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    Der manische Mensch - für sittin, Opti und andere Durchblicker - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 08.06.03 19:48:23 von
    neuester Beitrag 09.06.03 11:09:31 von
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      schrieb am 08.06.03 19:48:23
      Beitrag Nr. 1 ()
      Der manische Mensch, von Thomas Fuchs (Auszug)

      Merkmale:
      1) Expansivität

      Die Grundbewegung des manischen Menschen ist die Expansion. Die gewohnte Welt ist ihm zu eng, Grenzen erkennt er nicht an: Er platzt gleichsam aus den Nähten. Weiter, höher, schneller - darauf ist alles Handeln ausgerichtet. In seinen expansiven Größenideen identifiziert der manische Mensch sein Selbst mit dem Raum der Welt. Er plant seine Projekte maßlos ins Weite und Großartige. Allerdings kann er sein Handeln wenig den Umständen anpassen, denn er verkennt Risiken und nimmt nicht mehr wahr, welche Resonanz er erfährt. Stattdessen zwingt er seine Eigenordnung der Außenwelt auf. Er bemächtigt sich der Welt, ohne sich von ihr bestimmen zu lassen, ohne Rücksicht auf ihre Eigenheiten und Eigenzeiten.


      Den Beleg für einen solchen Zustand der Gesellschaft zu finden, fällt nicht schwer: Ein Blick in den Wirtschafts- und Börsenteil der Zeitung genügt. Die Verbindung von neuen Technologien, kapitalkräftigen Anlegern und expansionslüsternen Unternehmen hat den Kapitalismus zur Jahrtausendwende in einer bisher ungeahnten Weise beschleunigt. Enthemmend wirkte sich vor allem der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme aus, der dem Markt die immerhin noch angelegten Zügel schießen ließ. So ist seit der Wende die Gewinnentnahme aus den Unternehmen auf das Doppelte gestiegen. In der Hektik der Börsen spiegelt sich der Verlust jeder Proportion zwischen dem angehäuften privaten Reichtum einerseits und der realen Produktivität der Gesellschaft andererseits.

      Keineswegs sind es nur Berufsspekulanten und Abenteurer, die das Rad ankurbeln; der Börsenrausch hat längst den Normalverbraucher erfaßt. Immer neue Kursrekorde und Traumgewinne ziehen die Massen an. "Machen Sie Ihre erste Million", "Fangen Sie noch heute an, reich zu werden", "Spekulier dich reich" fordern Finanz- und Boulevard-Blätter ihre Leser auf.8 18 Börsenzeitschriften zählt man bereits hierzulande, und die Spekulation nimmt absurde Züge an. "Kurse von High-Tech-Unternehmen, die an der Wachstumsbörse neu platziert werden, sprin-gen am ersten Handelstag ohne ersichtlichen Grund um mehrere hundert Prozent höher. Anleger folgen blind den Aktientipps in TV-Sendungen."9 Millionen verlangen nach Anteilsscheinen einer noch vor kurzem völlig unbekannten Chip-Firma, die den passenden Namen "Infineon" trägt: grenzenlos. Ihr Chef ist nebenberuflich Autorennfahrer, was ja auch erfolgversprechender wirkt, als in der Freizeit Halma zu spielen.10

      Im manischen Gründungsfieber zählen nicht mehr Erfahrung und solide Finanzierung, sondern Risikolust und Draufgängertum. Dazu verleiten neue Formen der Wirtschaft, die nicht mehr auf reale Produktivität gegründet sind. Potemkinsche Dörfer etablieren sich allein durch Größenideen und Selbstüberzeugtheit. Neue Internet-Firmen entstehen im virtuellen Raum, es genügen bloße Ankündigungen, um an der Börse bereits Erwartungen zu wecken und das Spekulationsfeuer zu entfachen. Zahlreiche "Wagniskapitalfirmen" stehen bereit, sie mit "Venture-Capital" zu versorgen. Auf diese Weise er-werben sich heute 30jährige Jungunternehmer nach wenigen Jahren Millionen- oder Milliarden-Vermögen - ohne je eine Mark Gewinn erwirtschaftet zu haben. "Der Maßstab dieser Gründerelite ist nicht Hamburg, Berlin oder München, sondern Europa oder die Welt. Schon kurz nach dem Start eröffnen sie Filialen in London oder San Francisco."11

      Gleichzeitig hat die Fusionsmanie den Globus erfaßt. Längst verleiben sich die Firmen der New Economy die Traditionsfirmen der alten Wirtschaft ein. Wer andere nicht verschlingt, muß damit rechnen, bald selbst zur Beute zu werden - so kann die Manie der Manager auch paranoide Züge erhalten. Das Kapital für die Transaktionen liefert die Börse, nicht mehr mit Bargeld, sondern mit Aktien - also Geld, das von Unternehmen selbst gedruckt wird. Börsenboom und Fusionsmanie schaukeln sich ge-genseitig hoch. Euphorisch kündigen zwei deutsche Bankhäuser ihre Vereinigung zum weltgrößten Finanzunternehmen an (Jahresbilanz 2,4 Billionen DM): "Was hier entsteht, ist ein europäisches Powerhaus mit globaler Reichweite und internationaler Konkurrenzfähigkeit" - so einer der Vorstandschefs.12 Ein solcher Riese will noch mehr verschlingen, und so drängt der Vorstand schon weiter: "Viel Zeit haben wir bei alledem nicht. Speed, speed, speed - es gilt das alte Motto."13 Im letzten Moment scheitert jedoch das Projekt kläglich, im Größenrausch hatte man einige wichtige Details der Kooperation nicht bedacht.


      2) Beschleunigung

      Manisches Handeln ist geprägt von rastloser Hetze und Getriebenheit. Die Gegenwart genügt nicht, ja sie ist geradezu definiert durch das, was noch möglich wäre, was noch fehlt. Das eigentliche Leben ist immer anderswo. Der manische Mensch ist sich ständig selbst vorweg, in der vermeintlich unbegrenzten Offenheit seiner Möglichkeiten. Er kann die Zukunft nicht mehr erwarten, sondern muß sie in Angriff nehmen und erobern. Dabei mißachtet er die natürlichen Rhythmen, die der Beschleunigung entgegenstehen: Er verdrängt die zyklische Zeit des eigenen Leibes und der äußeren Natur zugunsten der linear beschleunigten Zeit.


