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    was zum lesen und zum grübeln..... - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 21.01.00 20:42:57 von
    neuester Beitrag 22.01.00 16:21:54 von
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      schrieb am 21.01.00 20:42:57
      Beitrag Nr. 1 ()
      Zwanghafte Programmierer
      Von der Lochkarte in den Cyberspace (Teil IV): Zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Computerentwicklung

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      - Serie von Hans G Helms -

      Wofern wir noch den Mut besessen haben, Kinder in diese Welt zu bringen, in diese Welt der mikroelektronischen Umwertung aller Werte, müssen wir erleben, wie unsere Nachfahren mit massivem ökonomischem Druck auf computer literacy getrimmt werden, wie sie trainiert werden, mit Computern selbstverständlichen und selbstverständlich unkritischen Umgang zu pflegen. Eine Wahl zwischen der freien Entfaltung ihrer gesellschaftlich verpflichteten Vernunft und ihrer Anpassung an die rigide instrumentelle Ratio der Computer scheint für sie versperrt; denn »schon in der nächsten Zukunft wird man wohl keinen plausiblen Anspruch auf Intellektualität erheben können ohne intime Abhängigkeit von diesem neuen Instrument.« Das sei nämlich deswegen so, befehlen uns die Journalistin Pamela McCorduck und der Computerwissenschaftler Edward Feigenbaum zu glauben, weil »die Computerrevolution im wesentlichen darin besteht, daß die Sorge für die Erarbeitung des künftigen Wissens der Welt aus Menschenköpfen auf Maschinenartefakte übertragen wird.«

      Welche um Glück und Fortkommen ihrer Kinder besorgten Eltern werden dem öffentlichen Druck zur computer literacy widerstehen, nachdem man ihnen bedeutet hat, das menschliche Gehirn werde künftig allenfalls als eine Art Appendix eines Computers noch eine Rolle spielen; wer wird seine Sprößlinge nicht schleunigst mit einem PC oder einem laptop beschenken und in ein computer camp schicken, wo sie, statt fröhlich Indianer zu spielen, angeleitet werden, sich auf der Tastatur eines PCs grimmig abzurackern. Bereits im Vorschulalter lernen Kinder an der Konsole eines Computerspiels, daß Menschen nicht mehr zu agieren, vernünftig zu handeln haben, daß sie vielmehr von nun ab bloß noch zu reagieren, nach einem Regelwerk auf vermeintliche Tatbestände zu reagieren haben - und jeder Spielgang verstärkt ihr reaktives Verhalten. Schon vor der mittleren Reife, vor ihrer Pubertät, erfahren sie die Wonnen der Macht über Menschen und Dinge, indem sie die Fähigkeit erlernen, Computerprogramme zu schreiben, die andere zu reagieren zwingen. Das neugewonnene Machtgefühl und ihre Unreife hindern sie, zu begreifen, daß sie ebenfalls bloß auf ein bereits vorhandenes Regelwerk reagieren.

      Joseph Weizenbaum, emeritierter Computerwissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology und wie sein Kollege Edward Feigenbaum einer der Begründer der Artificial Intelligence, der Künstlichen Intelligenz, vergleicht solche unreifen Computeradepten mit »Leuten, die es auf irgendeine Weise fertiggebracht haben, sich flüssig in einer Fremdsprache auszudrücken, nur um dann festzustellen, daß sie gar nichts Eigenes zu sagen haben.« Wie könnte es anders sein, verfügen doch diese Kinder und Jugendlichen über keine Erfahrungen, die wirklich ihre eigenen wären. Wie sollten sie Eigenes mitzuteilen haben ohne eine auf subjektive Erfahrungen gegründete eigene Geschichte? Computer vermitteln keine Erfahrungen, es seien denn Erfahrungen im Umgang mit Computern.

      Computer haben kein Eigenleben, aber sie simulieren oft täuschend lebensähnliche Ausschnitte aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Computer können menschliches Handeln imitieren oder das Verhalten von Objekten nachahmen, doch hinterlassen solche Simulationen oder rechnerischen Nachahmungen keine Erfahrungen im Computer, sondern lediglich Daten und Regeln. So erzeugen sie wiederum einen Abglanz von Wirklichkeit, eine »künstliche Erfahrung«, wie sie der Computerkünstler Myron Krueger in seinem Buch über Artificial Reality, über die im Computer herstellbare »künstliche Wirklichkeit« nennt.

      Der im Computer sich abspielende Simulationskreislauf - vom »intelligenten« Programm, das Wirklichkeit simuliert, über die daraus abgeleitete Pseudoerfahrung bis hin zur scheinbar umfassenden Pseudowirklichkeit - kann sich auf unsere gesellschaftliche Wirklichkeit freilich überaus verheerend auswirken, wie gut oder schlecht er diese simulieren mag. Das haben uns die von einer vom Computer hergestellten »künstlichen Wirklichkeit« deduzierten Kriegsspiele in Vietnam und Kambodscha, der Golfkrieg und jüngst der Terror- und Vernichtungskrieg gegen Jugoslawien bewiesen. Das lehren uns tagtäglich die bestimmte soziale Interaktionen nachäffenden integrierten Informations-, Verwaltungs- und Produktionssysteme, mögen sie unsere kontrollierte Mitwirkung noch zulassen oder uns - immer häufiger - aus dem sozialen Aktionsbereich verbannen und in die geistige Todeszone der irreversiblen, weil systembedingten Dauerarbeitslosigkeit abstoßen.

