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    Hat jemand das Buch von Meinhard Miegel gelesen? - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 13.05.02 00:21:48 von
    neuester Beitrag 12.08.02 16:35:27 von
    Beiträge: 36
    ID: 585.757
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      schrieb am 13.05.02 00:21:48
      Beitrag Nr. 1 ()
      Ich noch nicht, werde es mir aber besorgen. Der Titel "die deformierte Gesellschaft" Habe ihn heute in einer Radio Debatte, zur Zukunft des Gemeinwesens gehört, und will mich mit seinen Thesen beschäftigen.
      Hier habe ich auf die Schnelle ein Interview gefunden:

      Meinhard Miegel: `Der heutige Sozialstaat ist kein Modell für die Zukunft.`

      Der Bonner Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel im Gespräch mit ARD-Korrespondent Andreas Clarysse.

      Andreas Clarysse: Herr Miegel, bei 4,3 Millionen Arbeitslosen muss man sich fragen, ob Politik und Wirtschaft überhaupt in der Lage sind, die Arbeitslosigkeit dauerhaft drastisch zu senken. Wie muss in Deutschland die Politik umgebaut werden, um die Arbeitslosigkeit deutlich zu senken?

      Meinhard Miegel: Wir sind in der Lage, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu senken, vorausgesetzt, wir haben die Kraft und den Mut drei Dinge zu tun. Erstens: ein wirklicher Umbau der sozialen Sicherungssysteme. Die Systeme sind viel zu teuer geworden. Millionen von Arbeitsplätzen sind in den Untergrund verbannt worden, weil sie nicht in der Lage sind, die Mittel zu erwirtschaften, die für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme erforderlich sind. Zweitens: Unser Bildungssystem muss umgebaut werden. Wir haben viele freie Stellen, die nicht besetzt werden können, weil wir die Qualifikationen dafür nicht haben Drittens: Dieses Land muss unternehmerfreundlicher werden. Wir sind eine Arbeitnehmergesellschaft geworden, in der 90 Prozent der Bevölkerung sagen: "Wer stellt mich an?" Nur zehn Prozent machen sich Gedanken darüber, wie ein Arbeitsplatz entsteht.

      Andreas Clarysse: Die Politik hofft auf ausreichendes Wachstum. Ist das ein Programm, mit dem Massenarbeitslosigkeit bekämpft werden kann?

      Meinhard Miegel: Sicherlich nicht. Wachstum ist gut zur Überwindung von konjunktureller Arbeitslosigkeit. Die konjunkturelle Arbeitslosigkeit liegt bei uns aber in der Größenordnung von vielleicht 300.000 bis 400.000 Arbeitslosen. Die anderen sind entweder saisonal arbeitslos oder strukturell arbeitslos. Der Anteil der strukturell Arbeitslosen liegt in Deutschland etwa bei 3,5 Millionen. Mit Wirtschaftswachstum ist da überhaupt nichts zu machen.

      Andreas Clarysse: Womit müssen wir rechnen, wenn sich die Gesellschaft immer deutlicher in Arme und Reiche spaltet, die Mehrheit Wachstum und Wohlstand fordert, die Minderheit dafür sorgen soll?

      Meinhard Miegel: Die Frage ist, ob das so zutreffend ist. In der Tat gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, die zwar nicht absolut ärmer wird – auch die Ärmsten sind heute wohlhabender, als sie es in der Vergangenheit waren -, aber die Zahl derer, die relativ arm sind, nimmt zu. Das hat sicherlich damit zu tun, dass wir in der Vergangenheit viel zu sehr auf Erwerbsarbeit gesetzt und nicht begriffen haben, dass für die Wertschöpfung das Kapital immer wichtiger wird. Die Menschen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht genügend gespart, nicht genügend Vermögen gebildet. Die Folge ist , dass das, was wir erwirtschaften immer einseitiger in Richtung auf Vermögen fließt und immer weniger in Richtung auf Arbeit. Das ist ein sehr grundlegendes Problem. Hier haben auch die Gewerkschaften einen historischen Fehler begangen. Das ist nichts, was, wir kurzfristig überwinden können.

      Andreas Clarysse: Nun haben die Politiker, ob Schröder oder Stoiber, unisono gesagt, sie wollten keine amerikanischen Verhältnisse? Treiben wir aber nicht darauf zu in unserer Kopierwut?

      Meinhard Miegel: Teilweise versuchen wir, die Amerikaner zu kopieren. Im Großen und Ganzen sind wir aber weit von amerikanischen Verhältnissen entfernt. Das amerikanische "Hire and Fire" oder auch die Lohnstruktur sind gänzlich anders. In den USA haben 27 Prozent der Erwerbsbevölkerung ein Einkommen, das bei uns Sozialhilfeempfänger haben. Wir können nicht sagen, dass wir uns in Richtung auf amerikanische Verhältnisse bewegen. Fast im Gegenteil. Wir haben in dieser Legislaturperiode durch eine Reihe von Gesetzen Veränderungen von Lohnfortzahlung, Mitbestimmung und ähnlichem erlebt, so dass wir uns eigentlich von Amerika weg bewegen.

      Andreas Clarysse: Droht uns nicht vielleicht Schlimmeres? Ist der Sozialstaat überhaupt noch ein Modell für die Zukunft?

      Meinhard Miegel: Der Sozialstaat so wie wir ihn heute haben ist kein Modell für die Zukunft. Das hat einen einfachen Grund. Die Bevölkerung Deutschlands wie Europas nimmt an Alter sehr stark zu. Der alte Bevölkerungsanteil muss mit Renten versorgt werden, kostetet für Gesundheit, Pflege und anderes aber auch mehr. Das ist mit dem bisherigen System nicht zu finanzieren. Wir werden in Deutschland einen grundlegend anderen Sozialstaat aufbauen müssen. Wir sollten uns auch keinen Illusionen hingeben, dass das mit Umbauten geschehen könnte. Es geht in ganz wichtigen Bereichen um einen Abbau dessen, was wir gegenwärtig haben. Andernfalls kann der Sozialstaat – und ich bin ein Befürworter des Sozialstaates – keinen Bestand haben.

      Andreas Clarysse: Was passiert nach Ihrer Meinung, wenn eine Regierung nach der anderen nur an den Symptomen des Arbeitsmarktes herumbastelt, die Ursachen aber nicht bekämpft?

      Meinhard Miegel: Dann passiert genau das, was wir in den letzten 25 Jahren beobachten. In den letzten 25 Jahren ist an der strukturellen Arbeitslosigkeit überhaupt nichts abgebaut worden. Die strukturelle Arbeitslosigkeit wächst von Rezession zu Rezession. Es wird immer nur etwas im konjunkturellen Bereich getan. Das ist politisch keine sehr große Leistung. Wenn das so weiter geht, wird der Anteil der strukturell Arbeitslosen in Deutschland weiter zunehmen. Das ist umso bemerkenswerter als der Anteil der Erwerbsfähigen aufgrund demographischer Veränderungen sehr deutlich abnimmt. Wir haben also im Ergebnis immer weniger Menschen, die effektiv beschäftigt sind und einen hohen Anteil von Menschen, die als arbeitslos registriert werden.

      Andreas Clarysse: Was ist von den Absichtserklärungen der Politiker zu halten, die Veränderungen am Arbeitsmarkt versprechen, wohl wissend, dass es mit den gängigen Mitteln nicht zu schaffen ist?

      Meinhard Miegel: Ich halte sehr wenig von diesen Versprechen, die immer wieder gemacht worden sind. 1998 hat die rotgrüne Koalition in Aussicht gestellt, es werde sich nachhaltig etwas verändern. Es hat sich gar nichts verändert. Ich muss hinzufügen, ich sehe im Moment auch von Seiten der heutigen Opposition kein Konzept, von dem man sagen könnte, das ist geeignet, die strukturelle Arbeitslosigkeit zu überwinden. Das ist ein Herumgewurschtel, was wir seit langer Zeit erleben. Keine Partei scheint sich aufraffen zu können, die Dinge in Angriff zu nehmen, die in Angriff genommen werden müssten, um Gesellschaft, Arbeitsmarkt und Wirtschaft so zu verändern, dass wir keine strukturelle Arbeitslosigkeit mehr haben.

      Andreas Clarysse: Wohin bewegt sich diese Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden, sich die Bedürfnisse verändern und Angst und der Wunsch nach Sicherheit zunehmen?

      Meinhard Miegel: Die Gesellschaft sucht immer mehr Sicherheit in unterschiedlichen Formen, innere Sicherheit, äußere Sicherheit, soziale Sicherheit. Mit der sozialen Sicherheit ist es nicht mehr weit her. Hier erleben wir allenthalben, dass die Politiker, gleich von welchem Lager sie kommen, nur Abstriche in Aussicht stellen können. Die Zeiten, wo man jedes Jahr zusätzliche soziale Leistungen versprechen konnte, sind vorbei. Man versucht ganz offensichtlich jetzt, die Gewichte zu verlagern. Weg von der sozialen Sicherheit, hin zu anderen Formen der Sicherheit. Das grundlegende Problem liegt auf einer anderen Ebene. Eine Gesellschaft, die so altert wie unsere, die immer mehr Zuwanderer benötigt, um elementare Funktionen aufrecht zu erhalten, verliert an Dynamik. Sie verliert an Kreativität, sie droht tendenziell, zu verarmen. Das sind alles Dinge, die die Menschen heute nicht gewohnt sind. Sie können sich nicht vorstellen, auch noch mit 50 oder 55 Jahren etwas Neues anzufangen. Vielleicht sogar ein kleines Unternehmen zu gründen oder einen Arbeitsplatz zu schaffen. Hier muss sehr nachhaltig umgedacht werden, damit die Gesellschaft nicht in Turbulenzen gerät.
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 00:41:51
      Beitrag Nr. 2 ()
      Ein kluger Mann!

      Denn er denkt langfristig.

      Politiker denken leider nur von Wahl zu Wahl.

      Und die meisten, die sie wählen, denken überhaupt
      nicht.

      Deshalb kommt es, wie es kommen muss:

      Weil die Veränderung nicht von oben kommt,
      wird sie von unten kommen.

      Und die, die dabei sind, werden nicht mal wissen,
      wie ihnen geschieht.

      Die Zwangsläufigkeit von Entwicklungen, offenbart
      sich den allermeisten eben nur hinterher.

      Dafür gibt es in der Geschichte genug Beispiele.
      Dass es zu einem Dritten Reich kam z.B. war kein Zufall.
      Es war zwangsläufig.

      Dass nach den Zaren die Kommunisten an die Macht kamen,
      war kein Zufall. Es war zwangsläufig.

      Und dass diese unsere sogenannte Demonkratie und unser
      sogenannter Sozialstaat (beide in der Endphase)
      abgelöst werden, wird auch kein Zufall sein.

      Was danach kommt, kann niemand wissen. Aber es wird
      zwangsläufig kommen.

      Aber nicht gleich erschrecken. Es geschieht nicht
      heute oder morgen oder übermorgen. Dazu gehts uns
      noch viel zu gut. :laugh:
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 03:41:24
      Beitrag Nr. 3 ()
      Ja .. ein kluger Mann ;-)
      Dann soll er am besten mal gleich damit anfangen und sich "selbstständig" machen

      Ich denke viele, die jetzt auf der Strasse leben, wollten darüber nicht erst ein Buch schreiben

      OK ... so mache ich halt auch einfach mal einen Vorschlag wie sehr viele Probleme innerhalb kürzester Zeit gelöst werden könnten:

      Sehr einfach sogar: BRAGO abschaffen und alles wird gut ;-)
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 08:51:55
      Beitrag Nr. 4 ()
      Pflichtlektüre für die Oberstufe!
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 17:33:04
      Beitrag Nr. 5 ()
      Die flaue Reaktion scheint mir ein Indiz dafür zu sein, daß Miegel Recht hat mit der These, die Bundesrepublik würde die Realität verdrängen, und in einer Wohlstandstraumwelt leben. Jedenfalls scheinen noch nicht viele diese Thematik zur Kenntnis genommen zu haben.

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      Avatar
      schrieb am 13.05.02 17:38:17
      Beitrag Nr. 6 ()
      Sei nicht so streng, Heizkessel.

      Ist halt eine komplizierte Materie. Und nicht so
      lustig wie die Diskussion darüber, ob der Westerwelle
      ein Clown ist oder ein weitsichtiger Politiker.

      P.S.
      Die Realität wird allerorten verdrängt. Nicht nur in
      Deutschland. Das gehört zum Menschsein wie Gier und
      Angst.
      Freilich schert sich die Realität nicht darum, ob sie
      erkannt wird oder nicht. :laugh:
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 17:50:37
      Beitrag Nr. 7 ()
      Ach so, noch was:

      Zur Realität gehört auch, dass man seine Message
      verkaufen muss.

      "Hat jemand das Buch von Meinhard Miegel gelesen?"

      ist ja nicht gerade der Bringer.

      Stünde da etwa: WIR STEHEN VOR DEM ABGRUND!!!
      wäre die Resonanz bestimmt besser.

      Oder so: RIIIESENTITTEN!!! Das geilste Buch aller Zeiten!!!

      :laugh:
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 17:59:47
      Beitrag Nr. 8 ()
      Ja, das stimmt wohl.:D:D

      Aber es muß doch auch möglich sein, ganz normal über politische Themen zu reden, ohne das übliche Parolen Ping Pong.