      Immer rascher dreht sich das Rad von Innovation, Produktion, Konsum und Verbrauch. Die Werbeindustrie gaukelt uns ständig neue Möglichkeiten vor und treibt den Zeitrausch an. Schneller, lustvoller, intensiver leben, alles ausschöpfen! Rund um die Uhr und sonntags einkaufen! Fortwährend hämmert man uns ein, daß es gerade noch Zeit sei, hier einen Vorteil zu ergattern, da noch den Bausparvertrag, dort noch die Lebensversicherung abzuschließen.Wer am schnellsten ist, erhält die Prämie. Dazu braucht man mehr als zwei Beine. Supersportwagen, 4-Wheel-Drives, Freizeit-, Funvehikel oder Kleinstmobile - die Zahl der Modelle der Autoindustrie ist geradezu explodiert. Oder nehmen wir die Bildmedien: Die Programmangebote haben sich vervielfacht, die Sendeeinheiten verkürzt, die Handlungsabläufe und Schnittwechsel kontinuierlich beschleunigt (man vergleiche beispielsweise ein nahezu stroboskopisches Elaborat wie Tim Tykwers "Lola rennt" mit den behäbigen "Kommissar"-Filmen der 70er Jahre!). Ständig neue EDV-Programme erfordern schon wieder Umstellungen, noch ehe man sich in das alte Verfahren richtig einarbeiten konnte. Überall entstehen Erfahrungen des Zurückbleibens.

      Beschleunigung liegt freilich in der Logik des Systems: Der Markt ist angelegt auf die Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit. Seit den Anfängen des Kapitalismus geht es dem Kaufmann um den Vorsprung vor der Konkurrenz; Monate, Tage oder Stunden früher dazusein, entscheidet über Gewinn oder Verlust. Zukunft bedeutet im Kapitalismus nicht, etwas auf sich zukommen zu lassen, sondern anderen zuvorzukommen. Zugleich erzeugt der Markt ständig neue Möglichkeiten, immer schnellere Abfolgen von Anbietern und Angeboten. Derzeit erleben wir eine regelrechte Explosion der Wahlmöglichkeiten, vom Supermarkt über Telefonanbieter bis zum Stromversorger.14 Wer sich nicht über das jeweils beste Angebot informiert, hat scheinbar schon verloren. Es fällt immer schwerer, bei einer Wahl zu bleiben, Gewohnheiten zu bilden und sich nicht vom ubiquitären Marktgeschrei irritieren zu lassen. Denn der manische, innovationsbesessene Mensch hat nichts mehr übrig für Traditionen und Gewohnheiten.

      An der Spitze der Beschleunigungskaskaden stehen der Geld- und der Informationskreislauf. Die Finanzmärkte aller Weltstädte sind ohne "time lag" miteinander verbunden. In Sekundenbruchteilen werden Millionen zwischen den Börsen der Welt bewegt, täglich mehr als tausend Milliarden Dollar transferiert, meist ohne etwas anderes zu kaufen als Geld: Der realwirtschaftliche Anteil der Transaktionen ist minimal. Aus der Akzeleration des Marktes folgt notwendig die ebenso beschleunigte Kommunikation. Bezeichnenderweise wurde das Telefonsystem im 19. Jahrhundert zunächst zur schnelleren Nachrichtenübermittlung zwischen den Aktienbörsen errichtet.15 Seither hat sich der Informationsfluß ständig beschleunigt; und gemessen an der Taktfrequenz der Prozessoren, verläuft auch seine Beschleunigung längst nicht mehr gleichmäßig, sondern exponentiell. (Soeben erscheint der erste Gigahertz-Prozessor auf dem Markt - eine Milliarde Schalttakte in der Sekunde.16)

      So wie das Geld nur noch Geld kauft, beginnt freilich die Information heute sich selbst zu informieren. Denn mit dem Tempo ihrer Vervielfältigung kann die tatsächliche Verwertung längst nicht mehr Schritt halten. Die Masse an potientiell verfügbarem Wissen läßt sich immer weniger in aktuelles Wissen umwandeln. Die bloße Bewegung von "Informationen" bleibt aber ein völlig sinnloses Geschehen, solange sie ein Mensch nicht versteht und sich aneignet. An die Stelle des persönlich erworbenen und selbst beherrschten Wissens tritt dann eine anonym zirkulierende Informationsmasse - ein Scheinwissen. Damit entstehen letztlich neue Formen der Dummheit: So wie für das zirkulierende Geld keine reale Deckung mehr existiert, so wird der Teilnehmer an der globalen Informationsflut zum bloßen Relais, dessen technisches Vermögen der Informationsverarbeitung in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Bildung steht. Eine weitere Nachricht in den globalen Informationspool eingespeist zu haben, wird wichtiger als das individuell organisierte Wissen - so als wäre das Internet realer als seine Benutzer. Auch hier koppeln sich Beschleunigungsprozesse von denen ab, denen sie eigentlich dienen sollen.

      Betrachten wir schließlich ein letztes Beispiel von Beschleunigung, nämlich die biologische Akzeleration. Seit dem 19. Jahrhundert, besonders aber seit dem 1.Weltkrieg ist bekanntlich eine zunehmende Vorverlagerung der Pubertät zu beobachten, verbunden mit gesteigertem Größenwachstum, verkürzter Schlafdauer, erhöhter nervöser Ansprechbarkeit und Erregbarkeit. Kinder kommen heute 2-3 Jahre früher in die Pubertät, werden 6-10 cm größer und schlafen 1-2 Stunden weniger als noch vor hundert Jahren. Auch wenn die Ursachen dafür nicht eindeutig geklärt sind, stellt die Reizintensivierung zweifellos einen wesentlichen Faktor dar. Es ist zu vermuten, daß die Computerisierung der Kindheit einen weiteren biologischen Beschleunigungsschub bewirken wird. Die Akzeleration bringt allerdings Disharmonien zwischen körperlicher, seelischer und sozialer Entwicklung mit sich. Die seelische Reifung wird durch die frühzeitige kognitive Stimulierung häufig gestört. Die Psychiatrie entdeckt dann bei den Schulkindern neue Krankheiten wie das "hyperkinetische" oder das "Aufmerksamkeitsmangelsyndrom" (Attention Deficit Disorder): Eine Hirnstoffwechselstörung soll nun vorliegen, wo Kinder schlicht auf Reizüberflutung und mangelnde familiäre Geborgenheit überfordert reagieren. Die Opfer der kollektiven Beschleunigung sind immer Einzelne. Es muß an ihnen liegen, wenn sie nicht Schritt halten können.


