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    ++++++++++++++Süße Fäulnis!+++++++++++++++ - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 03.10.04 19:32:02 von
    neuester Beitrag 03.10.04 20:43:24 von
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      schrieb am 03.10.04 19:32:02
      Beitrag Nr. 1 ()
      Süße Fäulnis


      Bin ich anders als die anderen? Irgendwie schon, aber andererseits auch nicht. Nur, weil man über gewisse Dinge nicht redet, kann man sie nicht aus der Welt schweigen.
      Als Kind habe ich meiner Mutter manchmal in der Küche geholfen, und wenn was mit Knoblauch gemacht wurde, hab ich mir danach die Hände nicht gewaschen, weil ich diesen Geruch mochte. Ich lag noch abends unter der Bettdecke und beschnüffelte meine Handfläche, konnte nicht genug bekommen von diesem Duft.
      Ich weiß auch, daß immer, wenn ich pupste, ich mich umdrehte, um es riechen zu können. Ich konnte nie nachvollziehen, warum das „Gestank" genannt wurde, ich fand es durchaus aromatisch. Beim Kacken blieb ich auch immer lange sitzen, bevor ich abzog. Allerdings nur, bis meine Mitschüler im Internat mich mal darauf ansprachen, daß sie es nicht toll fänden, daß ich ihnen immer einen solchen Gestank hinterließ. Ich war schon immer sehr schüchtern, und ich schämte mich entsetzlich. Und sie hatten sicher auch recht, ich hatte nämlich schon lange festgestellt, daß es ein wesentlicher Unterschied war, ob ich den Duft meiner eigenen Körperfunktionen in mich aufnahm oder den von anderen. Die anderen stanken für mich tatsächlich auf eine widerwärtige Weise.
      Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber mir wird auch vom Geruch von Blumenkohl übel, und von Lakritze.
      Als junger Student gewöhnte ich mir das „Nachsitzen" wieder an. Und ich hatte ein Schlüsselerlebnis, als ein Freund mich besuchte.
      „Na, hockst du auch im eigenen Gestank rum?" fragte er.
      Ich versuchte so zu tun, als ob ich nicht wüßte, wovon er redete, doch er sagte mit großer Selbstverständlichkeit, daß es doch üblich sei, auf der Toilette seinen eigenen Gestank zu genießen.
      Unsere Wege trennten sich bald darauf, aber seitdem weiß ich, daß ich nicht allein bin. Ein gutes Gefühl.
      Ich verdiente mir als Student etwas nebenbei, in Nachtschichten, und so kam es, daß ich manchmal für 36 Stunden die Schuhe nicht auszog. Auf diese Weise entdeckte ich ein neues, wunderbares Aroma. Leider konnte ich das nicht auskosten, denn ich hatte Angst, meine Freundin zu vergraulen.
      Ach ja, Angelika. Sie war hübsch und klug, hatte einen kleinen Stecker im Bauchnabel und trug mir zuliebe schwarze Spitzenunterwäsche. Und sie war im Bett sehr fantasievoll. Die anderen beneideten mich um sie, und ich mochte sie auch ganz gerne. Aber leider besaß sie kein interessantes Aroma, roch immer nur nach Seife und verschiedenen Duftwässerchen. Das war wohl der Grund, warum ich irgendwann anfing, heimlich den Straßenstrich zu besuchen.
      Jaja, ich weiß, ich war ein Arschloch. Aber ich fand dort, was ich suchte. Wenngleich nur bei den etwas älteren Mädchen. So ein weibliches Genital ist wie ein französischer Wein oder Käse. Mit der Reife nimmt das Aroma zu.
      Sicher kam das bald raus, es folgte die übliche Szene und Angelika war Vergangenheit. Wenn ich so zurückdenke, fällt es mir sehr schwer, zu entscheiden, ob es ein Fehler war. Ich hätte meine kleine Eigenart nie frei entfalten können, wenn ich mit ihr zusammengeblieben wäre. Aber dafür bin ich nun allein, und meine Hoffnungen, irgedwann eine Frau kennenzulernen, die so attraktiv ist wie Angelika und meine Vorliebe für Aromen teilt, hat sich nach fünfzehn Jahren verflüchtigt wie der Inhalt einer Schale Wasser, die man im Zimmer stehen läßt.