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 18:28:33
      Beitrag Nr. 9 ()
      Wahljahr 2002: Heil- und Kostenplan für ein krankes Land
      von Robert Leicht
      ]
      Am Anfang eines Jahres sind die Wünsche frisch, die Vorsätze stark. Im privaten Leben. In der Politik ist das anders. Erst recht zu Beginn eines Wahljahres - am 22. September wird ausgezählt. Da gilt die Regel: Die Wünsche der Wähler sind größer (und widersprüchlicher) als die Vorsätze der Politiker. Bisher weiß keine der Parteien, womit, wozu und wofür sie Wähler für die nächsten vier Jahre gewinnen soll. Dabei ist es gar nicht so schwer, zu sagen, worum es im Wahlkampf in diesem Jahr und in der deutschen Politik der nächsten Jahren gehen sollte. Längst wissen dies auch die Vernünftigen in allen Parteien. Nur fällt es im permanenten Maskenball der Politik den Spielern offenbar immer schwerer, schlichte Wahrheiten beim Namen zu nennen. Also tun wir es - hier unsere Wunsch- und Themenliste für das Jahr der Entscheidungen.
      Erstens: In einer ziemlich offenen Weltwirtschaft gibt es keine dauerhaft gesicherten nationalen Besitzstände - weder wirtschaftlich noch sozial -, sondern nur Vorsprünge auf Zeit, die immer wieder neu erarbeitet werden müssen. Eine Volkswirtschaft und eine Gesellschaft, die weder Wettbewerbsdruck noch Leistungswillen verspüren, fallen im Verhältnis zu anderen zurück. Deutschland ist zurückgefallen - auch wegen der Lasten aus dem Einigungsprozess.
      Zweitens: Es gibt keinen Gegensatz zwischen einer effektiven Volkswirtschaft und einer sozial gerechten Gesellschaft. Das gilt in zweierlei Richtung. Einerseits: Ein gut funktionierender Sozialstaat (aber nur der!) ist keine romantische Marotte, sondern ein Gebot der Fairness und zugleich ein positiver Standortfaktor. Andererseits: Ein Staat kann nur so sozial sein, wie seine Volkswirtschaft produktiv ist. Außerdem darf er nicht auf seinen Lorbeeren einschlafen, sonst machen andere das Rennen. Wer die Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft vernachlässigt, vergeht sich an ihrer Fähigkeit zum sozialen Ausgleich. Deutschland hat an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, allein schon wegen der Langwierigkeit aller Entscheidungsprozesse und der komplizierten Bürokratie.
      Drittens: Eine Gesellschaft, die nicht an ihre Zukunft glaubt, wird sie nicht gewinnen. Aus welchen Gründen auch immer - und der Rückblick auf die eigene jüngste Geschichte wäre noch der vornehmste. Deutschland glaubt nicht an seine Zukunft - siehe die extrem niedrige Geburtenrate, siehe die im Verhältnis dazu erst recht niedrige Investitions- und Erfolgsquote im Bildungswesen, siehe die armselige Familienpolitik, siehe die bescheidene Forschungsförderung.
      Viertens: Wer zahlt, schafft an! Das hat inzwischen jeder begriffen. Aber in der Politik muss es endlich auch umgekehrt heißen: Wer anschafft, zahlt. In Deutschland ist jedoch der unerbittliche Zusammenhang zwischen Bestellen und Bezahlen, zwischen Veranlassung und Verantwortung viel zu oft verleugnet worden - siehe das undurchsichtige Durcheinander im Föderalismus, den immer noch leistungshemmenden Länderfinanzausgleich, das Gesundheitswesen. Siehe auch das Bildungswesen, denn noch immer gilt in der Bundesrepublik die gesetzlich verankerte Irrsinnsregel: Jedes Land bekommt genau den Anteil an zentral vergebenen Studienplätzen für seine Landeskinder zugewiesen, der seinem Anteil an den deutschen Abiturienten entspricht - und zwar ohne Rücksicht auf die regionale Qualität des Abiturs. Ein geradezu genialer Verantwortungs- und Wettbewerbskiller!
      Fünftens: Zeit ist Geld. Zwar tickt die demografische Zeitbombe schon seit langem; es ist dies die am besten prognostizierte Krise der Nachkriegspolitik. Aber noch bleibt etwas Zeit zum Handeln. Sofern Deutschland im nächsten Jahrzehnt seine Neuverschuldung erst auf null zurückführt, dann seine Altschulden verringert, werden wir einigermaßen vorbereitet dastehen, wenn im übernächsten Jahrzehnt die auf den Kopf gestellte Alterspyramide endgültig über uns zusammenbricht. Doch wer mit dem Schuldenabbau in zehn Jahren so weit sein will, muss heute damit anfangen. Je später wir handeln, desto brutaler die Einschnitte.
      Das also sind die fünf Wahrheiten der deutschen Politik, die im kommenden Wahlkampf zur Sprache kommen müssen: von der Besitzstands- zur Wettbewerbsgesellschaft, von der Verteilungs- zur Leistungesellschaft, von der Stillstands- zur Zukunftsgesellschaft, von der Veranlassungs- zur Verantwortungsgesellschaft, von der Schulden- zur Tilgungsgesellschaft.
      Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Da hört man an einem Dezembermorgen den Wirtschaftsminister im kleinen Kreis darüber reden, das Limit des 630-Mark-Gesetzes müsse auf 1200 Mark angehoben werden. Am Abend desselben Tages spricht der eher zögerliche SPD-Generalsekretär schon von 1400 Mark. Doch kaum wird das Gespräch darüber öffentlich, wird es noch im alten Jahr sogleich totgetreten: Alles muss bleiben, wie es ist - wir gehen ja in ein Wahljahr.
      Eine politische Gesellschaft unter neurotischem Vermeidungszwang! Nur keinen reinen Wein einschenken - er könnte den Leuten sauer aufstoßen. Dabei müssten sich die Virtuosen der politischen Kampagnenführung, die Meister der Stimmenmaximierung durch Themenminimierung, längst fragen, wohin sie mit ihrer Kunst über die Jahre geraten sind: in den Rückgang der Wahlbeteiligung, in die Ausdünnung der politischen Loyalitäten, in den Überdruss an Parteipolitik, in die Anfälligkeit für den Populismus der Schills und Gysis. Wir sind, um einen Ausdruck aus jenem Wirtschaftszweig, der Forstwirtschaft, zu wählen, der die Kategorie der "Nachhaltigkeit" erfunden hat, zu einem Volk der politischen Flachwurzler geworden. Das gilt inzwischen nicht nur für die Politiker, sondern auch für die Bürger. Denn die intelligenten Wähler betreiben bei ihrer Entscheidung längst keine Nutzenmaximierung mehr, sondern, ohne innere Überzeugung, nur noch - Schadensminimierung. Das heißt: Die Gesellschaft wird entscheidungsscheu.
      Blickt man von diesem Punkt aus zurück auf die auslaufende Legislaturperiode, so ergibt sich: Die rot-grüne Regierung hat manches gesät, aber längst nicht tief genug gepflügt. Und spätestens im vorigen Sommer hat sie die Hände in den Schoß gelegt, in der Erwartung, im kommenden Herbst mühelos ernten zu können - angesichts einer noch immer derangierten Opposition. Nur dass inzwischen eine schlappe Konjunktur und das Weltdrama des 11. September dazwischenkamen - und nun die Koalition aus ihrem Null-Konzept gebracht wurde. Zwar kann niemand von einer Regierung verlangen, sie sollte im letzten halben Jahr vor dem Wahlkampf neue Initiativen entfalten; das lässt schon der parlamentarisch-bürokratische Kalender nicht zu. Aber eine Langzeituntersuchung der Bundestagswahlen und unserer Regierungswechsel bietet eine verblüffende Doppel-Lektion: Wahlen wirklich gewonnen (und Wähler hinzugewonnen) hat nur, wer den Bürgern eine realistische Perspektive über die Probleme hinaus gewiesen hat. Richtig verloren hat am Ende immer der, der nur noch weiterwursteln wollte. Und deshalb lautet die Parole, spätestens für den Wahlkampf und die Zeit danach: Vorwärts - wir müssen zurück. Zur Politik!

      die Zeit
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 20:07:50
      Beitrag Nr. 10 ()
      @Heizkessel
      das buch ist phantastisch. Ich habe es seit einigen Wochen und nach dem ersten Lese-Schnelldurchgang war ich hin und weg, lese immer wieder etwas nach.
      Miegel trifft den Nagel auf den Kopf, er spricht an, was kein Politiker zu sagen wagt, tun müssen sie es irgendwann mal doch. Einen passenderen Titel wie "Die Deformierte Gesellschaft" gibt es nicht, trifft auch dieser den Nagel auf den Kopf.
      Gruß
      Linda
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 20:42:49
      Beitrag Nr. 11 ()
      die Deutschen werden immer mehr zu Arabern:
      nur nix arbeiten, nur noch handeln; alles andere wäre scheinbar vielfach unter ihrer Würde.

      Arbeit heisst heutzutage vielfach in erster Linie: sich SELBST qualifizieren! Hilfe gibt es genügend - Kopfarbeit ist halt anstrengend, auch für mich!

      Aber solange Herren wie Rau nur was vom Menschenwert des Seins und den Wert der Menschenleistung indirekt herunterspielt, wird`s auch nicht mehr besser.


      pilsbier, der den ganzes Klimbim mitfinanzieren muss.
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 20:45:02
      Beitrag Nr. 12 ()
      na, dann lies mal den Miegel, er sagt wo`s lang gehen müßte.
      Gruß
      Linda
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 21:39:23
      Beitrag Nr. 13 ()
      Miegel hat Werbung verdient:
      Avatar
      schrieb am 14.05.02 20:17:03
      Beitrag Nr. 14 ()
      taz:

      Ende des Konsums
      Meinhard Miegel befasst sich mit den Problemen der alternden Gesellschaft, ohne neue Konzepte zu finden
      Die Zukunft macht uns alle wieder jung. Dann nämlich, wenn in vier Jahrzehnten ein Fünfzigjähriger nicht mehr als alt gilt, sondern gerade mal das Durchschnittsalter repräsentiert. Durch das Altern der Gesellschaft erleben wir eine Veränderung, für die es "in der Geschichte der Menschheit keine Parallele" gibt, erklärt der Sozialforscher Meinhard Miegel in seinem neuen Buch über die "deformierte Gesellschaft".

      Die Alterung wird Konsum, Lebensformen und Werte unaufhaltsam verändern, ob wir wollen oder nicht. Denn schon 2040 werden 40 Prozent der Deutschen älter als 59 Jahre sein.

      Die Idee, dass sich in einer alternden Gesellschaft die Menschen innerlich "verjüngen" könnten, um den biologischen Tatsachen zu begegnen, ist dabei laut Miegel lebensfremd. Auch wenn sich die Älteren in Zukunft noch jugendlicher und lebenszugewandter verhielten als die Älteren heute, werde sich der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel verlangsamen. "Die Bereitschaft, Neues anzunehmen und auszuprobieren, wird in breiten Bevölkerungsschichten abebben."

      Mit der Alterung verändert sich die Sinnstiftung unserer Gesellschaft, die bisher, so Miegel, auf zwei Säulen ruhte: Konsum und Familie. Mit dem Konsum sieht es künftig mau aus. Die Werbung kann ja schon heute kein für Alte typisches Konsumverhalten aufspüren. Denn: Wer eine "Konsumbiografie" hinter sich hat, der weiß, dass ein neues Auto oder neue Kleidung und Kosmetik das Leben nicht so stark verändern oder gar verbessern, wie man das in jungen Jahren noch glaubt. Im Alter fehle dem Konsum die "ursprüngliche Strahlkraft", so Miegel. Auch die Reiselust, oft als wichtige Ausgabenquelle der Senioren gepriesen, dürfte nicht in dem Maße steigen, wie viele Anbieter hoffen. Der Mensch wird im Alter weniger flexibel, das Bedürfnis nach Ruhe und Muße nimmt zu. Schon allein aus biologischen Gründen wird sich also eine kleine Kulturrevolution ereignen - auch für die Familie. Immer mehr Kinderlose werden alt. Die Folge: Viele Ältere werden künftig auch keine Enkel haben, um die sie sich kümmern könnten. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Zugehörigkeit nimmt allerdings im Alter zu.

      Weniger der Konsum, wohl aber die Sozialkontakte stellen daher künftig eine wichtige Glücksressource für die Menschen da. Diese Kontakte lassen sich aber weder durch die Familie noch durch eine flexible Arbeitswelt befriedigen. Eine wichtige Frage wird also sein, wie sich künftig Beziehungssysteme gestalten. Wollen die Menschen ihre Sozialbedürfnisse in Zukunft nicht in erster Linie über Ärzte, Masseure oder Psychotherapeuten decken, müssen sie in ihre mitmenschlichen Kontakte mehr Zeit investieren.

      Der Vorstellung, durch Einwanderung den Altersaufbau der Bevölkerung drastisch zu verändern, erteilt Miegel dabei eine Absage. Denn die Zuwanderung von Qualifizierten sei ein egoistischer Akt zu Lasten der weniger entwickelten Gesellschaften. Auf Zuwanderer zu setzen, um die eigenen Bevölkerungsprobleme zu lösen, ist daher "Ausdruck kolonialen Denkens und Handelns, heute vielleicht sogar in dessen perfidester Form".

      Am faszinierendsten in Miegels neuem Essay sind seine Überlegungen zu den demografischen Veränderungen. Seine Rezepte, wie man diesen begegnen könnte, laufen jedoch auf den üblichen Ruf nach Sozialstaatsreformen hinaus: mehr Investitionen in Wissen und Bildung, keine Angst vor Eliten, mehr privates Kapital in Arbeitnehmerhand, Förderung mittelständischer Unternehmer.

      Der Sozialstaat solle umgebaut werden, die Menschen müssten eine "Erstverantwortung" für ihr Einkommen und ihre Gesundheit tragen. Die Gesellschaft solle nur eine Art Grundsicherung für die Schwachen übernehmen, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld verkürzen und die Arbeitslosenhilfe abbauen.

      Miegel, ehemals Leiter der Hauptabteilung Politik der Bundesgeschäftsstelle der CDU, schreckt dabei vor der üblichen Ideologisierung nicht zurück, etwa mit Sätzen wie: "An der Spitze der Sozialstaatsreformen steht die psychische Befähigung der Bevölkerung zu Eigenverantwortung und sozialer Mündigkeit." So bleibt der Essay am Ende doch vor allem ein Sampler der schon bekannten Miegelschen Sozialstaatsideen. Interessanter wäre es gewesen, die kulturellen Veränderungen, die eine alternde, verlangsamte Gesellschaft mit sich bringt, noch weiter gedanklich durchzuspielen.
      Avatar
      schrieb am 16.05.02 19:24:04
      Beitrag Nr. 15 ()
      Welche Wohltat, Danke Nasdaq!
      Die Menschen haben Angst vor Wahrheiten und wenn die Bücher noch so gut geschrieben sind, sie finden schwer Käufer. Dabei gehört der Miegel auf die Bestsellerliste.
      Man kann nur hoffen, daß noch einige aufwachen.
      Avatar
      schrieb am 25.05.02 10:33:06
      Beitrag Nr. 16 ()
      Zehn Schritte zum Wohlstand

      Wir müssen viel mehr investieren: In Bildung, Forschung und Technologie. Aber wir werden auch verzichten müssen: Auf Privilegien, Besitzstände und Gewohnheiten. Und wir müssen politisch wieder handlungsfähig werden - durch eine Verfassungsreform. Ein Konvent aus den 30 klügsten Köpfen des Landes sollte sie erarbeiten

      Von Roland Berger



      Deutschland - Tabellenletzter beim Wirtschaftswachstum in Europa, Tabellenerster bei den Sozialabgaben - und dies seit Jahren. Ein weiterer Abstieg droht. Die größte und einst dynamischste Wirtschaft Europas hat ihre Lokomotivfunktion für Europa und die Welt verloren. Sie ist nicht einmal mehr in der Lage, die Wohlstandserwartungen ihrer eigenen Bürger - Jung wie Alt - zu erfüllen.

      Wäre Deutschlands Wirtschaft genauso gewachsen wie die der USA, hätte jeder von uns heute 4500 Euro pro Jahr mehr in der Tasche, und unsere Kaufkraft wäre gegenüber der der amerikanischen Bürger im letzten Jahrzehnt nicht um zehn Prozent gesunken.

      Der seit Mitte der siebziger Jahre schleichende, sich heute aber beschleunigende Verlust der globalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist im Wesentlichen in einer falschen Zuteilung volkswirtschaftlicher Kapital- und Humanressourcen begründet: Wir konzentrieren uns auf den Erhalt des Status quo - ohne diesen wirklich absichern zu können. Unsere Wettbewerber dagegen verwenden ihre Ressourcen auf die Steigerung von Innovation, Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand.