      3) Flüchtigkeit (Volatilität)

      Trotz seiner Empfänglichkeit für immer neue Reize fehlt es dem manischen Menschen an wirklichem Interesse für die Dinge und Menschen, mit denen er zu tun hat. Seine Ungeduld läßt immer nur flüchtige, oberflächliche Kontakte zu. Eine tiefere, nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Neuen oder Fremden kommt nicht zustande. Die Gedanken und Einfälle sind charakterisiert durch Ablenkbarkeit, Sprunghaftigkeit und Ideenflucht. Auch die Resultate manischen Handelns sind selten dauerhafter Natur. Zuviele Projekte werden begonnen und nach kurzer Zeit desinteressiert wieder beiseite geschoben. Was heute Begeisterung auslöst, ist morgen schon wieder veraltet oder vergessen. Vergangenheit und Tradition vermitteln keine gültigen Orientierungen; die Beziehungen bleiben unverbindlich. Das Dauerhafte löst sich auf in der Fülle beliebiger Möglichkeiten. - Der Psychiater Ludwig Binswanger bezeichnete diesen Grundzug des Manischen als "Volatilität".17


      Unser gesellschaftlicher Umgang mit Gedanken, Einfällen und Informationen läßt sich als eine institutionalisierte Ideenflucht bezeichnen. Während frühere Zeiten den Wert von Gedanken vor allem darin sahen, daß sie in gleicher oder ähnlicher Form seit je gedacht und gelehrt worden waren, sind wir umgekehrt von einer Neomanie befallen, in der Innovation per se schon als Wert gilt. Entsprechend wächst der Anteil der Ideenproduktion an der Wertschöpfung ständig. Die Aktienkurse von Software- und Ideenfirmen bewegen sich kometenhaft nach oben oder wieder nach unten, anders als die gemächlichen Bewegungen klassischer, auf den Produktionsmitteln basierender Unternehmungen. Die Regeln des Softwaregeschäfts, flüchtige Vorteile und ständige Bedrohung der Marktposition bestimmen immer mehr die Wirtschaft. "Volatilität" ist nicht zufällig auch der Fachausdruck für den labilen Zustand einer überhitzten Börse.

      Die Neomanie liegt schon im gesellschaftlichen Leitbegriff der Information, der nämlich kommunikationstheoretisch nichts anderes bedeutet als das Neue gegenüber dem Wahrscheinlichen oder Erwarteten, oder die Differenz zur Redundanz. Information, in ‚bit` gemessen, ist ein rein technisches Maß, das nicht zwischen guten oder schlechten, intelligenten oder dummen Nachrichten unterscheidet. Kein Computer kann Sinn oder Wert einer Nachricht beurteilen - er registriert nur Unterschiede. In einer Welt, in der "Information" als solche zum höchsten Wert wird, droht die Fähigkeit zur Auswahl, Bewertung und Sinnbildung zu verkümmern. So können wir uns zwar immer mehr Informationen verschaffen, jedoch ohne sie noch verar-beiten und zu einem sinnvollen Ganzen integrieren zu können. Daten und Bilder ziehen an uns vorüber, ohne einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Der Ideenflucht entspricht das flüchtige Betroffensein ohne Konsequenz. Ruanda, Kosovo, Indonesien, Tschetschenien - wofür soll ich mich einsetzen? Im Meer der In-formationen drohen wir die Orientierung und Handlungsfähigkeit zu verlieren.

      Flüchtigkeit kennzeichnet auch die Bewegungen und Begegnungen. Die explosionsartige Beschleunigung des Verkehrs läßt zwar die Entfernungen schrumpfen, aber um den Preis, daß nun das Nahe nicht mehr wahrgenommen wird. Denn der manische Mensch überspringt das Nächste; er ist immer schon beim Übernächsten und Fernsten, das im Nu erreichbar ist. Allerdings kommt dort nicht wirklich an. Ankommen setzt voraus, dass man unterwegs war, d.h. die Bewegung selbst in ihrer eigenen Zeit erfahren konnte.18 Und es setzt voraus, daß man sich am Ort der Ankunft aufhält, dort verweilt und sich der Begegnung überläßt. Aber dieses Verweilen würde ja der nächsten Bewegung Zeit stehlen. Proportional mit der Zahl der Stationen steigt daher die Folgenlosigkeit der Begegnungen. Es entsteht eine unruhige Aufenthaltslosigkeit, eine "zielstrebige Ziellosigkeit".19 Eigentümlicherweise verlieren die erstrebten Ziele schon bei der Annäherung ihren Reiz, so als ahnte man die wiederum ausbleibende Erfüllung schon voraus. Das ungeduldige Warten im Transit-Raum ist das Signum der Zeit. Diese moderne Befindlichkeit hat schon Brecht in seinem Gedicht "Radwechsel" beschrieben:

      Ich sitze am Straßenrand
      Der Fahrer wechselt das Rad.
      Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
      Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
      Warum sehe ich den Radwechsel
      Mit Ungeduld?

      Die Flüchtigkeit oder Volatilität der geistigen und räumlichen Bewegungen hängt zusammen mit einer Tendenz zum Verschwinden von Widerständen. Kommunikation und Verkehr erforderten ursprünglich die Auseinandersetzung mit dem Widerstand des Raumes, die Überwindung der Entfernung und der vielfältigen Hindernisse auf dem Weg. Solche leiblich erfahrenen Wege sind heute zunehmend überflüssig geworden. Virtuelle Kommunikation, Bild-übertragung, Daten- und andere Autobahnen ersparen mühevolle Annäherungen. Die bevorzugte Bewegungsform des manischen Menschen ist die des Surfens, Fliegens, Gleitens, Schwebens, Skatens - möglichst unleiblich-schwerelose Bewegungen mit minimalem Kontakt und Widerstand in einem volatilen Medium.20 Vergleichen wir dies mit einigen typischen Tätigkeiten in agrarisch oder handwerklich strukturierten Gesellschaften, etwa dem Wandern, Pflügen, Jäten, Hobeln, Meißeln: In solchen Bewegungen wird immer auch eine Gegenwirkung spürbar. Tätigkeiten, die sich gegen Widerstände durchsetzen und an ihnen wachsen, vermitteln aber Erfahrung. Erfahren heißt Widerstände kennenzulernen und sie in das eigene Wissen und Können zu integrieren. Wer erfahren ist, weiß, wo er mit seiner Aktivität ansetzen und wie er den Widerstand des Materials nutzen muß, um sein Ziel zu erreichen. Die großen Bildungsromane handelten von Wegen und Umwegen, von Reisen und Wanderjahren, die nötig waren, um den Protagonisten am "Erfahren" der Wirklichkeit reifen zu lassen. Stattdessen lautet heute das manische Motto der Bundesregierung: "Columbus mußte viele Jahre reisen, um die Welt zu entdecken. Unsere Schüler brauchen dafür nur einen Vormittag im Internet."21