      Seit ich auch meinen letzten Job verloren habe, bin ich überwiegend zu Hause. Auf Arbeit habe ich keinen Bock mehr, ich wurde von meinen Chefs immer nur ausgebeutet und als man mich nicht mehr brauchte, gab´s einen Arschtritt. Wozu sich also noch anstrengen? Es wird einem ja doch nicht gedankt.
      Vor drei Monaten habe ich mich am Bein verletzt. Bin im Dunkeln gegen die Tischkante gelaufen. Hat verdammt wehgetan, sogar geblutet. Ein münzgroßes Loch am Schienbein. Aber wegen so einer Lappalie geht man ja noch nicht zum Arzt. Und so hab ich wieder etwas neues kennengelernt: das Aroma von Eiter. Einfach unglaublich. Diese Intensität, dieses reife, köstliche...
      Ja, ich gebe es zu, ich habe davon gekostet. Was so herrlich duftet, so sagte ich mir, muß doch auch einen entsprechenden Geschmack haben. Ekel? Warum denn das? Im Gegenteil! Aber es ist schon richtig, ich habe lange gezögert, immerhin ist das alles, nur kein Ausdruck von Gesundheit. Aber man gönnt sich ja sonst nichts, was nützt mir schon Gesundheit? Ich war mein Leben lang immer gesund, und hat es mich glücklich gemacht? Nein.
      Eiter schmeckt, wie er riecht, und in größeren Mengen ist er scharf wie Paprika. Brennt auch lange nach im Gaumen, besser man trinkt einen Schluck Wasser hinterher. Aus einem Löffel voll davon hab ich versucht, zusammen mit einem Ei ein Omelett zu machen, aber das Braten zerstört das Aroma.
      Als die Wunde, die mir soviel Freude bereitete, Anstalten machte, zu heilen, geriet ich ein wenig in Panik. Ich wollte mir nicht noch mal das Bein stoßen, bin keiner, der Schmerzen gut abkann. Aber ich fand eine Lösung: ich mußte nur ein wenig von meinem Darminhalt auf die Wunde streichen, und schon erblühte sie am nächsten Morgen zu neuer Pracht.
      Aber ich glaube, das war ein Fehler, ich bekam hohes Fieber und war ein paar Tage weg vom Fenster. Als ich wieder klar denken konnte, tat mein Bein weh wie Sau und war geschwollen wie eine Parodie auf eine Walfischpenis-Erektion.
      Aber ich wurde entschädigt durch eine reiche Ernte. Aus meiner Wunde floß der gelbgrüne Honigmet in Strößen, und ich konnte ein halbes Trinkglas damit füllen. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich könnte schwören, daß mit der grünen Farbe auch ein Hauch von Minze entstanden war.
      Vor zwei Wochen hatte ich zuletzt Besuch. War der Gerichtsvollzieher, aber es gab nichts, was er hätte mitnehmen können. Fühlte sich auch nicht sonderlich wohl bei mir, meinte sogar, ich solle mal zum Arzt. Eigentlich ein netter Kerl.
      Inzwischen hat sich der Fuß grau verfärbt, und ich habe kein Gefühl mehr darin. Ich humpele wie ein Film-Bösewicht. Das beunruhigt mich ein wenig. Aber ich gehe nicht zum Arzt. Was soll ich da? Solange ich keine Schmerzen habe und jeden Tag mein Glas Minze trinke, geht es mir gut. Ich habe meine Bestimmung gefunden, und wenn man in einem halben Jahr meinen grün-aufgedunsenen Leichnam findet, wird alle Welt es wissen.
      Ich fühle mich müde, ich gehe wieder ins Bett.

      Autor relysium
      Avatar
      schrieb am 03.10.04 19:34:59
      Beitrag Nr. 2 ()
      Das Quiz

      Joe Brannigan freute sich darauf, den Abend allein zu verbringen. Nach dem stressigen Tag im Büro wollte er nur seine Ruhe haben. Jennifer hatte ihren Kegelabend, so wie jeden Mittwoch. Sie war schon fortgewesen, als er nach Hause kam. Auf dem Küchentisch hatte eine Notiz von ihr gelegen.
