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    Denk\' ich an Deutschland... - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 08.06.06 23:18:45 von
    neuester Beitrag 09.06.06 13:40:32 von
    Beiträge: 5
    ID: 1.065.086
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      schrieb am 08.06.06 23:18:45
      Beitrag Nr. 1 ()
      Heute sind in der "Welt" mehrere kürzere Texte, in denen sich "Nichtdeutsche" (eher intellektuellerer Art und meist aus Industrienationen) über Deutschland äußern. Das ist ja das, wovor sich "der gemeine Deutsche" in aller Regel am meisten fürchtet: vor "dem Ausland" nicht bestehen zu können. Es hat immer was von Prüfung an sich, daher wird im "vorauseilenden Gehorsam" auch schon mal gerne selbst auf Deutschland eingeprügelt, bevor beispielsweise ein britischer Hooligan mit 1 Liter-Faxe-Bierdose in der Hand und Geschichtsbildung aus einer nationalistischen Vorabend-Serie es tut. Da wird vor lauter Angst vor Prügel auch schon mal - wie jetzt vor der WM - halb Deutschland zu so einer Art No-Go-Area erklärt und voller Sündenstolz und Bußeilfertigkeit von morgens bis abends über angeblich hinter jedem Straßenbaum lauernden Skinheads gewarnt, weil - klar - so ist das halt in D.

      Zur großen Überraschung reden die verschiedenen Beiträger in der "Welt" über alles mögliche - deutsches Brot, deutsche Freundschaft, deutsche Landschaft, Erfindergeist, spielerische Kreativität (in der Tat), deutsche Musik, deutsche Widersprüche - , doch eines kommt fast gar nicht vor: die Neonazis. Eigentlich nur in einem Beitrag, der gehört allerdings zum besten, was man zu diesem Thema bisher lesen konnte (geschrieben von einem Polen, der das in der Kürze wirklich grandios hinbekommt).

      Kurz: es ist schön. Schön, eine Italienerin von deutschem Essen schwärmen zu lesen (was bei Italienern erstaunlich wirkt, aber gar nicht so selten vorkommt, wie ich feststelle). Schön, mal von außen was über deutsches Sich-selbst-ein-Bein-stellen zu lesen. Schön, über die vielen selbstkreierten Hindernisse zu lesen, über Gastfreundschaft und Herzlichkeit und über "mentale Ordnung" und vieles andere, was man manchmal vor "Betriebsblindheit" vielleicht übersieht.




      Hier die Texte:

      ****Denk' ich an Deutschland ...


      Über eine Milliarde Menschen blicken zum WM-Auftakt auf unser Land. Was kommt ihnen dabei in den Sinn? 13 persönliche Antworten


      von Fabian Wolff

      Roger Boyes: Denk' ich an Deutschland ..., dann denk' ich an eine von Selbstzweifeln zerfressene Gesellschaft, die sich vor lauter Angst, sie könnte öffentlich versagen, am liebsten die Bettdecke über den Kopf ziehen würde. Kein anderes europäisches Land lebt unter dem Knebel so vieler Tabus, so vieler selbstgebastelter Mythen, die nur darauf abzielen, eine breite Passivität auf individueller, nationaler und geopolitischer Ebene zu rechtfertigen.

      Ihr Deutschen glaubt an Monster. An das Monster, das aufspringt und Euch alle auffressen wird, sobald Ihr einen Moment lang entspannt, sobald Ihr Freude oder gar Stolz zum Ausdruck bringt, sobald Ihr Eurem Land Treue schwört, egal, ob aus voller Brust oder eher kleinlaut. Es ist völlig in Ordnung, eine deutsche Fahne zu schwenken - deshalb erscheinen nicht gleich kleine Männer in braunen T-Shirts und Schnürstiefeln auf der Bildfläche. Und wenn doch, könnt Ihr ihnen sagen, sie sollen wieder nach Hause gehen. Das Monster existiert nicht. Ihr Deutschen wollt liebgehabt werden. Vergeßt es. Es ist völlig ausreichend, gut befreundet zu sein. Und das könnt Ihr Deutschen in der Tat sehr gut. Deutsche nehmen Freundschaften sehr viel ernster als alle anderen Europäer. Ihr versteht die Physik der Freundschaft, nicht nur die Chemie; Ihr kennt die Gesetze, die Verantwortlichkeiten. Das ist eine großartige deutsche Tugend.

