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    Der Hinterhof Europas - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 30.04.04 08:40:38 von
    neuester Beitrag 01.08.04 13:44:51 von
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      schrieb am 30.04.04 08:40:38
      Beitrag Nr. 1 ()


      EU-Erweiterung:

      In Europas Hinterhof


      Die künftigen Nachbarn der erweiterten EU fürchten neue Hemmnisse. Sie fühlen sich ausgesperrt.

      Vor dem polnischen Konsulat im ukrainischen Lwiw haben sich etwa zwei Dutzend Demonstranten versammelt. " Weg mit der neuen Berliner Mauer" steht auf selbst gemachten Spruchbändern. " Wir sind gegen den Aufbau neuer Trennlinien zwischen Polen und Ukrainern" , klagt die pensionierte Kinderärztin Lesja Moltschanowska. Sie hat Verwandte in Warschau, der polnischen Hauptstadt.

      Unter dem Druck der EU hat Polen im Herbst 2003 die Visumpflicht für Ukrainer eingeführt und damit die Reisefreiheit der Nachbarn nach zehn Jahren wieder beschränkt. Zwar werden die Visa kostenlos ausgestellt, doch der Aufwand ist groß, die Schlange vor dem polnischen Konsulat in Lwiw lang. Wer nicht tagelang anstehen wolle, müsse der Mafia einen Obolus zahlen, flüstern die Leute.

      Grundfreiheiten schrittweise ausdehnen

      Von Kaliningrad im Norden bis Moldawien im Süden, bei den neuen Nachbarn der erweiterten Union geht die Angst vor Abschottung und Ausgrenzung um. Die neue EU-Außengrenze ist abgesichert, Nicht-EU-Bürger benötigen ein Visum. Die polnische Ostgrenze etwa wurde mit EU-Geldern zu einem Hochsicherheitswall mit Dutzenden neuen Wachtürmen ausgebaut. Tausende polnische Zollbeamte wurden von der Odergrenze in den Osten zwangsverlegt. " Wir hatten keine Wahl, entweder Dienst in Kroscienko oder Arbeitslosigkeit" , sagt der junge Zöllner Pawel, der nun ukrainischen Schmugglern nachjagen muss.

      In Brüssel werden die Ängste der Menschen jenseits der neuen EU-Außengrenze als " unbegründet" abgetan. Die EU legte vor einem Jahr ein Konzept des " größeren Europa" vor, das sich gegen neue Trennlinien auf dem Kontinent wendet. Zwar will Brüssel an der Visumpflicht nicht rütteln, doch die Vergabe " nach Möglichkeit" erleichtern. Damit kein neues Wohlstandsgefälle entsteht, sollen Reformen bei den Nachbarn der EU finanziell unterstützt werden. Brüssel strebe die " Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums" an, der auch die Staaten vor den Toren der EU umfasse, heißt es in dem Konzept. Damit könnten die vier Grundfreiheiten in der Union, der freie Verkehr von Menschen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital, jenseits der EU-Grenze schrittweise ausgedehnt werden.

      Türkei trifft auf Widerstand

      Die Formulierungen in dem Konzept aber bleiben vage. Selbst für die EU-Neulinge wird die Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt erst einmal für zwei bis sieben Jahre ausgesetzt. Die Idee des größeren Europa scheitere an dem Versuch, den neuen Nachbarn eine klare Beitrittsperspektive zu geben, klagen die Regierungen von Kiew bis Tirana. Mit Ausnahme von Russland und Weißrussland streben alle anderen europäischen Länder den EU-Beitritt an, also die Ukraine, Moldawien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Serbien-Montenegro und Kroatien. Brüssel spricht ihnen das Beitrittsrecht nicht ab, will aber vor einer neuen Erweiterungsrunde " prinzipiell" über die Grenzen Europas debattieren.

      Ob die Türkei in diesen Grenzen liegt, wird bereits diskutiert. Die EU hat das Land 1999 zum Beitrittskandidaten gemacht, ihm gar vor 40 Jahren die Vollmitgliedschaft versprochen, doch Verhandlungen werden nicht geführt. Unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hätten die Türken " bemerkenswerte Fortschritte" bei den Menschenrechten und der Pressefreiheit erzielt, lobte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi bei seinem Besuch im Januar. Auch die Wirtschaftsreformen kommen schnell voran. Dennoch lehnen viele europäische Politiker den Beitritt der Türkei ab. In Deutschland führen die Oppositionsparteien CDU und CSU den Widerstand an.

      Russland erwartet Exporteinbußen

      Fest steht, dass Rumänien und Bulgarien der Union beitreten werden. In Bukarest klagt man aber darüber, dass die Verhandlungen nach dem Kopenhagener Erweiterungsgipfel Ende 2002 beinah zum Stillstand gekommen seien. Offiziell stellt Brüssel den beiden Ländern den Beitritt im Jahr 2007 in Aussicht. " Wir rechnen heute eher mit 2008" , verrät ein hoher EU-Beamter.

      Im Zuge der Erweiterungen sieht Russland das EU-Gebiet heranrücken. Grundsätzlich protestiert Moskau nicht gegen den EU-Beitritt seiner Nachbarn. Russland verlangt aber Handelserleichterungen und finanzielle Kompensationen von der EU für potenzielle Exporteinbußen.

      Billige Arbeitskräfte gefährdet

      In Warschau wird die Verschiebung der EU-Grenze nach Osten mit zwiespältigen Gefühlen betrachtet. Polen entwickelte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus besonders intensive Kontakte zu den Nachbarn, besonders zur Ukraine, und profilierte sich als Regionalmacht. Auf der anderen Seite der Grenze sagt auch der ukrainische Publizist Mykola Rjabtschuk: " Wir haben von dem Austausch mit Polen in politischer wie kultureller Hinsicht enorm profitiert." Das dürfe nicht aufs Spiel gesetzt werden. " Polen ist für die Ukraine zu einem Tor nach Westen geworden."

      Polnische Gemeinden entlang der ukrainischen Grenze befürchten auch negative wirtschaftliche Folgen des neuen Visumzwangs. Denn die Grenzregion lebte bisher vom Handel und vom Schmuggel mit billigem ukrainischen Wodka und Zigaretten. Ukrainische Arbeitskräfte, vor allem auf den Feldern und auf dem Bau, sicherten das Überleben vieler polnischer Betriebe. " Kein Pole würde mehr für das Geld arbeiten, das ich meinen ukrainischen Arbeitern bezahle" , sagt Krzysztof Janas, der Ukrainer als Erntehelfer einstellt. Während polnische Putzfrauen im Westen jobben, arbeiten in Polen über 100.000 ukrainische Haushaltshilfen. Mit Polens EU-Beitritt wächst für sie das Risiko, festgenommen und ausgewiesen zu werden.

      Kontrolle wird erleichtert

      Im totalitär regierten Weißrussland befürchtet die Opposition, die neue Grenze könne den politischen Austausch verhindern. Denn die Visumspflicht gilt nun auch für die Nachbarn, die ins Land kommen - und erleichtert den Behörden die Kontrolle. " Unsere Konsulate können nun kritischen polnischen Journalisten, Literaten, Gewerkschaftern oder Politikern die Einreise verweigern" , sagt Vynzuk Viatschorka, Chef der Weißrussischen Volksfront. Dieser Erfahrungsaustausch sei aber wichtig für die junge Demokratiebewegung.

      " Eine Grenze bedeutet immer einen Rückgang der persönlichen Kontakte" , sagt Krzysztof Czyzewski, Begründer der Grenzland-Stiftung zur Förderung des weißrussisch-polnischen Kulturaustausches im nordostpolnischen Sejny. " EU darf aber nicht für Armut, Ausschluss und Ausweglosigkeit stehen."

      Aus Financial Times Deutschland vom 29.4.04
      http://www.ftd.de/pw/eu/1082789292402.html
      Avatar
      schrieb am 30.04.04 08:42:15
      Beitrag Nr. 2 ()
      Bulgarien

      Um den Beitritt zur EU wie anvisiert im Jahr 2007 zu schaffen, muss die bulgarische Regierung noch bis Ende dieses Jahres fünf der 31 Kapitel der Beitrittsverhandlungen abschließen.
      Das wird nicht einfach werden, denn der bulgarische Premier Simeon Sakskoburggotski hat seine Mehrheit im Parlament verloren und genießt in der Bevölkerung keine große Popularität mehr. Die wirtschaftliche Situation ist dennoch solide, das Bruttoinlandsprodukt wuchs vergangenes Jahr um 4,6 Prozent, Bankvolkswirte rechnen mit etwas höheren Raten für die kommenden zwei Jahre.

      Währungspolitisch herrscht Stabilität, denn der Lev ist an den Euro fest gekoppelt, und auch der Haushalt war vergangenes Jahr ausgeglichen.

      Rumänien

      Im Jahr 2007 soll das Land der EU beitreten, und davor bleibt noch eine Menge zu erledigen. Die EU-Kommission bescheinigt dem Land erhebliche Mängel vor allem in der Verwaltung und bei der Bekämpfung der Korruption. Erst 22 der 31 Verhandlungskapitel zum Beitritt sind abgeschlossen, so schwierige Themen wie Landwirtschaft und Regionalpolitik stehen noch aus.
      Die konjunkturelle Situation ist günstig. Für 2004 erwartet die Bank Austria Creditanstalt ein Wirtschaftswachstum von 4,7 Prozent. Ein Wachstum allerdings auf niedrigem Niveau: Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 31 Prozent des Durchschnitts der erweiterten EU.


      Kroatien

      Erst vergangene Woche hat die EU-Kommission Wohlwollen gegenüber dem kroatischen EU-Beitrittsgesuch signalisiert. Der neue Ministerpräsident Ivo Sanader visiert den Beitritt für das Jahr 2007 an. In der EU ist das aber umstritten.
      Eine Bedingung ist eine bessere Kooperation mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Wirtschaftlich steht Kroatien besser da als die Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien, auch wenn sich die Konjunktur derzeit abkühlt. Die restriktive Geldpolitik bremst die Kreditvergabe und den privaten Konsum. Wichtigste Stütze der kroatischen Wirtschaft ist weiterhin der Fremdenverkehr.

      Albanien

      Politische Instabilität belastet das kleine Land an der Adria. Der innerparteiliche Machtkampf innerhalb der regierenden Sozialisten hemmt wirtschaftspolitische Reformen.
      Das Land mit seinen 3,4 Millionen Einwohnern ist zwar arm, und die Landwirtschaft macht immer noch rund 30 Prozent der albanischen Wirtschaftsleistung aus.

      Das Wirtschaftswachstum ist aber das höchste in der Region, im vergangenen Jahr betrug es rund sechs Prozent. Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft trieben das Haushaltsdefizit auf zuletzt 6,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das Interesse ausländischer Investoren ist bislang gering

      Serbien-Montenegro

      Nach der Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic im März 2003 fehlt dem Land ein Reformmotor. Der derzeitige serbische Regierungschef Vojislav Kostunica steht Wirtschaftsreformen skeptisch gegenüber.
      Weil seine Regierung die Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verweigert, hat die US-Regierung Finanzspritzen für das Land gestrichen. Zudem herrscht Unsicherheit über die Zukunft des Staatenbundes mit Montenegro und die Entwicklungen im offiziell zum Staat gehörenden Kosovo.

      Ukraine

      Obwohl geografisch ein Teil Europas, ist das Land politisch und wirtschaftlich weit von der EU entfernt. Ein Beitritt in absehbarer Zeit wird darum von Beobachtern ausgeschlossen. Der langjährige Präsident Leonid Kutschma steht wegen seines autoritären Regierungsstils in der Kritik. Im Oktober wird ein neuer Präsident gewählt.
      Ob die notwendigen Reformen in Gang kommen, wenn Kutschma wie erwartet im Herbst nicht mehr im Amt sein sollte, ist offen. Wirtschaftlich sind Fortschritte zu verzeichnen. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs 2003 um rund acht Prozent. Das Land profitiert von den steigenen Metallrohstoffpreisen. Rund 40 Prozent der Exporte sind Rohstoffe wie Eisenerze und andere Metalle.

      Moldawien

      Östlich von Rumänien liegt das Armenhaus Europas. Die Regierung kontrolliert nur den westlichen Landesteil. In der östlichen Region leben hauptsächlich ethnische Russen und Ukrainer, die eine eigene Regierung eingesetzt haben und unabhängig werden wollen.
      Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei deutlich unter 500 Euro im Jahr, was ungefähr einem Drittel des albanischen Niveaus entspricht. Viele Menschen wandern lieber aus, die Bevölkerung schrumpft.

      Türkei

      Dieses Jahr wird sich vermutlich entscheiden, ob die EU mit dem muslimischen Land Verhandlungen über seinen Beitritt aufnimmt. Die Entscheidung ist umstritten. Selbst wenn sich die EU zu Verhandlungen entschließt, ist völlig offen, wann die Türkei beitreten könnte.
      Experten halten das frühestens Mitte des kommenden Jahrzehnts für denkbar. Wirtschaftlich ist die Türkei durch große Gefälle gekennzeichnet: Die Finanzmärkte schwanken zwischen Boom und Absturz. Und zwischen Stadt und Land unterscheidet sich der Lebensstandard stark.

      Der gegenwärtigen Regierung unter Recep Tayyip Erdogan ist es gelungen, Reformen in Gang zu setzen, etwa bei den Menschenrechten. Die Todesstrafe wurde kürzlich abgeschafft.

      Mazedonien

      Das Verhältnis zwischen den slawischen Mazedoniern und der Minderheit der ethnischen Albaner bleibt gespannt, im Jahr 2001 war es zu einer mehrmonatigen Krise gekommen. Bislang hält der in Ohrid 2001 vereinbarte Friedensvertrags. Die Regierung hofft auf einen EU-Beitritt in einigen Jahren, im März hat sie das bei er EU beantragt.
      Die Wirtschaft hat sich seit der Krise wieder erholt, ist aber mit einem prognostizierten Wirtschaftswachstum von 3,0 Prozent für die kommenden beiden Jahre vergleichsweise schwach. Ein Risiko für die politische Stabilität und die Beitrittschancen.

      Bosnien-Herzegowina

      Die andauernde politische Spaltung in zwei Staatsteile und drei Volksgruppen lähmt das Land. Die Wunden des Krieges von 1992 bis 1995 sind längst nicht verheilt.
      De facto ist das Land noch heute ein Uno-Protektorat unter dem Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown. Seit 1996 steigt die Wirtschaftsleistung - zunächst sehr stark befördert durch internationale Hilfen. Inzwischen ist das Wachstum auf rund vier Prozent zurückgegangen.

      Die Sicherheitslage ist dank der Präsenz ausländischer Soldaten, der Sfor, stabil. Das Kommando wird zum Ende des Jahres die EU von der Nato übernehmen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 40 Prozent, und viele Familien sind von Überweisungen von Verwandten in Westeuropa und Nordamerika abhängig.


      http://www.ftd.de/pw/eu/1082789292402.html
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      schrieb am 01.05.04 11:52:28
      Beitrag Nr. 3 ()
      Cordon Sanitaire

      Wie das erweiterte Europa seine infizierten Nachbarn ausschließt - ein Blick aus der Ukraine


      Juri Andruchowytsch
      In den Tagen, in denen Europa - zumindest die offizielle Regierungs-Oberfläche - sich mit allen Kräften auf sein Vereinigungs-Fest vorbereitet, werde ich immer öfter gefragt, wie all das von der Ukraine aus gesehen wird. Was denken die Outsider über den fremden 1. Mai? Was ist das für ein Gefühl - sich ein für allemal bewusst zu werden, Nichteuropäer zu sein, an der Grenze eines fremden Maiengartens stecken gebliebene Barbaren-Nachbarn?

      Im Grunde ist es zu spät, danach zu fragen: Am 1. Mai ändert sich für uns nichts mehr. Das Datum unserer Abtrennung von der Zukunft war der 1. Oktober 2003, als Polen und Ungarn die Visumspflicht einführten. An diesem Tag entstand an unserer Westgrenze eine neuzeitliche Alternative zum Eisernen Vorhang - ein cordon sanitaire. Ja, man wird uns trotzdem nach Europa hineinlassen, dabei aber ein durchaus zivilisiertes Sieb aus Verfahren, Überprüfungen und Beschränkungen anwenden. Ausgeführt zwar von nicht immer zivilisierten polnischen oder, sagen wir, ungarischen Grenzschützern. Aber basierend auf dem völlig berechtigten Verdacht, dass wir, ein fremdartiger Antikörper, Europa vor allem Schaden zufügen könnten.

      Das Adjektiv sanitaire sieht unzweideutig bestimmte Säuberungsmaßnahmen vor. Das ist wie beim Verlassen eines Ortes, der von der Maul- und Klauenseuche befallen ist - man schickt Sie durch einen besonderen Gang mit Sägespänen, die mit schrecklich riechenden Desinfektionsmitteln getränkt sind. Der Eiserne Vorhang war zumindest ehrenvoller!

      Es stimmt, dass wir alle in unserem Land äußerst gefährlich infiziert sind. Infiziert mit einer fatalen Polittechnologie, wie sie unsere Führung so selbstmörderisch und verstockt verkörpert, infiziert mit Armut, Dummheit, Passivität und Unglauben. Außerdem infiziert von Russland - ich benutze diese Metapher ganz bewusst, lege mir Rechenschaft darüber ab, dass sie kontrovers und - wie sagt man? - politisch nicht korrekt ist.

      Ich verstehe auch, dass es zwei Wege gibt, mit infizierten Organismen umzugehen: man kann sie heilen, oder so umfassend wie möglich isolieren - von denen, die als gesund gelten. Der zweite Weg ist viel pragmatischer, und einfach: wie eine Amputation. Der erste ist unvergleichlich teurer und furchtbar mühsam, so eine long and winding road mit einem Kamel und einem Nadelöhr im Finale. Zudem verlangt er unzählige Anstrengungen des Infizierten.

      Weil solche Anstrengungen mit bloßem europäischem Auge praktisch nicht zu erkennen sind, versucht man wohl, in Bezug auf uns jenen zweiten Weg zu gehen - den der Amputation. Dieses wunderliche Land, das es in den zwölf Jahren seiner unabhängigen staatlichen Existenz weder geschafft hat, ein mehr oder weniger attraktives eigenes Gesicht hervorzubringen, noch eine verständliche geopolitische Idee zu formulieren, dieses Land verdient offenbar aus Sicht der wichtigsten Spieler des Alten Europa nichts anderes.

      Paradoxerweise haben die prowestlich eingestellten Ukrainer im vergangenen Jahrzehnt bedeutend mehr Unterstützung und Verständnis von den USA erfahren als von der EU. Von europäischer Seite wurde nichts Neues angeboten, nur die jahrhundertealte Idee einer "Pufferzone" (so eines grauen Territoriums zwischen Russland und dem Westen, dessen einzige Bestimmung es wäre, ihnen, also Russland und dem Westen, bei ihrer Partnerschaft nicht im Wege zu stehen).

      In diesem Zusammenhang beginnt man, die eigentlich optimistische Umschreibung "Neue Nachbarn" ganz anders zu verstehen - als einen im Grunde zynisch-grausamen bürokratischen Euphemismus. Die Neuen Nachbarn - das sind die, die Europa für alle Fälle vom nicht ganz bequemen Russland abgrenzen. Was der ukrainischen Obrigkeit mal wieder die Möglichkeit gibt, sich zu ihrer geliebten antiwestlichen Rhetorik zu versteigen, mit der flügellosen geflügelten Maxime "In Europa wartet niemand auf uns." Damit bin ich übrigens einverstanden. Wenn man unter "uns" "sie" versteht - diese herrschende Mischung aus alter Nomenklatura, neuen Kriminellen und ihnen unterstehenden Sicherheitsorganen -, dann wartet man in Europa auf sie wirklich nicht. Und tut gut daran.