      Tatsächlich verhält es sich umgekehrt: Je mehr Widerstände aus dem Weg geräumt, Schwellen eingeebnet und Distanzen übersprungen werden, desto geringer die Möglichkeit, Erfahrung zu sammeln. Und desto geringer schließlich auch die Frustrationstoleranz: Man hat nicht mehr gelernt, angesichts von Widerständen und Rückschlägen beharrlich zu bleiben. Die für die Ichreifung nötige Geduld, die Fähigkeit zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung oder zum Verzicht wird immer weniger geübt. Mehr noch: Solche Fähigkeiten stellen bereits keine Tugenden mehr dar. Die sofortige Befriedigung erscheint als gutes Recht, der Verzicht als Dummheit. Nur der mühelose Erfolg verspricht das Glück. Unter solchen Voraussetzungen können schon harmlosere Enttäuschungen oder Versagungen in Gereiztheit und - wie bei den Jugendlichen von Littleton oder Bad Reichenhall - in unvermittelte Aggression umschlagen. Schließlich bietet der Drogenrausch noch die Möglichkeit, die nicht mehr ertragbare Widerständigkeit der Realität aufzuheben.

      Wo immer weniger Erfahrungen gemacht werden, gilt auch der Erfahrene nichts mehr. Die Schnellen und die Jungen bestimmen die Richtung, denn sie sind "auf der Höhe der Zeit". Das allmählich Herangereifte und Gewachsene ist immer zu langsam, wenn es um Beschleunigung geht (Pflanzen lassen sich bekanntlich nicht aus der Erde ziehen). Eine im Jugendwahn befangene Gesellschaft kultiviert die neuen Tugenden der Spontaneität, Extrovertiertheit und des unmittelbaren Auslebens von Gefühlen. Damit erhebt sie eine der Jugend zugehörige Lebenseinstellung zum Ideal für alle - und verliert das Maß für das Verhältnis von Beständigkeit und Wechsel.

      Eine Gesellschaft, die ihre Orientierungen nicht mehr aus Erfahrung gewinnt, gibt schließlich auch ihr Geschichtsbewußtsein auf. Der manische Mensch will die Fesseln der Vergangenheit sprengen - man denke an die Walser-Rede - ohne seine Vergangenheit in die Zukunft mitzunehmen. Er verliert die geschichtliche Identität und Verantwortlichkeit, die aus einmal getroffenen Entscheidungen und Wertorientierungen resultiert. An ihre Stelle tritt die Beliebigkeit des Möglichen. Denn es gibt immer andere Orte, an denen man sein, andere Wege, die man begehen, andere Menschen, mit denen man zusammensein könnte. Unser Umgang mit den Apparaturen, das "Zappen", "Switchen", "Umprogrammieren", wird zum Umgang mit uns selbst. Die serielle Identität tritt an die Stelle von Verbindlichkeit, Reifung und Integration.


      4) Distanz- und Respektverlust

      Die manische Expansivität äußert sich in raumgreifendem Verhalten, in Distanzlosigkeit und Aufdringlichkeit. Der manische Mensch kennt keine Grenzen und Eigensphären, er verleibt sich den Raum der Anderen ein und eignet sich an, was er gerade benötigt. Im Gegenzug drängt er seine Einfälle der Umwelt auf, sein Rede- und Mitteilungsbedürfnis ist unerschöpflich. Er liebt das Schockierende und das Obszöne, denn alle Tabus sind ihm zuwider. Für die Feinheiten des Erotischen oder des Takts hat er keinen Sinn. Er macht sich nicht die Mühe, sich in die Sicht der Anderen hineinzuversetzen, und geht davon aus, daß ihre Interessen mit den eigenen übereinstimmen. So behandelt er alles mit einer heiteren Rücksichtslosigkeit, einer naiven Gewissenlosigkeit.


      Unsere Kommunikation nimmt heute Züge einer ubiquitären Geschwätzigkeit an - von den Talk-Shows bis hin zu den "Chat-Rooms" im Internet. Bereits das herkömmliche Telefon ist ein distanzloses Kommunikationsmittel, das es erlaubt, jederzeit in den Privatbereich des Empfängers einzudringen, jeden Mitteilungsimpuls sofort und per Lichtgeschwindigkeit zu realisieren. Das Handy ist nun das manische Kommunikationsmittel schlechthin, erlaubt es doch die simultane Befriedigung zweier zentraler manischer Bedürfnisse: des Bewegungs- und des Rededrangs (unnötig zu sagen, daß viele manische Patienten ihr Handy mit in die Klinik nehmen). Die Überflüssigkeit eines Großteils der "mobil" geführten Gespräche ist schon sprichwörtlich. Gleichwohl gibt es kaum einen öffentlichen Raum mehr, der von dieser Logorrhoe verschont bleibt. Kein Gespräch mit einem real Anwesenden, keine Veranstaltung ist so wichtig, daß sie nicht jederzeit unterbrochen werden könnten. Dabei scheint keiner der Benutzer selbst unter der permanenten Störbarkeit zu leiden - im Gegenteil: Erreichbar sein heißt wichtig sein.

      Ebenso werden fortwährend Intimitätsschranken eingerissen, etwa indem jede Talkshow das Innerste eines Menschen dem Voyeurismus der Zuschauer darbietet. Das Motto lautet: "Ich bekenne." Das Resultat ist allerdings, daß der Studiogast sein Inneres dabei gar nicht mehr "preisgeben" oder "offenbaren" kann, weil das Intime und Persönliche sich in der Zur-Schaustellung bereits aufgelöst hat. Was uns da an angeblich intimen Gefühlen, Lüsten, Abgründen oder traumatischen Erfahrungen distanzlos aufgedrängt wird, sind nur noch schlechte Kopien authentischer seelischer Phänomene, da diese überhaupt nur unter dem Schutz der Intimität existieren können. Der gierige Blick der medialen Öffentlichkeit bemächtigt sich mit geheuchelter Anteilnahme gerade des Abnormen und Abgründigen, um es auf dem Bildschirm sich prostituieren zu lassen. Dabei muß der abgestumpfte Voyeurismus mit ständig gesteigerten Exhibitionen und Perversionen gefüttert werden, die im Moment ihrer Ausstrahlung den Reiz des Tabubruchs schon wieder verlieren. "Big Brother" kann als vorläufiger Höhepunkt dieser manischen Distanzlosigkeit gelten.