      Ihr Deutschen glaubt, preußische Werte seien deutsche Werte: Fleiß, Ordnung, Selbstdisziplin. Falsch! An diesen Eigenschaften ist nichts Einzigartiges. Sie sind das Produkt eines im Aufbau begriffenen Nationalstaates, in dem der einzelne nach einer Überlebensmaxime und nach materiellem Gewinn strebt. In Indien erfahren preußische Werte derzeit eine produktive Renaissance. Seht darin lieber eine Herausforderung. Deutschland kann sich nicht länger auf seine alten Stärken verlassen. Es muß neue Kräfte entwickeln. Ihr Deutschen glaubt, daß Ihr ein Image-Problem habt. Stimmt nicht. Ihr habt ein Identitätsproblem. Laßt Euch von den neuen Patriotismusbestsellern nicht beeindrucken. Die entscheidende Frage lautet nicht: Was ist deutsch? Auch nicht: Wer ist deutsch? Vielmehr: Welche Rolle spielt Deutschland in der Welt? Beantwortet diese Frage, definiert Eure nationalen Interessen, und die ganze Patriotismusdebatte erübrigt sich von selbst.

      Der Autor ist "Times"-Korrespondent in Berlin

      Leon de Winter: Deutscher Fußball ruft die gleichen Gefühle wach wie deutsche Autos. Die Menschen erwarten bei einem Mercedes-Benz keine frivolen Schnörkel, sondern Verläßlichkeit und 50 Jahre treue Dienste. Wenn man an deutsche Autos denkt, denkt man nicht sofort an Porsche, sondern an aufgehübschte Traktoren - das ist nicht ganz korrekt, das ist mir wohl bewußt, aber so funktioniert ein Image und ein Ruf nun einmal. Das gleiche gilt für deutschen Fußball. Er wird assoziiert mit Solidität und Unbeugsamkeit, nicht mit Eleganz oder Schönheit. Die Fußball-Weltmeisterschaft ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, deshalb erwarte ich, daß die deutschen Fußballer sehr weit kommen, vielleicht sogar im Finale landen. Was ist die Definition von Fußball? Fußball ist ein Spiel mit einem Ball, das 90 Minuten dauert und das in der letzten Sekunde zugunsten Deutschlands entschieden wird. Liebhaber des brasilianischen Samba-Fußballs müssen da die Waffen strecken, fürchte ich.

      Der Autor ist niederländischer Schriftsteller

      Erzbischof Desmond Tutu: Bei Deutschland denke ich an den Holocaust und an die mutigen Männer der Bekennenden Kirche, die Bonhoeffers, die Niemöllers und andere, die unseren Kampf gegen die Apartheid beeinflußt haben. Ich denke an die enorme Unterstützung, die wir von der Evangelischen Kirche in Deutschland bekommen haben, an deutsche Frauenorganisationen, die während unseres Widerstands gegen die Apartheid südafrikanische Produkte boykottiert haben. Ich denke an die Fertigkeiten eines Beckenbauer und an all die wunderbaren Komponisten himmlischer Chormusik. Und ich denke an das besondere Augenmerk der Deutschen für Details, an ihre geradezu akribische Gewissenhaftigkeit.

      Der Autor ist südafrikanischer Erzbischof und Friedensnobelpreisträger

      John C. Kornblum: Handschellen. Immer wieder geht mir dieses Wort durch den Kopf, wenn ich über dieses wunderbare Land nachdenke. Die Stärke Deutschlands ist erstaunlich, und doch wird sie immer wieder ausgebremst, sei es durch Vorschriften oder Verhaltensweisen, die für einen Ausländer kaum verständlich sind. m Kleinen wie im Großen scheint es mir, werden Deutschlands große Fähigkeiten durch selbstkreierte Hindernisse unterminiert. MP3-Player beispielsweise, Ladenhüter, bis sie durch den I-Pod - aus Amerika - ihre Wiedergeburt erlebten und eine Revolution auslösten. Trotz der unglaublichen Anzahl von 47 000 nichtbeschäftigten Ingenieuren bleiben selbst hochdotierte Posten bei Airbus unbesetzt. Die Besten und Klügsten fühlen sich wie gelähmt, und sie schauen nach Übersee ob der Möglichkeiten, die sich ihnen zu Hause nicht bieten.