      In letzter Zeit kann man allerdings in europäischen politischen Kreisen von Anzeichen eines Richtungskampfes bezüglich der Haltung zur Ukraine sprechen. Und wenn heute auch die Anhänger der Isolations-These "Die Ukraine außerhalb von Europa" noch in der Überzahl sind, so heißt das doch keinesfalls, dass alles endgültig entschieden ist und dass der 1. Mai für uns das Ende der Geschichte bedeutet. Allein die Tatsache, dass innerhalb des europäischen Politikums eine wie auch immer geartete Diskussion bezüglich der Ukraine begonnen hat, zeugt von einer hoffnungsvollen, wenn auch verspäteten Aufhellung. Noch vor drei oder vier Jahren stand die Ukraine gar nicht zur Debatte.

      Inzwischen bereitet das Leben selbst Überraschungen. Augenzeugen berichten von einer nicht vorhergesehenen Erscheinung der letzten Wochen - von der fast schon panischen Bewegung polnischer Bürger, die in den von Arbeitslosigkeit und Armut befallenen Grenzgebieten leben - im sogenannten Polen C, also "Polen dritter Klasse" - in Richtung Ukraine. Zum Glück brauchen sie kein Visum: die Ukraine hat sich entschieden, diese für ihre westlichen Nachbarn überhaupt nicht einzuführen (eine Geste guten Willens, die man in Europa wohl kaum bemerkt haben wird).

      Manche von ihnen überschreiten die Grenze dreimal am Tag. Bevor sich die Katastrophe des 1. Mai nähert, legen sie letzte Vorräte an (Nahrungsmittel, Zigaretten, Alkohol, Benzin). "Gut, dass es die Ukraine gibt, wo man alles kaufen kann, was man braucht, und zu viel niedrigeren Preisen", sagen sie, und in ihren Augen ist kein freudiges Feuer des Vorgefühls einer hellen europäischen Zukunft zu sehen.

      Vielleicht ist diese Bewegung an der Grenze wirklich eine Erscheinung des am 30. März in der Kiewer Oper offiziell begonnenen Jahres Polens in der Ukraine? Zumindest dessen Motto - "Die Ukraine und Polen gemeinsam in Europa" - erscheint im Lichte dieses Kataklysmus gar nicht so absurd. Ja, in Wirklichkeit sind wir alle gemeinsam in Europa, in einem etwas anderen Europa, nicht in dem, das man üblicherweise als das einzig mögliche betrachtet.

      Ihre Antwort auf den europäischen 1. Mai wird die ukrainische Gesellschaft etwas später formulieren - am 31. Oktober oder spätestens am 14. November. Dann wird unser Land einen Präsidenten wählen, und das ist die Chance, sich zum ersten Mal aus dem Teufelskreis des postsowjetischen, von Moskau aus kontrollierten Nomenklatura-Machtmodells zu befreien. Der Sieg eines anderen Politikers (und er ist durchaus möglich) wird vor allem von der Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbsterneuerung zeugen. Daher hat auch das von einem unserer polnischen Anwälte erdachte Motto "Gemeinsam in Europa" die Chance, sich von der Utopie in Realität zu verwandeln.

      Aus dem Ukrainischen von S. Stöhr.

      Juri Andruchowytsch, geboren 1960, ist Lyriker und Romancier. Er lebt in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine. Im Suhrkamp-Verlag erschien seine Essay-Sammlung "Das letzte Territorium" (Frankfurt am Main, 2003. 192 S., zehn Euro).

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      Foto: Was denken die Outsider über den 1. Mai? Familienbegegnung in Solonci an der Grenze der Ukraine zur Slowakei, also zur EU.



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      Berliner Zeitung Freitag, 30. April 2004

      http://www.BerlinOnline.de/berliner-zeitung/feuilleton/33696…
      Avatar
      schrieb am 01.05.04 11:59:03
      Beitrag Nr. 4 ()
      Ist die Teilung Europas wirklich überwunden?

      Wohl kaum jemand hätte 1991, dem Jahr des Zerfalls der Sowjetunion, vorauszusagen gewagt, dass die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen dreizehn Jahre später Mitglieder der EU sein würden. Zuvor waren sie während Jahrzehnten Sowjetrepubliken. Und wer hätte sich 1989, dem Jahr des jähen Abbruchs des Eisernen Vorhangs und des brüsken Endes der Herrschaft der Kommunisten in Ostmitteleuropa, vorstellen können, dass sich die überall erhobene Forderung «Zurück nach Europa» in weniger als fünfzehn Jahren erfüllen würde?

      Am 1. Mai 2004 werden neben den drei baltischen Staaten sowie Malta, Zypern und Slowenien, der einstigen Teilrepublik des titoistischen Jugoslawien, auch die vier ehemaligen kommunistischen Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn offiziell in die EU aufgenommen. Ihre politischen und kulturellen Eliten hatten sich immer, auch in der Zeit der kommunistischen Fremdherrschaft, als dem lateinisch geprägten Westen Europas zugehörig gefühlt. Sie verstanden sich nie als Teil des byzantinisch-orthodoxen Ostens, wo sich im Laufe der Jahrhunderte ein anderes Staatsverständnis und eine unterschiedliche politische Kultur herausgebildet hatten. Diese vier Länder, die durch den Zweiten Weltkrieg gegen ihren Willen in den sowjetischen Einflussbereich geraten waren, sind dorthin zurückgekehrt, wohin sie aufgrund ihrer Geschichte gehören. Der 1. Mai ist vor allem auch aus der Sicht der osteuropäischen Beitrittskandidaten ein historischer Tag, mit dem die Teilung Europas definitiv überwunden wird - zumindest an der Oberfläche.

      Das politische Bewusstsein der Bürger in Ostmitteleuropa und in den baltischen Staaten ist in viel stärkerem Mass als im westlichen Teil des Kontinents von einer leidvollen Geschichte mit Brüchen und Umbrüchen geprägt. Staaten gingen unter oder wurden als Manövriermasse fremder Mächte aufgeteilt. Nationen wurden auseinander gerissen, Grenzen verschoben. Ein Teil der neuen EU-Länder gehörte zur Habsburgermonarchie. Nach dem Zerfall des multiethnischen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg kam es zur Bildung von Nationalstaaten, in denen die ungelösten Minderheitenprobleme schon bald virulent wurden.

      Später besetzten die Nazis die Länder Ostmitteleuropas. Ihnen folgten die sowjetischen Truppen. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges kamen die politische Entmündigung durch die Kommunisten, der Eiserne Vorhang, der die ostmitteleuropäischen Länder von den Entwicklungen im Westen abrupt abschnitt. Das historische Erbe, das auch die Mentalität prägte, ist ein anderes als im westlichen Teil Europas, dem kommunistische Diktaturen erspart blieben. Den Ostblock gibt es zwar seit bald fünfzehn Jahren nicht mehr. Doch ist der Osten vielen im Westen nach wie vor fremd, unbekannt, ja gar unheimlich geblieben. Noch immer gibt es sogar Politiker, die Slowenien und die Slowakei miteinander verwechseln oder denen die Hauptstädte der baltischen Staaten durcheinander geraten.

      Nicht nur auf dem Balkan, auch in Ostmitteleuropa sind beim Prozess der Staatsbildung und beim Kampf um die Grenzen im letzten Jahrhundert Wunden geschlagen worden, die für das kollektive Bewusstsein der Völker bis heute prägend geblieben sind. Doch haben alle diese Länder nach der Wende den Weg der Verständigung und damit der Überwindung der nationalen Gegensätze eingeschlagen. Das verdient Respekt.

      Was die neuen EU-Mitgliedsländer nach der Wende geleistet haben, kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Die Wirtschaftsreformen wurden zügig vorangetrieben. Die politischen Institutionen haben sich überall gefestigt. Die Bevölkerung hat insgesamt die Härten und Opfer, welche die Transformation mit sich brachte, meist klaglos hingenommen. Der Reformprozess ist in allen diesen Ländern unumkehrbar geworden.

      Die Tatsache, dass einige ostmitteleuropäische Regierungen derzeit alles andere als stabil sind und um ihr politisches Überleben kämpfen, ist kein Widerspruch zum obigen Befund. Das Pendel hatte sich bei den verschiedenen Wahlen nach der Wende in den meisten neuen EU-Ländern jeweils hin und her bewegt, von rechts nach links und wieder zurück, ohne dass dabei aber je der Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen worden wäre. Auch die Ex-Kommunisten, die sich schnell in Sozialdemokraten verwandelten, hielten sich meist an die neuen Spielregeln. Die Richtung - der Beitritt zur EU und zur Nato - war in diesen Ländern für alle massgeblichen politischen Kräfte unbestritten und stand, vielleicht mit Ausnahme der Slowakei unter der autoritären Herrschaft von Meciar, nie zur Diskussion. So gab es beispielsweise in Estland in dreizehn Jahren acht Regierungen, doch das Land blieb dennoch stabil und klar auf Reformkurs.

      Jede Regierung war zu unpopulären Massnahmen gezwungen und machte sich damit zwangsläufig unbeliebt. Eine solche Situation ist ein gefundenes Fressen für oppositionelle Kräfte, von denen allerdings in jüngster Zeit einige mit bedenklichen nationalistischen, antieuropäischen und populistischen Parolen auf Stimmenfang gehen - und das nicht ohne Erfolg. Nicht nur auf dem Balkan, sondern auch in Ostmitteleuropa schüren verantwortungslose Politiker tiefsitzende Ängste und nationale Ressentiments. Schöne Worte von einem besseren Leben fallen bei den Reformverlierern, die vom Aufschwung bisher nur die Kehrseite der sozialen Härten zu spüren bekommen haben, auf fruchtbaren Boden. In den neuen EU-Staaten herrscht in vielen ländlichen Gebieten, abseits der Glitzerfassaden der Hauptstädte, eine drückende Armut und eine Rückständigkeit, die man sich im Westen kaum vorstellen kann.

      Die Wende von 1989, das befreiende «annus mirabilis», war überall von Jubel und Euphorie begleitet. Heute haben die ostmitteleuropäischen Länder das erreicht, was sie sich damals so sehr erhofft hatten. Sie sind «zurück in Europa». Doch die Freude darüber hält sich bei den meisten in Grenzen. Der EU-Beitritt wird als normal empfunden. Andere sind skeptisch oder gleichgültig. Ein tschechischer Journalist meinte kürzlich, er sei zwar glücklich über den EU-Beitritt seines Landes, doch scheine nach dem 1. Mai die Sonne deswegen auch nicht heller. Die anfängliche Europabegeisterung hat in den schwierigen Jahren der Transformation überall nachgelassen. Damit hat auch die Kritik an der EU zugenommen.

      Das gilt vor allem für das in den Augen mancher Westeuropäer widerborstige und aufmüpfige Polen, das besonders hartnäckig auf seine erst vor kurzem wiedererlangte Souveränität pocht. Das ist angesichts der historischen polnischen Erfahrung der mehrmaligen Aufteilung des Landes auch verständlich. Gerade in Polen, dem mit Abstand grössten neuen EU-Mitgliedsland, ist angesichts der Restriktionen und Übergangsfristen das Gefühl verbreitet, in der Europäischen Union nur ein Mitglied zweiter Klasse zu sein - nicht wirklich willkommen, sondern eher geduldet. Westliche Gedankenspiele über ein Kerneuropa geben solchem Misstrauen zusätzlich Nahrung. Schlagwörter vom Verlust der eignen nationalen Identität und vom Ausverkauf der Heimat finden in Teilen der Bevölkerung ein offenes Ohr.

      Und was geschieht mit dem Balkan, der ja auch ein Teil Europas ist? Was sind die Versprechen der Politiker wert, die bei festlichen Anlässen gerne verkünden, das Werk der europäischen Einigung sei erst dann vollendet, wenn auch der westliche Balkan dazugehöre? Im Gegensatz zu Bulgarien und Rumänien, die sich einen EU-Beitritt im Jahre 2007 erhoffen, sind die Integrationsperspektiven vor allem für Bosnien-Herzegowina und Serbien-Montenegro vage und substanzlos, auch wenn sie als potenzielle EU-Beitritts-Kandidaten gelten. Die Gefahr ist deshalb gross, dass die europäische Perspektive in diesen beiden Ländern - im Unterschied zu Ostmitteleuropa nach der Wende und anders auch als in Kroatien und Mazedonien - ihren Anreiz verliert und eher lähmend als beflügelnd wirkt. Eine neue Teilung Europas wäre die Folge.

      C. Sr.

      30. April 2004, 02:08, Neue Zürcher Zeitung
      http://www.nzz.ch/2004/04/30/al/page-kommentar9KECW.html
      Avatar
      schrieb am 01.05.04 12:03:42
      Beitrag Nr. 5 ()
      VIER JUNGE EUROPÄERINNEN AUS OST UND WEST UND …

      Sie arbeiten in der Kommission und im Europaparlament: die Französin Odile, die Litauerin Ingrida, die Polin Agnieszka, der Deutsche Mustafa. Sie glauben, dass nun etwas Neues entsteht und fordern europaweite Sozialstandards. Und sie sind für Joschka Fischer als EU-Außenminister

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      Die EU, eine Versöhnungsmaschine

      INTERVIEW DANIELA WEINGÄRTNER

      taz: Ich beginne mit meiner Lieblingsfrage: Wenn Sie einen Tag den Platz eines EU-Politikers einnehmen könnten, wer sollte es sein und warum?

      Odile Bour: Ich möchte Premierminister Pierre-Mendès France sein. 1954 ist in der französischen Nationalversammlung die europäische Verteidigungsunion gescheitert. Ich an seiner Stelle hätte dafür gesorgt, dass die Entscheidung anders ausfällt. Dann wären wir ein bisschen weiter heute mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

      Agnieszka Iwanczuk: Ich wäre gern einen Tag Wettbewerbskommissarin. Nicht so sehr, um hinter die Kulissen zu schauen, sondern um selber einmal die Entscheidungen zu treffen.

      Ingrida Pucinskaite: Ich wäre gern Jean Monnet oder Robert Schuman gewesen, Personen, die so geniale Visionen hatten, dass sie bis heute Bestand haben.

      Mustafa Kemal Öztürk: Wäre ich lieber Prodi oder Wettbewerbskommissar Monti? Nein, ich glaube, ich möchte einen Tag auf dem Platz von Günter Verheugen sitzen. Dann hätte ich der Türkei schon längst das beste Zeugnis ausgestellt. (alle lachen)

      Pucinskaite: Aktuelle Politik würde ich lieber nicht machen, um nicht die Illusion zu verlieren, dass es tatsächlich so etwas wie einen Gestaltungsspielraum für Politiker gibt.

      Daran schließt sich meine nächste Frage an die beiden Frauen aus den neuen Mitgliedsländern an. Sie haben eine exzellente Ausbildung. Warum reizt Sie die Arbeit in Brüssel mehr als eine Karriere zu Hause in der freien Wirtschaft?

      Iwanczuk: Ich wollte schon immer international arbeiten. Zunächst war Völkerrecht mein Spezialgebiet, aber ich habe keine Aussichten für eine Karriere gesehen und deshalb zum Europarecht gewechselt.

      Pucinskaite: Ich habe während des Ökonomiestudiums bei einer deutschen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Vilnius gearbeitet. Mir war klar, dass Leute wie ich gerade jetzt in Brüssel gebraucht werden.

      Mustafa, Sie machen gerade ein Praktikum bei der Europaabgeordneten Heide Rühle. Europäische Idee und Alltag im Europaparlament, klafft das sehr weit auseinander?

      Öztürk: Wenn man in den Ausschüssen sitzt, in denen die Gesetze gemacht werden, merkt man, dass es ein ganz anderes System als im Bundestag ist. Hier arbeitet nicht jeder Abgeordnete so spezialisiert vor sich hin, die Fraktion diskutiert politische Richtungsfragen.

      Ihr Spezialgebiet ist Migrationspolitik. Glauben Sie, dass durch die EU-Erweiterung die Abschottung schlimmer wird?

      Öztürk: Natürlich. Polen hat die längste Außengrenze Europas. Darunter leiden die Gastarbeiter aus der Ukraine zum Beispiel enorm.

      Iwanczuk: Ich verstehe die Migrationspolitik der EU so, dass die Lasten gleichmäßig verteilt werden. Dass man sich zum Beispiel gemeinsam für den Schutz der polnischen Außengrenze zuständig fühlt. Oder dass ein Asylbewerber, der in Großbritannien schon abgelehnt wurde, dann nicht die anderen Staaten noch abcheckt.

      Pucinskaite: Mich bringt das auf einen ganz anderen Aspekt. Deutschland hat als erstes Land gesagt, dass es Übergangsfristen für Arbeit Suchende aus den neuen Ländern einführen will. Wenn in zwei, drei oder sogar erst sieben Jahren die deutschen Grenzen für litauische Arbeitskräfte geöffnet werden, haben sich die Besten doch längst woanders angesiedelt.

      Vielleicht haben Sie gehört, dass der erste deutsche Green-Card-Besitzer aus Indien …

      Pucinskaite: … Deutschland schon wieder verlassen hat. Kein Wunder.

      Wie ist in Paris die Meinung zum Thema Übergangsfristen?

      Bour: Die Leute sind schlecht informiert, und so haben sie Angst vor der Erweiterung. Der kommunistische Ostblock ist für Franzosen weit weg …

      Iwanczuk: Kommunistischer Ostblock?

      Bour: Das ist eben, was die Leute so denken. Aus Untersuchungen weiß man aber, dass die Ängste unbegründet sind. Die gut ausgebildeten jungen Leute aus dem Osten, die bei uns arbeiten wollen, sind längst da. Und wir brauchen sie auch.

      Pucinskaite: Aus Sicht der Beschäftigten in den alten EU-Ländern sind die Ängste nicht unbegründet. Ein Beispiel: Ein deutsches Werk wird geschlossen und nach Litauen verlegt, weil dort die Kosten niedriger sind. Kein Wunder, dass die betroffenen Arbeiter nicht gerade begeistert sind über das neue Europa.

      Öztürk: Aber in Deutschland wird die Diskussion über Zuwanderung nun wirklich auf Stammtischniveau geführt. Seit dem 11. 9. ist das noch schlimmer geworden, jetzt kommt der Sicherheitsaspekt dazu. Und die Opposition schürt diese Ängste auch noch.

      Angst kommt aus Unwissenheit, hat Odile gesagt. Aber ist das schon alles?

      Bour: Das Elsass, wo ich geboren wurde, hatte immer eine besonders niedrige Arbeitslosigkeit wegen der deutschen Betriebe, die dort Produktionsstätten hatten. Jetzt wandern die Betriebe nach Tschechien oder Polen ab. Die Arbeitslosigkeit im Elsass hat zugenommen und damit auch die Angst vor der Osterweiterung.

      Da drängt sich die Frage auf: Wie weit soll dieser Dominoeffekt der Globalisierung gehen? Als Nächstes kommt die Ukraine, dann China, und so geht das Lohndumping immer weiter. Gibt es keine Alternative?

      Iwanczuk: Es gibt Mechanismen, die die Abwanderung von Kapital und die Verlagerung von Betrieben verhindern. Wenn die nationalen Regierungen sich auf europäischer Ebene absprechen würden, könnte man diese Dumpingspirale durchbrechen.

      Können Sie das etwas weniger abstrakt sagen?

      Iwanczuk: Das möchte ich nicht. Lassen wir es auf dieser Ebene.