      Wer gezwungenermaßen müßiggeht, wer von sozialen Interaktionen ausgeschlossen wird, ohne Hoffnung haben zu dürfen, innerhalb des gesellschaftlichen Systems je wieder eine Funktion zu finden, der oder die verliert allmählich die Fähigkeit zu denken, büßt seine/ihre Vorstellungskraft ein, wird phantasielos und, wenn vollends auf den gegenwärtigen Moment eingeschrumpft, verwendbar für beliebige antisoziale Geschäfte. Nach 1933 wurden aus emotionsentleerten Langzeitarbeitslosen die grausamsten SS-Schergen. Der Verlust ihrer Phantasie, ihre Unfähigkeit mitzuleiden, sich Leiden überhaupt noch vorzustellen, hatte sie zur systematischen Folter- und Vernichtungsarbeit in den KZs befähigt.

      Die »mikroelektronische Revolution« produziert solche »eindimensionalen« Menschen oder clones innerhalb und außerhalb ihres Systems. Es wäre nämlich irrig anzunehmen, lediglich die Arbeitslosen verlören ihre Fähigkeiten zu denken, zu phantasieren, sich etwas vorzustellen und zu träumen. Graduell büßt sie ein jeder ein, der permanenten Umgang mit Computern pflegt, der in computergesteuerten Umwelten zu funktionieren gezwungen ist, es sei denn, er weiß wirklich, wie ein Computer funktioniert. Doch von denen gibt es nur wenige. Man kann recht wohl, wie`s Weizenbaum dargestellt hat, Computer bedienen, ohne die Funktionsweise des Computers zu kennen.

      Man stelle sich beispielsweise eine Textverarbeiterin vor, wie sie nach einem Ziffernlaufplan Sätze und Absätze zu einem Brief zusammenfügt. Sie hat weder die Aufgabe noch die Möglichkeit, den Sinn des Geschriebenen zu prüfen. Stilistische Verbesserungen vorzunehmen, ist ihr untersagt. Infolgedessen gibt sie es auf zu lesen, was sie schreibt, und verlernt mit der Zeit auch zu verstehen, was sie schreibt. Sie könnte recht wohl in einer ihr fremden Sprache schreiben; ja, sie braucht im Grunde überhaupt nicht lesen und schreiben zu können. Sie kann Analphabetin sein, solange sie nur über computer literacy verfügt.

      Ähnlich geht es dem Mann, der eine computergesteuerte Werkzeugmaschine scheinbar überwacht, eine sogenannte DNC-Maschine. Geht etwas schief, vermag er zwar einzugreifen, falls er das Malheur beizeiten bemerkt. Tatsächlich gewahrt der Steuerungscomputer jede Abweichung von der Norm viel früher als der Maschinist und stoppt die Maschine automatisch. Obzwar der DNC-Bediener zur Zeit in der Regel noch ein hoch qualifizierter Maschinenschlosser ist, kann er einen Maschinenfehler oder -schaden nicht beheben; denn über Funktionsweise und Konstruktion der Maschine und über das sie regelnde Programm ist er nicht ausreichend unterrichtet. Der Maschinist ist reines Dekor. Wie die Kollegin Textverarbeiterin vergißt er nach und nach seine einst erworbenen Erfahrungen und in der Isolation seines Arbeitsplatzes rückentwickelt er sich zu einem primär bloß mit sich selber verkehrenden Hypochonder und Misanthropen, zu einem Fall für den Psychiater.

      Auch bei Menschen, die aktiv mit Computern umgehen, bei Programmierern etwa, sind Persönlichkeitsschrumpfung und Exsozialisation typische Entwicklungen. Ich habe nicht nur Erwachsene, ich habe auch etliche Kinder kennengelernt, frühreife Computergenies, die mit ihren zwölf, 13 oder 14 Jahren sich exakt so verhalten wie jene »zwanghaften Programmierer« oder computer hacks, von denen Joseph Weizenbaum berichtet: »ihre Arme sind angewinkelt, und sie warten nur darauf, daß ihre Finger - zum Losschlagen bereit - auf die Knöpfe und Tasten zuschießen können, auf die sie genau so gebannt starren wie ein Spieler auf die rollenden Würfel. Nicht ganz so erstarrt sitzen sie oft an Tischen, die mit Computerausdrucken übersät sind, und brüten darüber wie Gelehrte, die von kabbalistischen Schriften besessen sind. Sie arbeiten bis zum Umfallen, zwanzig, dreißig Stunden an einem Stück. Wenn möglich, lassen sie sich ihr Essen bringen: Kaffee, Coca und belegte Brötchen. Wenn es sich einrichten läßt, schlafen sie sogar auf einer Liege neben dem Computer. Aber höchstens ein paar Stunden - dann geht es zurück zum Pult oder zum Drucker. Ihre verknautschten Anzüge, ihre ungewaschenen und unrasierten Gesichter und ihr ungekämmtes Haar bezeugen, wie sehr sie ihren Körper vernachlässigen und die Welt um sich herum vergessen. Zumindest solange sie derart gefangen sind, existieren sie nur durch und für den Computer. Das sind Computerfetischisten, zwanghafte Programmierer.«