      Den Schlüssel zu finden, der die Handschellen öffnen kann, wird auch einer Regierung eher nicht gelingen, denn die Politik ist wenig mehr denn die Reflexion der Gefühlslage der Menschen selbst. Bundespräsident Roman Herzog hat dieses Problem instinktiv vor nahezu zehn Jahren bereits erkannt. Er spürte den Gezeitenwechsel, der sich ankündigte. Ein Ruck müsse durch das Land gehen. Man müsse aufwachen, bevor es zu spät sei. Meine Wünsche für Deutschland sind, daß das Fußballfest, das mit der gesamten Welt gefeiert werden wird und das mit soviel Optimismus verbunden ist, die Bevölkerung infiziert. Denn es ist Optimismus und die unbedingte Zuversicht, die den Schlüssel für die Handschellen bieten.

      Der Autor war US-Botschafter in Deutschland

      Chi Li: Ich bin in Fußball vernarrt und schreibe gern darüber. Ich habe Dutzende Artikel und ein Buch verfaßt. Ich bin überzeugt, daß nur Frauen richtig über Fußball schreiben können. Für Männer stehen zu sehr Wettkampf, Ringen und Sieg über den Gegner im Vordergrund. Mich fasziniert das Zusammenspiel in den Bewegungen und die Schönheit des Ablaufs. Wir Frauen blicken in die Seele des Spiels. Diesmal mußte ich alle Anfragen von chinesischen Medien ablehnen, für sie die Spiele zu kommentieren. Obwohl sie sich mit Honoraren überboten. Ich sitze aber jeden Tag an meinem neuen Roman. Ich erzähle darin Schicksale von Menschen aus den letzten 20 Jahren unserer gewaltigen Umwälzungen. Gut, daß die Spiele zeitversetzt erst um Mitternacht bei uns übertragen werden. Da kann ich sie sehen. Ein paar Gläser deutscher Cornichons stehen bereit. Eure Essiggürkchen gibt es inzwischen auch bei uns zu kaufen. Ich mag sie seit meinen Deutschlandreisen 1995 und 1998. Die so unterschiedliche Architektur der Bauten in Berlin und in München hat mich damals fasziniert. Ebenso wie die gepflegten Landschaften und Weinberge, an denen ich bei den Bahn- oder Flußfahrten vorbeikam. Am meisten beeindruckt mich, wie bewußt die Deutschen ihre Natur schützen und im Einklang mit ihr leben wollen. Das geht bis ins Kleinste. Ich will, daß wir eine solche Haltung auch bei uns durchsetzen. Wir zahlen mit immer mehr Umweltschäden für unsere Entwicklung. Wir merken jetzt, auf welchem Irrweg wir sind. Ich möchte noch was zum Fußball sagen. Wenn ich nicht den Roman schreiben müßte, würde ich mir das Endspiel direkt in Deutschland angucken. So schaue ich von hier aus zu. In der deutschen Spielweise verkörpern sich explosive Kraft und starker Willen. Die Südamerikaner haben einen ganz anderen Stil. Ich wünsche mir, daß am Ende Brasilien gegen Deutschland spielt. Das wäre was.

      Die Autorin ist Chinas populärste Schriftstellerin und Volkskongreß-Abgeordnete

      Pierre Bocev: Es ist nicht leicht dieser Tage, Fußball nicht zu mögen. Seit drei Jahren fühlte ich mich in diesem Land integriert, plötzlich finde ich mich in der Rolle des Outcasts wieder, nur weil mich das Spektakel um den runden Ball nicht interessiert. Nichts gegen die Deutschen: Ballack ist mir so egal wie Zidane, andere kenne ich ohnehin nicht. Wie kommt es nur, daß das Volk der Dichter und der Denker alle vier Jahre zum Stamm der Balla-Balla mutiert? Offensichtlich geht es jetzt vier Wochen lang nicht mehr um Hartz IV und die Gesundheitsreform, die sonst die Gemüter berühren, sondern nur mehr um die "Mannschaft". Noch so ein Wort, das die Nachfahren von Goethe und Co. dem weltweiten Wortschatz verschafft haben, neben Begriffen ganz anderer Art wie Kindergarten - oder Schadenfreude.