      Öztürk: Für mich liegt die Antwort in der Handelspolitik. Wenn die EU ihre Märkte wirklich öffnen würde, könnte jeder produzieren, was er am besten kann. Die Idee der EU-Nachbarschaftspolitik beinhaltet ja auch eine Regionalförderung für die Mittelmeerstaaten und die Russische Föderation. Wenn dort die Sozialstandards, ökologische und sicherheitspolitische Maßstäbe und die Bürgerrechte auf EU-Niveau angehoben würden, wäre der Abwanderungsdruck für Unternehmen und der Zuwanderungsdruck für Arbeiter viel geringer.

      Bour: Armutsbekämpfung und Verringerung der Kluft zwischen Nord und Süd stehen ja als Ziele in der neuen Verfassung.

      Ist das auch unter polnischen Intellektuellen ein Thema?

      Iwanczuk: Wir befinden uns in einer schwierigen innenpolitischen Situation. Das steht derzeit in den Diskussionen bei uns zu Hause im Vordergrund.

      Was wird nach dem 1. Mai passieren? Werden die Leute sagen: Das war eine große Anstrengung. Jetzt sind wir drin und wollen ein bisschen ausruhen?

      Iwanczuk: So ist die Stimmung in Polen nicht, nein.

      Pucinskaite: Hätten wir nicht das klare Ziel des EU-Beitritts vor Augen gehabt, wäre Litauen nicht so weit, wie es heute ist. Zwar wurden auf beiden Seiten viele Fehler gemacht. So wurden die Verhandlungskapitel teilweise nur auf dem Papier abgeschlossen. Die Großbetriebe wurden oft bloß rein formal privatisiert, ohne Rücksicht auf die Dynamik des Marktes.

      Iwanczuk: Die polnischen Politiker haben es nicht geschafft, den einfachen Leuten die Reformen besser zu erklären.

      Bour: Für Frankreich gilt dasselbe. Niemand hat den Leuten die Vorteile der Erweiterung erklärt. Es wurde so dargestellt, als gäbe es keine Alternative.

      Welche Rolle haben die Medien dabei gespielt?

      Pucinskaite: Die Veränderungen sind ganz enorm. Vor zwanzig Jahren gab es nur wenige große Zeitungen. Sie berichteten nicht über die Situation westlich des Eisernen Vorhangs. Heute gibt es viele Zeitungen, und auch die kleinen, lokalen Medien berichten regelmäßig über die EU. Die Leute werden also informiert, zum Beispiel über den Verfassungsprozess.

      Iwanczuk: Es interessiert die Leute aber weniger, was in Brüssel passiert, als das, was Brüssel mit ihnen machen wird. Diese Information fehlt. Das ist zwar auch die Aufgabe der Medien, aber eigentlich müssten die lokalen Politiker den Bauern in Ostpolen erklären, welche praktischen Konsequenzen eine neue EU-Richtlinie für sie hat.

      Ist aus der Perspektive der einfachen Leute in Ihren Ländern Brüssel nur eine große Geldumverteilungsmaschine, oder erwarten Sie mehr von der Union?

      Iwanczuk: Die Geschichte zeigt doch, was Europa ist. Es hat mit einer Wirtschaftsgemeinschaft angefangen. Inzwischen wurden so viele Ideen realisiert. Ich hoffe, dass auch bei der Erweiterung die Kraft der Ideen stärker ist als der ökonomische Aspekt.

      Öztürk: Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Auch mehr als eine Wertegemeinschaft. Es reden ja immer alle vom American dream. Am 1. Mai verwirklicht sich ein European dream. Wir lassen die Nachkriegsordnung hinter uns und finden zusammen. Wir werden uns noch viel aneinander reiben, aber es wird etwas ganz Neues daraus entstehen.

      Pucinskaite: Es darf nicht so sein, dass die Neuen sich in ein bestehendes System einpassen müssen. Alte und neue Länder müssen sich gemeinsam neue Spielregeln erfinden.

      Agnieszka, haben die alten EU-Staaten schon irgendetwas gelernt, was sie für die Erweiterung fit machen würde?

      Iwanczuk: Wenn ich mit Leuten aus den jetzigen Mitgliedstaaten der EU spreche, sind sie zwar gespannt, bemühen sich aber nicht sonderlich, uns kennen zu lernen.

      Pucinskaite: Die alten EU-Staaten wissen relativ wenig über die neuen. Sie pflegen ihre Vorurteile über den Ostblock, über die kommunistischen Staaten, und daran halten sie sich fest. Sie nehmen nur wahr, was diese Vorurteile bestätigt. Es ist für uns schwierig, das aufzubrechen. Wenn mir einer erzählen will, wie es bei uns so läuft - das macht mich kaputt.

      Iwanczuk: Ich kann nicht allen erklären, was Polen ist. Sie sollten einfach hinfahren und es sich anschauen. Toll sind die Länderwochen in den europäischen Institutionen. Gerade ist slowakische Woche. Die EU-Mitarbeiter aus den alten Ländern gehen da hin, es gibt Bilder, Filme, Stände der Regionen …

      Öztürk: Das sollte nicht nur hier in Brüssel stattfinden. Man müsste es überall in den alten und neuen Mitgliedsländern organisieren.

      Was bringt uns alten Europäern eigentlich die Erweiterung?

      Bour: Ein gutes Gewissen. Aus unserer Perspektive ist es eine Erweiterung, für die zehn Neuen eine Wiedervereinigung. Das sagt doch schon alles. Außerdem werden die Wellness-Urlaube billiger, da gibt es in Ungarn tolle Angebote … (alle lachen)

      Wenn wir das gute Gewissen zur Richtschnur machen, müssten wir doch auch bald die Türkei aufnehmen. Der haben wir es schließlich seit 1963 versprochen.

      Pucinskaite: Für mich ist klar, dass Europa Grenzen hat. In Litauen erzählt man sich den Witz, dass, wenn es so weit käme, nicht Russland der EU beitreten würde, sondern die EU Russland. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es noch erlebe, dass Georgien EU-Mitglied wird.

      Öztürk: Die osteuropäischen Länder haben einen so hohen Preis gezahlt nach dem Zweiten Weltkrieg, dass wir jetzt natürlich für sie einstehen müssen. Das ist eine moralische Verpflichtung. Aber die Türkei hat inzwischen Reformen durchgeführt, die einer Revolution gleichkommen. Das sollte man auch honorieren.

      Nicht gerade einleuchtend nach dem jüngsten Urteil über die kurdische Politikerin Leyla Zana.

      Öztürk: Aber da steckt doch die türkische Regierung in einem riesigen Dilemma. Sie werden dieses Sicherheitsgericht eben nicht los. Das muss man trennen können. Wenn am Ende des Jahres das Urteil über Leyla Zana als Begründung herhalten würde, dass keine Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen, dann wäre das ziemlich schwach von der EU.

      Pucinskaite: Wir dürfen nicht vergessen, dass zunächst Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Balkan sich um Aufnahme in die EU bemühen. Müssen die dann warten, bis die Türkei auch so weit ist? Wie soll Europa das alles verdauen? Für Litauen war es damals ein großes Problem, dass die Verhandlungen mit Estland eröffnet wurden, während Litauen angeblich noch nicht so weit war. Die Kriterien waren nicht nachvollziehbar. Das kann sich psychologisch verheerend auswirken auf ein Land.

      Bour: Es weiß doch jeder, dass die Türkei bis Ende Oktober niemals die Kopenhagener Kriterien erfüllen kann. Wenn dennoch der Bericht der Kommission im Herbst positiv ausfällt, ist das ausschließlich eine politische Entscheidung.

      Iwanczuk: Jede Erweiterung ist letztlich eine politische Entscheidung. Im Fall Türkei wird das besonders deutlich.

      Odile, es hat einen langen deutsch-französischen Versöhnungsprozess gegeben …

      Bour: … die älteren Leute in Frankreich sind bis heute nicht begeistert. Wenn meine deutschen Freunde zum Beispiel ins Massiv Centrale fahren, dann sagen sie lieber, sie kämen aus der Schweiz. Aber im Großen und Ganzen ist die Union eine erfolgreiche Versöhnungsmaschine.

      Und was ist mit der deutsch-polnischen Verständigung?

      Iwanczuk: Die läuft ja schon seit Beginn des Erweiterungsprozesses. Ich würde immer noch eine wichtige Rolle für das "Weimarer Dreieck" Deutschland, Frankreich und Polen sehen. Inzwischen spricht man aber mehr über das Dreieck Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Das finde ich schade.

      Meine letzte Frage: Wenn wir doch noch eine Verfassung bekommen, wer soll europäischer Außenminister werden?

      Alle vier: Joschka Fischer!

      taz Nr. 7347 vom 30.4.2004, Seite 4-5, 464 Interview DANIELA WEINGÄRTNER
      http://www.taz.de/pt/2004/04/30/a0182.nf/text

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      schrieb am 01.05.04 17:37:01
      Beitrag Nr. 6 ()
      Entschuldigung, ich muss so lachen

      Der polnische Filmregisseur Stanislaw Mucha über Ikea in der Westukraine, Klauen in Ostpolen und die alte Mitte Europas

      In fünfundsiebzig Minuten fährt Ihr Zug nach Warschau.

      Und ich brauche fünf Stunden und siebenundvierzig Minuten von Berlin bis nach Warschau. Mit dem Euro-City!

      Vielleicht geht`s nach dem 1. Mai schneller.

      Die Züge werden schneller fahren, damit man besser verdrängen kann, was man da sieht. Vor drei Wochen fuhr ich in Polen am Mittelpunkt des "neuen Europas" vorbei, bei Kutno. Und ich dachte an unsere Dreharbeiten zu "Die Mitte", wo der besoffene Bürgermeister dort zu mir sagte, ich würde in die Hose scheißen, aber die Mitte nicht finden (mit einer Hälfte des Satzes hatte er recht, welche, ist klar). Ich fuhr da also lang, und der Zug wurde langsamer. Die Zöllner waren schon ausgestiegen - und hinterm Fenster stand ein Mädchen mit der EU-Fahne und hat ganz verrückt gewunken, so völlig sinnlos.

      Wo fängt das "neue Europa" an?

      Hier. Auf dem Gleis Nummer 3.

      Hier heißt: auf dem Ostbahnhof, vor wenigen Jahren noch Hauptbahnhof. Die Mitte Berlins ist wieder weiter nach Westen gewandert. Wohin wandert die Mitte Europas?

      Nach Kirgisien. Die wandert aus. Nach dem 1. Mai wird es für die Mitte etwas ungemütlich in Europa, auch durch unseren Film. Sie wird so im Visier stehen. Und dann sagt sie: "Okay, ich wandere aus".

      Wo hätten Sie die Mitte am liebsten?

      In der Ukraine, den Westkarpaten. Vielleicht kennen Sie Joseph Roth. Das ist für mich Europa. Wo sich sehr viele Identitäten mischen, sehr viele Sprachen. Wo man nicht so richtig durchblickt. Wenn Sie dort jemanden nach seiner Identität fragen, bekommen Sie die Antwort: Ich bin von hier.

      Aber dieses Europa ist doch eins, das auf den Wiener Kongress, auf Metternich zurückgeht: ein Adels-Europa, kein Europa der Nationen. Schon gar kein demokratisches.

      Ich komme aus Ex-Galizien. Wenn man dort mit den wirklich alten Menschen redet, die noch Franz Josephs Zeiten im Kopf haben, dann wird man erleben, dass die den Kaiser großartig loben, obwohl der eigentlich ein Okkupant war. Denen hat das nicht so viel ausgemacht, dass der Schulunterricht auf Deutsch war: "Bitteschön, wenn du Polnisch lernen möchtest, dann lerne Polnisch. Aber es wäre doch ganz schön, wenn wir uns alle irgendwie auf Deutsch (oder ,Österreichisch`) verständigen könnten". So ein Verhältnis zur Geschichte spüre ich noch heute dort. Das Problem für mich ist nicht, wenn jemand sagt: "Ich mag die Rumänen nicht". Wenn jemand das laut sagt und auch bereit ist, sich dafür anzulegen mit einem, dann kann man damit leben, dazu Stellung beziehen. Aber schwierig wird`s, wenn man das schweigend macht, es nicht artikuliert, nicht ausspricht. Da ist die West-Ukraine für mich so ein Fleck, wo die Leute die gewaltigen Lebensprobleme, die sie haben, artikulieren - mit der ganzen Gewalt der Sprache, der Gesten. Es ist nicht so, dass ich mich nach den Zeiten von Franz Joseph sehne. Mir geht`s darum, dass dort ein anderes Europa gelebt wird, und das ist mir näher als das aus Brüssel.

      Je weiter Sie mit Ihrem Film nach Osten kommen, um so gleichgültiger scheint den Menschen die Mitte Europas zu sein. Nur in Polen wurde kräftig gefeiert.

      Na ja, da entsteht ja auch die Mitte des "neuen Europas". Und falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist: Wir haben den Krieg im Irak gewonnen. Entschuldigung, ich muss so lachen. Es gibt einen polnischen Schriftsteller. Jeden Morgen rennt er ins Bad, schaut nach, ob der Spiegel noch hängt, dann guckt er sich an, mit verpennten Augen und sagt: "Fuck, wir haben den Krieg gewonnen! Ich kann`s nicht fassen!" Also haben die Polen was zu feiern. Mir kam Polen bei diesem Film sehr fremd vor.

      Wird sich Europa mit der EU-Ost- erweiterung verändern?

      Die Osterweiterung hat doch lange vor dem 1. Mai stattgefunden. Ikea hat in der West-Ukraine längst die Gebirgswälder abgeholzt, schöne, lange, gerade Bäume, gleich klein gehäckselt und zu Pressholzplatten gemacht. Jetzt sind ganze Gebirgshänge kahl, man kriegt, wo früher Wald war, einen Sonnenbrand, und im Frühjahr haben sie dort riesige Überschwemmungen, weil die Bäume den Wasserhaushalt während der Schneeschmelze nicht mehr regulieren. Meine Prognose für Europa ist ziemlich düster. Aber die EU-Osterweiterung muss aus meiner Sicht stattfinden. Das ist die letzte Chance in dieser verdammt schwierigen Zeit. Die so genannten Werte Europas sind verrostet, viel Zeit bleibt uns nicht mehr, große Veränderungen aufzuschieben. Wir müssen uns ernsthaft fragen, wie wir leben wollen. Nur von Ikea und irgendwelchem anderen Schrott?

      Eine alte Ukrainerin in ihrem Film betet auf Ungarisch und glaubt fest, in den Himmel zu kommen. Wird die EU nach dem 1. Mai religiöser?

      Europa ist überhaupt nicht religiös.Ich habe vor kurzem eine Frau aus Kirgisien gesprochen. Sie war das erste Mal in Deutschland und verblüfft darüber, wie viel über den Islam in hiesigen Zeitungen steht. In kirgisischen oder asiatischen Zeitungen steht dagegen nichts über das Christentum. Wir haben uns hier Jahre lang darüber keine Gedanken gemacht, so frivol gelebt und uns gedacht: Ja, es gibt das Christentum, das Judentum, irgendwo vielleicht auch andere Weltreligionen. Und plötzlich haben wir die am Hals!

      Ist auch Polen nicht mehr katholisch?

      Aus Amsterdamer Perspektive ist Polen natürlich verdammt katholisch. Aber es gibt Gebiete in Polen, wo die Religion die Menschen überhaupt nicht juckt. Wenn ich zum Beispiel nach Deutschland komme, dann fühle ich mich wie in einem kommunistischen Land, weil ich dagegen sehe, wie brutal die Polen kämpfen. Dort herrscht der pure Kapitalismus. Hier, bei Ihnen, funktionieren immer noch die Post und die Taxis, die Züge fahren einigermaßen pünktlich. Das Leben in Polen ist sehr hart geworden, und je weiter man nach Osten kommt, desto härter wird es. Jeder hat ein EU-Fähnchen in der Klappe und klaut links und rechts. Und die Deutschen, die in den polnischen Ostgebieten unterwegs sind, haben auch das EU-Emblem am Jackett und helfen beim Klauen mit.

      Hungern die Menschen dort?

      Ja. Auch. Oder sie essen einen ganzen Monat lang nur Marmelade mit Brot. Andererseits sind die Menschen dort auch verdammt vital. An ihnen sieht man, was der Mensch alles aushalten kann. Ich habe in dem Dorf in Litauen, wo die Menschen die "Mitte Europas" als Scheusal bezeichnet haben, ein Mädchen gefragt, was das Schönste in ihrem Leben war. Sie sagte: "Schön ist alles, Schreckliches kann nicht passieren. Ich will Schriftstellerin werden". Was willst du schreiben? "Weiß nicht. Vielleicht etwas über die Natur". Werden die Bücher dick oder dünn? "Ach, ich glaube, sehr dünn".Und ein alter Mann sagte: "Ein Schönstes gab`s eigentlich nicht. Ach, doch! Als ich bei den Deutschen im Arbeitslager war, das war das Schönste". Wir haben das rausgeschnitten, weil es uns zu hart erschien. Aber ich habe ihn dann noch gefragt: Wollen Sie zurück ins Lager? "Na, was soll ich im Lager? Das gibt`s doch jetzt gar nicht!".

      Die Menschen dort sind sehr pragmatisch. Mir fiel der Mann im ukrainischen Rachiv auf, der Touristen gegen Geld mit einem ausgestopften Hirsch an der "Mitte Europas" fotografiert. Der hat begriffen, dass diese Mitte nur ein Geschäft ist, sein Hirsch ein Goldenes Kalb.
      Für mich ist der ein Trojanisches Pferd. Der ist ausgestopft mit den ganzen ausgetrockneten Hoffnungen Osteuropas. Die muss man man nur ein bisschen gießen, und wir haben eine Revolution.

      Sie waren in dem Film bei einem Wunderheiler. Der hat Ihnen einen Zauberzucker fabriziert, der alle Frauen auf Sie scharf machen sollte. Wirkt der?

      Der hat verdammt gewirkt. Ich habe den meiner Frau gegeben - und wir wollten uns scheiden lassen. Aber jetzt ist alles wieder okay. Meine Frau isst und trinkt alles ohne Zucker. Ich hatte ihr den Zucker in den Salat gerührt und - ich dachte, wir würden eine Eheberatung brauchen.

      Also nie wieder Magie?

      Ich wollte das einfach mal ausprobieren. Das ist ja auch eine Art von Hoffnung, die auf die Europäer zukommt.

      Das Gespräch führte Jan Brachmann.

      ------------------------------

      Stanislaw Mucha // Foto: Geboren 1970 in Polen, lebt als Regisseur in Polen und Deutschland.

      Für den Dokumentarfilm "Absolut Warhola" (2001) über die Heimat von Andy Warhol in der Slowakei erhielt Mucha 2003 den Grimme-Preis.

      Sein neuer Dokumentarfilm, "Die Mitte", besucht Orte, die den Anspruch erheben, Mittelpunkt Europas zu sein: u. a. Kölbe in Hessen, Braunau am Inn, Krahule in der Slowakei, Kutno in Polen, ein litauisches Dorf bei Vilnius und Rachiv in der Ukraine. Der Film kommt am 27. Mai ins Kino.

      Berliner Zeitung Freitag, 30. April 2004
      http://www.BerlinOnline.de/berliner-zeitung/feuilleton/33696…
      Avatar
      schrieb am 02.05.04 21:55:36
      Beitrag Nr. 7 ()
      "Der Kuchen wird größer, aber viele kriegen ein kleineres Stück"

      Interview mit Professor Hans-Werner Sinn, Ifo-Institut München

      Jochen Spengler: Die "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk am 30. April ganz im Zeichen der Osterweiterung der Europäischen Union. Dass die Erweiterung politisch begrüßenswert, wenn nicht sogar notwendig ist, das sagen nicht nur die Politiker, sondern auch die Europäer, die Bürger in ihrer großen Mehrheit. Aber ist die Erweiterung auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu verantworten? Darum soll es jetzt gehen im Interview mit Professor Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des renommierten Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung Ifo. Einen schönen guten Morgen Professor Sinn!