      Hallo, mein Schatz. Pasta stehen im Kühlschrank. Muß jetzt los. Ich liebe dich.
      Joe hatte beim Lesen der Nachricht gelächelt. Selbst nach zwölf Jahren Ehe bedachten sie sich gegenseitig noch mit vielen kleinen Liebenswürdigkeiten. Jennifer und er waren glücklich, ganz im Gegensatz zu vielen befreundeten Paaren. In letzter Zeit häuften sich häßliche Trennungen. Im Alter zwischen 30 und 35 schienen die Leute einfach durchzudrehen.
      Joe schlang die aufgewärmten Nudeln hastig hinunter. Es war bereits 19.55 Uhr, in fünf Minuten begann das Fernsehquiz. Er stellte das benutzte Geschirr auf die Spüle, eilte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
      Die Werbung für das Deodorant kannte er schon auswendig. Amnesty International bat um Unterstützung. Eine makellose Schönheit pries die in einem Test als Sieger hervorgegangene Lebensversicherung als Garant für ein sorgenfreies Leben im Alter an.
      „Rufen Sie uns an – kostenlos“, flötete das blonde Kunstprodukt.
      Dann endlich lief der Jingle zu Quizzer. Joe lehnte sich in dem bequemen Sessel zurück und legte die Füße auf den Tisch.
      Phil Chandler begrüßte das Studiopublikum und die Zuschauer auf seine gewohnt charmante und witzige Art. Er erzählte zwei Anekdoten, dann wurde es ernst. Kameraschwenk. Hoffnungsvolle Gesichter im Publikum. Jeder wollte eine Million Pfund gewinnen.
      „Mein erster Kandidat heute ist...“
      Chandler legte eine Kunstpause ein.
      „Yvonne Myers.“
      Großaufnahme Yvonne Myers. Ein wenig zu pummelig, wie Joe befand. Sie trabte die Stufen hinunter und setzte sich Chandler gegenüber an das chromglitzernde Pult.
      Chandler entlockte der Kandidatin in dem obligatorischen Begrüßungsgeplänkel, daß sie ihre Brötchen als Grundschullehrerin verdiente, einen lieben Mann und zwei Katzen hatte und gelegentlich auf Wandertouren ging.
      Joe versuchte wie immer, die Kandidatin einzuschätzen. Es war schon viele Monate her, seit jemand die Million gewonnen hatte. Yvonne Myers sah nicht danach aus. Nein, sie würde es nicht packen, dessen war sich Joe sicher.
      „Yvonne“, sagte Chandler, „sind Sie bereit?“
      Nicken.
      „Gut, hier kommt Ihre erste Frage.“
      Eine bedeutungsschwanger anmutende Begleitmusik erklang. Im unteren Drittel des Fernsehbildes erschien die Frage mit den dazugehörigen vier Antwortmöglichkeiten; für die Zuschauer mit ausgeprägter Sehschwäche wurde das Ganze zusätzlich von einer rauchigen Frauenstimme vorgelesen.
      Wie nennt sich der in Arlington, Virginia, gelegene Hauptsitz des amerikanischen Verteidigungsministeriums?
      a) Xylophon
      b) Hexagon
      c) Mikrophon
      d) Pentagon
      Die Kamera fokussierte auf das zuversichtlich lächelnde Gesicht der Kandidatin.
      „Es ist das Pentagon.“
      „Sicher?“
      „Ganz sicher.“
      Joe verdrehte die Augen. Die Einstiegsfragen waren immer auf diesem Niveau. Es war fast schon nicht möglich, sie falsch zu beantworten.
      Chandler wählte die Antwort auf seinem kleinen Monitor aus; sie erschien grün unterlegt auf dem Bildschirm. Zwei oder drei Sekunden verstrichen, dann ertönte eine kurze Fanfare. Die Antwort war richtig. 15.625 Pfund auf dem Konto. Das Publikum applaudierte übertrieben.