      Ähnliche Beobachtungen kann man beim allgemeinen Umgang mit Grenzverletzungen machen. In einer deutschen Großstadt begeht jeder vierte Autofahrer nach einer Kollision Fahrerflucht22: Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. Die gleiche Gesinnung verrät das Verhalten von Politikern in der jüngsten Parteispendenaffäre: "Ent-schuldigung" zu sagen ist heute keine Bitte mehr, keine Geste der Demut, sondern eine freche Selbstrechtfertigung für eine mutwillig begangene Grenzüberschreitung, deren Konsequenzen für andere schon einkalkuliert waren. Dreistigkeit wird belohnt, Schuldgefühle sind obsolet, bestenfalls zu bemitleiden. Schon bei Kindern gelten Zurückhaltung, Scheu und Schüchternheit als abnorm, sind Grund zum Aufsuchen eines Psychologen, während umgekehrt das selbstverständliche In-Besitz-Nehmen einer fremden Wohnung von den stolzen Eltern als Zeichen der Selbstsicherheit ihrer Sprößlinge gewertet wird. So sind sie für den Kampf um die Spitzenplätze der Gesellschaft am besten gerüstet.


      5) Ressourcenerschöpfung

      Der manische Mensch lebt über seine Verhältnisse. Die Beziehung zum eigenen Leib wie zur Natur ist von willkürlicher Verfügungsgewalt geprägt. Der Manische mißachtet die Bedürfnisse seines Körpers, gönnt ihm keinen Schlaf, ignoriert die Zeichen beginnender Erschöpfung. Der Körper wird ohne Rücksicht ausgebeutet, zum bloßen Vehikel und Instrument des übersteigerten Antriebs. Das gleiche gilt für die natürlichen und sozialen Ressourcen, die in bedenkenlosem Raubbau verschleudert werden. "Nach uns die Sintflut" ist das Prinzip des manischen Menschen. Sein letztes Ziel ist die Befreiung von allen Abhängigkeiten, die ihn an seine natürliche Basis binden.


      Nicht alle können im Rausch von Beschleunigung, Konsum und Life Style mithalten. Über zwei Millionen Haushalte in Deutschland sind bereits hoffnungslos verschuldet. Immer größer wird das Heer der Frühberenteten, die die jeweils nächste Modernisierungswelle nicht mehr bewältigen und schon nach zwei, drei Jahrzehnten ausgedient haben. In Japan, das in der gesellschaftlichen Beschleunigung eine Spitzenstellung einnimmt, kennt man "Karoshi", den Tod durch Überarbeitung. Aber auch bei uns kommt es zu Überforderungserscheinungen: Immer mehr Menschen erkranken seelisch und körperlich an ihrer Arbeit, soziale Bindungen zerfallen als Folge der Hypermobilität, während gleichzeitig millionenfach Arbeitskräfte dauerhaft brachliegen, weil sie von der Maschinerie nicht genutzt werden können.

      Jede sinnvoll konstruierte Maschine bedarf eingebauter Regulatoren, die ein Überdrehen verhindern: Überdruckventile, Thermostate, Drehzahlmesser, Bremsen. Wir sitzen in einer Maschine, deren Motor sich immer rascher dreht, die jedoch über keine Bremsen verfügt. Gehemmt wird diese Maschine allenfalls durch Reibung, also durch Widerstände ihrer Einzelteile. Einer solchen Maschinerie droht der Kollaps durch Überhitzung. Die manische Entgleisung einer Gesellschaft beginnt dort, wo sie ihre Ökonomie nicht mehr in ein Verhältnis zu ihren Ressourcen setzen, also nicht mehr haushalten kann - was ja im Grunde immer eine Synthese von Ökonomie und Ökologie impliziert. Daß heute die ökologische Sicht der ökonomischen gegenübersteht, ist an sich schon Zeichen einer manischen Entkoppelung, eines Raubbaus an der natürlichen Basis des Haushaltens.

      Der natürliche und traditionelle Weg, diese Verhältnismäßigkeit zu wahren, bestand in einem rhythmischen Wechsel, sei es von Bebauung und Brache, sei es von Verausgabung und Erholung, von Aktivität und Schlaf. Aber Muße, Pausen, Erwarten, Schlaf sind für den manischen Menschen keine wertvollen, erholsamen Zeiten mehr, sondern nur lästige Verzögerungen. Es geht darum, in der knappen Frist des Lebens soviel Welt zu trinken und sich einzuverleiben wie nur möglich. Man kann heute junge Mütter auf der Straße sehen, die Rollerblades-fahrend und Walkman-hörend ihren Kinderwagen schieben, das Handy am Gürtel tragen und dazu noch einen Hund an der Leine führen. Und wenn Jugendliche sich auf Raver Parties mittels Designerdrogen und Techno-Rhythmen in dissoziierte Bewußtseinszustände peitschen, während sie zugleich ihren Körper bis zur völligen Erschöpfung ausbeuten, so spiegelt sich in diesem Extrem nur der Umgang der gesamten Gesellschaft mit ihren natürlichen und sozialen Ressourcen.

      Nicht umsonst schwebt den Propheten des Cyberspace wie Marvin Minski oder Hans Moravec eine gänzliche Entkoppelung des Menschen von seiner irdischen Leiblichkeit vor.23 Im manischen Zeitalter ist unser Leib selbst zu einem störrischen und antiquierten Hindernis geworden.24 Wir sind dem Stand unserer digitalen Beschleunigungstechniken nicht mehr angemessene Wesen: immer noch daran gebunden, Raum und Zeit zu überbrücken, um unseren trägen Körper in eine andere Umgebung zu schaffen; immer noch abhängig von natürlichen Rhythmen, von Essen und Schlafen; immer noch angewiesen auf viel zu langsam wachsende, nicht konvertible soziale Bindungen, auf nicht transferierbare mitmenschliche Wärme. Anstelle dieser antiquierten menschlichen Welt verspricht das elektronische Paradies des Cyberspace eine schwerelose, von keiner Stofflichkeit mehr verunreinigte Sphäre der Information und des Geistes. Hier findet der manische Mensch endlich das vollständig volatile, nämlich virtuelle Medium seiner Bewegung. Befreit von den Widerständen der leiblichen Existenz, von Mühsal, Leid, Schmutz, Verfall und Tod, erhebt er sich wie Euphorion im Faust25 vom irdischen Boden und taucht ein in den leeren Raum der unbegrenzten Möglichkeiten.


      6) Maßlosigkeit (Dysproportionalität)

      Das Wesen des Manischen liegt letztlich im Verlust des Maßes oder der Proportion, die zu gewinnen und immer wieder herzustellen die grundlegende Aufgabe der menschlichen Existenz ist, insofern sie sich nicht im Absoluten vollzieht, sondern in Raum und Zeit, in endlichen, leiblichen und irdischen Verhältnissen. Der manische Mensch verdrängt diese Gebundenheit und Endlichkeit; er verliert sich selbst in den illusionären Möglichkeiten maßloser Beschleunigung, Bereicherung und Expansion, in den Größenphantasien von Lust, Macht und Unsterblichkeit. Die entkoppelte Expansion schlägt schließlich um in Depression und Verzweiflung.