      Hans-Werner Sinn: Guten Morgen!

      Spengler: Herr Sinn, die EU-Staaten haben sich zum Ziel gesetzt, aus Europa bis zum Jahr 2010 das wirtschaftlich wettbewerbs- und leistungsfähigste Gebiet weltweit zu machen. Wird das nun leichter oder schwerer?

      Sinn: Das wird leichter, denn die Länder, die ja im Osten dazu kommen, sind extrem wettbewerbsfähig, was daran liegt, dass sie extrem billig sind.

      Spengler: Aber das durchschnittliche Sozialprodukt der EU sinkt doch erst einmal?

      Sinn: Ja gut, aber das meint man ja nicht mit Wettbewerbsfähigkeit. Damit meint man die Fähigkeit, mit preisgünstigen Produkten die Weltmärkte zu erobern.

      Spengler: Und wettbewerbsfähig heißt dann auch größere Handelsmacht, größerer Markt, größere Macht?

      Sinn: Ja. Ich glaube, dass die osteuropäischen Länder sehr, sehr gut ins Geschäft kommen werden. Das sieht man ja jetzt schon. Was sich da tut in Bratislava und in anderen Städten Osteuropas ist ja gewaltig. Westeuropa ist die am schnellsten wachsende Region ganz Europas, wo Audi sich etwa niedergelassen hat. Also da tut sich Gewaltiges und die werden ein Wirtschaftswunder erleben. Insofern wird auch der Beitrag zum europäischen Sozialprodukt in den nächsten Jahrzehnten deutlich steigen.

      Spengler: Dann ist die Frage, was für ein Wunder wir erleben werden: ein blaues Wunder? Wie sieht es für Deutschland aus? Wird es wirtschaftlich zu den Verlierern oder zu den Gewinnern der Erweiterung zählen?

      Sinn: Das ist eine nun schon sehr viel schwierigere Frage, weil die Gewinne sich nicht gleichmäßig verteilen. Sagen wir mal es gibt ein günstiges Szenarium und ein ungünstiges. Selbst das günstige ist nicht ohne Probleme. Das günstige Szenarium ist, dass wir uns hier ganz flexibel anpassen, dass wir die Marktkräfte wirken lassen und dann wird auch für Deutschland ein zusätzliches Wachstum durch die Osterweiterung möglich sein, weil wir ja auch in den Handel kommen mit den Ländern im Osten. Wir können uns spezialisieren auf die Güter, die wir besonders gut produzieren können: kapitalintensive, wissensintensive Güter. Und die normale Fabrikation verlagert sich stärker nach Osteuropa. Dann können wir den Dienstleistungssektor entwickeln, weil es immer noch günstiger ist, die einfachen Güter im Osten herzustellen, statt seine Zeit dafür zu verbrauchen. Die könnten wir für etwas Besseres verwenden und so weiter.

      Spengler: Entspricht dieses Szenarium, Herr Professor Sinn, in etwa dem, was die Wirtschaftsforschungsinstitute in dieser Woche der Öffentlichkeit vorgestellt haben?

      Sinn: Ja genau. Aber man darf nicht übersehen, dass dieses günstige Szenarium eben davon ausgeht, dass wir flexibel sind. Das heißt also, um es mal im Klartext zu sagen, dass durch die Schaffung eines gemeinsamen Arbeitsmarktes zwischen Deutschland und Polen eine Lohnkonvergenz auf beiden Seiten stattfindet. Das ist toll für die Polen, aber nicht für uns, so ganz bestimmt nicht für die deutschen Arbeiter, denn die Löhne kommen unter Druck. Die kommen unter Druck und werden sich nicht mehr so entwickeln können, wie das sonst der Fall gewesen wäre. Hier und da werden sie sogar fallen müssen. Was ich sagen will ist, dass diejenigen Deutschen, die einfache Arbeit eigentlich nur anzubieten haben - und das geht nach den empirischen Untersuchungen, was heißt hier einfache Arbeit, bis hin zu jemandem, der einen Hauptschulabschluss und einen Berufsabschluss hat -, sicherlich zu den Verlierern dieser Integration gehören werden.

      Spengler: Nun haben wir diese Woche eine Statistik des Bundeswirtschaftsministeriums vorgelegt bekommen und die zeigt, dass zum Beispiel ein Friseur in Thüringen 3,18 Euro die Stunde bekommt und so weiter. Insgesamt ist von 670 Berufen die Rede, die einen Stundenlohn von weniger als 6 Euro bekommen. Das sind doch eigentlich schon Niedriglöhne?

      Sinn: Ja. Da wird dann glaube ich auch nicht mehr viel passieren. Insbesondere der Friseur kommt ja nicht unter Wettbewerbsdruck, weil das ist ja eine Leistung für den heimischen Markt, wo dann die Konkurrenz aus Polen gar nicht da ist, es sei denn man ist an der Grenze und die Leute fahren herüber und lassen sich die Haare schneiden. Das werden sie ja ansonsten nicht tun. Das ist insofern ein Beispiel für geschützte Bereiche.

      Spengler: Wer kommt denn dann unter Druck?

      Sinn: Unter Druck kommen Industriearbeiter, denn der Industriearbeiterlohn auch in den neuen Bundesländern ist viermal so hoch wie in Polen. Die Unternehmen werden also Arbeitsplätze doch verlagern nach Polen hin. Die Westdeutschen kommen natürlich unter Druck genauso wie die Ostdeutschen. Die Westdeutschen eigentlich noch mehr. Die sind sechsmal so hoch. Nun gut, sie sind ein bisschen geschützter durch die größere geographische Distanz, aber Industriegüter kann man auch leicht transportieren.

      Spengler: Also Sie rechnen wirklich mit dieser Abwanderung der Arbeitsplätze? Es gibt ja auch die Meinung, zum Beispiel von Rüdiger Pohl in Halle, der sagt, das größte ist eigentlich schon passiert. Das ist eigentlich schon passiert nach dem Fall der Mauer und jetzt kommt da nicht mehr viel an Verlagerung in den Osten.

      Sinn: Da hat er natürlich Recht. Viel ist passiert. Ob das meiste passiert ist weiß ich nicht. Seit 1995 beobachten wir ganz intensiv diesen Prozess des so genannten Outsourcing nach Osteuropa. Das heißt die Firmen kappen ihre arbeitsintensiven Fertigungsteile hier und verlagern diese nach Osteuropa, wo die Löhne sehr viel niedriger sind. Dadurch erhalten sie ihre Wettbewerbsfähigkeit international. Die deutschen Unternehmen sind eindeutig die Gewinner dieses historischen Prozesses. Aber die Leute, deren Arbeitsplätze hier nun gekappt sind, die sind natürlich nicht die Gewinner. Das wäre ja vermessen, dies zu behaupten. Das ist also das Problem. Der Kuchen wird größer, unter günstigen Bedingungen im Westen, aber viele kriegen ein absolut kleineres Stück. Das ist die bittere Wahrheit immer eigentlich bei ähnlichen Integrationsprozessen, so auch hier. Die Politiker trauen sich nicht ganz, das auszusprechen, aber so ist es.

      Spengler: Das heißt es wird Ihrer Ansicht nach weiter zu einem Lohnsenkungswettbewerb nach unten kommen. Dies aber mal zu Ende gedacht: Das können wir ja eigentlich gar nicht gewinnen, weil irgendwie müssen die Leute doch noch ihre Mieten bezahlen?

      Sinn: Ja. Wir können ihn nicht wirklich gewinnen, aber wir können ihn natürlich noch viel stärker verlieren. Das ist das zweite Szenarium. Was ich jetzt beschrieben habe war das günstige Szenarium, dass der Kuchen größer wird und einige kriegen ein absolut kleineres Stück. Das ungünstige Szenarium ist, dass man sich dagegen sträubt und sagt wollen sie etwa, dass wir mit den Polen konkurrieren, machen wir doch nicht mit. Nun gut, jemand der nicht bereit ist zu konkurrieren, der geht unter. Das ist gar keine Frage, denn die Polen fragen ja nicht. Die machen ja die Konkurrenz. Die Frage stellt sich überhaupt nicht, ob man mit ihnen konkurrieren will. Die Konkurrenz ist da. Die Leute sind da. Da kann man sich drehen und wenden wie man will.

      Spengler: Was ist denn unsere Schlussfolgerung?

      Sinn: Die Schlussfolgerung ist, dass hier der Sozialstaat gerufen ist, um die Konsequenzen, die Einkommenskonsequenzen abzufedern für die betroffenen Bevölkerungsgruppen. Hier hat das Ifo-Institut ein Modell der aktivierenden Sozialhilfe entworfen, das die staatlichen Gelder, die zur Verfügung stehen, um weniger leistungsfähige Bürger zu unterstützen, umlenkt.

      Spengler: Also Sozialhilfe zum Beispiel?

      Sinn: Ja. Dass also mehr Geld in Zukunft fürs Mitmachen gezahlt wird, statt wie bisher dafür, dass man sich eben nicht integriert. Bisher haben wir ja ein Lohnersatzsystem, ob das nun Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe ist. Das Geld fließt immer dann, wenn man nicht arbeitet, und hört auf zu fließen, wenn man es tut. Das Problem der Zukunft wird sein, dass es Jobs gibt, aber zu niedrigen Löhnen. Diese Löhne muss man auffüllen, so dass in der Summe aus dem Lohn, den man sich selber verdient hat, und der staatlichen Zuzahlung ein sozial akzeptables Niveau heraus kommt. Wir brauchen einen besser konstruierten Sozialstaat. Ich würde in den neuen Bundesländern sogar so weit gehen, dass ich sage, dass viele der Unternehmenssubventionen umgelenkt werden sollten in ein Spezialprogramm für die neuen Länder, um solche Lohnzuschüsse zu zahlen. Denn diese Unternehmenssubventionen - da darf man sich ja nichts vormachen - die waren nicht so günstig für die ostdeutsche Bevölkerung, wie man das gemeinhin denkt. Es wurden ja auch sehr kapitalintensive Produktionsprozesse bezahlt. Das heißt wer eine Fabrik mit Werkhallen für Roboter hingestellt hat in den neuen Bundesländern, kriegt ja die staatlichen Zuschüsse genauso wie jemand, der Arbeitsplätze geschaffen hat. Das war eigentlich falsch! In einem Land, wo es eine Massenarbeitslosigkeit gibt, muss ich nicht den Einsatz des Faktors Kapital durch den Staat prämieren, sondern genau den Einsatz des Faktors, der dort im Überfluss vorhanden ist. Das ist der Faktor Arbeit. Also muss man hier total umdenken und Menschen subventionieren statt Kapital.

      Spengler: Also staatliche Zuschüsse zu Löhnen, zu niedrigen Löhnen, und das ganze finanziert durch ich sage mal eine Art Wegfall der Sozialhilfe und durch ein Ende der Subventionen für Fabriken?

      Sinn: Na ja, Ende und Wegfall ist ein bisschen hart gesagt, aber eine gewisse Umschichtung der Mittel. Der Eckregelsatz der Sozialhilfe kann gesenkt werden. Dafür viel mehr Hinzuverdienstmöglichkeiten und Zuschüsse. Umlenkung eines Teils der normalen Unternehmenssubventionen in diese Zuschüsse für Arbeitnehmer und dann im Übrigen ja auch Umlenkung der Mittel aus der Arbeitslosenhilfe, die ab Beginn des nächsten Jahres sowieso gestrichen wird und wovon eine Million Ostdeutsche betroffen sind.

      Spengler: Verstehen Sie, dass viele Leute sagen, ach nein, die Osterweiterung wollen wir gar nicht?

      Sinn: Ja sicher verstehe ich das. Das ist eben auch alles nicht so einfach. Vielleicht hätte man sich überlegen sollen, dass man nicht gleich zehn Länder auf einmal nimmt. Aber gut, es ist eine historische Chance. Ich will das jetzt nicht ins Gegenteil verdrehen. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen und das Problem lösen. Dann wird das letztlich auch für Deutschland eine gute Sache. Nur die Verlierer dieses Prozesses, die müssen wir halt doch kompensieren. Das halte ich für erforderlich.

      Spengler: Das war Professor Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung Ifo. Herzlichen Dank für das Gespräch!

      30.4.2004

      http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/259953/
      Avatar
      schrieb am 02.05.04 21:57:12
      Beitrag Nr. 8 ()
      Presseschau | Sonntag, 02. Mai 2004 08:50 Uhr


      Im Mittelpunkt steht die EU-Erweiterung.



      Geradezu euphorisch äußert sich die dänische Zeitung BERLINGSKE TIDENDE: "Es ist fantastisch, ja fast unbegreiflich. Jene Länder, die noch vor wenigen Jahren vom Kommunismus unterdrückt wurden und für uns eine tödliche Bedrohung darstellten, sind jetzt unsere Freunde. Millionen von Europäern, denen mehr als eine Generation lang die grundlegendsten Freiheitsrechte verwehrt waren, gehören jetzt zu unserer Gemeinschaft. Für sie und auch für uns erfüllt sich damit ein Traum. In der Zukunft aber wartet harte Arbeit. Die EU-Erweiterung stellt große Herausforderungen an uns. Das Problem der Kriminalität wird größer werden, und unsere Wohlstands-Gesellschaften werden unter stärkeren Wettbewerbsdruck geraten", prognostiziert die Kopenhagener Zeitung BERLINGSKE TIDENDE.


      Die Zeitung WELT AM SONNTAG stellt fest: "Europa ist größer geworden - aber es ist noch nicht erwachsen. Es befindet sich im politischen Stimmbruch - aber es wird noch lange dauern, bis es deutlich mit einer Stimme spricht. Auch treten gegenüber wirtschaftlichen Antrieben Überlegungen zur geistigen Rolle Europas mehr und mehr in den Hintergrund. Von einem Autor, der heute als so veraltet gilt, dass es wieder lohnt, ihn zu zitieren, von Karl Marx stammt die Bemerkung, in der Weltgeschichte habe die Idee sich stets blamiert, wenn ihr kein wirkliches Interesse zu Grunde lag. Aber umgekehrt gilt auch: Oft verblasst die Idee, wenn sich das Interesse endlich realisieren kann. So steht es mit Europa, zumindest mit dem seit gestern existierenden Europa der 25", meint die WELT AM SONNTAG.


      Das in Madrid erscheinende Blatt EL PAIS betrachtet die EU-Erweiterung aus spanischer Sicht: "Wir wissen, was die europäische Integration bedeutet, denn sie war für unser Land der wesentliche Faktor für die Demokratisierung, die wirtschaftliche Modernisierung und die Öffnung zur Welt. In den letzten vierzehn Jahren haben die neuen EU-Mitglieder einen ähnlichen Prozess durchlaufen wie seinerzeit Spanien: Sie haben totalitäre Regime abgeschüttelt und sind zur parlamentarischen Demokratie und zur Marktwirtschaft übergegangen. Der Sprung von 15 auf 25 Mitglieder war für die EU also nicht in erster Linie quantitativ, sondern vielmehr qualitativ. Aber voraussichtlich wird die erweiterte EU künftig verstärkt in unterschiedliche Richtungen gehen wollen und es schwer haben, eine gemeinsame Linie in der Außenpolitik zu finden. Umso wichtiger werden daher ein europäisches Grundgesetz und eine Neuordnung der Strukturen, wenn die Union demnächst weiter auf 27 oder gar 30 Mitglieder wächst, denn noch ist die EU nicht vollständig auf ihre neue Größe vorbereitet", notiert EL PAIS aus Spanien.


      EXPRESSEN aus Stockholm geht näher auf die Beitrittsländer ein: "Man kann unfreundlich sein und die zehn neuen Mitglieds-Staaten beschuldigen, einen unreflektierten Pro-Amerikanismus mit sich zu bringen, aber man kann genauso gut ins Feld führen, dass sie in ein übersättigtes Wohlfahrts-Europa die Erfahrung einbringen, was es bedeutet, in Unfreiheit zu leben. Westeuropa scheint noch gar nicht begriffen zu haben, dass es gut ist, dass sich der Schwerpunkt auf dem Kontinent verlagert und das transatlantische Bündnis durch Osteuropa gestärkt wird. Europas Zukunft liegt eben nicht darin, ein Gegengewicht zu den USA aufzubauen", schreibt die schwedische Zeitung EXPRESSEN.


      Die in Istanbul erscheinende Zeitung HÜRRIYET beschäftigt sich mit den Beitrittsperspektiven der Türkei: "Je mehr die Europäer merken, dass mit der Erweiterung neue Probleme auf sie zukommen, desto hitziger werden die Diskussionen über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei geführt. Die Gegner wollen vor den Europawahlen eine Kampagne starten. Dabei werden unglaubliche Argumente ins Feld geführt: Im Falle einer Aufnahme werde die Grenze Europas mitten durch Kurdistan gehen; die Türkei sei immer noch kein laizistisches Land; alle Beamtinnen und staatlichen Angestellten würden Kopftücher tragen; die Türken würden das Pogrom an den Armeniern nicht anerkennen und die Türkei werde bei einer EU-Mitgliedschaft die meisten Sitze im Europaparlament und damit einen zu starken Einfluss auf wichtige Entscheidungen haben. Manche Argumente sind richtig, die meisten jedoch Lügen und Ausreden. Doch damit haben die Türkei-Gegner Erfolg, und deswegen muss die türkische Seite sich Gedanken machen, wie sie diese Denkweise ändern kann. Es wird die Sache der Türkei sein klar zu machen, dass der Prozess, der Europa zu einer Heimat der Werte macht, ohne die Türkei nicht fortgesetzt werden kann", konstatiert das türkische Blatt HÜRRIYET.


      Aus Sicht der SÄCHSISCHEN ZEITUNG wird die Bundesrepublik erst dann von der EU-Erweiterung profitieren, wenn sie ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Hausaufgaben erledigt hat. "Deutschland plagen zur Zeit Selbstzweifel und Komplexe. Schwächelnde Wirtschaft, Arbeitslosigkeit, Rentendebatte, Mautdesaster und Dosenpfand beanspruchen den größten EU-Staat. Niedrige Löhne im Osten helfen da nicht. Es geht um Aufbruchstimmung, Kreativität, Mobilität, Lust am Erfolg. Wer weiß das besser als die Sachsen. Der etablierten Gesellschaft in Deutschland aber ist die Dynamik abhanden gekommen. Das macht Angst. Deutschland muss endlich wach werden, sich konsequent reformieren. Dann ist die Zukunft mit Europa kein Problem. Wenn nicht, wird Europa zum Problem", betont die SÄCHSISCHE ZEITUNG aus Dresden.


      DER TAGESSPIEGEL zieht anlässlich des gestrigen Tages der Arbeit ein ernüchterndes Fazit der wirtschaftlichen Lage in Deutschland: "Nach Feiern ist niemandem zu Mute. So deutlich wie an diesem ersten Mai ist es noch nie geworden: Das Herz des deutschen Sozialstaates, das Normalarbeitsverhältnis, ist schwer krank. Die Angreifer kommen von außen. Sie heißen Verlagerung von Arbeitsplätzen und Lohnkostenvorteil, oder: Dynamik der Märkte. Sie kommen aber auch von innen. Da heißen sie verschärfte Zumutbarkeitsregeln, Werkvertrag oder Minijob und unterhöhlen den Normaljob. Auch die Gewerkschaftschefs der IG Metall und von Verdi ahnen, dass daran nichts zu ändern ist. Die Diskussionen über Mindeststeuern und Sozialstandards, die Klagen über Dumping und Erpressung müssen deshalb ziemlich theoretisch bleiben. Sie mildern vielleicht den Schmerz, aber sie werden die Krankheit nicht heilen. In Deutschland wird es kaum Gewinner in dieser Auseinandersetzung geben. Das ist, trotz der lauten Reden, die unausgesprochene Einsicht des Tages der Arbeit. Viel gewonnen wäre schon, wenn es weniger Verlierer gäbe", so der Berliner TAGESSPIEGEL.