      Notwendiger Strukturwandel

      Zwar schlagen die Belastungen der Wiedervereinigung bei uns negativ zu Buche - pro Jahr werden 4,5 Prozent der westdeutschen Wirtschaftsleistung in die neuen Länder transferiert. Doch Hauptgrund für die Wachstums- und Wettbewerbsschwäche des Wirtschaftsstandorts Deutschland sind zehn strukturelle Schwächen der Wirtschaft Westdeutschlands:

      1. Der notwendige Strukturwandel von der klassischen Industriegesellschaft zur wissensbasierten Dienstleistungswirtschaft wird künstlich gebremst. Wir subventionieren überholte Wirtschaftszweige mit 1,93 Prozent unseres Bruttoinlandproduktes (BIP), die USA mit lediglich 0,43 Prozent. Die niedrige Quote an Dienstleistungsbeschäftigung - gleich, ob hoch qualifiziert oder einfach -, unser niedriger Weltmarktanteil in Hochtechnologien sowie die hohe Kapitalintensität traditioneller industrieller Produktion sind Hauptgründe für die hohe Beschäftigungsschwelle hierzulande: Neue Arbeit entsteht erst ab 2,4 Prozent Wirtschaftswachstum jährlich, in den USA dagegen schon bei 0,5 Prozent.

      2. Unsere Staatsquote von 48 Prozent ist zu hoch. Der Staat verteilt zu viel um, und er ist noch zu stark als Unternehmer tätig. In den USA, wo die Staatsquote nur 29,6 Prozent des BIP erreicht, sind die Potenziale für Innovation, Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand höher als in Deutschland.

      3. Die Kosten für den Wohlfahrtsstaat sind zu hoch. Sie übersteigen mit 32,1 Prozent des BIP sowohl den europäischen Durchschnitt (26,6 Prozent) und erst recht den der USA (19,9 Prozent) deutlich. Die Konsequenz: Eine immens hohe Steuer- und vor allem Sozialabgabenlast von 41,3 Prozent der Bruttolöhne. Dadurch verliert der Faktor Arbeit an Wettbewerbsfähigkeit. In der Folge steigt die strukturelle Arbeitslosigkeit seit den siebziger Jahren kontinuierlich - von damals 0,7 Prozent auf heute gut 8,5 Prozent.

      4. Die Überregulierung unseres Arbeitsmarkts verhindert Beschäftigung. Diese Überregulierung nimmt sogar noch zu, obwohl eine wissensbasierte High-Tech- und Dienstleistungswirtschaft das Gegenteil brauchte - mehr Flexibilität. Da Unternehmen auf strukturelle Veränderungen und wechselnde Wirtschaftszyklen nicht durch flexible und bezahlbare inhaltliche, zeitliche, finanzielle und vertragliche Anpassungen von Arbeitsverhältnissen reagieren können, verzichten sie lieber ganz auf Einstellungen. Dagegen wächst die Schattenwirtschaft, die heute schon 16,5 Prozent unseres BIP oder 340 Milliarden Euro ausmacht und in der zwischen 7 und 10 Millionen Menschen Arbeit finden, ohne Steuern und Sozialabgaben zu zahlen.

      5. Bürokratie und Schutzmechanismen behindern das Wirtschaftswachstum. Eine einfache Unternehmensgründung, die in England sechs Stunden dauert, benötigt in Deutschland sechs Wochen. Zunftartige Berufsordnungen reglementieren zudem den Zugang zu weiten Teilen des Handwerks, der freien Berufe und der Dienstleistungen. Dieses Überreglement verursacht enorme Bürokratiekosten, vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, und behindert innovative Anbieter, die Keimzellen zukünftigen Wachstums.

      6. Deutschland liegt bei der Selbstständigenquote zurück. Selbst nach dem Gründerboom der New Economy haben wir nur einen Selbstständigenanteil von 10,3 Prozent, in der EU sind es dagegen 14,1 Prozent. Jeder Selbstständige schafft hierzulande im Durchschnitt drei Arbeitsplätze. Hätten wir eine Selbstständigenquote wie im EU-Durchschnitt, brächte sie beinahe 4 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze - wir hätten also Vollbeschäftigung.

      7. Bildungsinvestitionen und Bildungssystem in Deutschland sind rückständig. Während Frankreich 6,1 Prozent seines BIP und die USA gar 7,2 Prozent in die Bildung und damit die Basis der Zukunft investieren, wenden wir Deutschen nur 4,4 Prozent dafür auf. Die USA, Frankreich und Großbritannien fördern systematisch ihre Eliten, Deutschland nicht. Von den 370 Ausbildungsberufen im dualen System sind nur noch 40 aktuell, während es für Informatik, Biotechnologie und andere neue Wirtschaftszweige an Ausbildungsberufen fehlt. Pisa lässt grüßen!

      8. Kapitalinvestitionen und Kapitalproduktivität sind zu gering. Im Jahr 2001 wurden in Deutschland pro Kopf 4240 Euro investiert, in den USA dagegen 7680 Euro. Besonders erschreckend ist der Rückstand bei den Investitionen in die Informationstechnologien: Hier geben die Deutschen nur 1170 Euro pro Kopf aus, die Amerikaner 2080 Euro. Außerdem ist die Kapitalproduktivität in den USA etwa doppelt so hoch wie in Deutschland, weil hierzulande - tariflohnbedingt - überwiegend investiert wurde, um Arbeit durch Kapital zu ersetzen und die Arbeitsproduktivität zu steigern.

      9. Zu wenig Geld geht in Forschung und Entwicklung. Nur noch 2,4 Prozent des BIP wenden wir dafür auf, im Vergleich zu 2,8 Prozent in den USA, 3,4 Prozent in Finnland und 3,7 Prozent in Schweden.

      10. Die deutschen Kapitalmärkte sind wenig effektiv. Die klassische Finanzierung von Zukunftstechnologien, das Venture-Capital, spielt in Deutschland eine nur marginale Rolle: Von den weltweit 142 Milliarden Euro wurden nur 3,5 Prozent in Deutschland investiert - 73,2 Prozent dagegen in den USA.

      Aber auch die Marktkapitalisierung der börsennotierten Unternehmen in Deutschland erreichte Ende 2001 gerade 65,0 Prozent des BIP, in den USA 127,4 Prozent. Die Gründe unter anderem: neben dem noch vorherrschenden Herr-im-Haus-Standpunkt der meisten deutschen Mittelständler auch das staatliche Rentensystem. In Deutschland können private Pensionsfonds nur 15 Prozent des BIP in den Kapitalmarkt investieren (USA 78 Prozent). Deutsche Unternehmen sind deshalb deutlich stärker durch Übernahmen aus dem Ausland bedroht als umgekehrt.

      Es gibt also klare Gründe für das Abrutschen Deutschlands ins globale Mittelmaß mit negativen Folgen für den Wohlstand unseres Gemeinwesens. Bei diesen Ursachen muss deshalb die Therapie ansetzen. Zum einen gilt es, gewohnte Traditionen, Besitzstände, Verhaltensmuster, Institutionen und Organisationsmodelle, aber auch politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse auf den Prüfstand zu stellen. Zum anderen müssen wir unsere Kapital- und Humanressourcen anders zuteilen als bisher. Statt den Status quo zu alimentieren, sollten wir alle Mittel und Kräfte auf die Zukunft konzentrieren, nämlich auf Ausbildung, Forschung, Entwicklung, Infrastruktur und Investitionen. Das heißt:

      1. Neuausrichtung des Bildungssystems und Anhebung der Bildungsinvestitionen von 4,4 Prozent des BIP auf 7 Prozent. Im Einzelnen: Vorschulausbildung in Kulturfähigkeiten wie Lesen, Rechnen, Sprachen; in Schulen und Universitäten eine Entspezialisierung und Umstrukturierung der Ausbildungsinhalte zugunsten von Kommunikationsfähigkeiten, Internationalität und neuen Technologien; Förderung von Leistungswettbewerb zwischen Ausbildungsinstitutionen und Ausbildern; Einstieg in die Elitenförderung; Entrümpelung und Innovation des dualen Ausbildungssystems; systematische Einführung einer lebenslangen Weiterbildung für alle. Um das zu erreichen, müssen sich Bund, Länder, Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften zu einer Initiative für Wissen zusammentun.

      2. Neustrukturierung und Steigerung der Innovationsinvestitionen auf 3,3 Prozent des BIP sowie deren Ausrichtung auf Hochtechnologien, strategische Forschung, Querschnittstechnologien und wissensbasierte Dienstleistungen. Denn nur überlegene Innovation sichert als "Innovationsrente" unseren Wohlstand im weltweiten Wettbewerb. Im Rahmen einer Initiative für Innovation zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik müssen zum einen diese Zusatzaufwendungen erbracht und zum anderen die Transfers von der Forschung in die Entwicklung und von der Entwicklung auf den Markt verbessert werden. Es darf nicht mehr passieren, dass Erfindungen wie Computer, Faxgerät und Internet in Europa entwickelt, aber von Amerika in Markterfolge umgesetzt werden.

      3. Beschleunigung des wirtschaftlichen Strukturwandels zur wissensbasierten High-Tech- und Dienstleistungsgesellschaft zwecks Stärkung des Wirtschaftswachstums. Dies wird einmal ein Ergebnis der schon genannten Initiative für Wissen sein. Hinzu kommen muss aber die Förderung von Gründern innovativer Technologie- und Dienstleistungsunternehmen durch entsprechende Ausbildungsmaßnahmen, Finanzierungs- und Steuererleichterungen und last, but not least durch das Entstehen von branchen- und technologiespezifischen "Clustern" - Netzwerken zwischen Wissenschaft und Forschung, Unternehmen aller Wertschöpfungsstufen, Venture-Capital-Gebern und unternehmensnahen Dienstleistern. Wenn Bund, Länder, Kommunen und Wissenschaft solch ein Programm bundesweit anstoßen, lassen sich die gewünschten Effekte schnell erzielen, wie gelungene Initiativen in den USA, Israel und anderen Ländern, aber auch in Deutschland, beweisen.

      Gesellschaftliche Solidarität

      Die ersten drei genannten Maßnahmen des Programms kosten rund sechs Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts - wo sie herkommen können, zeigen die nächsten vier Vorschläge.

      4. Mehr Markt, weniger Staat durch Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung von Märkten. Das betrifft heute noch weitgehend staatliche Unternehmen für Finanzdienste, Energie, Verkehr, sonstige Infrastrukturdienste, also über 100 000 öffentliche Unternehmen in Bundes-, Landes- und Kommunaleigentum. Ergebnis wäre eine außergewöhnliche Dynamik durch mehr Innovation, eine Verbilligung des Angebots, die Ankurbelung des Konsums und somit mehr Wachstum und Beschäftigung.

      5. Reform der sozialen Sicherungssysteme und des Gesundheitssystems. Ziel ist es, die ausufernden Kosten in diesem Bereich zu reduzieren, aber gleichzeitig das kontinentaleuropäische Modell der sozialen Marktwirtschaft, zu der eine entsprechende Sozialpolitik gehört, zu bewahren: Auch in Zukunft muss gesellschaftliche Solidarität den Einzelnen gegen existenzielle Risiken absichern und den Verlierern des Strukturwandels helfen, sich in neue Wirtschaftsstrukturen als Beschäftigte einzugliedern. Erforderlich ist jedoch die Konzentration auf Grundleistungen, während Zusatzleistungen der privaten Eigenvorsorge vorzubehalten sind. Der Staat gibt dafür den Rahmen vor, reguliert und kontrolliert das Sozialangebot.

      Dadurch allein können die für die Zukunftsinvestitionen notwendigen sechs Prozentpunkte des BIP über die Jahre eingespart werden, ohne dass in unserer Sozialpolitik die berühmt-berüchtigten "amerikanischen Verhältnisse" eintreten. Gleichzeitig würde unseren Kapitalmärkten eine erhebliche Zusatzliquidität an privaten Ersparnissen zufließen, die sie wettbewerbsfähiger machen würden.

      6. Infrastruktur, wo immer sinnvoll und notwendig, privat finanzieren und betreiben. Damit beschleunigen wir den notwendigen Aufbau einer zukunftsfähigen Infrastruktur - denn Zeit ist Geld; Innovationskraft und Produktivität der Wirtschaft sowie Lebensqualität der Bürger wachsen schneller. Gleichzeitig werden öffentliche Haushalte entlastet. Schließlich sorgt der Wettbewerb für eine Verbilligung von Infrastrukturleistungen. Entscheidend ist, dass jeder Bürger durch staatliche Garantie einen diskriminierungsfreien Zugang zu Infrastrukturleistungen in gesicherter Qualität und zu akzeptablem Preis erhält.

      7. Solide Fiskalpolitik sowie niedrigere, transparente und gerechte Steuersätze: Rückzug des Staates aus Wirtschaftstätigkeiten, Reform der sozialen Sicherungs- und Gesundheitssysteme, Privatisierung von Infrastruk-turleistungen und Bürokratieabbau entlasten die öffentlichen Haushalte so weit, dass sowohl ein Abbau der Staatsschulden wie auch ein Absenken der Steuersätze möglich wird.

      8. Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Dazu gehören die Öffnung der Flächentarifverträge und die Legalisierung betrieblicher Tarifvereinbarungen, insbesondere in Ostdeutschland. Nötig ist weiter ein liberales Kündigungsschutzgesetz, die Abschaffung des Scheinselbstständigkeitsgesetzes, die Liberalisierung befristeter Arbeitnehmerverträge sowie die Entbürokratisierung und finanzielle Entlastung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse. Schließlich muss der Niedriglohnsektor gefördert werden. Dazu gehört dreierlei: Mindestlöhne, die in Einklang mit der Produktivität der jeweiligen Arbeit stehen; die Reduzierung von Arbeitslosen- und Sozialleistungen, die heute die Anreize zur Aufnahme von Arbeit verhindern; zusätzliche öffentliche Einkommenshilfen, die für die Betroffenen deren Reintegration in den Arbeitsmarkt fördern und lohnend machen.

      9. Abbau von Bürokratie und lähmenden Regulierungen. Dazu bedarf es eines Paradigmenwechsels, der - im Gegensatz zum jetzigen Zustand - Risikoübernahme wieder privatisiert, statt Risikofolgen dem Staat anzulasten.

      10. Ein Aufbauprogramm für Ostdeutschland durch regionale Technologie- und Wachstumszentren statt Förderung nach dem Gießkannenprinzip wie bisher. Zuerst gilt es, den Dschungel an Förderleistungen für die neuen Bundesländer radikal zu lichten. Gleichzeitig ist es notwendig, ein an den lokalen Stärken angepasstes Programm zum Aufbau technologie- und branchenzentrierter Wirtschaftscluster zwischen Bund, ostdeutschen Ländern und Kommunen umzusetzen.

      Brauchen wir 16 Länder?

      Mit dem genannten 10-Punkte-Programm wird Deutschland wieder in die Spitzengruppe der globalen Wirtschaftsnationen vorstoßen. Wie aber lassen sich diese Maßnahmen durchsetzen in einer Gesellschaft, die keinem, der die Aufgabe von Besitzständen fordert, eine regierungsfähige Mehrheit ermöglicht? Hier gilt es, die politischen Entscheidungsprozesse zu reformieren. Paragraf 146 Grundgesetz könnte einen Ansatz bieten: Er besagt, dass die deutsche Verfassung erneuert werden kann und danach das Volk darüber entscheidet.

      Die nächste Bundesregierung sollte - parallel zum europäischen Verfassungskonvent - einen "deutschen Konvent" einberufen, bestehend aus den 30 klügsten Köpfen des Landes, der Maßnahmen zur Erneuerung unserer politischen Entscheidungsprozesse vorschlägt.

      Natürlich ist das Grundgesetz von 1948 mit seinen gewiss klugen "checks and balances" zustande gekommen, um ein neues Weimar und einen neuen Hitler für alle Zeiten auszuschließen. Aber ist die Zeit nicht reif, über unsere politischen Entscheidungsprozesse nachzudenken - nach fast 60 Jahren stabiler Demokratie in Deutschland?