      „Sie spielen jetzt um 31.250 Pfund, Yvonne. Machen Sie weiter?“
      Vergnügtes Nicken.
      „Gut, hier also die nächste Frage.“ Chandler drückte einen Schalter auf seinem Monitor.
      Wie heißt der Sänger der britischen Band Depeche Mode?
      a) John Lennon
      b) David Gahan
      c) Kurt Cobain
      d) Elvis Presley
      Die Myers runzelte die Stirn und wiederholte stumm die Antworten. Sie schien es nicht zu wissen. Nach einer knappen Minute bot Chandler ihr als Hilfe den Telefonjoker oder die Publikumsfrage an. Die Kandidatin wehrte ab.
      „Gott, ich fass es nicht“, rief Joe in seinem Sessel, „es ist David Gahan, du tumbe Nuss. David Gahan.“
      Er mochte dieses Quiz. Meist kannte er die Antworten. Vielleicht sollte er sich ja auch einmal als Kandidat bewerben. Eine Million, und das Büro könnte ihn mal kreuzweise. Vor allem Mason, dieser aufgeblasene Arsch von Abteilungsleiter.
      „Nun, Yvonne, sie müssen sich langsam entscheiden“, drängte Chandler auf dem Bildschirm.
      „Ja – hm – ich weiß nicht so recht. Lennon ist tot, Presley ist tot. Kurt Cobain oder David Gahan. Gar nicht so einfach. Kurt Cobain sagt mir etwas. Und David Gahan? Nie gehört. Ich denke, Antwort C ist richtig. Kurt Cobain.“
      „Das war´s dann, Lehrerin“, grinste Joe vergnügt. „Cobain ist tot. Genau wie Lennon und Presley. Cobain hat sich selbst das Hirn rausgeblasen. Tote singen nicht.“
      Auf dem Bildschirm lächelte Chandler unverbindlich.
      „Bleiben Sie dabei, Yvonne? Kurt Cobain?“
      „Ja, Cobain, Antwort C.“
      „Dann nehmen wir diese Antwort.“
      Chandler beugte sich zu seinem Monitor vor. Antwort C wurde grün. Sekunden vergingen. Eine disharmonische Tonfolge dudelte. Die Antwort war falsch.
      „Wie schade, Yvonne“, sagte Chandler mit gespieltem Bedauern. „Das war es schon für Sie. David Gahan wäre die richtige Antwort gewesen. Ich hoffe, es hat Ihnen trotzdem Spaß gemacht.“
      Yvonne nickte gequält. Nach zwei Fragen schieden nur wenige aus. Die Gute würde so arm nach Hause gehen wie sie gekommen war. Begleitet von aufmunterndem Klatschen schlich sie mit angestrengt guter Laune auf ihren Platz im Publikum zurück.
      „So schnell kann es gehen“, strahlte Phil Chandler bildschirmfüllend. „Wünschen wir unserem nächsten Kandidaten mehr Glück – nach der Werbung.“
      Joe schüttelte ärgerlich den Kopf. Er hätte das Geld gewonnen. Mal wieder. Er war nicht dumm. Hätte man ein ähnliches Quiz in seiner Firma veranstaltet, dann wäre er jetzt Abteilungsleiter.
      Mit einem Seufzer erhob er sich aus dem Sessel und schlurfte ins Bad. Werbeunterbrechungen waren ganz nützlich, wenn man pinkeln mußte.

      Joe kam gerade rechtzeitig mit einer Flasche Bier und einem Glas aus der Küche zurück. Die ebenmäßigen weißen Zähne des Moderators füllten den Bildschirm nahezu aus. Das Fernsehgerät selbst schien zu grinsen.
      Chandler erzählte erneut zwei Anekdoten. Dann der Kameraschwenk. Hoffnungsvolle Gesichter im Publikum.
      Während Joe die Flasche öffnete und Bier in das Glas goß, hörte er die salbungsvollen Worte.
      „Mein nächster Kandidat ist...“
      Einstudierte Kunstpause. Joe stellte die Flasche auf den Tisch.