      Ab 9. Juli sieht die Welt wieder ganz anders aus, normaler mit einem Wort. Egal, ob auf das "Wunder von Bern" das "Wunder der Ändschie" folgt oder nicht. Himmelhoch jauchzend usw., wie man es in der Schule lernte. Hauptsache, es ist vorbei, und die seichten Themen wie Föderalismusreform kommen wieder zu ihrem Recht. In der Zwischenzeit besteht immerhin die Hoffnung, bei Rot über die Straße gehen zu können, ohne sich öffentlich eine Rüge zuzuziehen. In "Wir Deutschen" stellt Matthias Matussek (grenznah zur Ironie) fest, man könne "die Deutschen richtig gerne haben, solange man uns nicht den WM-Titel nimmt, der schon aus Gründen der Tradition uns zusteht". Sei's drum: Für einen Franzosen, der sich im Zweifel stets auf Descartes beruft, muß das Argument hieb- und stichfest sein. Balla, ergo sum.

      Der Autor ist "Figaro"-Korrespondent in Berlin

      Prinzessin Alessandra Borghese: Zuerst der Papst! Dann sofort Bayern. Große Sympathie kommt mir als erstes bei dem Stichwort Deutschland in den Sinn. Ich liebe das ganze Land, doch zuerst Bayern. Ich liebe das Land wegen seiner Landschaft, seiner Städte, ich liebe es wegen München, Regensburg, Altötting, wegen der Menschen und der herzlichen Aufnahme, die ich immer bei ihnen gefunden habe - und wegen seiner Kunst und seiner Küche. Ich könnte ein eigenes Gebet zum Brot schreiben, besonders zum deutschen Brot. Ich verehre es. Danach geht es mit meiner Liebe zu Deutschland weiter über Weißwürste, Bratwürste, Nürnberger oder wie die Würste sonst noch alle heißen - und dann erst recht über die deutsche Musik. Ich liebe Wagner - und natürlich Bayreuth, dem in der Welt der Musik kein Ort gleichkommt. Mit der Musik, dem Brot und ihrer Kultur - an der die Deutschen so reich beschenkt sind - kommt der Reigen dann auch schon wieder wie von selbst auf den Papst zurück, den ich verehre, als Intellektuellen, als Theologen, als Menschen und Hirten. Er ist ein "maestro della fede", ein Meister des Glaubens, den die Welt nun Deutschland verdankt.

      Die Autorin ist italienische Schriftstellerin

      Rafael Chirbes: In scholastischer Tradition erzogen, fasziniert mich die Kapazität mentaler Ordnung. Aus ihr sind die große Literaten hervorgegangen, Philosophie, Musik und Städte - gebaut, um zu überdauern. Es ist aber dieser dunkle Punkt, der mich erregt, der unter der Ordnung nistet, Gipfel und Abgründe nimmt. Goethe in Weimar und Kleist an den Ufern des Wannsees.

      Der Autor ist spanischer Schriftsteller

      Bono: Ich denke an verrückte Kreativität, ausgetüftelt von technischen Genies ... Ich denke an den Geist, der die Mauer in Berlin umwarf und ein Land vereinigte ... der Geist, der ,Achtung Baby" inspirierte ... der Geist, der in Köln 70 000 Leute auf die Straße brachte, um die Entschuldung der Dritten Welt zu fordern ...