      Müssen wir ein Verhältniswahlrecht haben, das immer nur (Kompromiss-)Koalitionen ermöglicht? Brauchen wir 16 Bundesländer? Muss in Deutschland alle drei Monate eine Wahl stattfinden, was zur Folge hat, dass riesige Parteiapparate Machtmonopole halten und, weil sie permanent Wahlkampf führen, entsprechende Summen verschlingen?

      Stimmt die Arbeitsteilung zwischen Bundestag und Bundesrat noch? Ist der Länderfinanzausgleich noch zeitgemäß? Muss es eine Kultusministerkonferenz geben? Stimmt die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern angesichts der EU noch? Wie viel seines Erarbeiteten darf dem Bürger vom Staat genommen werden?

      Diese Fragen ließen sich beliebig fortsetzen. Ich bin sicher, die Empfehlungen eines solchen - nun auch von Edmund Stoiber geforderten - "deutschen Konvents", die binnen sechs Monaten vorliegen könnten, würden der Politik wieder die Handlungsmöglichkeit zurückgeben, die wir an ihr so schmerzlich vermissen. An uns läge es dann, die entsprechend handlungsfähigen Politiker zu wählen.
      Avatar
      schrieb am 25.05.02 21:19:16
      Beitrag Nr. 17 ()
      So ist`s lesbarer

      Thema: Armes Deutschland: Grosse Ansprüche - wenig Leistung
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      Zehn Schritte zum Wohlstand

      Wir müssen viel mehr investieren: In Bildung, Forschung und Technologie. Aber wir werden auch verzichten müssen: Auf Privilegien, Besitzstände und Gewohnheiten. Und wir müssen politisch wieder handlungsfähig werden - durch eine Verfassungsreform. Ein Konvent aus den 30 klügsten Köpfen des Landes sollte sie erarbeiten

      Von Roland Berger

      Deutschland - Tabellenletzter beim Wirtschaftswachstum in Europa, Tabellenerster bei den Sozialabgaben - und dies seit Jahren. Ein weiterer Abstieg droht. Die größte und einst dynamischste Wirtschaft Europas hat ihre Lokomotivfunktion für Europa und die Welt verloren. Sie ist nicht einmal mehr in der Lage, die Wohlstandserwartungen ihrer eigenen Bürger - Jung wie Alt - zu erfüllen.

      Wäre Deutschlands Wirtschaft genauso gewachsen wie die der USA, hätte jeder von uns heute 4500 Euro pro Jahr mehr in der Tasche, und unsere Kaufkraft wäre gegenüber der der amerikanischen Bürger im letzten Jahrzehnt nicht um zehn Prozent gesunken.

      Der seit Mitte der siebziger Jahre schleichende, sich heute aber beschleunigende Verlust der globalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands
      ist im Wesentlichen in einer falschen Zuteilung volkswirtschaftlicher Kapital- und Humanressourcen begründet: Wir konzentrieren uns auf den Erhalt des Status quo - ohne diesen wirklich absichern zu können. Unsere Wettbewerber dagegen verwenden ihre Ressourcen auf die Steigerung von Innovation, Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand.

      Notwendiger Strukturwandel

      Zwar schlagen die Belastungen der Wiedervereinigung bei uns negativ zu Buche - pro Jahr werden 4,5 Prozent der westdeutschen Wirtschaftsleistung in die neuen Länder transferiert. Doch Hauptgrund für die Wachstums- und Wettbewerbsschwäche des Wirtschaftsstandorts Deutschland sind zehn strukturelle Schwächen der Wirtschaft Westdeutschlands:

      1. Der notwendige Strukturwandel von der klassischen Industriegesellschaft zur wissensbasierten Dienstleistungswirtschaft wird künstlich gebremst. Wir subventionieren überholte Wirtschaftszweige mit 1,93 Prozent unseres Bruttoinlandproduktes (BIP), die USA mit lediglich 0,43 Prozent. Die niedrige Quote an Dienstleistungsbeschäftigung - gleich, ob hoch qualifiziert oder einfach -, unser niedriger Weltmarktanteil in Hochtechnologien sowie die hohe Kapitalintensität traditioneller industrieller Produktion sind Hauptgründe für die hohe Beschäftigungsschwelle hierzulande: Neue Arbeit entsteht erst ab 2,4 Prozent Wirtschaftswachstum jährlich, in den USA dagegen schon bei 0,5 Prozent.

      2. Unsere Staatsquote von 48 Prozent ist zu hoch. Der Staat verteilt zu viel um, und er ist noch zu stark als Unternehmer tätig. In den USA, wo die Staatsquote nur 29,6 Prozent des BIP erreicht, sind die Potenziale für Innovation, Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand höher als in Deutschland.

      3. Die Kosten für den Wohlfahrtsstaat sind zu hoch. Sie übersteigen mit 32,1 Prozent des BIP sowohl den europäischen Durchschnitt (26,6 Prozent) und erst recht den der USA (19,9 Prozent) deutlich. Die Konsequenz: Eine immens hohe Steuer- und vor allem Sozialabgabenlast von 41,3 Prozent der Bruttolöhne. Dadurch verliert der Faktor Arbeit an Wettbewerbsfähigkeit. In der Folge steigt die strukturelle Arbeitslosigkeit seit den siebziger Jahren kontinuierlich - von damals 0,7 Prozent auf heute gut 8,5 Prozent.

      4. Die Überregulierung unseres Arbeitsmarktsverhindert Beschäftigung. Diese Überregulierung nimmt sogar noch zu, obwohl eine wissensbasierte High-Tech- und Dienstleistungswirtschaft das Gegenteil brauchte - mehr Flexibilität. Da Unternehmen auf strukturelle Veränderungen und wechselnde Wirtschaftszyklen nicht durch flexible und bezahlbare inhaltliche, zeitliche, finanzielle und vertragliche Anpassungen von Arbeitsverhältnissen reagieren können, verzichten sie lieber ganz auf Einstellungen. Dagegen wächst die Schattenwirtschaft, die heute schon 16,5 Prozent unseres BIP oder 340 Milliarden Euro ausmacht und in der zwischen 7 und 10 Millionen Menschen Arbeit finden, ohne Steuern und Sozialabgaben zu zahlen.

      5. Bürokratie und Schutzmechanismen behindern das Wirtschaftswachstum. Eine einfache Unternehmensgründung, die in England sechs Stunden dauert, benötigt in Deutschland sechs Wochen. Zunftartige Berufsordnungen reglementieren zudem den Zugang zu weiten Teilen des Handwerks, der freien Berufe und der Dienstleistungen. Dieses Überreglement verursacht enorme Bürokratiekosten, vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, und behindert innovative Anbieter, die Keimzellen zukünftigen Wachstums.

      6. Deutschland liegt bei der Selbstständigenquote zurück. Selbst nach dem Gründerboom der New Economy haben wir nur einen Selbstständigenanteil von 10,3 Prozent, in der EU sind es dagegen 14,1 Prozent. Jeder Selbstständige schafft hierzulande im Durchschnitt drei Arbeitsplätze. Hätten wir eine Selbstständigenquote wie im EU-Durchschnitt, brächte sie beinahe 4 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze - wir hätten also Vollbeschäftigung.

      7. Bildungsinvestitionen und Bildungssystem in Deutschland sind rückständig. Während Frankreich 6,1 Prozent seines BIP und die USA gar 7,2 Prozent in die Bildung und damit die Basis der Zukunft investieren, wenden wir Deutschen nur 4,4 Prozent dafür auf. Die USA, Frankreich und Großbritannien fördern systematisch ihre Eliten, Deutschland nicht. Von den 370 Ausbildungsberufen im dualen System sind nur noch 40 aktuell, während es für Informatik, Biotechnologie und andere neue Wirtschaftszweige an Ausbildungsberufen fehlt. Pisa lässt grüßen!

      8. Kapitalinvestitionen und Kapitalproduktivität sind zu gering. Im Jahr 2001 wurden in Deutschland pro Kopf 4240 Euro investiert, in den USA dagegen 7680 Euro. Besonders erschreckend ist der Rückstand bei den Investitionen in die Informationstechnologien: Hier geben die Deutschen nur 1170 Euro pro Kopf aus, die Amerikaner 2080 Euro. Außerdem ist die Kapitalproduktivität in den USA etwa doppelt so hoch wie in Deutschland, weil hierzulande - tariflohnbedingt - überwiegend investiert wurde, um Arbeit durch Kapital zu ersetzen und die Arbeitsproduktivität zu steigern.

      9. Zu wenig Geld geht in Forschung und Entwicklung. Nur noch 2,4 Prozent des BIP wenden wir dafür auf, im Vergleich zu 2,8 Prozent in den USA, 3,4 Prozent in Finnland und 3,7 Prozent in Schweden.

      10. Die deutschen Kapitalmärkte sind wenig effektiv. Die klassische Finanzierung von Zukunftstechnologien, das Venture-Capital, spielt in Deutschland eine nur marginale Rolle: Von den weltweit 142 Milliarden Euro wurden nur 3,5 Prozent in Deutschland investiert - 73,2 Prozent dagegen in den USA.

      Aber auch die Marktkapitalisierung der börsennotierten Unternehmen in Deutschland erreichte Ende 2001 gerade 65,0 Prozent des BIP, in den USA 127,4 Prozent. Die Gründe unter anderem: neben dem noch vorherrschenden Herr-im-Haus-Standpunkt der meisten deutschen Mittelständler auch das staatliche Rentensystem. In Deutschland können private Pensionsfonds nur 15 Prozent des BIP in den Kapitalmarkt investieren (USA 78 Prozent). Deutsche Unternehmen sind deshalb deutlich stärker durch Übernahmen aus dem Ausland bedroht als umgekehrt.

      Es gibt also klare Gründe für das Abrutschen Deutschlands ins globale Mittelmaß mit negativen Folgen für den Wohlstand unseres Gemeinwesens. Bei diesen Ursachen muss deshalb die Therapie ansetzen. Zum einen gilt es, gewohnte Traditionen, Besitzstände, Verhaltensmuster, Institutionen und Organisationsmodelle, aber auch politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse auf den Prüfstand zu stellen. Zum anderen müssen wir unsere Kapital- und Humanressourcen anders zuteilen als bisher. Statt den Status quo zu alimentieren, sollten wir alle Mittel und Kräfte auf die Zukunft konzentrieren, nämlich auf Ausbildung, Forschung, Entwicklung, Infrastruktur und Investitionen. Das heißt:

      1. Neuausrichtung des Bildungssystems und Anhebung der Bildungsinvestitionen von 4,4 Prozent des BIP auf 7 Prozent. Im Einzelnen: Vorschulausbildung in Kulturfähigkeiten wie Lesen, Rechnen, Sprachen; in Schulen und Universitäten eine Entspezialisierung und Umstrukturierung der Ausbildungsinhalte zugunsten von Kommunikationsfähigkeiten, Internationalität und neuen Technologien; Förderung von Leistungswettbewerb zwischen Ausbildungsinstitutionen und Ausbildern; Einstieg in die Elitenförderung; Entrümpelung und Innovation des dualen Ausbildungssystems; systematische Einführung einer lebenslangen Weiterbildung für alle. Um das zu erreichen, müssen sich Bund, Länder, Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften zu einer Initiative für Wissen zusammentun.

      2. Neustrukturierung und Steigerung der Innovationsinvestitionen auf 3,3 Prozent des BIP sowie deren Ausrichtung auf Hochtechnologien, strategische Forschung, Querschnittstechnologien und wissensbasierte Dienstleistungen. Denn nur überlegene Innovation sichert als "Innovationsrente" unseren Wohlstand im weltweiten Wettbewerb. Im Rahmen einer Initiative für Innovation zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik müssen zum einen diese Zusatzaufwendungen erbracht und zum anderen die Transfers von der Forschung in die Entwicklung und von der Entwicklung auf den Markt verbessert werden. Es darf nicht mehr passieren, dass Erfindungen wie Computer, Faxgerät und Internet in Europa entwickelt, aber von Amerika in Markterfolge umgesetzt werden.

      3. Beschleunigung des wirtschaftlichen Strukturwandels zur wissensbasierten High-Tech- und Dienstleistungsgesellschaft zwecks Stärkung des Wirtschaftswachstums. Dies wird einmal ein Ergebnis der schon genannten Initiative für Wissen sein. Hinzu kommen muss aber die Förderung von Gründern innovativer Technologie- und Dienstleistungsunternehmen durch entsprechende Ausbildungsmaßnahmen, Finanzierungs- und Steuererleichterungen und last, but not least durch das Entstehen von branchen- und technologiespezifischen "Clustern" - Netzwerken zwischen Wissenschaft und Forschung, Unternehmen aller Wertschöpfungsstufen, Venture-Capital-Gebern und unternehmensnahen Dienstleistern. Wenn Bund, Länder, Kommunen und Wissenschaft solch ein Programm bundesweit anstoßen, lassen sich die gewünschten Effekte schnell erzielen, wie gelungene Initiativen in den USA, Israel und anderen Ländern, aber auch in Deutschland, beweisen.

      Gesellschaftliche Solidarität

      Die ersten drei genannten Maßnahmen des Programms kosten rund sechs Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts - wo sie herkommen können, zeigen die nächsten vier Vorschläge.

      4. Mehr Markt, weniger Staat durch Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung von Märkten. Das betrifft heute noch weitgehend staatliche Unternehmen für Finanzdienste, Energie, Verkehr, sonstige Infrastrukturdienste, also über 100 000 öffentliche Unternehmen in Bundes-, Landes- und Kommunaleigentum. Ergebnis wäre eine außergewöhnliche Dynamik durch mehr Innovation, eine Verbilligung des Angebots, die Ankurbelung des Konsums und somit mehr Wachstum und Beschäftigung.

      5. Reform der sozialen Sicherungssysteme und des Gesundheitssystems. Ziel ist es, die ausufernden Kosten in diesem Bereich zu reduzieren, aber gleichzeitig das kontinentaleuropäische Modell der sozialen Marktwirtschaft, zu der eine entsprechende Sozialpolitik gehört, zu bewahren: Auch in Zukunft muss gesellschaftliche Solidarität den Einzelnen gegen existenzielle Risiken absichern und den Verlierern des Strukturwandels helfen, sich in neue Wirtschaftsstrukturen als Beschäftigte einzugliedern. Erforderlich ist jedoch die Konzentration auf Grundleistungen, während Zusatzleistungen der privaten Eigenvorsorge vorzubehalten sind. Der Staat gibt dafür den Rahmen vor, reguliert und kontrolliert das Sozialangebot.

      Dadurch allein können die für die Zukunftsinvestitionen notwendigen sechs Prozentpunkte des BIP über die Jahre eingespart werden, ohne dass in unserer Sozialpolitik die berühmt-berüchtigten "amerikanischen Verhältnisse" eintreten. Gleichzeitig würde unseren Kapitalmärkten eine erhebliche Zusatzliquidität an privaten Ersparnissen zufließen, die sie wettbewerbsfähiger machen würden.

      6. Infrastruktur, wo immer sinnvoll und notwendig, privat finanzieren und betreiben. Damit beschleunigen wir den notwendigen Aufbau einer zukunftsfähigen Infrastruktur - denn Zeit ist Geld; Innovationskraft und Produktivität der Wirtschaft sowie Lebensqualität der Bürger wachsen schneller. Gleichzeitig werden öffentliche Haushalte entlastet. Schließlich sorgt der Wettbewerb für eine Verbilligung von Infrastrukturleistungen. Entscheidend ist, dass jeder Bürger durch staatliche Garantie einen diskriminierungsfreien Zugang zu Infrastrukturleistungen in gesicherter Qualität und zu akzeptablem Preis erhält.

