres Elends ist irreparabel. Es ist nicht nur die Armut, das Analphabetentum und die Abwesenheit eines allgemein akzeptierten Gesellschaftsmodells. Es ist vielmehr das wachsende Bewußtsein, daß wir als Zivilgesellschaft gescheitert sind, weil wir uns nicht mit den historischen, sozialen und politischen Dämonen in uns auseinandergesetzt haben.
      Und weil wir uns mit den sozialen und politischen Verhältnissen abgefunden haben, ist eine Atmosphäre kultureller Lähmung entstanden und eine völlig unechte Islaminterpretation, die auf politischem Eigennutz beruht. Ohne eine Reformation, die die Praxis des Islam weiterbringt, gibt es keine Hoffnung für uns Muslime. Wir haben den Islam auf die organisierte Heuchelei eines staatlich geförderten Mullahismus reduziert. Seit mehr als tausend Jahren steht der Islam still, weil die Mullahs (faktisch stellten sie und nicht wirkliche Gelehrte den Klerus) die Pforte des Idschtihad schlossen und niemand mit einer dynamischen Interpretation des heiligen Koran hervortrat. Von den Mullahs ist heute nur zu erfahren, wie man tausend Jahre und noch weiter zurückgeht. Wir sind nicht imstande, den Menschen ein dynamisches Islambild in ihrer eigenen Sprache nahezubringen. Kein Wunder also, daß die meisten Mullahs ungebildet sind, im modernen wie im altmodischen Sinn. Sie sind schlicht und einfach ungebildet. Oxford und Cambridge waren die "Madrasas" des Christentums im 13. Jahrhundert. Und sieh Dir an, was sie heute sind! Sie zählen zu den führenden Universitäten der Welt. Und unsere Universitäten, was ist aus ihnen geworden?
      Der ignorante Mullahismus wurzelt in einem zutiefst würdelosen Menschenbild. Bei uns gibt es nach wie vor eine Inquisition, die unter Bedingungen von Ignoranz und Armut besonders floriert. Die jämmerlichen Machteliten der muslimischen Welt bleiben gefangen in ihrem Unwissen über den Islam. Du kannst nicht alle von uns in eine barbarische Gesellschaftsordnung führen und das Ganze dann "Islam" nennen. Die meisten Muslime leben schon im Mittelalter. Das Dunkel in Deinen Höhlen und Deine abgestandenen, inhumanen und fortschrittsfeindlichen Ideen brauchen sie zu allerletzt.
      Lies den Koran, immer wieder, bis Du verstanden hast, wie dynamisch und modern die Worte des Allmächtigen sind. In Vers 143 der Zweiten Sure ("Die Kuh" ) heißt es: "Und so haben wir euch zu einer in der Mitte stehenden Gemeinschaft gemacht." Wir Muslime haben diese gottgewollte "Mitte" verloren. Wir müssen sie wiederfinden, und zwar in Übereinstimmung mit den heutigen und künftigen Hoffnungen auf Mäßigung und ein besseres Leben für uns alle. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Zuerst erschienen in: "The Nation", Karachi

      Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.11.2001
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      schrieb am 18.11.01 12:27:22
      Beitrag Nr. 48 ()
      Rudolf Augstein

      Abenteurer und Strategen

      Die Amerikaner haben ein hungerndes Land in Grund und Boden gebombt. Ihre Pläne zur Terrorismusbekämpfung sind ein Abenteuer. Deutschland muß seine Beziehung zu den Vereinigten Staaten überdenken.

      Gerade mal zwei Stimmen über den Durst. Und doch: Riskant war es wohl kaum, dass Gerhard Schröder im Parlament die Vertrauensfrage gestellt hat. Er wusste, was er tat, und hat für die Stimmen in seiner Koalition bis zuletzt redlich gerackert. Wer weiß - vielleicht wäre ihm eine Niederlage bei der Abstimmung im Bundestag noch lieber gewesen. Die anschließende Wahl hätte er haushoch gewonnen und sich einen Koalitionspartner aussuchen können.

      Schröders Manöver: kühle Strategie, kein Abenteuer. Ein Abenteuer dagegen sind die Pläne der USA in Sachen "Terrorismusbekämpfung". Der Kanzler hat Washington uneingeschränkte Solidarität versprochen, ohne genau zu wissen, was George W. Bush wirklich plant. Später versuchte Schröder zwar einzuschränken, er mache "Abenteuer" nicht mit, aber da war es schon zu spät.

      Die Amerikaner haben ein armes, hungerndes Land in Grund und Boden gebombt und dabei jede Verhältnismäßigkeit missen lassen. Man täusche sich nicht: Die militärischen Erfolge der Nordallianz sind für den Westen Pyrrhussiege. In Kabul herrschen jetzt wieder die Stammesführer, die Afghanistan schon einmal in den Abgrund getrieben haben. Nicht gerade Bundesgenossen, die man sich wünscht.