      In den vorangegangenen Abschnitten hat sich die Maßlosigkeit immer wieder als gemeinsamer Nenner der manischen Phänomene gezeigt. Der Begriff des Maßes zielt dabei nicht auf einfaches "Maßhalten" oder die "goldene Mitte". Er bezeichnet vielmehr das jeweils angemessene Verhältnis polarer Prinzipien, die in der menschlichen Welt immer neu in Ausgleich zu bringen sind: etwa Bewegung und Ruhe, Beschleunigung und Retardierung, Innovation und Tradition, Verausgabung und Erholung, Extroversion und Introversion, Wunsch und Verzicht, Autonomie und Bindung. Die angemessene Proportion zwischen solchen Polen kann in einem rhythmischen Ausgleich entstehen wie bei Wachen und Schlafen, Arbeit und Ruhe usw. Sie kann aber auch darin liegen, in der Bewegung zum einen Pol hin den jeweils anderen präsent zu halten. So kann sich z.B. die räumliche Bewegung am Widerstand der Ruhe, des Beharrlichen abarbeiten und dadurch zu Erfahrung werden. Innovation enthält Tradition, wenn sie nicht bloß das Alte auswechselt, sondern das Neue aus dem Bestehenden heraus entwickelt. Eine Wunscherfüllung kann durchaus Verzicht beinhalten, wenn sie im Bewußtsein der Beschränkung und des Ausschlusses anderer Möglichkeiten geschieht.

      Die manische Maßlosigkeit besteht nun darin, daß sie den jeweils expansiven Pol von seinem hemmenden Gegenüber entkoppelt und verabsolutiert. Das hemmende Moment wird nicht mehr wahrgenommen, sondern verdrängt oder überrollt. Dadurch entsteht der Schein, als ließen sich Wünsche immer weiter steigern, Prozesse unaufhörlich beschleunigen, Informationen unbegrenzt vervielfachen oder Machtsphären immer weiter ausdehnen. Diese lineare Fortschreibung der manischen Bewegung übersieht den dialektischen Umschlag, der nach dem Verlust der Proportion notwendig erfolgen muß, und der schon mehrfach angedeutet wurde. Betrachten wir noch einmal einige Beispiele: In dem Maße wie die Wünsche und Ansprüche sich vervielfältigen, sinkt die Befriedigung, die ihre Erfüllung noch gewährt. - Wo die Fortbewegung immer schneller verläuft und ein Ziel immer rascher auf das nächste folgt, kommt man schließlich nirgendwo mehr an und könnte ebenso gut zuhause bleiben. - Je mehr Daten und Informationen zirkulieren, desto geringer das persönlich durchdrungene Wissen, desto größer die Dummheit. - Intimste Bekenntnisse vor der Öffentlichkeit verlieren gerade ihre Intimität und werden zu langweiligen Selbstdarstellungen. Und die unaufhörliche Steigerung von Erlebnis, Lust und Rausch mündet schließlich in Monotonie, Leere und Verzweiflung.

      Der Verlust des menschlichen Maßes im Erlebnis- und Beschleunigungsrausch ist auch das Thema des Faustischen Teufelspakts. Denn dieser Pakt bedeutet nichts anderes als die Aufhebung des hemmenden oder Ruhepols der Existenz, sinnbildlich dargestellt in Fausts Verjüngung und beliebiger Ortsveränderung. In Faust begegnen wir insofern dem Prototyp des manischen Menschen: "Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit! ... Nur rastlos betätigt sich der Mann."26 - Mephistos Erwiderung verspricht nun zwar die flüchtige manische Lust: "Euch ist kein Maß und Ziel gesetzt. Beliebts Euch, überall zu naschen, im Fliehen et-was zu erhaschen, bekomm Euch wohl, was Euch ergetzt!" - Doch Faust weiß sehr wohl um die innere Abgründigkeit des manischen Rauschs: "Du hörest ja: von Freud ist nicht die Rede! Dem Taumel weih ich mich, dem schmerzlichen Genuß, verliebtem Haß, erquickendem Verdruß ... Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, will ich in meinem innern Selbst genießen ... mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, und, wie sie selbst, am End auch ich zerscheitern." - Und wenig später: "So tauml ich von Begierde zu Genuß, und im Genuß verschmacht ich nach Begierde."27

      Die manische Flüchtigkeit ist nichts anderes als eine Flucht nach vorn - vor einem geheimen Schrecken, einer latenten Depressivität, vor Leid, Krankheit, Scheitern und Tod. Und am Grund des Rauschs selbst lauern wie bei Faust Leere und Verzweiflung. Die oberflächliche Fröhlichkeit und Euphorie des Manikers darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein Zustand mit Freude und Glück kaum etwas zu tun hat. Daher auch der häufige Umschlag der Euphorie in Gereiztheit oder in die gemischten Gefühle, die auch Faust beschreibt. Manche Kranke äußern bereits in der Manie, daß sie sich nicht wirklich zufrieden fühlen, die meisten erklären nach der Gesundung, daß sie kein Glück empfanden. Denn Glück liegt nicht in der manischen Getriebenheit in die Zukunft; Glück versammelt vielmehr die Lebenszeit mit ihren Freuden und Leiden in der Erfahrung von Gegenwart - im Augenblick, der als "Fülle der Zeit" erfahren wird. Der Verlust des menschlichen Maßes, der Taumel des Größen- und Beschleunigungswahns läßt solche Erfahrungen immer seltener und schließlich unmöglich werden.


      Das Studium der Manie lehrt uns die Bedeutung der "anthropologischen Proportion", des angemessenen Verhältnisses polarer Prinzipien für die menschliche Existenz.28 Man mag diesen Gedanken für die überholte Fixierung eines "Wesens des Menschen" halten. Die Postmoderne bestreitet jede Definition des Menschlichen als ideologisches oder kulturgebundenes Konstrukt; und im Zeitalter der Gentechnologie erscheint die Rede von einer menschlichen Natur endgültig als Anachronismus. Die Advokaten des schrankenlosen Fortschritts huldigen dem Relativismus, weil er sie am wenigsten hemmt. Der "Mensch nach Maß" ersetzt das menschliche Maß. Was also hindert uns an der permanenten Revolutionierung und Beschleunigung der Lebenswelt? Die zu Langsamen werden schließlich einmal aussterben. Warum sollten wir uns nicht immer schneller fortbewegen, immer schneller kommunizieren? Warum nicht mit der kognitiven Stimulierung der Kinder schon im Mutterleib beginnen? Warum nicht das Schneckentempo der Evolution technologisch beschleunigen, am Ende doch das Alter besiegen, ja Unsterblichkeit erlangen? Gibt es vielleicht eine überdauernde menschliche Natur, die solches verbietet?