      7. Solide Fiskalpolitik sowie niedrigere, transparente und gerechte Steuersätze: Rückzug des Staates aus Wirtschaftstätigkeiten, Reform der sozialen Sicherungs- und Gesundheitssysteme, Privatisierung von Infrastruk-turleistungen und Bürokratieabbau entlasten die öffentlichen Haushalte so weit, dass sowohl ein Abbau der Staatsschulden wie auch ein Absenken der Steuersätze möglich wird.

      8. Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Dazu gehören die Öffnung der Flächentarifverträge und die Legalisierung betrieblicher Tarifvereinbarungen, insbesondere in Ostdeutschland. Nötig ist weiter ein liberales Kündigungsschutzgesetz, die Abschaffung des Scheinselbstständigkeitsgesetzes, die Liberalisierung befristeter Arbeitnehmerverträge sowie die Entbürokratisierung und finanzielle Entlastung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse. Schließlich muss der Niedriglohnsektor gefördert werden. Dazu gehört dreierlei: Mindestlöhne, die in Einklang mit der Produktivität der jeweiligen Arbeit stehen; die Reduzierung von Arbeitslosen- und Sozialleistungen, die heute die Anreize zur Aufnahme von Arbeit verhindern; zusätzliche öffentliche Einkommenshilfen, die für die Betroffenen deren Reintegration in den Arbeitsmarkt fördern und lohnend machen.

      9. Abbau von Bürokratie und lähmenden Regulierungen. Dazu bedarf es eines Paradigmenwechsels, der - im Gegensatz zum jetzigen Zustand - Risikoübernahme wieder privatisiert, statt Risikofolgen dem Staat anzulasten.

      10. Ein Aufbauprogramm für Ostdeutschland durch regionale Technologie- und Wachstumszentren statt Förderung nach dem Gießkannenprinzip wie bisher. Zuerst gilt es, den Dschungel an Förderleistungen für die neuen Bundesländer radikal zu lichten. Gleichzeitig ist es notwendig, ein an den lokalen Stärken angepasstes Programm zum Aufbau technologie- und branchenzentrierter Wirtschaftscluster zwischen Bund, ostdeutschen Ländern und Kommunen umzusetzen.

      Brauchen wir 16 Länder?

      Mit dem genannten 10-Punkte-Programm wird Deutschland wieder in die Spitzengruppe der globalen Wirtschaftsnationen vorstoßen. Wie aber lassen sich diese Maßnahmen durchsetzen in einer Gesellschaft, die keinem, der die Aufgabe von Besitzständen fordert, eine regierungsfähige Mehrheit ermöglicht? Hier gilt es, die politischen Entscheidungsprozesse zu reformieren. Paragraf 146 Grundgesetz könnte einen Ansatz bieten: Er besagt, dass die deutsche Verfassung erneuert werden kann und danach das Volk darüber entscheidet.

      Die nächste Bundesregierung sollte - parallel zum europäischen Verfassungskonvent - einen "deutschen Konvent" einberufen, bestehend aus den 30 klügsten Köpfen des Landes, der Maßnahmen zur Erneuerung unserer politischen Entscheidungsprozesse vorschlägt.

      Natürlich ist das Grundgesetz von 1948 mit seinen gewiss klugen "checks and balances" zustande gekommen, um ein neues Weimar und einen neuen Hitler für alle Zeiten auszuschließen. Aber ist die Zeit nicht reif, über unsere politischen Entscheidungsprozesse nachzudenken - nach fast 60 Jahren stabiler Demokratie in Deutschland?

      Müssen wir ein Verhältniswahlrecht haben, das immer nur (Kompromiss-)Koalitionen ermöglicht? Brauchen wir 16 Bundesländer? Muss in Deutschland alle drei Monate eine Wahl stattfinden, was zur Folge hat, dass riesige Parteiapparate Machtmonopole halten und, weil sie permanent Wahlkampf führen, entsprechende Summen verschlingen?

      Stimmt die Arbeitsteilung zwischen Bundestag und Bundesrat noch? Ist der Länderfinanzausgleich noch zeitgemäß? Muss es eine Kultusministerkonferenz geben? Stimmt die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern angesichts der EU noch? Wie viel seines Erarbeiteten darf dem Bürger vom Staat genommen werden?

      Diese Fragen ließen sich beliebig fortsetzen. Ich bin sicher, die Empfehlungen eines solchen - nun auch von Edmund Stoiber geforderten - "deutschen Konvents", die binnen sechs Monaten vorliegen könnten, würden der Politik wieder die Handlungsmöglichkeit zurückgeben, die wir an ihr so schmerzlich vermissen. An uns läge es dann, die entsprechend handlungsfähigen Politiker zu wählen.

      http://www.rolandberger.de
      Avatar
      schrieb am 25.05.02 21:58:25
      Beitrag Nr. 18 ()
      Ich stimme dem ja zu, was bisher gesagt wurde. Nur die Konzepte und Vorschläge sind nicht unbedingt neu. Schon seit Jahren wird darüber diskutiert. Bleibt nur die Frage: Wie sollen die Veränderungen durchgeführt werden? Vergeßt nicht, und das halte ich für wichtig, unsere Regierung (egal ob rot oder schwarz) hat mehr den Charakter eines feudalistischen Parteienstaates und da sind Veränderungen nicht gewünscht. Man will man keine Veränderungen - der Besitzstand muß erhalten bleiben. Und das ist das eigentliche Problem. Man kann nur hoffen, daß die Realität die Verantwortlichen zum Handeln zwingt.

      Koalabaer
      Avatar
      schrieb am 25.05.02 22:23:14
      Beitrag Nr. 19 ()
      @koalabaer25
      Richtig, die Konzepte und Vorschläge sind nicht unbedingt neu. Neu ist, daß sie in einem Buch veröffentlicht und dadurch einem breiten Publikum zugängig wurden.
      Ich bin der Meinung, daß noch vor einigen Jahren die Menschen sich entrüstet hätten vor den doch zum Teil gewagten Feststellungen/Theorien. Es sieht fast so aus, als ob ein Teil der Bundesbürger jetzt "reif" ist für Veränderungen, auch für Veränderungen die etwas schmerzhaft sind, d. h. Eingriff nimmt in Besitzstände.
      Avatar
      schrieb am 25.05.02 22:57:18
      Beitrag Nr. 20 ()
      @Linda17
      Ich glaube auf die Reifeprüfung kannst Du getrost noch Jahre, wenn nicht noch länger warten. So schnell geht das nicht. Und schon gar nicht wenn Beamte das sagen haben. Es ist schon erschreckend wenn die Generation Überraschungsei (25 bis 30 Jahre alt) Werte wie Kreativität und Umsetzung als unwichtig einschätzt. Aus der Studie der Boston Consulting Group: Was macht den idealen Job aus? Im Klartext heisst das: risikoaverses arbeiten (man entscheidet nur im kollektiv) bei bester Bezahlung mit viel Freizeit und selbstverständlich unkündbar. Auch wenns provozierend ist, es ist nun mal Realität.
      Ich zitiere aus dem o.g. Interview mit Meinhard Miegel:

      "Dieses Land muss unternehmerfreundlicher werden. Wir sind eine Arbeitnehmergesellschaft geworden, in der 90 Prozent der Bevölkerung sagen: "Wer stellt mich an?" Nur zehn Prozent machen sich Gedanken darüber, wie ein Arbeitsplatz entsteht".
      Avatar
      schrieb am 26.05.02 19:21:42
      Beitrag Nr. 21 ()
      @koalabaer

      Ich meine diese Studie auch kurz gelesen zu haben. Mich hat am meisten überrascht die "Auslandsmüdigkeit" der "Creme de la Creme". Das hätte ich nicht erwartet.

      Das risikoaverse Arbeiten hat doch einen ganz großen Vorteil, der Einzelne kann nicht zur Verantwortung gezogen werden und es entstehen ihm dadurch auch keine Nachteile. Es lebt sich bequem mit dem Team in der Hängematte. Andererseits ist das "Team" für das Unternehmen in gewisser Weise eine anonyme, manövrierfähige Masse, die umsetzt was immer auch gefordert wird, Kritiker werden einfach überstimmt.
      So profitiert einer vom anderen. Individuen verschwimmen im Team und sind namenlose Nobodys und für das Unternehmen nützlich.

      Wie sollen sich junge Menschen Gedanken machen, wie ein Arbeitsplatz entsteht, wenn mehr und mehr die Wirtschaft in Schulen, Lehrplänen ein Mitspracherecht erhält und es nur noch darum geht, was muß ich können, damit ich da und dort arbeiten kann. Dieses "Schmalspurlernen für fit für die Firma xy" verhindert bei den meisten jegliche Kreativität. Sie laufen nur noch den Anforderungen der Unternehmen hinterher. Die eigenen Interessen bleiben auf der Strecke. Und die Wirtschaft/Industrie bekommt das, was sie braucht, stumpfsinnige, teamfähige, abhängige Mitarbeiter.
      Appelliert wird erst dann an die Möglichkeit des "freien Unternehmers" bei Kündigungen und Outsourcing. Da sind dann die Erwartungen in den Einzelnen sehr hoch gesteckt.

      Die "Reifeprüfung" wird sicherlich noch ein/zwei Jahrzehnte auf sich warten lassen, aber angefangen wird heute - hoffe ich jedenfalls.
      Avatar
      schrieb am 26.05.02 19:32:52
      Beitrag Nr. 22 ()
      Hallo Linda17,
      ich bin noch nicht dazu gekommen, Miegels Buch zu lesen, aber ich habe irgendwo gelesen, daß die Auslandsmüdigkeit auf alle Industriegesellschaften zutrifft. Weiter gefasst, erlahmt das Interesse an anderen Ländern fast überall. Fremdsprachenkenntnisse nehmen ab. Man nimmt weniger zur Kenntnis, was in anderen Ländern gedacht oder gelesen wird
      (in den USA sind auf TOP 10 Listen der Bestseller regelmäßig 8 Amerikanische Autoren zu finden, 2 sind meistens aus England) Allg. lesen die Leute immer weniger Zeitung, was die ausführliche Kenntnis anderer Gesellschaften weiter vermindert.
      Ich denke, daß wir mit den Trends bei uns nicht alleine da stehen.

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 26.05.02 23:31:39
      Beitrag Nr. 23 ()
      @Heizkessel
      was die amerikanische "Lesekultur" anbelangt, so glaube ich darf man diese nicht vergleichen. Wenn ich mich recht erinnere, ist es in den letzten Jahren nur einem deutschen Schriftsteller gelungen in Amerika Fuß zu fassen, und das war Schlink mit seinem "Vorleser". Der Erfolg war ihm sicher nach einem Auftritt bei Oprah Winfrey (schreibt man sie so?). Diese Frau bzw. deren Sendung prägte das amerikanische Leseverhalten.
      Schaut man sich unsere Belletristik-Hitlisten an, so sind amerikanische und englische Autoren ebenfalls sehr stark vertreten. Hinzugekommen sind in den letzten Jahren skandinavische Krimi-Autoren. Tatsache ist aber, daß in Deutschland "internationaler" gelesen wird als in den USA.
      Avatar
      schrieb am 27.05.02 14:59:00
      Beitrag Nr. 24 ()
      @Linda 17:
      Die "Reifeprüfung" bezieht sich nicht nur auf die Formel: "Weniger Staat und mehr Freiheit für die Bürger", also daß was Meinhard Miegel unter einer Bürgergesellschaft versteht.
      M.E. muß man auch wieder eine Wertediskussion führen können. In diesem Land reduziert sich diese Diskussion um seiner selbst willen, will heissen: Was kann Ich aus dieser Gesellschaft am meisten rausholen. Mit dieser Einstellung kann man natürlich keine Wertediskussion führen. Der daraus resultierende Werteverlust ist nicht zu übersehen in dieser Gesellschaft. Dazu muß man sich z.B. nur den Umgangston in diesem Board anschauen. Um es anschaulich zu beschreiben: Wenn es den Leuten gut geht rennen sie aus der Kirche, geht es Ihnen schlecht rennen sie in die Kirche. Die Maßnahmen, die Miegel beschreibt, funktionieren nur, wenn wir begreifen, daß wir eine Wertegesellschaft sind und auch dementsprechend handeln. Und das wiederum haben nur sehr wenige begriffen, der Rest hat es entweder micht begriffen, will es nicht wahrhaben, negiert es oder heuchelt vor es verstanden zu haben.


      Koalabaer
      Avatar
      schrieb am 27.05.02 15:11:14
      Beitrag Nr. 25 ()
      @Linda17:

      These: US-Autoren werden in Deutschland deswegen gelesen, weil sie einfach gute (unterhaltsame) Bücher schreiben.

      Dann wäre es doch naheliegend, dass die Amerikaner keine deutschen Autoren lesen (wenn nicht mal deutsche Leser deren Bücher mögen).

      Mir geht es nicht um einen wie auch immer definierten kulturellen Wert der Bücher, sondern um ihren Unterhaltungswert. Der ist schließlich für den Erfolg maßgebend.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 22:17:01
      Beitrag Nr. 26 ()
      Hi Rainer6767 - wie geht`s?
      Das scheint wohl auch der Erfolg der amerikanischen Autoren zu sein, daß sie unterhaltsamer sind als manche deutsche. Evtl. könnte es ja auch daran liegen, daß die amerikanischen Verlage mehr Mut haben und es sich auch leisten können, einen Nobody aufzubauen, der zwar nicht nach zwei/drei Jahren sondern erst nach 10 Jahren das große Geld in die Kassen spült.
      Andererseits gibt es einige USA-Bestseller, die in Deutschland ein Flop waren.
      Den "kulturellen Wert" muß jeder für sich definieren, Hauptsache er liest.


      @koalabär
      Dem kann ich nur voll zustimmen. Ich würde ganz banal sagen, wir haben uns selbst aufgefressen. "Werte" und auch "Sinn" muß vermittelt werden. Ein steiniger Weg, den wir vor uns haben.
      Avatar
      schrieb am 02.06.02 20:12:06
      Beitrag Nr. 27 ()
      CyberWilly, das was Du anregst, deckt doch die BILD bereits ab!
      Avatar
      schrieb am 03.06.02 09:29:15
      Beitrag Nr. 28 ()
      Ich sehe schwarz für Deutschland ! :(:(:(:cry:


      ....................


      BABYLON IN HANAU

      Eine Grundschule mit Kindern aus 26 Nationen

      Wie werden Zähne geputzt? Wie bindet man Schnürsenkel? In der Gebeschusschule in Hanau, wo einst Rudi Völler lernte, wird heute mehr gepaukt als das ABC. Doch der Versuch, Schülern aus 26 Nationen die deutsche Sprache beizubringen, scheitert oft trotz größter Mühe. Von Bruno Schrep

      Schüler und Schülerinnen der Klasse 1 b waren erstmals gemeinsam im Schwimmbad. "Was hat euch am besten gefallen?", fragt die Lehrerin am nächsten Tag. "Ich hab mir gefallen meine Brille, die unter Wasser", radebrecht ein Junge, gestikuliert, sucht aufgeregt nach weiteren Worten. "Mir hat gefallen diese langen Dinger", ruft ein anderer. "Am besten war, wo wir diese großen Jungs nass spritzt", antwortet ein Dritter. Ein Mädchen sagt leise: "Ich schwimmt."