      Vieles spricht dafür, dass Osama Bin Laden als Einziger in diesem Krieg gewinnen wird. Entweder die Amerikaner können ihn nicht fassen, oder aber er stirbt mit der Gloriole eines Märtyrers im Bombenhagel. Seinen Kopf werden die US-Militärstrategen wohl nie in Händen halten.

      Die Taliban sind ohne Zweifel widerwärtige, fanatische Gotteskrieger. Doch sie sind auch hervorragende Guerrillakämpfer. Sie hatten schon vor ihrer Flucht vorsichtshalber angekündigt, wenn man sie aus den Städten vertriebe, würden sie sich in ihre bergigen Verstecke zurückziehen. Einen solchen Guerrillakampf hat die riesige Sowjetmacht schmählich verloren. Man darf gespannt sein, mit welch hochgezüchteten neuen Waffen die Amerikaner versuchen, diesen Krieg zu gewinnen. Und man darf skeptisch sein, ob ihnen das gelingt.

      Deutschland muss seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten überdenken, solange der US-Präsident Bush an seiner arroganten Parole festhält: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." Diesmal haben sich Schröder und sein Außenminister, mehr willig als unwillig, überrollen lassen. Aber es drängt sich dann doch die Frage auf, warum wir im vorauseilenden Gehorsam Pläne der US-Regierung mittragen sollen, die wir nicht kennen und auf die wir keinen Einfluss nehmen dürfen. Es geht dabei wohlgemerkt nicht um die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika, die über lange Jahre gewachsen sind und ganz unabhängig von der großen Politik gedeihen.

      Der 11. September war eine Zäsur, allerdings ganz anders, als es Amerika wahrhaben will. Man hatte verdrängt, dass auch Amerikaner durch den Terror verwundbar sind und nicht nur durch einen Atomkrieg. Diese Erkenntnis beginnt sich erst jetzt in der Bevölkerung durchzusetzen, und der Schock wird das Land lange lähmen. Washingtons Art, den Terror weltweit und weitgehend ohne Berücksichtigung seiner Wurzeln zu bekämpfen, wird zu noch mehr Terror führen. Die Nato ist weder dazu da noch in der Lage, Terroristen auf den Philippinen oder irgendwo im Nahen Osten aufzuspüren.

      Im Golfkrieg waren die Interessen der Amerikaner so unmittelbar und tief berührt, dass sie mit oder ohne Bundesgenossen eingreifen mussten. Es ging ums Erdöl. Womöglich geht es auch bei dem jetzigen Krieg um strategische Interessen, um neue Pipelines durch Afghanistan.

      Dass Usbekistan und Tadschikistan, die neuen US-Verbündeten, Menschenrechte massiv verletzen, kümmert in Washington keinen. So wenig wie die Leiden der irakischen Zivilbevölkerung. Die Amerikaner haben den Diktator Saddam Hussein, den sie früher gegen Teheran aufrüsteten, ja absichtlich als geschwächten Politiker weiter an der Macht gelassen.

      In Washington wird jetzt hinter den Kulissen heftig gerungen: Eine Fraktion um den Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz möchte am liebsten gegen Bagdad losschlagen. Aber selbst Wolfowitz weiß nicht, ob es nach einem möglichen Sturz Saddams nicht noch schlimmer kommen würde. Auch in Kabul ist keinesfalls sicher, dass durch den Sieg der Nordallianz eine langfristige Verbesserung für die Lebensumstände der leidenden Bevölkerung erreicht wird. Zwischen den triumphierenden Stammeskriegern und marodierenden Räuberbanden ist der Unterschied nicht allzu groß.

      Das Völkerrecht wird schon seit langem hin- und hergebogen, nach Gutdünken und eigenen Machtinteressen vor allem von den USA. Der britische Schriftsteller John le Carré hat kürzlich gesagt: "Dank Bin Laden und seinen Helfern sind unsere Politiker jetzt über Nacht weise Staatsmänner geworden, die in fernen Flughäfen ihre Stimmen erheben und Visionen entwerfen und doch nur an ihre Klientel denken."
      Avatar
      schrieb am 26.11.01 13:24:43
      Beitrag Nr. 49 ()
      hallooooo :laugh:

      ich sammle weiter die texte berühmter autoren, die zum thema 11.9.2001 erscheinen...

      du findest sie bei www. talkunlimited.de (direktlink leider nicht mögich)

      im sräd:

      Thema: interessante texte bekannter autoren, zum 11.9.2001
      von meau


      dort ist ein hinweis zu diesem sräd hier... da die ersten 35 texte hier deponiert sind :cry:


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