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      schrieb am 02.07.04 11:37:06
      Beitrag Nr. 9 ()
      junge Welt vom 02.07.2004

      Interview
      Belarus seit 1. Mai Nachbar der EU: Wie gestalten sich die Beziehungen?
      jW sprach mit Gennadij Wassiljewitsch Nowizkij (geb. 1949). Er ist Vorsitzender des Rates der Republik Belarus, der zweiten Kammer des Parlaments. Von 2000 bis 2003 war er Ministerpräsident von Belarus
      Interview: Arnold Schölzel

      F: Belarus ist seit dem 1. Mai unmittelbarer Nachbar der Europäischen Union. Wie haben sich die gegenseitigen Beziehungen einschließlich der zu Deutschland entwickelt, welchen Beitrag leisten die Parlamente dabei?

      Die Erweiterung der EU und die Verlagerung der EU-Grenze bis an unsere Staatsgrenze hat positive und negative Aspekte. Eine Prüfung des heutigen Standes der Beziehungen zeigt, daß es mehr Positives als Negatives gibt. Das ist kein Zufall. Wir haben z. B. systematisch daran gearbeitet, daß unsere Waren auch im Westen konkurrenzfähig sind. In den vergangenen drei Jahren ist unser Exportvolumen in den Westen erheblich gestiegen, das Wachstumstempo liegt bei 20 bis 25 Prozent pro Jahr. Das ist wesentlich mehr als bei unseren Exporten nach Rußland. Dabei muß man natürlich berücksichtigen, daß unsere Exporte nach Rußland einen Umfang von ungefähr 12,5 Milliarden US-Dollar und die nach Deutschland von rund einer Milliarde US-Dollar haben. Das besagt nur, daß die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Deutschland bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Deutschland ist unser zweitgrößter Handelspartner nach Rußland. In diesem Jahr wird der Warenumsatz mit Deutschland um zehn Prozent gesteigert. Außerdem existieren 320 deutsch-belorussische Joint-ventures – 132 davon sind zu 100 Prozent in deutschem Besitz. Beispiele erfolgreicher Kooperation sind Unternehmen wie Zeiss BelOMO, das optische Geräte produziert, oder MAS-MAN, das Busse und Lastwagen fertigt. Es gibt eine Reihe von Projekten, die jetzt gestartet werden, z. B. der Bau eines internationalen Handels- und Hotelzentrums, die Modernisierung einer Produktionslinie der Chemiefabrik Mogilow und – besonders wichtig – der gemeinsame Bau einer Papierfabrik. Auf der Ebene der Parlamente sind unsere Beziehungen ebenfalls sehr gut und dynamisch. Ich möchte betonen, daß wir bereit sind, mit einem solch großen Nachbarn wie Deutschland aufs engste zusammenzuarbeiten.


      F: Die UN-Menschenrechtskommission nahm im April einen Antrag Rußlands und der Republik Belarus an, in dem die Verherrlichung der SS, die Errichtung von Denkmälern sowie Kundgebungen für ehemalige SS-Männer in den baltischen Republiken verurteilt werden. Alle EU-Mitglieder, Japan und die USA stimmten gegen die Resolution. Wie beurteilen Sie dieses Abstimmungsverhalten und die Fortsetzung solcher Ehrungen in Nachbarstaaten?


      Ich möchte zunächst daran erinnern, daß Belorußland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in zwei Weltkriegen von einer blutigen Walze überrollt wurde. Man darf nicht vergessen, daß allein im Zweiten Weltkrieg in Belarus drei Millionen Menschen ums Leben kamen – ein Viertel der Bevölkerung. Wir versuchen heute, im Sinne christlicher Gebote die Entfremdung zwischen unseren Völkern zu überwinden. Wir verurteilen den Faschismus und seine Taten, aber wir halten nicht das deutsche Volk für schuldig. Wie andere Mitglieder der Antihitlerkoalition vertreten wir die Auffassung, daß man einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen muß. Es gibt ein russisches Sprichwort: Wer sich stets an das Vergangene erinnert, der hat nur ein Auge, aber wer alles vergißt, der hat keines mehr. Am 3. Juli feiern wir den 60. Jahrestag der Befreiung von Belarus. Aus diesem Anlaß wird es eine deutsch-belorussische Ausstellung in Minsk und eine gemeinsame wissenschaftliche Konferenz geben. Zu den Feierlichkeiten sind auch offizielle Vertreter der Bundesrepublik eingeladen. Der Faschismus bedeutete nicht nur für Rußland und Belarus Bedrückung und Not, sondern auch für das deutsche Volk. Unser Bestreben ist, gemeinsam dafür zu arbeiten, daß sich so etwas nie wiederholt.


      Bedauerlich ist, daß die EU-Staaten sowie Japan und die USA die Resolution von Rußland und Belarus in der UN-Menschenrechtskommission nicht unterstützt haben. Zu bedauern ist auch, daß Politiker in manchen Ländern, in denen Ehrungen für ehemalige SS-Leute stattfinden, sich der geschichtlichen Erfahrungen nicht bewußt sind. Der Verlust der Erinnerung schafft die Voraussetzung für die Wiederholung solcher Ereignisse. Zusammenfassend kann man die Position des belorussischen Volkes und seines Parlamentes so beschreiben: Wir sind gegen die Hervorhebung dieses Problems, gegen dessen ständige Erwähnung, aber auch gegen das Vergessen und gegen die Verherrlichung der Verbrechen und der Verbrecher.


      F: Die Wirtschaft Ihres Landes expandiert, die Arbeitslosenrate in Belarus ist sehr niedrig. Kann Ihr Land den Kurs einer sozial orientierten Marktwirtschaft in einer neoliberal geprägten Umgebung weiterführen?


      Ich will hervorheben, daß Belarus das einzige Land der ehemaligen Sowjetunion ist, das das ökonomische Niveau von 1990 nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen hat. Das betrifft sowohl den Umfang der Produktion als auch das Bruttosozialprodukt. Die Wachstumsrate im Jahr 2003 belief sich auf 6,8 Prozent. In diesem Jahr erreichen wir voraussichtlich ein Wachstum von zehn Prozent. Diese Entwicklung kommt nicht von ungefähr, wir haben systematisch dafür gearbeitet. In dieser Hinsicht haben wir keine Befürchtung, was die Verlagerung der EU-Grenze angeht, sondern können ohne Umschweife sagen: Wir sind auf die härtere Konkurrenz gut vorbereitet. Exporte hatten bei uns immer erste Priorität, weil wir über 70 Prozent aller Produkte ausführen. Es hat sich so ergeben, daß wir in der UdSSR zu einer industriellen »Werkstatt« wurden. Wir konnten die modernen Technologien, über die wir verfügten, nicht nur bewahren, sondern weiterentwickeln.


      F: Im Herbst stehen in Ihrem Land Parlamentswahlen an. In der Vergangenheit gab es zu solchen Anlässen feindselige Kampagnen in westlichen Medien gegen Belarus. Hat sich die Situation verändert?


      Zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß in Belarus ein Wahlgesetz verabschiedet wurde, das Grundlage für die Wahlen ist. Bei der Vorbereitung dieses Gesetzes arbeiteten renommierte internationale Experten mit – aus der OSZE, aus dem Europarat sowie der Europäischen Kommission für Demokratie, der sogenannten Venedig-Kommission. Der Entwurf des Wahlgesetzes wurde allen politischen Parteien in Belarus übergeben, auch den oppositionellen. Aber im Unterschied zu den europäischen Institutionen haben sich unsere Oppositionsparteien nicht an der Ausarbeitung beteiligt. Sie nehmen das jetzt zum Vorwand, um das Gesetz zu kritisieren. Ich möchte unterstreichen, daß die meisten, wenn nicht alle Vorschläge der internationalen Gremien im Gesetz berücksichtigt wurden, wobei klar ist, daß es keine Institution gibt, die nicht vervollkommnet werden kann.


      Ich will auch nicht verschweigen, daß es viele Länder gibt, die nicht über ein solches Gesetz verfügen, und bemerken, daß Mitglieder unseres Parlaments regelmäßig als Wahlbeobachter in verschiedenen Ländern tätig sind. Wir wissen daher aus erster Hand, daß die Standards nicht überall eingehalten werden. Das eine ist das Gesetz, das andere die Praxis. Die Praxis in unserem Land entspricht nicht nur der in anderen Ländern, sondern übertrifft sie häufig. Deshalb bin ich der Meinung, daß Erklärungen über die Nichteinhaltung demokratischer Regeln bei den Wahlen in Belarus in den Bereich der doppelten Standards gehören.


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      schrieb am 28.07.04 22:23:04
      Beitrag Nr. 10 ()
      29.04.2004  
      Peripherisierung
      Soziale Verwerfungen nach der EU-Osterweiterung am 1. Mai

      Hannes Hofbauer   Der 1. Mai 2004: Tag der Erweiterung. Vor 20, 25 Jahren standen die Abendnachrichten des 1. Mai bei den größten deutschen Fernsehstationen ganz im Zeichen der Arbeiteraufmärsche. Vom Roten Platz in Moskau wurden winkende Generalsekretäre in die westdeutschen Wohnzimmer geliefert, aus Ostberlin kam ein mit bissigem Kommentar versehener Beitrag über die ewige Wiederkehr der rote Fahnen schwenkenden Blauhemden. Daran angehängt konnte fast sicher eine Reportage erwartet werden, die – wie im Jahr zuvor – die bösen Chaoten aus dem Kreuzberger Kiez ins Bild rückte, deren Randale das schmucke Bild vom westdeutschen Arbeiter beschädigte.

      Diesmal wird alles anders sein. Am Abend des 1. Mai 2004 ist mit Korrespondentenberichten aus bis zu acht osteuropäischen Hauptstädten zu rechnen, mit Jubelbildern von Sektflöten schwingenden Neobourgeois, die das Ausgreifen der Brüsseler EU nach Osten als Europäisierung von Prag, Warschau, Budapest und Tallinn feiern. Blaue Flaggen mit goldenen Sternen werden die roten Proletarierfahnen an diesem 1. Mai vollständig verdrängen. Aus dem Tag der Arbeit wird der Tag der Erweiterung.

      Wie groß ist Europa?

      Am Freitag, den 13. Dezember 2002, beschlossen Rat und Kommission der Europäischen Union im dänischen Winter die Einladung an acht osteuropäische Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien) sowie an Malta und Zypern, dem Brüsseler Klub beizutreten. Seit November 1998 haben dazu strikt bilaterale Gespräche zwischen EU und den je einzelnen Aufnahmekandidaten stattgefunden, in denen es um die Übernahme von EU-Recht und neoliberalen Standards ging – im Brüsseler Amtsjargon »Aquis communitaire« genannt. Verhandelt wurde hierbei nicht, der gesamte EU-Rechtsbestand ist den einzelnen nationalen Verfassungen übergestülpt worden; bei einzelnen Kapiteln, wie z.B. der sogenannten Arbeitnehmerfreizügigkeit oder dem freien Erwerb von Grund und Boden, sind Fristverlängerungen bis zum Inkrafttreten der EU-Gesetze vereinbart worden.

      Zwischenzeitlich hat in allen Ländern die Ratifizierung der Verträge stattgefunden, Volksabstimmungen ergaben bei oft erschreckend geringer Wahlbeteiligung (46 Prozent in Ungarn, 52 Prozent in der Slowakei, 55 Prozent in Tschechien, 59 Prozent in Polen) durchwegs Mehrheiten für die Teilnahme am gemeinsamen europäischen Markt. Nachdem Rumänien und Bulgarien in Kopenhagen keine Einladung zur EU-Mitgliedschaft erhalten haben und ihre Staatschefs auf das Jahr 2007 vertröstet wurden, vergrößert sich EU-Europa am 1. Mai 2004 räumlich um 738 551 Quadratkilometer (zum Vergleich Deutschland: 357 020 Quadratkilometer) und bevölkerungsmäßig um 75 Millionen Menschen (zum Vergleich Deutschland: 82 Millionen). Sieben der zehn neuen EU-Mitglieder sind Erscheinungen territorialen Zerfalls; drei davon (Estland, Lettland, Litauen) gehörten bis 1991 zur Sowjetunion, ein neuer Staat (Slowenien) war bis 1991 jugoslawische Teilrepublik, Tschechien und die Slowakei trennten sich in relativem Frieden, und von Zypern wird – bestätigt durch die Volksabstimmung vom 24. April 2004 – nur der griechische Teil beitreten. Einzig Polen und Ungarn können auf eine längere territoriale Stabilität zurückblicken und in ihren alten Grenzen Teil der vergrößerten EU werden. Die wenig diskutierte territoriale Instabilität des vergangenen Jahrzehntes ist auch sozial und ökonomisch insofern von Bedeutung, als daß sie einen Hinweis auf die politische Schwäche der Beitrittsländer gibt, deren neue Eliten in der Regel Staaten vertreten, in denen sie nicht aufgewachsen waren. Aber auch dort, wo in den 1990er Jahren territoriale Klarheit herrschte, in Polen z. B., war die politische Landschaft dermaßen zersplittert, daß das Land in der für die Transformation wichtigsten Phase nach 1989 (bis 1993) fünf Ministerpräsidenten verbrauchte, die allesamt kaum Zeit hatten, ihren Schreibtisch zu ordnen, geschweige denn einen Überblick über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu erhalten.

      Soziale Deregulierung


      Die auffälligste soziale Differenz zwischen EU-Europa und den neuen Beitrittsländern kann auf einfache statistische Art festgestellt werden. Indiziert man das Bruttoinlandsprodukt (BIP), pro Kopf gerechnet, für den EU-15-Durchschnitt bei 100 (im Jahr 2001), dann liegen sämtliche Neubewerber für die Integration weit darunter, mit der relativen Ausnahme Slowenien, das auf die Indexziffer 70 kommt. Deutschland hält in diesem Zahlenspiel bei 103. Das niedrigste BIP/Kopf weisen im selben Jahr Lettland und Litauen mit 30 (bei

      EU-15=100) auf. Das bevölkerungsreichste Kandidatenland Polen liegt mit einem BIP/Kopf von 39 weit hinter Portugal (75) und Spanien (83). Das »Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche«, das mit einer Statistik auf Basis von OECD-Zahlen operiert, hat diese Pro-Kopf-Berechnung kaufkraftbereinigt, d.h. den Versuch unternommen, die unterschiedlichen Lohn- und Preisniveaus in den einzelnen Ländern zu berücksichtigen.

      Zahlenreihen, die soziale Unterschiede wie die Differenz zwischen Arm und Reich in nationale Grenzen bannen wollen, müssen mit Vorsicht genossen werden. Denn mit ihnen wird systematisch die Herausbildung einer Klassengesellschaft, wie sie seit der Wende in Osteuropa rapide vor sich geht, ignoriert. Nichtsdestotrotz vermitteln sie über die staatlichen und regionalen Disparitäten hinaus die Kenntnis über großräumig existierende Entwicklungsunterschiede zwischen Zentralräumen und Peripherien, die durch die Auseinanderentwicklungen innerhalb der Länder weiter verschärft werden. Die vom »Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche« aufgestellte Langzeitreihe für das Bruttoinlandsprodukt müßte selbst Berufsoptimisten ernüchtern, die den EU-Neulingen rhythmisch einen Aufschwung prophezeihen. Unterm Strich verloren die osteuropäischen Neo-EU-8 gegenüber den alten EU-15 zwischen 1990 und 2002 an Boden. Denn während Westeuropa jährliche Wachstumsraten von durchschnittlich 1,9 Prozent zu verzeichnen hatte, mußte sich der Osten, der ja auf ungleich niedrigerem Niveau startete, mit 1,7 Prozent begnügen. Gleichzeitig steigt die Produktivität in der Neu-EU stärker an als im alten Europa, was nur die Tatsache unterstreicht, daß dieser positive Indikator nicht den Menschen, sondern den – ausländischen – Investoren zugute kam.

      Reinen sozialen Indikatoren, die Gesellschaften auf einer Reichtumsskala verorten, liegen oft komplizierte Berechnungen zugrunde. Sie entfalten ihre Aussage – ähnlich wie die BIP-Statistik – ausschließlich im Vergleich. So verhält es sich auch mit dem sogenannten PIN-Index, der sich der sozialen Wirklichkeit mit einer Maßzahl annähern will, die Arbeitslosigkeit, Armutsgrenze und BIP berücksichtigt. Diesem Index zufolge, der auch als Indikator für politische und soziale Stabilität verwendet wird, kennt die tschechische Gesellschaft kaum Armut, die sich politisch gefährlich auswirken könnte. Ungarn weist demgegenüber eine fast fünfmal so hohe, Polen eine fast acht Mal so hohe Instabilität auf.

      »Erstaunliche Leidensfähigkeit«

      Vielsagender als solche Momentaufnahmen ist der soziale Prozeß, wie er sich in den vergangenen zehn bis 15 Jahren entwickelt hat. Der Wegfall staatlich verordneter und betrieblich verankerter sozialer Sicherheiten ging in allen osteuropäischen Ländern mit einer – für Friedenszeiten – unvergleichbaren Schnelligkeit vor sich. Entsolidarisierungen großen Ausmaßes waren die Folge. Der Wegfall betrieblicher und staatlicher Vorsorge, die Einstellung von Subventionen der unterschiedlichsten Art – von der Energie, dem öffentlichen Verkehr über das Wohnen bis zu den Grundnahrungsmitteln – sowie Deindustrialisierung, Privatisierung und anschließende betriebliche Rationalisierungen haben zu einer enormen sozialen Deregulierung geführt. Diese ist statistisch schwer faßbar, doch jedem leicht zugänglich, der einen Blick auf Regionen außerhalb der wenigen neuen Wachstumspole in Osteuropa wirft. Wer ins polnische Niederschlesien nach Walbrych, ins oberschlesische Katowice, ins ungarische Tatabanya oder in die Mittelslowakei nach Martin reist, der braucht keinen wissenschaftlichen Beweis für die soziale Entrechtung, die sich der dort lebenden Menschen bemächtigt hat. Wer damit nicht zufrieden ist, der kann sich mit Arbeitslosenstatistiken helfen, in denen besagte Regionen mit 30- bis 60 Prozent-Werten aufscheinen. Bei einer für die acht in Kopenhagen zum Beitritt zugelassenen osteuropäischen Länder durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 15 Prozent (Polen: 20 Prozent, Slowakei: 19 Prozent, Slowenien: 6,5 Prozent) kann man unschwer erahnen, auf wie verheerende Weise sich gesellschaftliche Unbrauchbarkeit in den Krisenregionen außerhalb der wenigen Zentren breitgemacht hat. Vor allem, wenn man in Rechnung stellt, daß bis 1989/90 Arbeitslosigkeit ein unbekanntes Phänomen in Osteuropa gewesen ist.

      Mehr noch als die Arbeitslosenzahlen gibt die Beschäftigungsstatistik Auskunft über die Verlierer der Wende. Gleichsam als Voraussetzung für ausländisches Investment und Privatisierung ist in allen EU-Beitrittsländern ein Arbeitsmarkt geschaffen worden, der die kommunistischen Beschäftigungsverhältnisse auf den Kopf gestellt hat. Vor allem Frauen, unter den KP-Arbeitszwangsregimen in aller Regel auch Lohnarbeiterinnen, sind an den Herd zurückgedrängt worden; ältere Arbeiter, Roma und andere soziale Randschichten gingen im großen Stil der Möglichkeit verlustig, einen bezahlten Arbeitsplatz zu erhalten. So verloren in Ungarn von 5,3 Millionen Menschen, die 1990 beschäftigt waren, bis zum Jahr 2002 1,4 Millionen ihren Arbeitsplatz, das sind 26 Prozent aller Lohnabhängigen; in Tschechien beträgt der Rückgang in der Beschäftigungsstatistik zehn Prozent (500 000 Tausend), in Polen 7,5 Prozent (1,2 Millionen). Einzig Slowenien konnte seinen Beschäftigtenstand fast halten.