      Unterricht an einer islamischen Grundschule: Nach Stärken statt Schwächen fragen


      "Ihr bildet ja schon richtige kleine Sätze", lobt Klassenlehrerin Karin Mittl. Die Pädagogin weiß, welche unendliche Mühe es viele Kinder kostet, sich überhaupt verständlich zu machen. 5 ihrer 21 Schüler sprechen kaum Deutsch, sind mit den Eltern erst vor Monaten aus ihrer Heimat geflohen. Manche kommen von weit her.

      "Viel schießen gehört", erinnert sich Hammet aus Kabul, der in den letzten Wochen enorm dazugelernt hat. Hala aus Eritrea kann sich sogar noch besser ausdrücken, Olexandr aus Russland dagegen, klein, völlig verschüchtert, ringt verzweifelt um Formulierungen. Und Madina, die sechsjährige Tschetschenin, sitzt nur stumm dabei: "Sie versteht kein Wort", bedauert die Lehrerin.

      In der Gebeschusschule im hessischen Hanau bilden Kinder wie Hammet, Olexandr und Madina keine Ausnahme. Hier, im berüchtigten Lamboy-Viertel im Hanauer Norden, führen täglich 20 Pädagogen, überwiegend Frauen, einen verbissenen Kampf gegen Sprachlosigkeit, Unwissenheit, Analphabetismus.

      Wie eine Trutzburg steht der sandsteingelbe Altbau, benannt nach einem früheren Bürgermeister und fertig gestellt zu Kaiser Wilhelms Zeiten, inmitten einer vom Verfall bedrohten Umgebung.

      Die 300 Schüler kommen aus zwei Asylbewerberheimen in unmittelbarer Nachbarschaft, einer Aussiedlerunterkunft gleich daneben und drei heruntergekommenen Wohnsilos, in denen türkische Einwanderer der zweiten und dritten Generation leben. Auch ein paar alteingesessene Familien, die es nicht gepackt haben, aus dem Viertel fortzuziehen, schicken ihre Kinder hierher - knapp 15 Prozent der Schüler sind Deutsche. Im Schulhof herrscht babylonisches Sprachengewirr.

      "Eine riesige Chance, mehr zu lernen als anderswo", versichert Schulleiterin Anne Stübing, eine Idealistin. Die 54-jährige Frau, klein, drahtig, aktive Hockeyspielerin, stemmt sich mit all ihrer Energie gegen den Verdacht, ihre Schüler seien von vornherein zu künftigen Verlierern bestimmt. 26 Nationen, na und? Die Kinder würden eben spielerisch mit mehreren Sprachen, Sitten und Religionen konfrontiert.

      In der Klasse 4 b funktioniert das. "Was heißt Montag in eurer Muttersprache?", fragt Rektorin Stübing. "Lunedí", ruft Edwiga, die Italienerin. "Ponedeljak", kräht Jasmina aus Bosnien. "Luni", verkündet Cristian aus Rumänien. Die 4 b, die von der Rektorin und ihrer Stellvertreterin betreut wird, ist die Vorzeigeklasse der Gebeschusschule. Die Kinder hier können vieles, was die Kinder in den anderen Klassen nicht können: selbständig arbeiten, im Internet surfen, Referate schreiben.

      Der Vorwurf von Kollegen, die Leiterinnen hätten sich die aufgewecktesten und wissensdurstigsten Schüler herausgepickt, wird von Stübing bestritten: "Alles Quatsch." Erfolg oder Misserfolg hänge vor allem vom Ansatz ab. Gefragt werden müsse: "Wo sind die Stärken der Kinder?" Und nicht etwa: "Wo liegen ihre größten Schwächen?"

      Doch die Schwächen sind selbst bei größtem Optimismus nicht zu übersehen. "Einige meiner Schüler wissen nicht, in welcher Stadt sie leben", bedauert Andrea Galler, Klassenlehrerin der 2 b. Andere glaubten fest, "dass die Erdbeeren an Bäumen wachsen". "Manchmal kann ich mich nur mit Zeichensprache verständlich machen", beschreibt Angelika Berthold, die in der 3 b unterrichtet, die Sprachverwirrung.

      Karin Mittl, Klassenlehrerin der 1 b, unterrichtet seit 1966 an der Gebeschusschule, seit 36 Jahren. So verzweifelt und enttäuscht wie seit Herbst war die heute 59-Jährige noch nie. Die 1 b ist ihre letzte Klasse vor der Pensionierung. "Anfangs musste ich nur erziehen", erzählt sie. "Die Kinder konnten keine Stifte halten, nicht in Büchern blättern, nicht einmal ihre Jacken anziehen."

      [u9Das Vertrauen wächst nur langsam[/u]

      Die meisten, der deutschen Sprache nicht halbwegs mächtig, hätten außerdem "einfach dichtgemacht". Nicht zugehört, nicht reagiert, sie kaum angesehen. Nicht aus Bosheit oder mangelndem Willen. "Sie waren überfordert."



      Beispiel Hamburg: Ausländische Grundschüler[/i]


      Entwurzelt, konfrontiert mit fremder Umgebung, fremden Erwachsenen, fremden Kindern, seien die Schüler vor Angst und Misstrauen verstummt. Erst jetzt, nach einem halben Jahr, entstehe allmählich Vertrauen, sei Lernen erstmals möglich.

      "Kommt alle an die Tafel, und prägt euch die Zeichnung ein", fordert Lehrerin Mittl auf - eine Konzentrationsübung, die viele der Sechs- bis Neunjährigen schon überstrapaziert. Nur einige Kinder gucken genau, andere drängeln und schubsen, ein Mädchen schmiert sich mit Kreide die Jacke voll. Bis mit der Bildbeschreibung begonnen werden kann, vergeht eine Viertelstunde.

      In der Gebeschusschule werden Benachteiligte besonders gefördert. "Rückstellung ist ein Willkürakt", glaubt Rektorin Stübing. Sie nimmt deshalb alle schulpflichtigen Kinder auf, ohne die übliche Feststellung der Schulfähigkeit; auch Sehbehinderte, Hörbehinderte und Lernbehinderte, die andernorts zurückgestellt oder auf Sonderschulen abgeschoben würden. Es gibt, in Integrationsklassen, besondere Förderung, bis hin zum Einzelunterricht.

      "Du schmierst dich ja total voll", warnt Sozialpädagogin Rita Helm einen Erstklässler, der gerade den rechten Ellbogen in schwarze Schuhcreme taucht. Um die Feinmotorik zu verbessern, trainiert die Pädagogin mit Schülern der ersten Klassen, wie man Schuhe putzt, ein Glas Wasser eingießt, eine Tasse spült oder Schnürsenkel zubindet - alltägliche Verrichtungen, die in den Elternhäusern oft nicht geübt werden. Und weil viele Eltern versäumen, ihren Nachwuchs in Kindergärten zu schicken, bleibt nur die Schule.

      Beim Schuheputzen fällt manchen schon die Reihenfolge schwer. Erst die Creme und dann die Schmutzbürste? Oder doch erst das Poliertuch?

      Streng nach Stundenplan wird nicht gelernt, der 45-Minuten-Rhythmus, anderswo noch selbstverständlich, ist abgeschafft. "Eine rechnerische, keine pädagogische Einheit", findet die Rektorin. Die Schulklingel läutet nur noch einmal am Tag: nach Ende der großen Pause.

      "Die Kinder konnten keine Stifte halten, nicht in Büchern blättern, nicht einmal ihre Jacken anziehen. Sie waren überfordert, haben einfach dichtgemacht."

      In einer Ecke des Schulhofs hüpfen und tollen Mädchen verschiedener Nationalität übermütig miteinander - ganz so, als wollten sie Rektorin Stübings Traum einer harmonischen Multikulti-Schule wahr werden lassen. Den Refrain haben sie sich selbst ausgedacht: "Charly Chaplin flog auf Reisen, um den Mädchen was zu zeigen. Erstes Mal: Ollala, zweites Mal: Tscha-tschatscha."

      Auf dem Flur im zweiten Stockwerk geht es weniger friedlich zu. Nuhmi hat David seinen Ranzen an den Kopf geschleudert, der wälzt sich weinend auf dem Boden. "Entschuldige dich", fordert eine Lehrerin von Nuhmi. "Gib ihm die Hand. Guck ihn dabei an. Es ist mir ernst."

      Um Aggressionen abzubauen, sollen die Kinder zwischen dem Fachunterricht einmal am Tag richtig toben, auf Stelzen laufen, auf Pedalos balancieren, Bällen nachjagen. Die "tägliche Bewegungszeit" dient, neben dem Sportunterricht, als Ventil für den unbändigen Bewegungsdrang.

      Als wollten sie sich alle Wut, alle Enttäuschungen von der Seele schlagen, dreschen die Mitglieder der "Arbeitsgemeinschaft Trommeln", Schüler unterschiedlichsten Alters, mit Stöcken auf Mayonnaise-Eimern ein, singen dazu schräg und laut: "Hurra, hurra, der Pumuckl ist da."

      Viel schwerer fällt es vielen Schülern, sich zu konzentrieren, sich nicht ablenken zu lassen, zu schweigen. In der Klasse 2 a versuchen drei Erwachsene - eine Lehrerin, eine Sozialpädagogin, eine Praktikantin - den Geräuschpegel langsam zu senken, bis zur absoluten Ruhe. Sie legen den Finger auf den Mund, flüstern: "Psst." "Die Ayshe ist ganz leise." "Psst." "Der Achmed ist ganz leise." "Psst." "Der Mehmet ist ganz leise." Zum Schluss herrscht Stille.



      Erstklässler: Kampf gegen Sprachlosigkeit


      Büsra, das zehnjährige Türkenmädchen, ist immer ganz leise. Auch jetzt, beim Mathematikunterricht in der 3 c, guckt sie stumm vor sich, blickt nicht nach vorn, wo sich ein Mitschüler mit Subtraktionen abplagt. "255 - 103 = 152" schreibt er an die Tafel. "Stimmt das, Büsra?", will Lehrerin Melanie Steil wissen. Büsra schaut erschrocken hoch, schüttelt erst den Kopf, nickt dann.

      Als Einzige in der Klasse muss die Zehnjährige auf Geheiß ihrer Eltern ein Kopftuch tragen. Sie kommt nicht mit zum Schwimmunterricht, auch beim Sport darf sie das Tuch nicht ablegen. Der Vater hat auf Drängen der Lehrerin wenigstens erlaubt, dass sie in der Turnhalle ein Tuch ohne Spangen trägt. Aus religiösen Gründen darf Büsra auch nicht - wie die anderen Kinder - in der Klasse ihren Geburtstag feiern. Der Vater hat sogar streng verboten, dass sie Geschenke annimmt.

      Wie viele muslimische Schüler besucht Büsra nebenher eine Koranschule. Dort müssen die Kinder stupide büffeln, mehr auswendig lernen als an der Grundschule.

      Deutschstunde in der 2 a. Die Mädchen und Jungen, unter anderem aus Afghanistan, Armenien, Marokko, Somalia und Italien, sollen Gegenstandswörter (Nomen) an die Tafel schreiben.

      Was ist ein "Klobus"?

      Das geht ruck, zuck. "Haus" schreibt einer, "Affe" ein Zweiter, "Auto" ein Dritter. Eine Schülerin möchte etwas Besonderes beisteuern. "Klobus" kritzelt sie an die Tafel. "Schreibt man das wirklich mit K?", fragt die Klassenlehrerin. Schweigen. "Was ist das denn?", will sie weiter wissen. "Ein Bus mit einem Klo", ruft ein Junge. "So ein Toilettenwagen", ein anderer. Das Mädchen, das die Idee hatte, meldet sich verlegen: "Eine Weltkugel."

      "Wer hat geübt?", fragt zwei Räume weiter Brigit Treutler, Klassenlehrerin der 2 a. Ihre Schüler sollten ein kleines Gedicht auswendig lernen. "Gerade bin ich aufgewacht, es ist schon Tag, vorbei die Nacht. Der Frühstückstisch ist schon gedeckt, am besten mir mein Müsli schmeckt."

      Die Lehrerin deutet auf Kinder, die sich nicht melden. "Ich hab`s vergessen", gesteht Edith. Mohammed, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Taschen vergraben, stottert in gebrochenem Deutsch: "Gerade bin ich aufgewachen ...", bleibt hängen, weiß nicht weiter, guckt an die Decke. Sabrina verheddert sich hoffnungslos am Wort "Frühstückstisch" - womöglich nicht nur Zufall.

      "Viele Kinder kommen mit leerem Magen", berichtet die Lehrerin. In allen Klassen der Gebeschusschule wird deshalb während des Unterrichts gefrühstückt - mit selbst gekochtem Kakao, mit Äpfeln, die der Hausmeister verkauft. Hinterher müssen die Schüler unter Anleitung die Zähne putzen - für einige eine ungewohnte Übung. "In manchen Familien gibt es nur eine Zahnbürste", weiß Rektorin Stübing.

      Ums Zähneputzen geht es auch beim Aufsatz in der 4 a, einer Klasse ohne ein deutsches Kind. Für die 17 Schüler, überwiegend Türken, ist Deutsch eine Fremdsprache voller Fallstricke und Tücken. Nur drei kommen damit halbwegs zurecht.

      Ein Kampf gegen Windmühlen

      Mikail, fast elf, gehört nicht dazu. Auf seinen Handrücken hat er mit Kugelschreiber "SEX" geschrieben, sein Schmusetier, einen Stoffhasen, streichelt er auch während des Unterrichts. Der kräftige Junge, der die anderen um einen Kopf überragt, aber kindlich wirkt, plagt sich mit wenig Erfolg: Krange Zähne können hendsten, wenn man sich nich richtig ernehrt und die Zähne nich richtig fleg. Purste gründlich ihnen und lass die Zähne heuwig kotrolieren.

      "Oje", schreibt Klassenlehrerin Barbara Eisenkolb statt einer Note unter die Arbeit und "Du musst weiter üben." In wenigen Sätzen registriert sie 34 Fehler.

      Mit diesen Defiziten verlässt Mikail in ein paar Monaten die Schule - die Vorgaben des Rahmenplans für Grundschüler, der unter anderem "Rechtschreibsicherheit" vorsieht, erfüllt er nicht annähernd. Dennoch wechselt er sogar zur Förderstufe einer Gesamtschule.

      Sechs seiner Klassenkameraden müssen dagegen das Pensum wiederholen oder, weil sie zu alt für die Grundschule sind, zur Sonderschule - ein Ergebnis, das Klassenlehrerin Eisenkolb deprimiert: "Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben."

      Viele Kolleginnen empfinden ähnlich, mehrere haben sich versetzen lassen. "Ich glaube nicht, dass ich das bis zum Rentenalter durchhalte", gesteht Lehrerin Treutler, 41. Das Niveau ihrer Klasse sei "schwach, ganz schwach". Der Versuch, den Kindern die deutsche Sprache beizubringen, gleiche einem "Kampf gegen Windmühlen".

      "Bahnhofsdeutsch und Küchentürkisch"

      "Kauft doch mal eine deutsche Zeitung, guckt doch auch mal deutsches TV", mahnt Rektorin Stübing die Eltern ausländischer Schüler. Doch vor allem bei den Einwandererfamilien aus der Türkei, die rund die Hälfte aller Schüler stellen, fehlt den Kindern oft jegliche Unterstützung. Gesprochen wird fast nur Türkisch, häufig Dialekte aus verschiedenen Regionen Anatoliens.