      Ich denke an Italien 1990, und an die Hoffnungen und Ängste jetzt, wo die WM nach Deutschland kommt - und dann nach Afrika geht ... Ich denke daran, wie dieser Kontinent 2010 wohl aussehen wird, wenn das Turnier dort stattfindet, und wenn Deutschland seine Versprechen gehalten hat ... Ich denke an Deutschlands Großzügigkeit ... an Menschen in Ruanda, die dank deutscher Hilfe lebensrettende Anti-Aids-Medikamente bekommen, an Kinder in Tansania, die dank deutscher Entschuldung zur Schule gehen können, und ich werde so wütend wie jeder andere Deutsche, wenn ich an die Verschwendung von EU-Geldern für unfaire Handelsbedingungen denke, die die Afrikaner daran hindern, ihren eigenen Weg aus der Armut heraus zu verdienen ... Ich denke an Freunde wie Herbert Grönemeyer, Wim Wenders, Die Toten Hosen, Xavier Naidoo, Deine Stimme gegen Armut, die Deutschland beim G-8-Gipfel und der EU-Präsidentschaft 2007 Geschichte machen sehen wollen ... Ich denke an meine Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel und ihre Leidenschaft für Afrika ... und ich kann nicht anders, als daran zu denken, daß sie Entscheidungen treffen kann zwischen Leben und Tod der Ärmsten auf diesem Planeten. Ich fühle, daß nächstes Jahr die Augen der ganzen Welt auf diesem großartigen Land ruhen ... Ich denke, daß der Moment Deutschlands jetzt beginnt.

      Der Autor ist Musiker und engagiert sich gegen Armut und Hunger in Afrika

      Boris Tadic: Deutschland ist ein sehr schönes Land, was oft erst an zweiter Stelle gesagt wird, denn in der Regel werden andere Eigenschaften hervorgehoben: deutsche Pünktlichkeit, perfekte deutsche Technik, deutsche Wertarbeit, fleißige Deutsche... Sehr wenige Menschen erleben Deutschland als ein Land, das von wunderschönen Landschaften geprägt ist. Ich hatte aber mehrmals die Gelegenheit, mich davon zu überzeugen. In den letzten Jahren bin ich oft nach Deutschland gekommen und wurde immer sehr warm empfangen - nicht nur von meinen Kollegen aus der Politik, sondern sehr oft von ganz einfachen Menschen, Bürgerinnen und Bürgern. Die Deutschen sind ein sehr freundliches und hilfsbereites Volk. Die Fußball-WM 2006 findet deshalb am richtigen Ort statt - bei Freunden!

      Der Autor ist Präsident Serbiens

      Antony Beevor: Deutschland - ein innerer Monolog der Bilder wird in mir wach. Tiergarten, Brandenburger Tor, Bach und Beethoven, Potsdam und Sanssouci, die Aufklärung und Preußen, damals in Europa das am wenigsten antisemitische Land, Wilhelm II., Brecht, Weimar und die Nazis, "Deutsche Wochenschauen" und zerbombte Städte, billige Filme und noch billigere Witze über den Krieg (besonders britischen Ursprungs).
      Warme Brötchen zum Frühstück (die besten der Welt), Christstollen, wunderbares Lübecker Marzipan, Autobahnen, die durch Wälder wie ein Seziermesser schneiden, dann wieder putzblanke Bauernhöfe in ondulierender Landschaft, meine Reise durch die frühere DDR Mitte der neunziger Jahre, überall diese erneuerten Straßen, Brücken, Bahnstrecken - wie um alles in der Welt hat man das finanzieren können? Überhaupt deutsche Städte, sauber und adrett, das sanfte elektrische Summen der Straßenbahnen, ungehetzte Leute beim Einkaufen, ihre leeren Gesichter, Bayern und seine Berge, Berchtesgaden, die unvergeßliche Sicht vom Kehlstein, köstliches Bier in München, Fischrestaurants in Hamburg, das vorsätzliche Schweigen in Archiven, die Würde der Physiognomien der Alten, ich frage mich, was ihre Erlebnisse waren im Krieg und danach, geräumige Buchläden, stöbernde Studenten und Autos, Autos, Autos.


      Grün die Uniform der Polizei, grüne Bäume in ganz Berlin, der Schwarzwald, die Frankfurter Buchmesse, der sich kein Autor nähern sollte, es sei denn, er will sich mal richtig deprimieren lassen. Zurück von Berlin nach Bonn und die Frage, wie dies jemals die Kapitale eines so weiten Landes hat sein können.