      Es sei eine letzte Zeitdiagnose erlaubt: Eine anthropologische Proportion, ein inneres Maßverhältnis der menschlichen Existenz zu bestreiten, ist selbst schon ein Symptom des manischen Menschen.

      Fußnoten:

      1 "Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Menschen in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?" - Problemata Physica 953a, eine Schrift, die allerdings wahr-scheinlich nicht von Aristoteles selbst stammt. Dennoch wurde ihm der Satz seit der Antike zugeschrieben.


      2 Phaidros 244 a ff., 265 bf. - Das griechische `mania` kann als Wut, Raserei, aber auch Begeisterung, Rausch, Wahnsinn übersetzt werden; vgl. W. Leibbrand, A. Wettley (1961) Der Wahnsinn. Alber, Freiburg/München, S.8ff.


      3 H.J. Weitbrecht (1963) Psychiatrie im Grundriß. Springer, Berlin Göttingen Heidelberg, S.327.


      4 E. Bleuler (1983) Lehrbuch der Psychiatrie. 15. Aufl., neubearbeitet von M. Bleuler, Springer, Berlin Göttingen Heidelberg, S.469.


      5 Weitbrecht, l.c. S.320.


      6 L.Binswanger (1992) Über Ideenflucht. In: Ausgewählte Werke Bd.1, Asanger, Heidelberg, S.1.232; Zit. S137.


      7 Bleuler, l.c. S.467.


      8 Etwa die Zeitschrift "DM" oder die Bild-Zeitung; vgl. DER SPIEGEL Nr. 11/13.3.2000, S.104. - Die Statistik zählt derzeit über 5 Millionen Aktienbesitzer mit über 500 Milliarden DM Kapitelbesitz.
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      schrieb am 08.06.03 19:55:13
      Beitrag Nr. 2 ()
      danke, ich setze mittlerweile "manisch" mit patriarchisch gleich, und kannte den Artikel noch vom letzten Jahr! ;)
      Avatar
      schrieb am 09.06.03 09:58:59
      Beitrag Nr. 3 ()
      WEr soll DAS denn alles lesen??:rolleyes: :look:
      Im übrigen SIT gibts eh nimmer --Er hat wo gegeben + die mitgliedschaft beendet--ist ihm wohl zu ungemütlich hier geworde!!:D
      Avatar
      schrieb am 09.06.03 10:48:54
      Beitrag Nr. 4 ()
      Von manischen Menschen wird es sicher nicht gelesen! Sit kommt garantiert wieder - der hat einen sympathischen Mitteilungsstau!
      Avatar
      schrieb am 09.06.03 11:09:31
      Beitrag Nr. 5 ()
      DieMänner, die wir brauchen,
      gibt es nicht.

      Höchste Zeit, den Ritter als Leitbild neu zu entdeckenFrauen sind die besseren Chefs – auch von Männern bevorzugt, berichtete im Januar die Londoner „Times“. Im Februar meldete das Statistische Bundesamt, die Durchschnittsnoten der Abiturientinnen lägen einen Notenpunkt vor denen der Abiturienten. Die Zahl der Mädchen, sagt mein Sohn, sei in dem leistungsstärkeren Mathe-A-Kurs der Orientierungsstufe fast doppelt so hoch wie die der Jungen. Und weiter: 1999 gab es mehr Studentinnen als Studenten. Bei sämtlichen Universitätsabschlüssen steigt die Zahl der weiblichen Prädikatsexamina beständig an.

      Dennoch sind Führungspositionen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft immer noch weit überwiegend in Männerfäusten. Aber offenbar nicht mehr lange: Siemens-Vorstand Heinrich von Pierer forderte schon 2001, angesichts des allgemeinen Geburtenrückgangs müssten Frauen endlich auch die Topjobs auf den Führungsetagen besetzen und mehr Physik und Ingenieurwissenschaften studieren. Das „Kapital“ will die Emanzipation der Frauen!

      Dem steht das Versagen der Männer gegenüber: schlechte Leistungen, schleichende Erziehungsausfälle, sinkende Motivation, fehlende Leistungsethik und kultureller Verfall. Doch der Abstieg beschränkt sich nicht auf Schule und Beruf. Er greift die Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens an: In empirischen Untersuchungen wird deutlich, dass der Anteil junger Männer mit kriminellen Neigungen immer größer wird, über ein Drittel sei gar zu offenem kriminellen Handeln bereit. Die organisierte Kriminalität – von jeher fast reine Männerdomäne – ist in Europa zu einer machistischen Gegenwelt männlicher Machtstrukturen geworden. Sie unterminiert die Menschenrechtsbasis unserer Zivilisation – nicht zuletzt unter Ausbeutung der weiblichen Sexualität. Amerikanische Soziologen bringen das so auf den Punkt: Ohne moralisch integere, beruflich hoch motivierte, leistungsfähige und sozial engagierte Frauen wäre das ökonomische, soziale und politische System der westlichen Demokratien längst gescheitert.

      Ohne die Moral und Motivation der
      Frauen wäre die Demokratie in Gefahr
      Die schlechten Nachrichten hören damit allerdings nicht auf. Der Charme der von Männern so geliebten Hierarchie, sagen Systemtheoretiker, sei angesichts der Globalisierung und der mit ihr gestiegenen soziokulturellen Komplexität längst dahin. Nicht Ein- und Unterordnung, nicht Befehl und Gehorsam seien die Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart, sondern eine gänzlich andere Ordnung: die der Kommunikation und Vernetzung, paradigmatisch dargestellt am Siegeszug des Internets. Vernetzt handeln, denken und kommunizieren aber ist eine Frauendomäne, sagen Forscher, weil es Frauen weitaus leichter fällt als Männern, miteinander zu reden und gemeinschaftlich zu entscheiden.

      Gesellschaften oder Kulturen, die die Vorteile von Frauen zu nutzen wissen, haben – nüchtern gesprochen – allen anderen gegenüber erhebliche Evolutionsvorteile. Umgekehrt dürfte es jenen ergehen, die Frauen missachten, ihre Leistungen verkennen oder sie stumpf unterdrücken: Sie nutzen ihre Ressourcen nicht ausreichend und stürzen in erhebliche Krisen und Konflikte. Doch unsere Welt ist voll von Frauen missbrauchenden, Krieg führenden, Chaos, Gewalt und Unglück verbreitenden Machos und Eiferern, die die Möglichkeiten und Chancen von Frauen allzu leicht mit Gewalt zunichte machen könnten. In mancher Hinsichtt geschieht dies übrigens auch bei uns.