      "Bahnhofsdeutsch und Küchentürkisch" nennt die Rektorin den Sprachmischmasch, mit dem Kinder wie Emra aus der 3 c aufwachsen. Der Elfjährige spricht so schlecht Deutsch, kann nur so miserabel Türkisch, dass sich sogar die ebenfalls schwachen Mitschüler über ihn schlapp lachen.

      Bei der Deutscharbeit schafft Emra in eineinhalb Stunden gerade mal, das Thema von der Tafel abzuschreiben, liefert ansonsten ein leeres Blatt ab.

      Selbst durch zusätzliche Deutschstunden und sogar regelmäßigen Türkischunterricht gelingt es oft nicht, Schüler wie Emra aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien. Zumal Angebote für die Eltern wie der Spezialkurs "Mama lernt Deutsch" zu selten genutzt werden.

      Stolz der Rektorin ist das Projekt "Babylon"; gemeinsamer Unterricht über die unterschiedlichen Religionen, die mannigfachen Sitten und Essgewohnheiten aus den Herkunftsländern der Schüler, systematische Vergleiche über Ähnlichkeiten in den Sprachen und Kulturen.

      Praktiziert wird die multikulturelle Idealvorstellung der Rektorin ("Vielfalt in der Gemeinsamkeit" ) am besten in der 4 b, ihrer eigenen Klasse: Mehrere Schüler haben Zeitungen aus ihren Herkunftsländern mitgebracht, lesen daraus erst in ihrer Muttersprache vor, dann auf Deutsch. Fatih übersetzt eine Überschrift aus dem türkischen Blatt "Hürriyet": "Minister Beckstein: ,Immer weniger Ausländer kriminell.`"

      Vier Schüler der Vorzeigeklasse wechseln ab Herbst aufs Gymnasium - eine für die Schule sensationelle Quote. Auch die anderen nennen fast alle Berufsziele, die das Abitur voraussetzen: Edwina will Tierärztin werden, Patrick Chemielehrer, Kai Architekt, Daniel Ingenieur. "Eher unrealistisch", glaubt selbst Rektorin Stübing.

      Dass die Hanauer Schule durchaus Grundstein für eine erfolgreiche Karriere sein kann, hat einer bewiesen, der am 1. Dezember 1966 eingeschult wurde. "Zuname: Völler", "Vorname: Rudolf", steht auf seiner alten Schülerkarte. "Religion: evangelisch".

      Zum 90. Schuljubiläum Ende Mai sollte der berühmte Schüler eigentlich als Ehrengast auftreten, musste aber absagen: Da ist er bereits mit der Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea.

      Als Vertreterin kommt Rudi Völlers Mutter. Die hat immerhin 20 Jahre lang an der Gebeschusschule geputzt.

      .....................................


      H_S :cry:
      Avatar
      schrieb am 03.06.02 10:09:51
      Beitrag Nr. 29 ()
      Die deformierte Gesellschaft konnte man gestern abend bei Christiansen sehen. Da fehlen einem die Worte bzw. Germany No Point!

      Koala
      Avatar
      schrieb am 03.06.02 11:27:20
      Beitrag Nr. 30 ()
      @ #29
      Ja. Drei gegen einen. Das fand ich auch unfair.
      Avatar
      schrieb am 10.06.02 20:51:44
      Beitrag Nr. 31 ()
      Ich hab´s durch und würde mich am liebsten an der nächsten Ecke auf eine Orangenkiste stellen, und allen Passanten zurufen:

      lest dieses Buch!!!
      Avatar
      schrieb am 10.06.02 21:17:10
      Beitrag Nr. 32 ()
      dann sind schon zu zweit, Heizkessel, ich stelle mich dazu!
      Avatar
      schrieb am 10.06.02 21:35:52
      Beitrag Nr. 33 ()
      Am Besten fand ich die Ausführung über die Arbeitnehmermentalität in Deutschland, und den historischen Fehler der Gewerkschaften, die Arbeitnehmer nicht am Produktivkapital zu beteiligen.
      Avatar
      schrieb am 10.06.02 22:54:58
      Beitrag Nr. 34 ()
      Ich habe das Buch nicht gelesen und werde es nachholen.

      Selbstverantwortung ist zu begrüssen. Nicht erst seit ein paar Jahren. Ich kenne einige Menschen die es nicht nötig haben etwas für ihren Lebensabend zur Seite zu legen.
      Hier ist die Sprache von Menschen mit guten Einkommen, die
      lieber sechs oder noch mehr Wochen in die Ferne reisen müssen. An einen Vermögensaufbau denken sie nicht und wollen "Leben".
      Warum können wir nicht damit anfangen das, jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten, das abmildern bestimmte Risiken des Lebens selber bestimmen kann?
      Wer lieber sein Geld ausgibt hat in der Not weniger als der Vorsorger. Das muss nicht neu erfunden werden, sondern gibt es so lange es Menschen gibt.
      Das funktioniert aber nur dann wenn jeden das schon als Kind vorgelebt wird oder klargemacht wird.
      Heute erfüllt sich fast jeder der möchte seine "Träume" auf Pump. Das sparen, um sich anschließend die Träume zu erfüllen, ist nicht mehr zeitgemäß.

      Das schielen über den Teich kann Deutschland nur Anhaltspunkte liefern. Amerika lebt seit Jahrzehnten
      auf Kredit und auf Kosten anderer Länder. Es wird bestimmt nicht für immer so weitergehen.
      Als weiterer Vergleich sollte der Vergleich mit
      Japan Nachdenklich stimmen. Vor ca. 20Jahren wollte alle Welt es den Japanern gleichmachen. Inwieweit das gelohnt hätte möge jeder selbst beurteilen.

      Für die Zukunft wünsche ich mir als ersten Anfang die Abschaffung des permanenten Wahlkampfes in Deutschland.
      Es wird von Seiten der jeweiligen Bundesregierung Rücksicht
      auf Wahlkämpfe in den Bundesländern gelegt. Das lähmt.
      In der Regel benötigt jede Regierung nach der Wahl eine Einarbeitungszeit, unabhängig ob neu oder wieder gewählt.

      Nach den ersten Hundert Tagen werden dann für zwei Jahre
      Sachthemen behandelt und neu/anders geregelt. Dann beginnt das Jahr indem sich möglichst mit dem erreichten gesonnt wird um anschließend wieder in den Wahlkampf zu ziehen.
      In diesem Rhytmus wird es nie dazu kommen das neue Pfade
      beschritten werden oder ehrliche Wahlprogramme auf den Tisch kommen. Es wird also weiter gewurschtelt. Von wem ist fast schon egal, denn die Programme der Parteien sind in vielen Bereichen fast identisch.

      Ein Patentrezept zur Lösung habe ich nicht. Ansätze sollten ausreichend zur Verfügung stehen.
      Avatar
      schrieb am 01.07.02 09:35:24
      Beitrag Nr. 35 ()
      Raus aus dem Altersgefängnis!

      Die Deutschen werden grau. Junge Menschen sind bald eine kleine Minderheit. Deshalb braucht das Land eine neue Sicht dessen, was Altsein bedeutet und was Alte leisten können. Der Staat muss seinen Bürgern eine neue Freiheit geben: So lange zu arbeiten, wie sie wollen. Altersgrenzen gehören abgeschafft

      Von Christian Tenbrock und Wolfgang Uchatius



      Amerika als Vorbild? 35 Menschen bauen in der Kleinstadt Needham bei Boston jeden Tag Nadeln und Kanülen zu Spritzen zusammen und liefern sie an Krankenhäuser im ganzen Land. Vita Needle heißt die Firma, in den vergangenen vier Jahren steigerte sie ihre Verkäufe um hundert Prozent. Fragt man den Chef nach dem Grund, sagt er: "Meine Mitarbeiter! Die sind loyal, flexibel und hoch motiviert." Alt sind sie auch. Im Durchschnitt 74 Jahre. Vierundsiebzig. Zwei haben die 90 überschritten.

      In Deutschland wären sie im Altersheim. Oder im Schrebergarten. In Deutschland gibt es kein Unternehmen wie Vita Needle. In Deutschland arbeiten die Alten nicht. Mit staatlicher Hilfe werden sie abgeschoben in den Ruhestand. Ob sie wollen oder nicht. Menschen, die mit 70, 80, 90 in einer Fabrik arbeiten? Freiwillig? Kein Arbeitgeber, keine Gewerkschaft würde zustimmen. Doch Deutschland wird bald im Großen werden müssen, wie Vita Needle im Kleinen schon ist. Die Deutschen vergreisen. Sie haben zu wenige Kinder. Noch ein Jahrzehnt, dann sind Fachkräfte unter 60 Mangelware. Noch zwei, dann sind Menschen unter 20 eine kleine Minderheit.

      Deshalb braucht Deutschland eine neue Sicht dessen, was "alt" ist und was "Alte" leisten können. Ein neues Bild der Menschen über 60. Einen Staat, der nicht hilft, seine Bürger ins Altersgefängnis zu stecken. Arbeitgeber und Gewerkschaften, die nach Wegen suchen, Arbeit für Ältere attraktiv zu machen. Vor allem wird Deutschland seinen Menschen eine neue Freiheit stiften müssen: so lange zu arbeiten, wie sie wollen. Altersgrenzen darf es nicht mehr geben.


      Der durchschnittliche Deutsche in mittleren Jahren gehört heute zu den reichsten Menschen der Welt. Wer glaubt, das liege vor allem an deutscher Wirtschaftskraft, übersieht die Bedeutung der Demografie. Ein Geheimnis des Wohlstands ist: Seit dem Zweiten Weltkrieg mussten die berufstätigen Deutschen nie so wenig Kinder und alte Menschen versorgen. Die einen wurden nie gezeugt, die anderen starben im Krieg. "Wir leben im Zeitalter des demographischen Hedonismus", schreiben die Autoren Roland und Andrea Tichy in ihrem Buch Die Pyramide steht Kopf: Wer heute arbeitet, hat mehr Geld übrig als alle Generationen zuvor. Geld für ein Haus, das zweite Auto, den dritten Urlaub. Geld, das bald fehlen wird.

      Das Verhältnis zwischen Geldverdienern und Geldempfängern wird sich radikal ändern. Binnen 40 Jahren wird die Zahl der Bundesbürger zwischen 20 und 30 um ein Drittel sinken. Nur noch jeder siebte Deutsche wird ein junger Deutscher sein. 1997 kamen auf einen Rentner vier Personen im erwerbsfähigen Alter, im Jahr 2050 werden es noch zwei sein - wenn die Deutschen auch dann noch, wie heute, im Schnitt mit 60 in Rente gehen.

      Und wenn sie anfangen, wieder mehr Kinder zu kriegen? Dann ändert das zunächst gar nichts. Diejenigen, die in 20, 30 Jahren in der Mitte ihres Lebens stehen, sind heute schon auf der Welt. Es sind zu wenige. Seit vier Jahrzehnten ist jede deutsche Kindergeneration zahlenmäßig kleiner als ihre Elterngeneration. Deshalb gibt es keine Abzweigung auf dem Weg zu einer älteren Gesellschaft. Zuwanderung kann die Fahrt bremsen, mehr Geburten könnten sie irgendwann umkehren. In den kommenden Jahrzehnten aber wird diesem Land fehlen, was es heute im Überfluss hat: arbeitsfähige Menschen unter 65 Jahren. Und das hat Folgen:

      ‡ Die Sozialsysteme brechen zusammen. Würden sie in der jetzigen Form weitergeführt, müsste ein Beschäftigter in 30 Jahren schlimmstenfalls 85 Prozent seines Einkommens an Renten- und Krankenkassen abgeben. Heute sind es rund 32 Prozent.

      ‡ Der Arbeitsgesellschaft gehen die Arbeiter aus. Im Jahr 2040 wird die Zahl der potenziell Erwerbstätigen in Deutschland nur noch bei knapp 25 Millionen liegen - 40 Prozent weniger als heute.

      ‡ Weniger Arbeitskräfte bedeuten weniger Wohlstand. Nach Schätzung der OECD wird die Alterung Europas das dortige Wachstum des Lebensstandards von 2040 an um jährlich 0,5 Prozent verringern. Das hört sich wenig an. Aufkumuliert bis 2050 aber bedeutete das einen Wohlstandsverlust von 18 Prozent.

      Der Bundeskanzler der Zukunft wird sich nicht daran messen lassen, ob er Jobs schafft. Er wird für Arbeitskräfte sorgen müssen. Das ist weit weg für einen Politiker von heute. Ein heute 15- oder 25-Jähriger dagegen wird diese Zukunft erleben. Deshalb müssten eigentlich die Jungen den Imagewandel vorantreiben und ein Klischee infrage stellen, das sich wie Alzheimer in die Köpfe gefressen hat: "Alte bringen es nicht."

      Deutschland diskriminiert die Alten. Man nehme die Stellenanzeigen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, an einem beliebigen Tag: Maschinenbaufirmen, Banken, Handelsketten - alle suchen Mitarbeiter. Aber nicht irgendwelche. Sondern "aufstrebende Nachwuchskandidaten" und "engagierte Aufsteiger zwischen 35 und 45". Leute von "Anfang 30 bis Mitte 40", mit dem "Idealalter 30-40". Oder mit "3-5 Jahren Praxis". Denen bietet der neue Arbeitgeber das passende Umfeld: ein "junges Team", ein "junges, motiviertes Team", ein "junges, aktives Team".

      Solche Vorlieben erkennt man auch daran, dass rund 60 Prozent der deutschen Unternehmen nicht einen Mitarbeiter über 50 beschäftigen. Konzerne, Mittelständler, Kleinbetriebe haben sich systematisch von dem getrennt, was sie für menschliche Altlasten hielten. Staat und Gewerkschaften haben sie unterstützt, Vorruhestandsregelungen den frühen Ausstieg subventioniert. Nur etwa 40 Prozent der 55- bis 64-jährigen Deutschen, die arbeiten könnten, tun das auch. In den USA sind es 58, in Japan 63, in Schweden 68, in der Schweiz 73 Prozent.

      Staat, Arbeitgeber, Gewerkschaften - alle machen mit: Jeder Mitarbeiter, der gegen seinen Willen in den Vorruhestand muss, nährt den Mythos vom schwachen Alten, von Gehirnen, die zerfallen wie radioaktive Substanzen. Ältere sind "risikoscheu" und "technikfeindlich". Sie sind "nicht flexibel", "nicht belastbar". So lautet das Klischee, gelegentlich durchbrochen von lustigen Rentnern, die Marathon laufen und die Welt umreisen. Aber als Arbeitskräfte? Da will man sie dann doch nicht haben.

      Typisch deutsch ist dieses Denken, typisch reiche Industrienation. Als der Heidelberger Altersforscher Andreas Kruse mit afrikanischen Kollegen diskutierte, zeigten die sich sehr verwirrt über Länder wie Deutschland: Dort traue man den Alten nichts zu, sehe sie als nutzlose Restbevölkerung. Ausgerechnet Menschen aus Ländern, in denen die meisten mit 60 oder früher sterben, wiesen auf etwas hin, das man im gesund ernährten und medizinisch betreuten Norden längst begriffen haben sollte: Es gibt kein Gesetz vom Altersabbau. 85 Prozent der Bundesbürger "altern erfolgreich", wie Wissenschaftler sagen. Der Schlaganfall, der Tumor, an dem sie sterben, tritt erst rund sechs Monate vor ihrem Lebensende auf.