      Der Autor ist Englands führender Militärhistoriker

      Stefan Theil: Endlich fragt mal wieder jemand, wie "das Ausland" Deutschland sieht. Wie in den guten alten Zeiten! Als ich Anfang der 90er Jahre zum ersten Mal über Deutschland berichtete, gab es noch eine fast pathologisch wirkende Besessenheit mit dem auswärtigen Image des Landes, so, als stünde das ganze Land kurz vor dem Ende der Probezeit. Uns auswärtigen Journalisten kam das natürlich ungemein gelegen, denn es öffnete uns Tür und Tor. Der Blick vieler Kollegen auf das Land war damals noch oft genug geprägt von alten Ängsten, gerade frisch aufgewärmt von ausländermordenden Skinhead-Banden und deren Apologeten. Die Obsession mit dem Blick von außen hatte etwas Seltsames - konnte man seinen eigenen Platz nur durch die Beurteilung anderer orten? War Image eventuell wichtiger als Realität?

      Die Zeiten der alten Klischees sind größtenteils vorbei. Was denkt man heute von Deutschland? Wie viele Leute denken überhaupt noch an Deutschland? Das Land hat sich gewandelt vom Ground Zero des Kalten Krieges zu einem mittelgroßen Land im alten Europa, das sich in Zeitlupe bewegt, während der Rest der Welt sich verändert. Das erklärt, warum das Interesse in Amerika und anderswo heute auf andere Regionen gerichtet ist. Anstelle des angsteinflößenden ist es heute das stillstehende, blockierte, schrumpfende Deutschland - das derzeit auch keine Ambitionen zu entwickeln scheint, diesen Zustand zu ändern -, welches zum neuen Bild geworden ist. An diesem Klischee ist natürlich gar nichts, absolut rein gar nichts dran. Alles reine Miesmacherei von ausländischen Journalisten. Deshalb denken wir ab heute mal einen Monat lang gar nicht über Deutschland nach, sondern feiern einfach das großartigste Spektakel überhaupt.

      Der Autor ist Deutschland-Korrespondent des US-Magazins "Newsweek"

      Grigori Jawlinski: Deutschland. In meinem Kopf bildet sich sofort ein ganzes Bündel von Assoziationen und Gedanken. Die Deutschen - das ist ein riesiger europäischer historischer, intellektueller und kultureller Raum. Und was den Einfluß auf Rußland angeht, wenn man überhaupt darauf Einfluß nehmen kann, ist es sogar das Land Nummer eins.
      Die Grundlage aller Eindrücke ist für mich wahrscheinlich das aufrichtige Streben von Millionen Deutschen, nicht in die Vergangenheit zurückzukehren, die Reue und Buße. Der mutige und schwere, fast 60jährige Weg zur Reinigung und Erneuerung, aber nicht ohne Erinnerung. Deutschland - das ist die drittstärkste Wirtschaftskraft der Welt, und es ist an zweiter Stelle nach der Zahl der Milliardäre, das ist soziale Sicherheit, die gegenseitige Enttäuschung der westlichen und östlichen Bundesländer. Deutschland, das sind Mercedes und Lufthansa, Organisiertheit und Pünktlichkeit. Das sind gepflegte Städte, herrliche Landschaften, ausgezeichnete Straßen. Dazu gehören lebensfrohe, schöne Frauen und grobe, lärmende Männer, Bier und Würstchen, Schweinefleisch und Kohl. Und seit kurzem auch Schröder und Gazprom. Aber das, wie ich glaube, nicht für lange.

      Der Autor ist Vorsitzender der russischen liberalen Partei Jabloko

      Andrzej Stasiuk: Wenn ich eine Begegnung mit dem deutschen Sport aus meinem Gedächtnis hervorkramen soll, muß ich eine Weile überlegen. Nun gut: Voriges Jahr im Herbst mußte ich auf dem Hauptbahnhof in Frankfurt am Main umsteigen. Kurz zuvor war ein Spiel der Eintracht gegen Arminia Bielefeld zu Ende gegangen. Die Fans waren auf dem Heimweg. Sie sahen ganz normal aus. Wie betrunkene Wilde. Schließlich ist Fußball Krieg und nicht eine Dichterlesung.

      Die Fans waren in militärischer Kluft und trugen Schnürstiefel, hatten kahlrasierte Köpfe und schluckten Bier aus Dosen und Plastikbechern. Sie schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, auf den Bauch, umarmten einander, zertrampelten leere Bierdosen und brüllten. Sie brüllten furchtbar laut und zählten etwa 50 Mann. Es fehlten ihnen nur noch Helme mit Hörnern. Sie wirkten wie eine verwilderte Armee, die nach einem Jahr zum ersten Mal Heimaturlaub bekommen hat. Sie wirkten, als warteten sie nur auf das Auftauchen eines Feindes.