      Bildung und Gesundheitsvorsorge haben sich parallel zur fortgesetzten Peripherisierung der Ostregion verschlechtert. In den Ex-RGW-Ländern hat sich die Anzahl der Grundschulgänger teilweise drastisch reduziert. Gingen beispielsweise in Polen im Jahr 1990 von 10 000 Einwohnern 1 380 in die Grundschule, waren es zehn Jahre später nur noch 833. In Ungarn verringerte sich der Plichtschüleranteil an der Bevölkerung von 1 092 (bei 10 000 Einwohnern) auf 957, in der Slowakei von 1 362 auf 1 245. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben oft mit dem vorzeitigen Abbruch der Schule zu tun, der vor allem in Polen häufig ist.

      Bei der Gesundheitsvorsorge hilft uns der »Bettenindikator«, um den Weg nachzuzeichnen, auf dem die peripheren europäischen Länder unterwegs sind: Die Kostenexplosion für den Erhalt der Gesundheit, die auf die Aufgabe bzw. Zerschlagung des nun als staatlich-paternalistisch und kommunistisch diskreditierten Gesundheitswesens folgte, zieht die Schließung von Spitälern nach sich. In allen Beitrittsländern macht sich das in einer sinkenden Bettenanzahl bemerkbar. Die Gesundheitssysteme in Ungarn und Tschechien verloren in der Transformationszeit je 18 Prozent ihrer Spitalsbetten, das polnische Gesundheitswesen verlor 14 Prozent seiner Betten, das slowenische und das slowakische je sechs Prozent. Und während die Lebenserwartung, die 1990 in vielen osteuropäischen Ländern gesunken ist, seit 1998 wieder langsam steigt, explodieren Selbstmordraten in Ländern wie Litauen (43 Selbstmorde auf 100 000 Einwohner), Lettland (28), Estland und Slowenien (26) und Polen (14). Deutschland liegt mit vergleichsweise niedrigen 12 Selbstmorden pro 100 000 Einwohner im unteren europäischen Drittel. Auf eine besondere gesundheitliche Gefahr weist der Wiener Sozialwissenschaftler Arno Tausch hin, wenn er auf der Basis von WHO-Material errechnet hat, daß die Wiederkehr der Tuberkulose, die Anfang der 1990er Jahre aus Europa weitgehend verschwunden war, im Jahr 2000 weite Teile der ehemaligen Sowjetunion und bereits das Baltikum erreicht hat.

      Mit solchen Zahlen in den Wendeländern konfrontiert, wird der osteuropäischen Bevölkerung von Sozialwissenschaftlern bis Konzernmanagern eine »erstaunliche Leidensfähigkeit« attestiert. Diese werden die zahlreichen Verlierer des Transformationspozesses noch lange brauchen. Denn das immer wieder herbeigesehnte ökonomische Aufholen nach einer EU-Integration wird so nicht stattfinden können. Peripherisierung und nachholende Entwicklung schließen einander aus. Auch eine relativ einfache schematische Berechnung der Entwicklungschancen für osteuropäische Neulinge im EU-Raum zeigt, daß rasches Aufholen an der Wirklichkeit scheitert. Der polnische Ökonom und frühere Außenminister, Dariusz Rosati, hat nach der sogenannten Levine-Renelt-Methode ausgerechnet, daß Polen 23 Jahre brauchen würde, um bei einem geschätzten Jahrenswachstum von fünf Prozent auf das Entwicklungsniveau von Griechenland, Portugal und Spanien zu kommen. Litauen müßte auf derselben Berechnungsgrundlage 33 Jahre, Lettland 23, Ungarn 22, die Slowakei 19, Estland 17 und Tschechien 15 Jahre warten, um wachstumsmäßig zu den bisherigen EU-Schlußlichtern aufschließen zu können. Für diese Rechenaufgabe hat Rosati im Jahr 1998 einen fiktiven Wachstumswert von jährlich fünf Prozent für Osteuropas Volkswirtschaften eingesetzt, der freilich nicht über zehn bis 30 Jahre lang gehalten werden kann. Die einzige Chance, einen volkswirtschaftlich ohnehin zweifelhaften Wachstumsschub relativ zu Westeuropa absolvieren zu können, besteht theoretisch in einer totalen Krise Westeuropas. Wenn im Alt-EU-Raum die ökonomischen Indikatoren in Richtung Stagnation zeigen, dann könnten auch geringe Wachstumsraten im Osten statistisch zu einem Aufholprozeß führen. Allein, die Abhängigkeit der osteuropäischen Wirtschaften von den Westmärkten, die ja gerade Teil der sogenannten Integration ist, verhindert dieses Szenario.

      An den Rand gedrängt

      Die volkswirtschaftlichen Reaktionen auf dieses Dilemma sind in Osteuropa absehbar. Der großräumigen Peripherisierung des gesamten Ex-RGW-Raumes antworten die einzelnen Staaten mit kleinräumigen Zentren- und Peripheriebildungen. Sie tun dies nicht bewußt in Form einer auf den Kopf gestellten Regionalpolitik, sondern die regionalen Disparitäten ergeben sich aus den Standortentscheidungen von Investitionen, ihren Auswirkungen auf die Beschäftigung bzw. deren Ausbleiben. Liberale Politik greift hier nicht mehr steuernd ein. Eine einfache Statistik gibt über dieses Phänomen Auskunft. Total an den Rand gedrängt werden demnach der gesamte Osten sowie Teile des Nordwestens in Polen, der Nordosten der Slowakei, der ungarische Osten sowie Bulgarien und Rumänien als ganzes. Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen oder soziale Indikatoren wie die oben erwähnte Arbeitslosenstatistik belegen die Auseinanderentwicklung auf eindrucksvolle Weise. Während in Warschau und Umgebung, im Raum Bratislava/Trnava, in Budapest und Westungarn, in weiten Teilen Sloweniens sowie in Prag und dem westlichen Böhmen das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gerechnet sich mit westeuropäischen Werten demnächst wird vergleichen können, müssen überall sonst die Bewohner derselben Länder mit drei- bis fünfmal so geringen Einkommen auskommen. Die Schere, die sich in den vergangenen Jahren sozial zwischen wenigen Reichen und vielen Armen in Osteuropa aufgetan hat, findet also auch regional ihre Entsprechung.

      Drastisch hat sich diese Theorie zuletzt in der slowakischen Praxis bestätigt, wo Ende Februar 2004 Zigtausende Roma aus ihren Ghettos im Osten der Slowakei ausgebrochen sind, um sich in nahen Supermärkten gewaltsam das zu holen, was sie käuflich nicht mehr erwerben können. Die Hungerrevolten von Trebisov, Lunik IX und weiteren Romasiedlungen haben die Öffentlichkeit in der boomenden Region um Bratislava aufgeschreckt. Der Westen Europas blickte verstärt auf die revoltierenden Roma, die am 1. Mai 2004 EU-Bürger werden. Daß sie nichts zu essen haben, paßt nicht ins Konzept der Jubelberichte. Also behandelt man die 500 000 slowakischen Roma als sozial Aussätzige. Wenn sie sich demnächst wieder gewalttätig Gehör verschaffen werden, wird der Hunger mitten im erweiterten Europa Einzug gehalten haben.

      * Von Hannes Hofbauer erschien zuletzt: Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration, Promedia Verlag, Wien 2003
       
      ----------------------- Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/04-29/004.php
      Avatar
      schrieb am 28.07.04 22:49:29
      Beitrag Nr. 11 ()
      28.01.2004
        Hannes Hofbauer  
      Das größte imperiale Projekt seit 1945  

      Über die Folgen der EU-Osterweiterung für die zehn neuen und für die bisherigen Mitgliedsländer  

      Sinnigerweise am 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiter, treten zehn neue Länder der Europäischen Union (EU) bei. Acht waren sozialistische Länder, davon sieben Mitglieder des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), das achte ist der zweitkleinste Teil Jugoslawiens, Slowenien. Damit vergrößert sich die EU beträchtlich, allerdings vergrößern sich auch ihre Probleme.

      Bemerkenswert ist, daß die rechte neoliberale Diskurshegemonie sowohl im Osten wie im Westen bewirkt hat, daß das größte imperiale Projekt in Europa seit 1945 – so würde ich die Osterweiterung einschätzen – relativ kritiklos zur Kenntnis genommen wird. Weder in Deutschland noch in Österreich gibt es z. B. eine Partei, die im Parlament dem Ratifizierungsprozeß skeptisch oder ablehnend entgegengetreten wäre. Mehr noch, Kritik an der EU-Osterweiterung wird als nationalistisch, als kommunistisch oder als nationalkommunistisch diffamiert. Verbreitet wird die Ideologie, es handele sich um ein Hilfsprojekt. Das ähnelt der Situation in den 70er Jahren, als der kapitalistische Ausgriff in Richtung Süden mit Entwicklungshilfe erklärt wurde. Geholfen wurde tatsächlich den großen Agrarkonzernen und anderen Multis.

      Daß es nicht um Hilfe geht, ergibt sich schon daraus, daß anlagesuchende Unternehmen im Westen die Triebkraft der Erweiterung sind. Rationalisierung und Marktbereinigung erhöhten in den 80er Jahren enorm den Akkumulationsdruck auf die Konzerne. Die Lösung dieses ewigen kapitalistischen Problems ist Verwertung durch Expansion – im Prinzip eine sehr einfache und immer praktizierte Variante. Interessant ist allerdings, daß das auch in großen Teilen der Linken bei der Osterweiterung aus dem Blick geraten ist. Es geht schlicht und einfach um die Überproduktionskrise der größten Gruppen im westlichen Kapitalismus. EU-Osterweiterung bedeutet für die Konzerne: Neuer Marktraum, neuer Absatzraum und vor allem neuer Arbeitsmarkt, d.h. billigere Fertigung durch Ausnutzung billigerer Arbeitskraft.


      Die Schuldenfalle

      Bei den Voraussetzungen, die notwendig waren, um diesen Prozeß in Gang zu setzen, lassen sich interne und externe Faktoren unterscheiden. Die großen internen Probleme der osteuropäischen Länder lassen sich ohne externen Druck nicht erklären. Er war auch Ursache dafür, daß die internen Probleme, die nicht kleingeredet werden dürfen, sich zu einer Art Konterrevolution auswuchsen. Ich will mich in meinen Ausführungen auf den externen Druck beschränken, zumal die internen Probleme in der Presse breitgetreten werden.

      An erster Stelle ist die Schuldenpolitik der 70er Jahre zu nennen. Koordiniert durch Währungsfonds und Weltbank, floß billiges Geld nach Süden und Osten. Das ist allgemein bekannt, es gibt eine Menge Literatur dazu. An diese Phase der billigen Kredite schloß die Hochzinspolitik Ronald Reagans in den 80er Jahren an. Die Länder, die sich im Jahrzehnt zuvor Kredite besorgt hatten, waren damit in die sogenannte Schuldenfalle getappt. Für Mexiko, Brasilien oder Argentinien war das katastrophal und ebenso katastrophal war es für einige Länder des RGW wie Ungarn, Polen oder Rumänien und für Jugoslawien. Dessen Kreditpolitik hatte allerdings eine Besonderheit: Es gab politische Hintergründe für seine Kredite. Der Einfluß Moskaus sollte ferngehalten werden.


      Aufrüstungsdruck

      Eine zweite Voraussetzung war neben der Kreditpolitik die ständige Aufrüstung. Sie führte Anfang der 80er Jahre zu einer neuen Militarisierung und letztlich, wenn man das so verkürzt sagen kann, zum Totrüsten des Warschauer Paktes. Beides, der wirtschaftliche und der militärische Druck, führten zum Zusammenbruch des osteuropäischen Integrationsraumes im RGW.

      Eine weitere Voraussetzung war, wobei gerade in diesem Fall an die inneren Faktoren zu erinnern ist, die Zerschlagung der drei multiethnisch verfaßten Staatlichkeiten in Osteuropa, also die Sowjetunion, die Tschechoslowakei (CSR) und Jugoslawien. Sechs der acht osteuropäischen Staaten, nämlich Slowenien, die drei baltischen Republiken, Tschechien und die Slowakei, die jetzt der EU beitreten, sind Zerfallsprodukte dieser multiethnischen Länder. Das weist auf die politische und kulturelle Schwäche dieser Staaten hin. Es handelt sich um Staaten, die lange Zeit so nicht existierten oder niemals als Staat existierten. Allein Ungarn und Polen treten als territoriale Einheiten bei, die auch schon zuvor existiert hatten.


      Kernstück Enteignung

      Diese, wie ich meine, periphere Integration unter das EU-Dach hat 15 Jahre gedauert, wenn 1989 als Zäsur genommen wird. Warum solange? Zum Vergleich: Der Marshall-Plan zum Wiederaufbau der europäischen Ökonomien nach den großen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges war 1952 mehr oder minder abgeschlossen, also nach sieben Jahren. Meine Interpretation ist: Die lange Dauer war nötig, um das Kernstück der Osterweiterung in Szene zu setzen, nämlich einen vollständigen Eigentümerwechsel, also die Privatisierung. Das war keine einfache Angelegenheit, weil sich viele große Konzerne auf den Ostmärkten nicht auskannten, weil immer die Frage des Werts der einzelnen zu privatisierenden Unternehmungen im Raum stand und geklärt werden mußte.

      Diesen Vorgang, der in Ostdeutschland gut bekannt ist, möchte ich am Beispiel Tschechiens erläutern. Die Tschechische Republik oder die Tschechoslowakei, um genau zu sein, setzte 1990 vier Arten der Privatisierung ins Werk. Das waren die Couponprivatisierung, die Auktion oder Versteigerung, die Restitution oder Rückgabe von Eigentum sowie der Verkauf von Staatseigentum an Privat.

      Zur ersten Privatisierungsart, der Couponprivatisierung, in Tschechien auch die »große Privatisierung« genannt: Jeder tschechische und slowakische Bürger konnte sich das sogenannte Couponbüchlein für 1000 Kronen besorgen, die 1000 Punkte wert waren. Man konnte sich damit an einem riesigen Lotteriespiel beteiligen, um Aktien, die in den Topf der Couponprivatisierung hineingesteckt worden waren, zu gewinnen. Dabei gab es für den Erwerb der Staatsbetriebe keinerlei Wertvorgaben. Der Wert bestimmte sich durch die Nachfrage nach diesen Büchlein.

      Diese Art der Privatisierung war ideologisch von der Idee des Volkskapitalismus inspiriert. Entwickelt hatte sie der heutige tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus am Prager Weltwirtschaftsinstitut. An dieser Stelle ist es vielleicht interessant zu erwähnen, daß es in den späten 80er Jahren in den sozialistischen Ländern mehrere Institute gab, die für diese Privatisierung nicht nur die Grundlagen schufen, sondern auch gleich die Kader dafür ausbildeten – vor allem in der Sowjetunion und in Ungarn.

      Die Couponprivatisierung in Tschechien klappte vorzüglich. 8,5 Millionen Tschechoslowaken beteiligten sich. Das Spiel funktionierte allerdings erst in dem Moment richtig, als Fonds aus dem Boden schossen, die versprachen, diese Coupons zu einem höheren Preis als 28 Euro zu kaufen. Darauf gingen viele ein. Die größten Fonds gingen dann rasch ein, ihre Chefs flüchteten entweder auf die Bahamas oder landeten im Gefängnis. Die Versprechungen der Fonds konnten natürlich nicht eingehalten werden, es handelte sich um Lotterieagenturen. Das Geld verschwand. Die Couponprivatisierung war die tschechische Basis des Raubkapitalismus.

      Die zweite Art der Privatisierung bestand in den Auktionen, in den Versteigerungen. Sie waren hauptsächlich für kleinere Immobilienprojekte oder Geschäftslokale üblich. Offiziell durften ausländische Bürger nicht mit steigern, taten es aber über Strohmänner. Ich war bei solchen Versteigerungen als Zuschauer dabei und konnte verfolgen, wie z. B. in Bratislava viele Geschäfte von Strohmännern für Österreicher gekauft wurden.

      Die dritte Form der Privatisierung war die Restitution. Um sie gab es einen ideologischen Kampf. Es ging darum, ob etwas an frühere Eigentümer oder deren Nachkommen zurückgegeben werden oder ob versteigert werden sollte. Die Neoliberalen um Vaclav Klaus sprachen sich z. B. klar gegen die Restitution aus, weil sie sehr wohl erkannten, daß es bei der Kapitalisierung der Wirtschaft darum geht, neue, eigene Kräfte ans Ruder gelangen zu lassen und nicht die Enkel von ehemaligen Besitzern, die mit dem Eigentum nicht kapitalistisch wirtschaften. Die Gewinner dieser Restitutionen – und das darf man nicht kleinreden – waren im wesentlichen die alten Adelsgeschlechter, die in Böhmen und Mähren bereits 1919, also nicht von Kommunisten, zu einem großen Teil enteignet worden sind. Sie erhielten gleich im ersten Jahr über 300000 Hektar Land zurück, viele Schlösser, Hotels und Wald. Die Liste derer, die da gewonnen haben, liest sich wie das Adreßbuch der Aristokratie vom Wiener Ring, wohin sich die Adelsgeschlechter nach 1919 und spätestens nach 1945 zurückgezogen hatten.

      Die vierte und letzte Art der Privatisierung war der direkte Verkauf via Staatsagentur. Da gingen die ganz große Brocken weg, die mit geopolitischen und strategischen Überlegungen verknüpft sind. Wäre man z. B. der Tradition der ersten Tschechischen Republik gefolgt, wären die Skoda-Werke in Mlada Boleslav an einen französischen Investor verkauft worden und nicht an einen deutschen. Wir wissen, Volkswagen hat gewonnen. Ich meine, daß Volkswagen überhaupt einer der größten Gewinner der EU-Osterweiterung ist.

      Gestört wurden all diese Formen der Privatisierung in der Tschechoslowakei durch das Auseinanderdriften der beiden Republikshälften und durch die Entstehung von Tschechien und Slowakei Ende 1992. Auch dabei gab es wieder eine große Chance für mafiose Bereicherungen, die natürlich genutzt wurde.


      Beispiel Medien

      Bleiben wir noch beim Beispiel Tschechien. Wie sieht es mit den Besitzverhältnissen in den Medien heute aus? Von den ursprünglich drei staatlichen Fernsehstationen ist eine längst privatisiert, eine zweite wird gerade auf den Weg gebracht, so daß vermutlich ein staatlich kontrollierter Sender übrigbleiben wird. Der zuerst privatisierte Sender heißt Nova, ist sehr populär und ein typisches Beispiel für den Ablauf der Privatisierung. Zunächst erhielt ein Tscheche die Lizenz. Da er natürlich das Geld dafür nicht hatte, ging er auf Suche nach Kapital und fand es in der Person und in den Firmen von Ronald Lauder, einem US-Kosmetikkonzern. Der wurde Eigentümer dieser Nova-Fernsehgesellschaft. Als die Belegschaft vor knapp zwei Jahren bei innerbetrieblichen Auseinandersetzungen die Gefolgschaft verweigerte, zog Lauder gegen die tschechische Republik vor Gericht. Sein Vorwurf: Seine Investition sei nicht ausreichend staatlich geschützt worden. Das Resultat: Im Sommer 2003 mußte die Tschechische Republik Schadenersatz in Höhe von zehn Milliarden Kronen, umgerechnet etwa 350 Millionen Euro, leisten. Das riß ein tiefes Loch in das tschechische Staatssäckel.