      Was tun? Männerversagen ist kein genetisch männliches Problem, sondern ein soziales und kulturelles Versagen. Im Prozess der Modernisierung ist der Aufstieg der Frauen ursächlich mit der Öffnung, Liberalisierung, Emanzipation und mit einem leistungsstarken Frauen(emanzipations)muster verbunden. Derweil hat das kulturelle Muster männlichen Denkens und Verhaltens im 20. Jahrhundert keine vergleichbare Innovation durchlaufen. So konnte es geschehen, dass insbesondere junge Männer zu Opfern der Modernisierung wurden.


      Männer, sagen Forscher, brauchen nämlich feste Regeln und Orientierungsmuster. Ist das Regelsystem ethisch, sind offenbar auch seine Anhänger im üblichen Umfang ethisch eingestellt. Feste Regeln verweigert jedoch die Moderne. Statt einer „Leitkultur“ bietet sie eine chaotische Cafeteria von Glaubenssätzen, Ethiken und Regeln aller Art, denen man folgen oder es auch lassen kann.

      Im Zweifelsfalle lassen Männer es und konzentrieren ihre Energie auf das, was man eine männliche Trash-Kultur nennen könnte. Für Leistungsmotivation oder ethische Gemeinschaftsleistungen bleibt da wenig Platz. So tritt – soziologisch gesehen – der wohl schlimmste Fall ein: Jene Regellosigkeit (Anomie), die nicht aus dem Zusammenbruch eines Regelsystems herrührt, sondern aus einem Überfluss an Regeln, die alle nebeneinander gelten. Damit kommen Männer nicht klar. Die moderne Gesellschaft versagt als Folge der Modernisierung auf tragische Weise bei der Entwicklung eines modernen Männermodells.

      Allerdings kann „Mann“ der Tragödie entgehen, wenn dies auch nicht einfach ist. Denn ein zeitgemäßes Männer(emanzipations)muster muss den soziokulturellen Widerspruch von Regelloyalität und Regelpluralismus lösen. Die Kernfrage lautet: Wie lernen Männer, sich an Regeln zu halten, obwohl sie es nicht müssen? Zugespitzt: Wie kann sich ein neues, gesellschaftlich akzeptiertes, einheitliches Männerbild etablieren, wenn gleichzeitig auf dem privaten Markt der Leitbilder die Regellosigkeit propagiert wird, und zwar in Form der „Quotendiktatur“: Erlaubt ist, was gefällt?

      Doch „die Medien“ machen den Trend ja nicht, sondern verstärken nur die bestehenden Marktlücken, sagen die Medienforscher. Mithin entstehen neue gesellschaftliche Muster zumeist „von unten“. Für die Männer bedeutet das in diesem Zusammenhang: Sie müssen einen schwierigen Richtungswechsel von der Regelloyalität zur Selbstmoralisierung vornehmen, also etwas zutiefst Weibliches tun, etwas, was im Leben wie im Film Männern meist erst im Alter gelingt.

      Es ist jedoch nicht so, dass unsere Kultur keine Anknüpfungspunkte für einen solchen Kurswechsel böte. Denn wenn es überhaupt ein erfolgreiches Männerleitbild gibt, dann den „christlichen Ritter“. Als Zivilisationsmodell für raubeinige Haudegen hat es bis weit in die Moderne hinein gewirkt. In dem, was wir alles unter Fairness verstehen, wirkt er bis heute weiter. „Fair“ bedeutet: regelgemäß, aber auch moderat, klar, ehrlich, echt, höflich und elegant. Es ist ein ferner Nachhall der Tugenden der Tafelrunde: „mâze“ (Selbstbescheidung), „stæte“ (Beständigkeit), „milte“ (rachelose Mildtätigkeit), „zuht“ (Training, Leistung, Selbstbeherrschung) und zuvörderst „minne“, so klang es mittelhochdeutsch.
      Stellt man sich so nicht den emanzipierten Mann vor – ein selbstbewusster, männlicher Typ ohne Machtspielchen und Frauenverachtung? Aber hat das heute noch irgendeine Relevanz, wo doch schon Profisportlern klar ist, dass man nicht „fair“, sondern nur im richtigen Moment „foul“ handeln muss, wenn man was erreichen will? Vom Respekt für Frauen ganz zu schweigen.

      Das erfolgreiche Leitbild für Männer gibt
      es bereits: den christlichen Ritter
      Doch warum eigentlich nicht? Rittertum war immer offene Anleitung zur Selbstmoralisierung für freie, selbstbewusste Männer, für trainierte Profis und Krieger – nicht etwa für Weicheier. Es entstand ganz modern: aus einer intellektuellen Reformbewegung, verbreitet durch Bestseller wie „Nibelungenlied“ und „Artussage“ und fand massenhafte Nachahmung, weil Männer, Machos und Draufgänger aller Nationen geradezu eine religiöse Sehnsucht nach einem Leitbild hatten, das sie in ausweglos scheinender, anomischer Lage (wie seinerzeit im Mittelalter) endlich einen Weg für sich selbst und zum anderen Geschlecht gewinnen ließ.

      Die Parallelen zu heute sind augenscheinlich: von der Suche nach Männlichkeit, Zucht und Selbstdisziplin, von der esoterischen Sehnsucht nach Sinn und Orientierung bis hin zum Traum von einer verstehenden Beziehung zwischen den Geschlechtern. Und wird nicht auch verzweifelt nach pädagogischen Leitbildern für die Männersozialisation gesucht? Warum aus außereuropäischen Kulturen importieren, wenn man die eigenen Wurzeln kultivieren kann? Diese Wurzeln benötigen vielleicht nur ein zeitgemäßes und demokratisches Treibhaus. Warum versuchen wir es nicht? Unsere Jungs würden es danken – jeder Besuch auf Mittelaltermärkten belegt, wie sehr sie sich davon faszinieren lassen.

      Apropos Leitbilder: In jüngster Zeit erweisen sich türkisch-stämmige junge Männer in Umfragen als ethisch gefestigter als ihre deutschen Geschlechtsgenossen. Sie können zum Beispiel Delikte leichter einordnen. Allerdings halten auch sie bei weitem keinen Vergleich mit jungen Frauen aus!

      DIETER OTTEN, 59, ist Professor für Soziologie in Osnabrück. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den Veränderungen der Männer- und Frauenrollen. Er veröffentlichte das Buch „MännerVersagen“, nun entsteht eines über „die Kunst, ein richtiger Mann zu sein“. Seit Jahren gilt Otten zudem als Fachmann für Wahlen per Internet („i-vote“;)
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