      In mehr als zwei Jahrzehnten Recherchen auf dem Gebiet der computergesteuerten Technologien bin ich nur wenigen Computerarbeitern oder -wissenschaftlern begegnet, die von solcher neurotischen Besessenheit gänzlich frei gewesen wären. Aber ich kenne nicht wenige kindliche und erwachsene Programmierer und Tüftler, die Symptome hochgradiger psychischer wie sozialer Störungen aufweisen. Mit vollem Recht, meine ich, charakterisiert der seiner Disziplin ungemein kritisch gegenüberstehende Computerwissenschaftler Weizenbaum solche jetzt durch die massenhafte Verbreitung billiger PCs und laptops noch vermehrten und stärker geförderten Verhaltensweisen als pathologische. »Der zwanghafte Programmierer folgt einem Trieb, in seinem Verhalten zeigt sich kaum Spontaneität, und die Erfüllung seiner vordergründigen Wünsche bereitet ihm kein Vergnügen, sondern Bestätigung. Die engste Parallele, die wir zu dieser Art von Psychopathologie ziehen können, ist der unbarmherzige, freudlose Trieb nach Bestätigung, der das Leben des zwanghaften Spielers kennzeichnet.«

      Die Sucht, sich durch den Computer bestätigen zu wollen wo nicht zu müssen, scheint mir ein Reflex auf das an den Computer verlorene Ich zu sein. Wenn nämlich ein Mensch bloß noch zu reagieren vermag; wenn seine Erfahrungen ihm entwendet worden sind und ihn in Gestalt eines abstrakten und undurchschaubaren Regelwerks oder Programms zu bestimmten Reaktionsweisen nötigen; wenn er bereits im kindlichen Umgang mit Computern und computergesteuerten Utensilien gehindert wird, sich überhaupt noch als individuelle Geschichte zu erfahren, dann vermag er die Bruchstücke seines Selbstbewußtseins nur zusammenzuhalten, indem er sie sich vom »großen Bruder« als ihm entfremdete Bestandteile eines Systems bestätigen läßt. In mancher Hinsicht existiert solch ein Opfer der »mikroelektronischen Revolution« bloß noch als Datensammlung in einem Personalinformationssystem. Hat sich Brecht in den Flüchtlingsgesprächen darüber bekümmert, daß erst der Paß den Menschen ausmache, ihm soziale Gültigkeit verleihe, in den heutigen Computerumwelten sind computerlesbare Kredit- und Identitätskarten allemal realer als ihre Träger. Die nach den Bedürfnissen der Militärs und des großen Kapitals mikroelektronisch organisierte Zukunft sieht vor, daß Menschen als Flugzeug- oder Eisenbahnpassagiere, als Autofahrer oder Fußgänger, als Körper, Finger- oder Stimmabdrücke, als Polizei- oder Finanzdatenkollektionen computerlesbar zu sein haben. Das Individuum wird in funktionale Personalaspekte zerlegt, die den Identifikationskriterien der Computer angepaßt sind.

      Auch heute reagieren wir fortwährend auf Computersysteme, die auf Teilaspekte unserer Person reagieren und uns nach einprogrammierten Quantifikationsregeln befehlen, dies oder jenes zu tun, beispielsweise vor einer Ampel zu warten - gleichgültig, ob Verkehr herrscht oder nicht - und uns auf das Kommando Grün in Marsch zu setzen. An den Geldautomaten der Banken drücken wir auf schriftliche - und immer häufiger auch schon, da zunehmend mehr Gesellschaftsmitglieder weder zu schreiben noch zu lesen wissen werden, auf bildliche oder akustische - Befehle Tasten, wodurch diese oder jene Transaktion durchgeführt wird, selbstredend erst, nachdem unsere ec- Karte uns als diesen oder jenen Konteninhaber mit Guthaben oder Kredit identifiziert hat.
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      schrieb am 22.01.00 16:21:54
      Beitrag Nr. 2 ()
      Sehr interessant, leider auch an vielen Stellen überzogen. Ich selbst nutze ja auch Computer für Forschungszwecke, aber daß ich dabei zum Dekor meines Arbeitsgerätes geworden bin, ist sicher nicht der Fall. Manche werden von der Computerrevolution angepaßt und andere passen die Computerrevolution zu ihren Zwecken an. War das aber bei früheren technologischen Innovationen so anders? Als nur noch eine Minderheit weben konnte, da es Webmaschinen gab, waren da die wegrationalisierten Menschen auf Dauer überflüssig geworden? Wurde da nicht, langfristig gesehen, menschliche Tätigkeit frei, anderes zu beginnen?


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