      Die tschechische Zeitungslandschaft ist weitgehend in ausländischer Hand, genauer in deutscher und ein bißchen in Schweizer Hand. Große Zeitungen gehören der Rheinischen Post, die sonst vor allem in Polen stark engagiert ist. Das größte Boulevardblatt gehört dem Schweizer Ringier-Konzern. Er besitzt außerdem in Rumänien die drei größten Tageszeitungen und fünf Zeitschriften, ähnlich in Ungarn. Alle Regionalzeitungen in der Tschechischen Republik gehören der Passauer Neuen Presse, einem der größten europäischen Verlagshäuser für Regionalblätter. Es betreibt in Polen, Österreich und der Slowakei insgesamt über 20 Druckereien. Außerdem gibt es noch einen schweizerischen Re-Emigranten mit einer Wochenzeitschrift und den Fürsten Schwarzenberg ebenfalls mit einer Wochenzeitung. Es gibt so gut wie keine Zeitschrift, die in originär tschechisch-kapitalistischer Hand wäre.


      Die Banken

      Noch klarer ist die Situation im Bankensektor. Wer den Kreditmarkt kontrolliert, bestimmt über wirtschaftliche Vorhaben, sogar über volkswirtschaftliche Entscheidungen.

      Nach den Zahlen des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche und denen der Banken selbst beträgt der Anteil ausländischer Banken an der Bilanzsumme des Bankensektors in der Tschechischen Republik, in der Slowakei und in Bulgarien 70 bis 80 Prozent. Dort wird der gesamte Markt beherrscht. In Polen sind es knapp 70 Prozent, in Ungarn 60 Prozent. In Slowenien, dem Land, das sich am meisten vom Einfluß ausländischen Kapitals fernhalten konnte, weil dort die Überführung in einen neuen Mittelstand im kapitalistischen Sinne noch am ehesten funktionierte, sind es immerhin 33 Prozent. Zum Vergleich: Das westeuropäische Land, das mit dem größten Einfluß ausländischer Banken konfrontiert ist, ist Spanien mit 31 Prozent.

      Die Gewinner sind ausschließlich europäische Banken aus Belgien, Deutschland – die Bayrische Hypobank ist sehr stark mit ihrer österreichischen Tochter Bank Austria vertreten –, Österreich: Italien und Frankreich.


      Schocktherapie

      Zur Verwaltung der neuen wirtschaftlichen Aufgaben war es notwendig, die alten politischen Strukturen zu zerschlagen. Ich meine nicht nur die Entferung der Mitglieder der Staatsparteien oder die Abwicklung wie hier in Ostdeutschland, sondern eine Schwäche der politischen Struktur im allgemeinen. Sie ist auch im Westen zu spüren, wenn wir sehen, daß z. B. alle sozialdemokratischen Parteien letztlich nur mehr Kapitalpolitik betreiben und nicht einmal mehr die Brosamen von irgendwelchen Kuchen für ihre Klientel aufsammeln wollen. Am Beispiel Polen ist das schnell erläutert. Dort gab es von 1989 bis 1993, also in den wichtigsten Jahren der Systemveränderung fünf Regierungen, die alle von Solidarnosc gestellt wurden. Diese Regierungen konnten überhaupt keine politische Machtposition erreichen, der eigentliche Handlungsträger war woanders zu finden. In Polen wie auch in anderen Landern war es der Internationale Währungsfonds (IWF), der im Falle Polen ein Faustpfand in Höhe von 42 Milliarden Dollar Auslandschuld hatte. Polen war schon seit den den 70er Jahren Mitglied des IWF. Mit diesem Faustpfand wurde die Schocktherapie im Lande organisiert. Personelle Brückenköpfe waren schnell gefunden, der entscheidende war Leszek Balcerowicz, ein US-amerikanisch geschulter Pole. Er ist seitdem entweder Finanzminister oder Notenbankchef. Sein Gegenüber auf IWF-Seite war Jeffrey Sachs. Der kam 1989 gerade aus Bolivien, wo er Mitte der 80er Jahre, wo er »Anpassungsprogramme« erfolgreich durchgeführt hatte. Er kam über ein Ticket von George Soros, dem Spekulanten, im wahrsten Sinne des Wortes nach Warschau. Denn Soros hatte ihm den Flug bezahlt.

      Polen hatte zu diesem Zeitpunkt eine Hyperinflation wie alle Länder Osteuropas außer Ungarn und Tschechien, wo die Inflationsrate bei 60 bis 70 Prozent lag. In Polen lag sie bei 600 Prozent, in Rußland teilweise über 1000, bis zu 1500 Prozent. Diese Zahlen bedeuten Enteignung jener, die nichts haben als ihre Arbeitskraft und ein Sparbuch. In dieser Situation wurde die Schocktherapie mit ihren drei Hauptpunkten verordnet: Ende der staatlichen Subventionen für Lebensmittel, Energie und Wohnungen, Lohnstopp für Angestellte in Staatsbetrieben und Deinstrualisierung, sprich die Zurichtung der Industrie zu verlängerten Werkbänke für die westlichen Konzerne. Das führte dazu, daß von 1988 bis 1992 die Produktion um 50 Prozent sank, also faktisch zusammenbrach.

      Das Resultat ist, daß Polen nach einer Umschuldung im März 1991 heute mit 72 Milliarden US-Dollar Auslandsschuld dasteht, also eine Steigerung um 30 Milliarden. Diese Schuldenhöhe garantiert, daß Polen wirtschaftlich und budgetpolitisch nicht mehr eigenständig handeln kann, eine Situation, die ich nur als ökonomischen Kolonialzustand definieren kann. Ähnliche Modelle haben überall in Osteuropa seit 1989 Platz gegriffen: Zuerst Hyperinflation, also Enteignung der Massen, dann Lohnkürzung, direkt oder via Subventionsstreichung, dann Deindustralisierung.

      Nach 15 Jahren Privatisierung und ökonomischer Zurichtung besteht der politische Handlungsspielraum dieser Länder einzig darin, fallweise eher US-amerikanische Konzerne anstelle europäischer zum Zug kommen zu lassen. Der Osten bleibt in der Auslandsschuld gefangen. Sie beträgt bei allen Beitrittsländern zusammen 165 Milliarden US-Dollar, denen lediglich Investitionen in Höhe von 115 Milliarden Dollar im gleichen Zeitraum gegenüberstehen. Die Zahlen zeigen: Es findet ein ständiger Abfluß des Kapitals vom Osten nach Westen statt.  

      Hannes Hofbauer arbeitet als Publizist und Verleger (promedia Verlag) in Wien   ---------------------------------------------- Adresse: http://www.jungewelt.de/beilage/index.php?id=348
      Avatar
      schrieb am 29.07.04 01:01:09
      Beitrag Nr. 12 ()
      kohelet,

      schade, dass Dir bisher niemand geantwortet hat - bei dieser Fleißarbeit! Thx von mir für diese Fülle an Material! Ich hoffe, dass der eine oder andere doch begreift, dass diese Thematik viel wichtiger ist als immer noch ein weiterer Schröder- oder Nahost-Thread.

      Gruß Vicco
      Avatar
      schrieb am 29.07.04 10:28:30
      Beitrag Nr. 13 ()
      ViccoB.

      Das ist halt so.

      Habe mal bewusst auf einen neuen Thread mit reissericher Überschrift verzichtet.

      Den Thread würden sich dann sicher viele durchlesen. Und es gebe auch viel Polemik. Besonders wegen der Quelle Junge Welt.

      Die letzten Thread geben im wesentlichen den Inhalt des Buches von Hofbauer "Osterweiterung" wieder.
      Avatar
      schrieb am 30.07.04 19:06:12
      Beitrag Nr. 14 ()
      Thema Osteuropa
      Postsowjetische Tiger, mitteleuropäische Lemuren
      Neue Wirtschaftsdaten aus dem Osten des Kontinents 

      Von Hannes Hofbauer 

       
      Dieser Tage hat das renommierte Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) wieder einmal in die Zukunft
      Osteuropas geblickt. Die Präsentation der neuen Studie unter dem Titel »Je weiter östlich, desto mehr Wachstum« geriet zur kurzen wirtschaftspolitischen Schulung der versammelten Schar aus Journalisten, Botschaftsangehörigen und Bankern.

      Die Botschaft der Fachleute des WIIW war leicht konsumierbar und lautete: Die Wachstumsraten der so genannten Transformationsstaaten schnellen jenseits der nun erweiterten Europäischen Union nach oben, während die meisten der acht neuen EU-Mitgliedstaaten mit deutlich geringeren Höhenflügen zu rechnen haben.
      Zu den »Tigern« des ersten Quartals 2004 gehören zuallererst die Ukraine (mit 10,8 Prozent Wirtschaftswachstum, verglichen mit dem 1. Quartal 2003) und Belorussland (9,7 Prozent). Am unteren Ende der Transformationsskala finden sich Tschechien (3,1 Prozent) und Slowenien (3,7 Prozent). Letztere fanden sich gemeinsam mit Ungarn und der Slowakei auf der provokant »Lemuren«-Liste genannten statistischen Tafel wieder.

      Wachstumsraten klaffen weit auseinander


      Der geilste Fetisch der kapitalistischen Produktionsweise, das Wachstum, wurde im Konjunkturbericht des WIIW freilich nicht hinterfragt, sonst könnten die Analytiker wohl gleich ihren Laden dicht machen. Die Gründe für die weit auseinander klaffenden Wachstumszahlen und -prognosen kamen allerdings zur Sprache. Und diese trugen schnell dazu bei, dass die kurzzeitige Euphorie bei den liberalen Empfängern der Botschaft ob der Prognosen schnell verfliegen müsste.
      Denn da ist erstens der Tatbestand zu berücksichtigen, dass Staaten wie die Ukraine und Belarus – hierzulande immer noch Weißrussland genannt – bis in die späten 1990er Jahre absolut desaströse makroökonomische Datenreihen vorwiesen. Die Phase rasanter und umfassender Entindustrialisierung prägte insbesondere die Ukraine bis zum Jahr 1998, das Prokopf-Einkommen sank auch dann noch, als es in den mittel- und südosteuropäischen Staaten – nach dem tiefem Fall in den Jahren 1989 bis 1993/94 – bereits langsam wieder aufwärts ging. Relativ hoch entwickelte Staaten wie beispielsweise Tschechien oder Slowenien können demzufolge schwerlich noch mit zweistelligen Wachstumsraten aufwarten. Zweitens beruht das hohe Wachstum der ukrainischen und belorussischen Wirtschaft laut den Wiener Forschern recht einseitig auf Halbfertigprodukten und ist von der russischen Wirtschaftslokomotive abhängig.
      Und drittens sind jene zwei osteuropäischen Tigerstaaten mit den höchsten Wachstumsraten beim Bruttoinlandsprodukt, die Ukraine und Belarus, in Bezug auf die Liberalisierung nicht gerade Vorzeigeökonomien. Insbesondere Belarus mit seinen Preiskontrollen und Staatsbetrieben widerspricht deutlich der weitum verbreiteten Theorie, wonach Wirtschaftswachstum etwas mit Privatisierung und ausländischen Investitionen zu tun hätte (siehe Beitrag unten).

      Auslandsinvestitionen gehen zurück


      Der Rückgang ausländischer Direktinvestitionen in den so genannten Transformationsstaaten ist beträchtlich: Von 2002 zu 2003 verringerten sich diese Investitionen um nicht weniger als 36 Prozent. Das heißt, dass zwischen Baltikum und Slowenien der Kapitalzufluss privater, großteils westeuropäischer, Investoren um mehr als ein Drittel sank. Die viel gelobte Wirtschaftsdynamik, die von ausländischem Kapital ausgehen soll, ist demnach ins Stocken geraten.
      Wenn etwa Tschechiens Ökonomie im Jahr 2003 nur mehr 2,2 Milliarden Euro (im Vergleich zu 9 Milliarden im Jahr zuvor) von Westinvestoren anzuziehen vermochte und in allen anderen EU-Beitrittsstaaten diese statistische Kurve ebenfalls nach unten weist, erklären das die Spezialisten vom WIIW nicht nur mit vorübergehenden Hemmungen ausländischer Investoren, sondern mit strukturellen Problemen. Und die sind von historischer Dimension, denn die Phase der schnellen Privatisierung ist vorbei, die allermeisten profitträchtigen Unternehmen sind längst in ausländischer Hand, und selbst in der Bauwirtschaft neigt sich der Wendeboom in den neuen EU-Staaten dem Ende zu.
      2003 sind kapitalkräftige Aufkäufer nach Bulgarien, Rumänien und Kroatien weiter gezogen, die – neben Serbien – als einzige weit und breit ein Plus in puncto ausländischem Investment aufweisen. Die großen Übernahmen des Jahres 2003 waren unter anderem die kroatische Ölgesellschaft, die an ein ungarisch-österreichisches Konsortium ging, sowie die DSK-Bank in Bulgarien. Aber auch in Kroatien, Bulgarien und Rumänien wird der Ausverkauf heimischer Unternehmen demnächst abgeschlossen sein, Folgeinvestitionen fallen wesentlich geringer aus.
      Der Wachstumsboom in der Ukraine und in Belarus wird übrigens interessanterweise nicht so sehr von ausländischem Kapital angeregt, sondern von heimischen Investoren. Wobei die Statistik über die Art und Weise schweigt, wie ukrainische Kapitalisten zu ihrem Geld gekommen sind.

      Steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Beschäftigung


      »Poland: a boom, but no jobs« (Polen: ein Boom, aber keine Jobs) titelt Leon Podkaminer seine Länderstudie über den größten neuen EU-Staat. Das Geheimnis dieser gesellschaftlich beunruhigenden Entwicklung liegt in der Peripherisierung Osteuropas begründet: Verlängerte Werkbänke produzieren auf Basis billiger Lohnarbeit und hoher technischer Ausbildung für den West- bzw. Weltmarkt.
      In Polen sanken die Lohnstückkosten allein zwischen Anfang 2002 und April 2004 um 30 Prozent. Die so gestiegene Produktivität kommt den Unternehmen zu gute, während sich der Beschäftigtenstand stetig verringert und die Arbeitslosigkeit steigt. In den vergangenen vier Jahren verloren 470000 polnische Industriearbeiter ihren Arbeitsplatz; seit 1992 wurden damit 1,1 Millionen Industriearbeiter nach Hause geschickt – das ist fast jeder Dritte. Gleichzeitig weisen die offiziellen Stellen in Warschau für das erste Quartal 2004 eine Arbeitslosenrate von 20,5 Prozent aus.
      Steigendes Prokopf-Einkommen in allen Transformationsstaaten darf nicht über die ungleiche Verteilung hinweg täuschen, was auch Josef Pöschl vom WIIW einräumt. Breiter und tiefer werdende soziale Klüfte und wachsende regionale Ungleichheiten bestimmen das sozio-ökonomische Bild Osteuropas 15 Jahre nach der Wende.


      (ND 10.07.04)
      http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=56161&IDC=3&DB=O2P
      Avatar
      schrieb am 30.07.04 19:13:38
      Beitrag Nr. 15 ()
      Thema Osteuropa
      Arbeitslosigkeit im 1. Quartal 2004
      (laut: labour-force-concept) 
       
      Belarus*  3,00%(andere Methode)
         
      Ungarn 6,10% 
         
      Slowenien 6,80% 
         
      Rumänien  8,10% 
         
      Tschechien  8,70% 
         
      Russland 8,90% 
         
      Ukraine** 9,40%(2003)
         
      Estland  10,10% 
         
      Lettland  11,50% 
         
      Bulgarien  13,30% 
         
      Litauen 13,60% 
         
      Serbien und Montenegro** 14,00%(2003)
         
      Albanien*  14,50%(andere Methode)
         
      Kroatien**  14,10%(2003)
         
      Slowakei  19,30% 
         
      Polen  20,70% 
         
      Mazedonien**  36,70%(2003)
      Bosnien und Herzegowina* **  42,00% 

      -----------------------------------------------
      * - andere Berechnungsmethodik
      ** - Angaben für 2003
      Quelle: WIIW

      (ND 10.07.04)

      http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=56161&IDC=3&DB=O2P
      Avatar
      schrieb am 31.07.04 07:38:12
      Beitrag Nr. 16 ()
      Konjunktur: Osteuropa: Wachstum auf Rekordhöhe
      (Die Presse) 02.07.2004
      Die osteuropäischen "Tigerstaaten" können ihre Wirtschaftsleistung um bis zu zehn Prozent steigern, sagt eine WIIW-Studie.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------
      Inhalt

      1. Wirtschaftswachstum
      2. Außenhandel und Handelsbilanz
      3. Ausländische Direktinvestitionen
      4. Budgetdefizit
      5. Euroeinführung
      6. EU-Beitritt Bulgariens, Rumäniens und Kroatirns
      7. EU-Perspektive Westbalkan

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      1. Wirtschaftswachstum

      WIEN (ku). In fast allen mittel- und osteuropäischen Staaten gibt es deutliche Anzeichen eines starken Wirtschaftsaufschwungs. Laut dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) ist im ersten Quartal das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine um 10,8 Prozent, jenes von Weißrussland um 9,3 Prozent oder von Litauen um 7,7 Prozent gestiegen. Unter den "Tigerstaaten" befindet sich auch das ehemalige "Sorgenkind" Polen, das ein Wachstum von 6,9 Prozent hingelegt hat - nach 2,3 Prozent im ersten Quartal 2003.

      Die Prognosen für das Gesamtjahr 2004 (siehe Grafik) fallen nicht ganz so hoch aus. "Der Grund dafür ist aber nicht, dass sich die Konjunktur abkühlt, sondern dass das erste Quartal des Vorjahrs besonders schwach war", erläutert der WIIW-Ökonom Josef Pöschl.

      Weniger imposant, aber immer noch deutlich über dem Niveau der EU, sind die Wachstumsraten in jenen Ländern, die Pöschl "Lemuren-Staaten" nennt. Tschechien konnte im ersten Quartal nur um 3,1 Prozent zulegen, Slowenien um 3,7 Prozent und Ungarn um 4,2 Prozent.

      Ein Grund für das starke Wachstum in den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten ist laut Pöschl, dass sie vom langsamen Aufschwung in der EU mitgezogen werden. "Die EU ist für die Region der mit Abstand größte Markt." Trotzdem haben sich die Ostländer mit den - höheren - weltwirtschaftlichen Aufschwungtendenzen mit bewegt. Das Phänomen, dass das Wachstum umso höher ist, je weiter östlich ein Staat liegt, erklärt der Experte damit, dass es sich auf niedrigerem Niveau einfach stärker wachsen lässt.