      Ich fürchtete mich. Ich fürchtete, sie würden mich fragen, ob ich für Eintracht oder für Arminia sei. So ist es in meinem Land, und eine falsch plazierte Sympathiebekundung kann einen die Gesundheit oder das Leben kosten. Schließlich ist Fußball eine Schlacht und nicht Tantes Namenstag. Dann kam der Zug nach Mainz. Ich stieg ein und sie auch. Sie beruhigten sich sofort. Leicht schwankend, suchten sie sich freie Plätze. Sie trennten sich voneinander. Einzeln setzten sie sich neben Beamte, Mütter mit Kindern und alte Frauen. Sie dösten. Ihre Gesichter wurden brav. Jetzt sahen sie aus wie Menschen, die von einem Maskenball heimkehrten. Mit äußerster Willensanstrengung sorgten sie dafür, daß das Bier nicht auf den Boden schwappte. In einem Augenblick hatte sich die brüllende Bande in einzelne friedliche Bürger verwandelt. Diese plötzliche, erstaunliche Metamorphose kann ich bis heute nicht vergessen.

      Einige werden sicher denken, diese Metamorphose sei eine Langzeitwirkung des Jahres 1945. Mir scheint jedoch, daß wir es hier eher mit der Bereitschaft der Deutschen zum perfekten sozialen Rollenspiel zu tun haben. Selbst wenn die Rollen so weit auseinander liegen wie diese beiden: "der wilde Fußballfan" und "der friedliche Bürger".

      Der Autor ist polnischer Schriftsteller

      Alfred Grosser: "In den deutschen Kinos startet 2004 der Film "Das Wunder von Bern'. Auf welches sportliche Ereignis nimmt der Film Bezug?" - So steht es im hessischen Fragebogen. Gewiß wird es auch dem jungen Türken, der Deutscher werden will, leichter fallen, diese Frage zu beantworten als auf "Der deutsche Maler Caspar David Friedrich malte auf einem seiner bekanntesten Bilder eine Landschaft auf der Ostseeinsel Rügen. Welches Motiv zeigt dieses Bild?" Aber gehört der Fußball wirklich zur deutschen Identität? Soll der Türke auch wissen, daß der glorreiche Sieg von 1954 die erste Gelegenheit zu einem "Wir sind wieder wer!" gewesen ist, das gewiß tiefer empfunden wurde als ein halbes Jahrhundert später das "Wir sind Papst!" der Bildzeitung? Der Finger, der ständig auf einen zeigt oder, um es mit Martin Walser zu sagen, die Keule, mit der die Deutschen ständig bedroht werden, das gibt es immer weniger. In England gewiß noch, in Frankreich wirklich nicht mehr.
      Als Jens Lehmann den Elfmeter hielt und Arsenal ins Endspiel brachte, schrieb die britische Boulevardpresse: "Diesmal haben englische Fans von der teutonischen Widerstandskraft profitiert" oder "Wer hätte gedacht, daß der englische Fußball einen Deutschen lieben würde?" Wenn man hingegen in Frankreich von "le Kaiser" spricht, so meint keiner Wilhelm II., sondern Franz Beckenbauer. "Le Monde" hat ihm gerade eine Seite gewidmet, mit viel Lob und Bewunderung.


      Antideutsche Gefühle kommen höchstens auf, wenn das französische Fernsehen die Szene zeigt, wie der Torwart Schumacher einen französischen Spieler foulte und danach Deutschland gewinnen konnte. Wenn der Rennfahrer Michael Schumacher unsportlich handelt, richtet sich das nur gegen ihn, nicht gegen "die Deutschen". (Vom großen Nachkriegspolitiker Kurt Schumacher wissen die deutschen Schlachtenbummler wohl nichts!).

      Ein Endspiel Deutschland-Brasilien? Man würde keinen Zeigefinger heben; eher gegen die französische Equipe. Wie alt und zerstritten sie doch war! Sollten wir Franzosen allerdings siegen, dann wäre die Selbstverherrlichung gewiß größer als die der Deutschen.