      Das Land teilt sich weniger in Alte und Junge als in Kranke und Gesunde, und der gesunde 65-Jährige ist nicht weniger leistungsfähig als der gesunde 50-Jährige. Zwar nimmt die so genannte fluide Intelligenz im Laufe der Jahre ab, junge Menschen tun sich leichter, schnell viel Neues aufzunehmen. Aber die kristalline Intelligenz bleibt erhalten oder wächst sogar - die biologische Erklärung für das, was der Volksmund "Altersweisheit" nennt. Alte haben Erfahrung, sie kennen sich aus, und damit können sie ihr Defizit im mechanischen Lernen ausgleichen. Die Folge: Es gibt "keinen oder nur einen geringen Zusammenhang zwischen Alter und Produktivität", so die Autoren des dritten Altenberichts der Bundesregierung.

      In Deutschland haben das bisher wenige begriffen. Einer ist der Unternehmer Werner Brandenbusch, 50, aus Willich bei Krefeld, der sagt: "Ich stelle lieber einen 60-Jährigen ein als einen 30-Jährigen." Brandenbusch macht seit 30 Jahren in Textilien, aber weil sich mit der Produktion von Hosen und Hemden in Deutschland kaum noch Geld verdienen lässt, hat er auch einen Chauffeurdienst eröffnet. Beim Tanken traf er einen alten Bekannten, Ende 50, vorzeitig verrentet. Der erzählte ihm, er fühle sich mies, seit er keinen Job mehr habe. Heute ist er 62, Chef von Brandenbuschs Chauffeuren - und Brandenbusch selbst ist Gründer des Bellheim-Netzwerks, einer Vermittlungsagentur für Fach- und Führungskräfte über 50. Ein paar hundert Ausgemusterte haben sich schon gemeldet, und der Vorstand eines deutschen Konzerns geht regelmäßig mit Brandenbusch essen. Er ahnt, man wird auch ihn bald nach Hause schicken.

      Geht es nicht anders?


      Quelle: Statistisches Bundesamt

      * * *

      Der durchschnittliche Deutsche in mittleren Jahren war einst ziemlich arm dran. Er schuftete an Schmelzöfen und Fließbändern, in Bergwerken und Fabriken, zehn, zwölf Stunden am Tag, sechs, sieben Tage in der Woche, 50 Jahre lang. Bis er an seiner Staublunge starb. Die Erfindung einer Altersgrenze, das Versprechen, von einem bestimmten Alter an nicht mehr arbeiten zu müssen, unterstützt von einer monatlichen Rente, bedeutete: Freiheit. Wer die Altersgrenze überschritt, dem fiel eine Last vom kaputten Rücken. Der Ruhestand wurde zum Symbol für das "Sich-ausruhen-Können". Jedes Jahr, um das die Altersgrenze sank, stand für sozialen Fortschritt: ein paar Jahre weniger schuften, ein paar Jahre länger ausruhen, ein paar Jahre mehr "leben".

      Im 19. Jahrhundert mussten die Menschen in den industrialisierten Ländern etwa ein Drittel ihres Lebens mit Arbeit verbringen. Heute entfällt auf die Stunden am Arbeitsplatz nur noch rund ein Zehntel der Lebenszeit. Rente sei in der Ersten Welt, wie Jahresurlaub und Acht-Stunden-Tag, "zu einem Recht, fast zu einem Menschenrecht geworden", sagt Dalmer Hoskins, Generalsekretär der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit in Genf. Nur: Mit den Jahren schufteten immer weniger Menschen an Schmelzöfen. Und immer mehr empfanden ihre Arbeit nicht mehr als Last, sondern auch als Lust. Zumindest gelegentlich.

      Natürlich nicht alle. Natürlich schmerzen manchem Maurer mit 40 die Knochen, fühlt sich mancher Krankenpfleger mit 50 ausgebrannt, ist ein Müllwerker froh, wenn er keine Tonnen mehr heben muss. Aber mit jeder Maschine, die noch einen stupiden Arbeitsschritt ersetzt, werden sie weniger. In den USA macht körperlich schwere Arbeit nur noch fünf bis zehn Prozent aller Jobs aus.

      Gegen den Jugendwahn in Personalabteilungen

      Unbeeinflusst vom Klischee des gebrechlichen Alten, ist jenseits der 60 eine neue, arbeitsfähige und oft sehr arbeitswillige Schicht entstanden. Umfragen in Deutschland ergaben, dass jeder Dritte angehende Ruheständler weiter arbeiten möchte. Es wären noch mehr, wären der Anreiz größer und das Image arbeitender Alter besser. Aber wenn Deutschland über Alter diskutiert, sieht es "die Senioren" rein als Kostenfaktor. Entsprechend die Vorschläge, das demografische Problem zu lösen: Zu viele Alte? Dann wird eben neu bestimmt, ab wann sie zu alt zum Arbeiten sind. Rente mit 67, fordert der Rentenexperte Bert Rürup, Rente mit 70, der CDU-Politiker Friedrich Merz.

      Für die Sozialkassen wäre das gut - aber es ist keine neue Sicht des Alters. Sondern nur die verordnete Neudefinition der Berufsunfähigkeitsgrenze. Weiterhin würde der Staat über Lebensentwurf, Lebensplanung und Lebensphasen entscheiden. Altersgrenzen anzuheben, um dem Schicksal der Demografie zu begegnen: Das ist eine Idee aus dem Industriezeitalter.

      Warum nicht jedem Einzelnen die Entscheidung überlassen, wie lange er arbeiten möchte? Warum nicht die durch Gesetze, Verordnungen, Tarifverträge oder Konvention zementierte Verpflichtung abschaffen, spätestens mit 65 aufs Altenteil zu gehen? Warum nicht jedem Mann und jeder Frau erlauben, selbst zu definieren, wann er, wann sie zu alt ist?

      Zu spüren bekämen das zunächst die Unternehmen. Kein Arbeitgeber könnte mehr darauf bauen, die Alten zu einem bestimmten Zeitpunkt loszuwerden. Keine Personalabteilung könnte es sich leisten, nur für die Jungen zu sorgen. Personalpolitik würde vom Jugendwahn geheilt. Ältere Arbeitnehmer bekämen die Chance, ihre soziale Kompetenz und Berufserfahrung zu nutzen - vielleicht auf Stellen mit kürzerer und flexiblerer Arbeitszeit oder in wechselnden Kurzzeitjobs mit jeweils neuen Arbeitsschwerpunkten. Was heute ältere Business Angels tun - junge Unternehmer beim Aufbau ihrer Firma beraten -, könnten morgen ältere Facharbeiter für den Nachwuchs leisten. Auch Arbeitsplätze abseits bisheriger Muster sind denkbar: Warum kann der Betreiber eines Altenheims nicht nebenan einen Kindergarten bauen - und dort gegen Bezahlung jene mitarbeiten lassen, die er bisher nur versorgen sollte?

      Verschwindet die Altersgrenze, entsteht für Arbeitgeber der Anreiz, Mitarbeiter für ein längeres Arbeitsleben fit zu halten. Die physische Belastung am Arbeitsplatz nimmt ab, die psychische aber zu. Die Beschäftigten leiden unter Stress und einer stärker verdichteten Arbeit. Frühes Burn-out ist die Folge. Firmen, denen über kurz oder lang die jungen Mitarbeiter fehlen, kann daran nicht gelegen sein. Sie können sich auch nicht damit abfinden, dass ältere Beschäftigte fachlich nicht auf der Höhe der Zeit sind. Fortbildung ist heute eine Domäne der Jungen. Gibt es keine Altersgrenze mehr, ist es dagegen im Interesse jedes Unternehmens, den Mitarbeitern lebenslang Lernen zu ermöglichen - zur Not mit staatlicher Unterstützung. Bisher muss die Allgemeinheit die Versorgung vermeintlich nutzloser älterer Beschäftigter finanzieren. Künftig sollte der Staat Weiterbildung statt Frühverrentung subventionieren.

      Haben die Personalchefs verstanden, dass ein 65-Jähriger ähnlich produktiv sein kann wie ein 45-Jähriger, gibt es keinen Grund mehr für besondere Altersregelungen beim Kündigungsschutz. Ein frisch entlassener erfahrener Facharbeiter fände genauso leicht oder schwer einen neuen Job wie sein jüngerer Kollege. Heute sind diese Schutzklauseln ein Grund, weshalb Alte als schwer vermittelbar gelten. Morgen wird man sie nicht mehr brauchen.

      Wer früh aussteigt, muss selbst sehen, wie er zurechtkommt

      Morgen wird man auch über Geld reden müssen. Altersgrenzen und Gehaltsregeln führen heute zur absurden Situation, dass junge Eltern massenweise Überstunden machen, trotzdem eisern sparen müssen und kaum ihre Kinder sehen. Gleichzeitig weiß manch gesunder Rentner nicht, wohin mit der Zeit. Und dem Geld. Ist es klug, dass Löhne und Gehälter mit dem Alter massiv steigen - auch wenn sich die Tätigkeit kaum ändert? Warum steigt das Gehalt nicht in den ersten Berufsjahren stärker, in den letzten dagegen schwächer oder sinkt sogar? Das Gesamtgehalt für ein Arbeitsleben bliebe dasselbe, aber der ältere Mitarbeiter würde im Vergleich zum jüngeren billiger - und ein weiteres Hindernis, ihn einzustellen, beseitigt.

      Dürfte jeder Arbeitnehmer über das 65. Lebensjahr hinaus arbeiten, entstünde ein wahrhaftigeres Bild vom Alter - jenseits vom Klischee der Gebrechlichkeit. Das Recht auf Arbeit würde unabhängig vom Geburtsjahr.

      Warum nicht auch das Recht auf Freizeit? Auch die Altersgrenze nach unten ließe sich nach einer Übergangsphase aufheben. Denn jeder altert anders. Wer sich trotz Weiterbildung, trotz Jobwechsels, trotz möglicher neuer Tätigkeitsfelder mit 45 Jahren ausgebrannt fühlt, sollte sich schon dann zur Ruhe setzen dürfen. Wer diesen Frühausstieg bezahlt? Natürlich der Aussteiger. Auch in einer Welt, in der jeder entscheidet, wann er aufhört, ist eine staatlich garantierte Rente vonnöten. Aber der Staat übernimmt dann nur noch eine Grundversorgung - gestaffelt nach der Lebensarbeitszeit. Diese "Grundrente" muss über Steuern finanziert werden, und zu ihr wird jeder beitragen müssen, Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, Beamte wie Selbstständige. Wer mehr will als nur die Basisversorgung, muss privat vorsorgen. Wer sich also mit 45 aus dem Arbeitsleben ausklinken will, soll das tun - muss sich aber mit einem niedrigeren Lebensstandard begnügen.

      Das bedeutet: Nicht nur die Altersgrenzen gehören abgeschafft, sondern auch das derzeitige Rentensystem, das nicht fertig würde mit Menschen, die in Massen über ihre Lebensarbeitszeit selbst bestimmen. Dieses Renten- system umzustellen dauert seine Zeit. Experten wie Bert Rürup schätzen: rund 25 Jahre. Etwa so lange also, bis die Folgen der Überalterung in Deutschland voll zu spüren sind. Was nichts anderes heißt als: Es ist höchste Zeit, den Menschen mehr Freiheit zu geben.

      * * *

      Amerika als Vorbild? Dort gibt es 70-jährige Stewardessen, jeder sechste 70- bis 79-Jährige arbeitet, jeder dritte 65- bis 70-Jährige. Das Land hat seit 1967 ein Gesetz gegen die Diskriminierung der Alten am Arbeitsplatz. In Stellenanzeigen darf kein Wort zum Alter stehen. Nach Amerika ging im vergangenen Jahr auch der angesehene Kölner Immunforscher Klaus Rajewsky, der unbeschränkt weiterarbeiten wollte, in Deutschland aber mit 65 emeritiert werden sollte. Er ging, "weil man hier wegen seines Alters diskriminiert wird".

      Frank Hartman, der Chef von Vita Needle, sagt, dass es auch Probleme mit seinen Mitarbeitern gebe: Vergesslichkeit etwa. "Aber für meine Leute", meint Hartman, "ist Arbeit Leben. Sie sind Teil eines Teams, sie haben das Gefühl, gebraucht zu werden." Geschadet hat Vita Needle das Experiment mit den Alten jedenfalls nicht. Als es vor 10 Jahren begann, hatte die Firma einen jährlichen Umsatz von 400 000 Dollar. Heute sind es vier Millionen.
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      schrieb am 12.08.02 16:35:27
      Beitrag Nr. 36 ()
      Die Arbeitslosigkeit erreicht die Mittelschicht


      Anfang 30, hoch qualifiziert - und gefeuert: Die Arbeitslosigkeit erreicht die Leistungsträger der Gesellschaft. Macher der New Economy, Werber, Banker oder Juristen - die neue Mitte, die vor vier Jahren Gerhard Schröder ins Kanzleramt verholfen hat, gerät ins Abseits. In diesem Wahlkampf redet keiner mehr von ihnen. Haben die ehemaligen "High Potentials", die alles erreichen konnten und von Politik und Wirtschaft hofiert wurden, überhaupt noch eine Perspektive? Werden sie wieder eingestellt, wenn die Wirtschaft wieder anspringt - oder setzen die Konzerne dann auf die jungen, unverbrauchten Uni-Abgänger, die noch nicht desillusioniert sind? Brauchen wir eine neue Kultur der Selbständigkeit, um der zunehmenden Arbeitslosigkeit von Führungskräften und Akademikern entgegenzuwirken? Bieten die Vorschläge der Hartz-Kommission eine Lösung? Werber, Banker oder Betriebswirte, die eben noch heiß begehrt waren, müssen um den Arbeitsplatz bangen - jetzt kann es jeden treffen. Im XXP-Studio diskutieren die SPIEGEL-Redakteure Armin Mahler und Alexander Jung mit Karl Bossard von Kienbaum Management Consultants und Meinhard Miegel vom Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn e. V.

      Sendetermin: Montag, 12. August, 22.15 Uhr, XXP{/b]


      Meinhard Miegel, Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn e. V.
      Der Soziologe, Philosoph und Jurist Miegel, Jahrgang 1939, begann seine Karriere 1970 als Anwalt für die Firma Henkel in Düsseldorf. 1973 wechselte er in die Politikberatung und wird Mitarbeiter des damaligen Generalsekretärs der CDU Kurt Biedenkopf. Gemeinsam mit Biedenkopf gründet er 1977 das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn e. V. (IWG), dessen Leiter er seither ist. Trotz CDU-Nähe versteht sich das IWG als unabhängige Einrichtung und erforscht Fragestellungen aus den Bereichen Wirtschaft und Gesellschaft. Mit ordnungspolitischen Positionen will es Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft Orientierungshilfe geben. Miegel gilt als anerkannter Kenner und Kritiker der Beschäftigungs- und Rentenpolitik. Angesichts der derzeitigen Probleme auf dem Arbeitsmarkt fordert er mehr Eigenverantwortung und -initiative der Bürger.

      Weitere Gäste im Studio:
      Karl Bosshard, Kienbaum Management Consultants
      Personalberater Bosshard ist Mitglied der Kienbaum-Geschäftsführung und Chef der Niederlassung Hannover.

      Alexander Jung, Ressort Wirtschaft, DER SPIEGEL


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