      Allerdings bestehe der Verdacht, dass das hohe Wachstum in der Ukraine oder in Weißrussland zu sehr an der starken Rohstoff-Konjunktur hänge
      und noch nicht "selbst tragend" sei, ergänzt der Ökonom Peter Havlik. In letzter Zeit würden aber auch die inländischen Investitionen steigen, wodurch das Wachstum auf eine breitere Basis gestellt werde.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      2. Außenhandel und Handelsbilanz

      Positive Entwicklungen macht das WIIW auch bei der Entwicklung des Außenhandels aus. Die neuen EU-Mitglieder mit Ausnahme Lettlands und Estland haben in den vergangenen zwei Jahren ihre Exporte stärker gesteigert als die Importe - und zwar fast durchwegs ohne eine Aufweichung der Währungen. Pöschl: "Die Länder sind in der Lage, ohne Abwertungen leben zu können und trotzdem die Handelsbilanz nicht zu gefährden." Beunruhigend sei nur Lettland, wo es gleichzeitig Abwertungen und ein steigendes Handelsdefizit gegeben habe.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      3. Ausländische Direktinvestitionen

      Die ausländischen Direktinvestitionen werden in den neuen EU-Staaten heuer wieder ansteigen, und zwar laut WIIW um 55 Prozent. Die Summe
      von 14 Mrd. Euro sei aber um 40 Prozent unter dem Höchstwert aus dem Jahr 2002. Diese Dimensionen seien künftig kaum mehr erreichbar, weil die großen Privatisierungsprojekte abgeschlossen sind.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      4. Budgetdefizit

      Bei der weiteren Integration der acht neuen EU-Staaten in die Gemeinschaft sei das größte Problem die Sanierung des Budgetdefizits. Denn laut Sandor Richter sind hohe Budgetmittel für die Hebung der Umweltstandards, für die Kofinanzierung von EU-Projekten oder für Sozialreformen nötig.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      5. Euroeinführung

      Die Einführung des Euro erwartet Richter für Estland, Litauen und Slowenien - diese Staaten sind am 28. Juni dem Europäischen Wechselkursmechanismus beigetreten - für das Jahr 2007. Danach könnten 2008 Lettland und die Slowakei folgen, und erst später Polen, Tschechien und Ungarn.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      6. EU-Beitritt Bulgariens, Rumäniens und Kroatirns

      Für die nächste EU-Erweiterungsrunde sehen die WIIW-Experten keine großen Probleme. "Wenn nichts Dramatisches passiert und die EU nach den Regeln spielt, werden Bulgarien und Rumänien 2007 der EU beitreten, Kroatien 2008 oder 2009", sagt Experte Vladimir Gligorov.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      7. EU-Perspektive Westbalkan

      Für die weiteren Balkanstaaten ist er hingegen viel pessimistischer. "Die Unterschiede sind weiterhin sehr groß", sagt er. Deshalb rechnet er bei keinem der Westbalkan-Staaten mit einem EU-Beitritt vor 2013.

      Bei der Euro-Einführung ist die Situation freilich anders: Während die meisten Staaten nicht vor 2015 die Gemeinschaftswährung haben werden, ist diese in zwei Ländern schon gesetzliches Zahlungsmittel: in Montenegro und im Kosovo.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      02.07.2004 - Business / Economist
      http://www.diepresse.at/Artikel.aspx?channel=e&ressort=eo&id…
      Avatar
      schrieb am 31.07.04 07:44:07
      Beitrag Nr. 17 ()
      Robustes Wachstum in Osteuropa


      05. Juli 2004 C.K. BUDAPEST, 5. Juli. Dank der Wirtschaftsbelebung in der EU hat sich auch in den Ländern Mittel- und Osteuropas das Wachstum seit dem vierten Quartal des vergangenen Jahres wieder beschleunigt. "Je weiter östlich, desto mehr Wachstum", schreibt das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW).

      So liegen die Wachstumsschätzungen für die fünf neuen EU-Mitglieder (Ungarn, Slowenien, Tschechien, Polen und die Slowakei) für 2004 bei durchschnittlich 4,4 Prozent, für die Kandidatenländer Kroatien, Bulgarien und Rumänien bei 5 Prozent, im Westbalkan bei gut 5 Prozent und für Rußland, Weißrußland und die Ukraine bei mehr als 7 Prozent.

      Für das nächste Jahr werden ähnliche Ergebnisse erwartet. Anhaltend hohe Wachstumsraten in Rußland, der Ukraine und Belarus wertet das WIIW als Indiz dafür, daß diese Länder inzwischen weitgehend in die Weltwirtschaft integriert sind und ihrerseits zur Dynamik der globalen Wirtschaftsentwicklung beitragen.

      Das WIIW warnt allerdings davor, sich von dem hohen Wachstum blenden zu lassen. Noch gelte es, überall gravierende Mängel auszuräumen.


      Die neuen mitteleuropäischen EU-Mitglieder plagten die Haushaltsdefizite.

      Im Westbalkan müßten das Justizwesen und die Verwaltung stark verbessert werden; hohe Arbeitslosigkeit und der Mangel an sozialer Sicherheit bildeten den Nährboden für Armut, Kriminalität und politische Instabilität.

      Rußland und die Ukraine erfreuten sich zwar hoher Wachstumsraten, die Wirtschaft sei aber zu einseitig auf Energieträger und Rohstoffe ausgerichtet.

      Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.07.2004, Nr. 154 / Seite 10

      http://www.faz.net/s/RubAB17CCFA6E02477F954F0FA04BA819BD/Doc…
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      schrieb am 31.07.04 10:50:45
      Beitrag Nr. 18 ()
      Der Wirtschaftsboom im Autokraten-Staat
      (Die Presse) 07.07.2004 VON MARTIN KUGLER

      Trotz der "unreformierten" Wirtschaft erzielt Weißrussland derzeit ein Rekordwachstum - und steht bei den ökonomischen Daten besser da als die Ukraine.

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      1. Wachstum ohne Reformen
      2. Kaufkraft
      3.Gründe für Wachstum
      4. Gute Perspektiven
      5. Probleme
      6. Union mit Russland und GUS
      (Die Zwischenüberschriften habe ich eingefügt, kohelet)
      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------


      1. Wachstum ohne Reformen

      WIEN. Die wirtschaftliche Entwicklung Weißrusslands ist für Ökonomen ein großes Mirakel: Obwohl die Wirtschaft seit der Wende praktisch nicht reformiert wurde - Präsident Alexander Lukaschenko lenkt in alter Parteibonzen-Manier weiterhin persönlich die wichtigsten Industriebetriebe -, legte das Bruttoinlandsprodukt des Landes in den ersten vier Monaten um 10,2 Prozent zu. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) erwartet für das Gesamtjahr 2004 eine Wachstumsrate von rund acht Prozent, für 2005 immer noch sieben Prozent.Weißrussland steht damit besser da als seine exsowjetischen Bruderstaaten.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      2. Kaufkraft

      Auch das nach Kaufkraft gewichtete Pro-Kopf-Jahreseinkommen liegt mit 9200 Euro deutlich über jenem von Russland (7800 Euro) und der Ukraine (5100 Euro).

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      3.Gründe für Wachstum

      1)
      Einer der Gründe für den Boom ist die hohe Wirtschaftsdynamik Russlands - wohin 50 Prozent der Exporte gehen -, die den Nachbarstaat mit nach oben zieht. Schon in den Zeiten der UdSSR war Weißrussland das "Montagezentrum", wo aus billigen russischen Rohstoffen und Energie hoch entwickelte Industriegüter produziert wurden.

      2)
      Ein Teil des Wachstums ist aber auch hausgemacht. Laut der Einschätzung des WIIW-Ökonomen Vasily Astrov zieht auch die Binnennachfrage an, was auf steigende Investitionen zurückzuführen ist.
      Vor allem in sechs Wirtschaftszonen, in denen Ausländer Steuer- und Zollvorteile haben, zieht es die wenig vorhandenen Investoren. Angesichts der weißrussischen Wirtschaftspolitik nimmt sich auch die Inflationsrate von 22 Prozent recht moderat aus: Die "exzessive Ausgabe von Geld" - so Astrov - werde durch die staatlichen Preiskontrollen bei vielen Produkten teilweise neutralisiert.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      4. Gute Perspektiven

      Trotz der politischen und wirtschaftlichen Isolation - an ausländischen Direktinvestitionen sind bisher nur 1,5 Mrd. Euro ins Land geflossen - sieht das WIIW kurz- und mittelfristig gute Wachstumschancen.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      5. Probleme

      Langfristig kämpft das Land allerdings mit gravierenden Problemen. Die Beschäftigung ist - bei weiterhin niedrigen offiziellen Arbeitslosenzahlen - rückläufig. Und noch dramatischer: Die Bevölkerung schrumpft beständig: Lebten im Jahr 1997 noch 10,1 Millionen Menschen in Weißrussland, waren es im Vorjahr nur noch 9,8 Millionen.

      -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

      6. Union mit Russland und GUS

      Auch die angestrebte weitere Integration mit Russland stockt. Seit 1999 haben Russland und Weißrussland eine Zollunion und einen gemeinsamen Arbeitsmarkt. Doch die Wiedereinführung des Rubels als alleinige Währung, die für 2005 geplant war, ist vorerst abgesagt. Langfristig wollen die Ukraine, Russland, Kasachstan und Weißrussland einen "Einheitlichen Wirtschafts-Raum" bilden. Als erstes soll eine Freihandelszone zwischen den vier Staaten entstehen.

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      http://www.diepresse.at/Artikel.aspx?channel=e&ressort=ec&id…
      Avatar
      schrieb am 31.07.04 17:16:48
      Beitrag Nr. 19 ()
      zu #14 bis #18

      Die genaue Statistik mit allen Zahlen aller Ostländern und China findet ihr hier

      " China + Osteuropa: Wirtschaftslage und Konjunkturerwartungen"

      Thread: China + Osteuropa: Wirtschaftslage und Konjunkturerwartungen
      Avatar
      schrieb am 31.07.04 17:35:37
      Beitrag Nr. 20 ()
      Verkehrsregeln Slowakei
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW + Wohnmobile bis 3,5 t 130/90/60 , Motorrad 90/90/60, Caravan-Gespanne + Wohnmobile bis 6 t 80/80/60,
      Promillegrenze: 0,5

      Besonderheiten: Beim Parken muss ein 3 m breiter Streifen in beiden Richtungen frei bleiben; Autobahngebühr (Vignette 15 Tage oder 1 Jahr)
      --------
      Verkehrsregeln Ukraine
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW + Motorräder + Wohnmobile 110/90/60, Caravan-Gespanne 90/90/50

      Promillegrenze: 0,0

      Besonderheiten: Besonders defensiv und möglichst nicht nachts fahren; jederzeit auf Hindernisse auf der Straße gefasst sein. Die Polizei kontrolliert gerne Ausländer, auch willkürlich. Strafenhöhen bei Verkehrsdelikten nach verschiedenen Aussagen für Ausländer mit Aufschlag.
      -----------
      Verkehrsregeln Tschechien
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW + Wohnmobile bis 3,5 t + Motorräder 130/90/50, Wohnmobile über 3,5 t + Caravan-Gespanne 80/80/50

      Promillegrenze: 0,0

      Besonderheiten: Im Grenzbereich zu D und A starke Kontrollen, v.a. Geschwindigkeit (mehr dazu auch auf der Routeseite). Von Oktober bis März Abblendlich auch tagsüber, Ersatz-Glühbirnen Pflicht; Autobahngebühr (Vignette 10 Tage / 1 Monat / 1 Jahr)
      ---------------

      Verkehrsregeln Polen
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW + Wohnmobile bis 3,5 t + Motorräder 110/90/60, Caravangespanne + Wohnmobile über 3,5 t 80/80/60
      Promillegrenze: 0,2

      Besonderheiten: Vom 1.10.-1.3. auch tagsüber Abblendlicht Pflicht, für Motorräder ganzjährig; Parken im Dunkel nur mit Standlicht, Halteverbot 100 m vor und hinter Bahnübergängen; allgemein keine Autobahngebühr, aber bestimmte Teilstücke sind kostenpflichtig (ähnlich Frankreich)
      ------------
      Verkehrsregeln Ungarn
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW + Motorräder + Wohnmobile bis 2,5 t 130/90/50, Wohnmobile über 2,5 t 120/80/50, Caravan-Gespanne

      Promillegrenze: 0,0

      Besonderheiten: Überholverbot in Kurven, auf Kreuzungen und bei Eisenbahnübergängen; im Winter ist das Vorhandensein von Schneeketten im Auto Pflicht, außerhalb geschlossener Ortschaften auch tagsüber Abblendlicht. Gelbe Fahrbahnmarkierungen am Rand heißen auch ohne Schild Parkverbot und es wird schnell und teuer abgeschleppt, teilweise Autobahngebühr (Vignette 1 Woche / 1 Monat / 1 Jahr)
      -----------
      Verkehrsregeln Weißrußland
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW 110/90/50, Caravan-Gespanne + Wohnmobile + Motorräder 90/90/50

      Promillegrenze: 0,0

      Besonderheiten: vergleichbar zu Ukraine und Rußland (internationaler Führerschein, keine grüne Versicherungskarte usw.). Wie in der Ukraine zahlreiche Berichte über polizeiliche Willkürabzocke, eher noch umfangreicheren Ausmaßes (so bezeichnete etwa Moskau.ru Weißrußland wegen der Transitzocke schon als ´Schurkenstaat´) und auch an der Grenze. Wer nach Nordrußland will, dem wird eine Ausweichroute über die baltischen Staaten oder aber Finnland empfohlen.
      -------------
      Verkehrsregeln Litauen
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW + Motorräder + Wohnmobile bis 2,5 t 110/90/50, Wohnmobile über 2,5 t / Caravan-Gespanne 110/70/50

      Promillegrenze: 0,0

      Besonderheiten: Feuerlöscher Pflicht; Verpflichtungserklärung an Grenze, das Auto auch wieder ausgeführt wird :laugh:
      -----------
      Verkehrsregeln Lettland
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW + Motorräder + Wohnmobile bis 2,5 t 110/90/50, Wohnmobile über 2,5 t / Caravan-Gespanne 80/80/50

      Promillegrenze: 0,5

      Besonderheiten: Abblendlicht auch tagsüber; bei Gelb muss bereits gehalten werden
      --------------
      Verkehrsregeln Estland
      Tempolimits (Autobahn/außerorts/innerorts): PKW + Motorräder + Wohnmobile bis 2,5 t 110/90/50, Wohnmobile über 2,5 t / Caravan-Gespanne 90/70/50

      Promillegrenze: 0,0

      Besonderheiten: von Dezember bis März Winterreifenpflicht; Tempolimit 70 für Fahranfänger

      ------------

      Die sind ja schon viel weiter als wir! Die haben ja alle ein Tempolimit! In Deutschland wurde das immer vom Tisch gewischt mit dem Argument "gefährdet den Standort Deutschland"! Und nun gehen die deutschen Unternehmen in Länder wo man nicht rasen darf!
      Avatar
      schrieb am 31.07.04 18:18:05
      Beitrag Nr. 21 ()
      #20 von StellaLuna

      Die sind ja schon viel weiter als wir! Die haben ja alle ein Tempolimit! In Deutschland wurde das immer vom Tisch gewischt mit dem Argument " gefährdet den Standort Deutschland" ! Und nun gehen die deutschen Unternehmen in Länder wo man nicht rasen darf!

      Wirtschaft is ja zu 50% Psychologie.

      Wenn der deutsche Autofahrer daran glaubt, daß er auf den Autobahnen als freier Bürger freie Fahrt (ohne tempolimit) hat, dann wird er gerne auch viel Geld für übermotorisierte Autos hinblättern.

      Wenn diese Illusion durch ein Tempolimit entfällt, dann sieht es Mau aus um die Margen der Autokonzerne.
      Avatar
      schrieb am 01.08.04 13:44:51
      Beitrag Nr. 22 ()
      Hungernde Kinder in Polens Osten



      Am Vorabend des Beitritts von Polen zur Europäischen Union hat die Umschau den Ostteil des Landes besucht. Hier im früheren Ost-Preußen sprechen noch viele Menschen deutsch. So wie Vera Dombrowska, eine 71 jährige Rentnerin. In Barczewo hat sie ihr ganzes Leben verbracht und viel erlebt: den zweiten Weltkrieg, den Kommunismus und die Wende. Mit allen Auswirkungen.
      Vera Dombrowska hat uns einen Kontakt nach Butryny vermittelt. Dort machen wir Bekanntschaft mit der 10 jährigen Paulina – auf den ersten Blick ein ganz normales Mädchen, doch sie und ihre allein erziehende, arbeitslose Mutter sind extrem arm. Nach Abzug der Miete bleiben beiden gerade mal 50 € pro Monat für den Lebensunterhalt.

      „Meine finanzielle Situation ist sehr schlecht. Ich kann mir nicht genug Lebensmittel leisten. Wenn Geld da ist, kaufen wir etwas, wenn nicht, dann müssen wir mit dem auskommen, was eben gerade da ist. Ich habe im Moment nur etwas Zucker, Mehl und Reis.“ erzählt Paulinas Mutter.

      Ausreichend ernähren kann sie sich und die Tochter damit nicht. Geschweige denn etwas für die Wohnung oder Kleidung kaufen. Es fehlt sogar am Lebensnotwendigsten: „Manchmal reicht es nicht einmal für das Abendbrot. So gut es geht, versuchen wir uns mit Kartoffeln zu behelfen. Und wenn das Brot nicht reicht, muss Paulina morgens ohne Frühstück zur Schule gehen und das passiert sehr oft.“



      60 Prozent der Kinder sind unterernährt

      Ähnlich geht es sehr vielen Kindern in Ost-Polen und nur in wenigen Orten gibt es mittags eine Schulspeisung. In einer Untersuchung hat die polnische Regierung festgestellt, dass über 30 Prozent der polnischen Kinder unterernährt sind. Hier in Ost-Polen sogar fast 60 Prozent. Paulina hat Glück, dass in Butryny durch Spenden der Bevölkerung und Bauern täglich ein Mittagessen ausgegeben werden kann.

      Im 30 Kilometer entfernten Sorkwity, gibt es keine Schulspeisung. In einem Supermarkt sind wir mit dem Pfarrer des Ortes, Krzystof Mutschmann, verabredet. Er hat uns hierher bestellt, um zu zeigen, wie teuer Lebensmittel in Polen geworden sind. Diese Zwiebelsuppe zum Beispiel, kostet 2 Zloty 19, das sind umgerechnet fast 50 Cent. Joghurt kostet rund 25 Cent und drei Kilo Waschpulver umgerechnet 5 €. Für die dortige polnische Bevölkerung fast unbezahlbar.



      Brot gilt fast schon als Luxus

      Bei einem Sozialhilfesatz von 10 € im Monat ist selbst das tägliche Brot für 40 Cent fast ein Luxus. Die örtliche Bäckerei spendet deshalb Pfarrer Mutschmann für die Kinder des Dorfes täglich zwei Brote. In seinem Keller lagern Konserven, die er zugeteilt bekam, als die polnische Regierung die Lebensmittel-Notreserven des Landes aufgelöst hat. Mit dem Brot und den Konserven kann er täglich den Kindern des Dorfes ein kleines Abendbrot bereiten. Bis zum Sommer werden die Konserven noch reichen - danach ist hier Schluss und die Kinder bleiben hungrig. Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ist nicht in Sicht.



      Leben von 10 Euro im Monat

      Die Arbeitslosigkeit in Polen hat die 50 Prozent Marke überschritten, hier in Ost-Polen sind sogar 70 Prozent ohne Job und damit fast ohne Geld. Überall sehen wir vor den Häusern Holz aufgestapelt. Vera Dombrowska stellt uns Alfred Hermanski vor. Er ist seit 10 Jahren arbeitslos und bekommt nicht mehr als den Sozialhilfesatz von 10 € im Monat. Zusammen mit seinen Nachbarn hat er gerade alle Bäume vor dem Haus abgeholzt und unter den Mietern gerecht aufgeteilt. Das war dringend notwendig, denn jeder im Haus hat seinen eigenen Heizkeller und muss sehen, wie er seine Stube warm bekommt. Alle zwei Stunden muss Alfred Hermanski Holz nachlegen, damit das Feuer nicht ausgeht. Mit richtiger Kohle konnte er das letzte mal vor 6 Jahren heizen.

      MDR.DE | 01. April 2004 | 15:07

      http://www.mdr.de/umschau/1297363.html


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