      Der Autor ist der Doyen der französischen Politwissenschaft


      Artikel erschienen am Fr, 9. Juni 2006
      Avatar
      schrieb am 09.06.06 09:58:32
      Beitrag Nr. 2 ()
      Sehr spannende Artikel!

      ...interessant wie positiv wir anscheinend doch gesehen werden, obwohl ....beim Lesen hab ich mich manchmal doch gefragt "..hat er/sie das jetzt wirlich Ernst gemeint?".
      Avatar
      schrieb am 09.06.06 13:02:22
      Beitrag Nr. 3 ()
      Hmm, wenn ich mit einem Ausländer spreche, dann kehre ich auch eher die positiven Eigenschaften seiner Kultur heraus als die negativen Aspekte.
      Ich habe noch nie einen Türken gefragt, warum bei denen (im Schnitt wohlgemerkt) Bildung so bedeutungslos ist, oder warum die Vietnamesen so materialistisch eingestellt sind. Ich bewundere stattdessen ihre Herzlichkeit bzw. ihren Fleiß, Familiensinn, und ihre Gastfreundschaft.
      Ich bin in dem Sinne verlogen, ist klar, nur warum soll ich frontal beleidigen? Ich erreiche damit nur einen negativen Effekt, also lass ich es.

      Und was ist denn das deutsche Wort, dass die stärkste Karriere im Ausland gemacht hat : Angst
      Das ist keineswegs Zufall, sondern ein Aspekt unserer Kultur, der im Ausland stark wahrgenommen wird. Diese No-Go-Area Diskussion ist ja auch ein Teil dieser Angstmacherei-Kultur, Angst vor Juden, Angst vor Ossis, Angst vor den Amis, Angst vor Ausländern, Angst vor Nazis, dass sind alles Facetten ein und derselben Schei... .
      Avatar
      schrieb am 09.06.06 13:25:24
      Beitrag Nr. 4 ()
      Puhvogel

      Ich glaube, es geht nicht um positiv oder negativ. In der Tat wird in vielen der Artikel ja auch Kritik laut, etwa an der Art, sich selbst dauernd zu behindern und Steine in den Weg zu legen. Oder wenn es um die leidige Identitätsfrage geht. Also ich fand das stellenweise schon sehr kritisch. Der durchweg euphorische Artikel der Italienerin fiel da eher etwas aus dem Rahmen.

      Viel interessanter fand ich persönlich die Aspekte, die sich die einzelnen Beiträger herausgepickt haben und wie sie sich bei sehr knapp bemessenem Raum versuchten, auf etwas ihrer Ansicht nach typisch Deutsches zu konzentrieren. Für mich waren manche Ergebnisse keine Überraschung (wie z. B. der erste Artikel, in dem es um Probleme der Deutschen mit Patriotismus ging). Aber sehr viele Artikel waren doch durch Überraschungen geprägt, und regen zum Nachdenken an. Man fragt sich: hat der eigentlich recht? Stimmt das? Und oft stimmt es tatsächlich. Z. B. dass Deutschland eigentlich tatsächlich ein sehr schönes Land ist. Das ist auch so ein Aspekt, der Deutschen kaum bewusst ist, dass Deutschland eine große landschaftliche Vielfalt aufweist. Man kennt halt die halbe Welt, aber sein eigenes Land kaum noch.

      Das hat schon einen gewissen Erkenntniswert, die einzelnen Aspekte, die in den Artikeln angesprochen werden, für sich zu überprüfen.

      LM
      Avatar
      schrieb am 09.06.06 13:40:32
      Beitrag Nr. 5 ()
      Antwort auf Beitrag Nr.: 22.026.130 von LadyMacbeth am 09.06.06 13:25:24Ich liebe Boyes. Hatte ja auch schon einige Kolumnen von ihm in WO veröffentlicht. Boyes spricht mir aus der Seele, doch wenn ich mir "anmaße" selbiges zu behaupten und zu fordern, dann ist man schnell wieder der "Nazi", der "geschichtslose Geselle", "der-mit-Fingern-auf-Andere-Zeigende" etc.pp.
      Diese willenlose Selbstkasteiung der Deutschen kotzt mich einfach nur an. :(
      Ich habe keine Juden umgebracht und habe auch zukünftig nicht vor Juden umzubringen.
      Ich schäme mich nicht ein Deutscher zu sein.


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