      „Michael Natas.“
      Joe sah zum Bildschirm. Großaufnahme Michael Natas. Aufreizend lässig schritt der Kandidat die Stufen hinunter zu dem Pult.
      „He, dich kenne ich doch“, flüsterte Joe erstaunt.
      Irgendwo hatte er diesen Michael Natas schon einmal gesehen. Das Gesicht wirkte verfremdet, aber es war ganz sicher dasselbe Gesicht. Joe Brannigan hatte ein sehr gutes Gedächtnis für Personen. Er sah diesen Natas gewiß nicht zum erstenmal. Aber wann war das gewesen? Es mußte Jahre her sein.
      Chandler eröffnete die Begrüßungsrunde. Michael Natas war Jäger, viel auf Reisen und entspannte sich mit allen Arten von Spielen.
      Joe betrachtete aufmerksam das Gesicht des Kandidaten. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, daß es diesmal knapp werden könnte. Natas war ruhig und gelassen. Der typische Gewinner. Eine unerklärliche Aufregung erfaßte Joe.
      „Ok, Michael“, sagte Chandler, „bereit für 15.625 Pfund?“
      „Bereit, Phil“, grinste der Kandidat.
      „Hier ist Ihre erste Frage.“
      Die übliche leise Musik begleitete die Einblendung.
      Welche der folgenden Frauen ist Autorin für Kinderbücher?
      a) Sigourney Weaver
      b) Shirley Manson
      c) Jennifer Brannigan
      d) Mutter Theresa
      Joe hatte gerade das Glas angehoben. Jetzt stellte er es rasch auf dem Tisch ab. Mit offenem Mund starrte er auf den Bildschirm. Konnte das sein? Er kniff die Augen zu und öffnete sie wieder. Es war keine Täuschung. Die gesuchte Person war Jennifer – seine Jennifer.
      Joe war völlig perplex. Abgesehen davon, daß Jennifer überhaupt Bestandteil der Quizshow war – sie war nicht erfolgreich, kaum jemand kannte sie. Für die Einführungsrunde eine verdammt unfaire Frage.
      Aufgeregt und stolz zugleich sprang Joe aus dem Sessel und griff nach dem Telefon im Schrankfach. Das mußte er seiner Frau erzählen. Das würde sie umhauen. Dann fiel ihm ein, daß Jennifer ihr Handy immer abschaltete, wenn sie zum Kegeln ging. Sie wollte diese Abende mit Freundinnen ungestört verbringen.
      Joe legte den Hörer wieder zur Seite und setzte sich. Jennifer im Fernsehen. Unglaublich.
      Michael Natas hatte sich überheblich in Pose gesetzt. Die Aufnahme fing sein hübsches Gesicht mit dem gewinnenden Lächeln ein. Er fuhr sich mit den auffallend langen Fingern der rechten Hand durch das kurze schwarze Haar.
      „Nun, Michael, welche Antwort ist richtig?“ unterbrach Chandler das Schweigen.
      „Das ist einfach, Phil. Sehr einfach.“ Natas räusperte sich gekünstelt. „Sigourney Weaver ist Schauspielerin. Sie wissen schon – Alien. Officer Ellen Ripley, letzte Überlebende der Nostromo. Im Weltraum hört dich niemand schreien. Shirley Manson ist Sängerin der Gruppe Garbage – klasse Stoff, Phil, müssen sie sich unbedingt mal anhören. Und Mutter Theresa – nun ja, das barmherzige Miststück hat es ja hinter sich. Möge Gott ihr eine gerechte Strafe zuteil werden lassen.“
      Joe beugte sich in seinem Sessel vor. Das war doch nicht möglich. Unwidersprochen verhöhnte der Kandidat eine Frau, die Joe sehr bewundert hatte. Chandler und das Publikum taten, als wäre nichts geschehen.
      „Bleibt also nur Jennifer Brannigan“, fuhr Michael Natas fort. „Wissen Sie, Phil, sie taugt nicht viel. Lesen Sie einmal ihr Buch Der Drachenprinz – das schreit geradezu nach literarischer Euthanasie.“
      Natas lachte höhnisch.
      „Also Antwort C?“ fragte Chandler gleichmütig nach.
      „Ja, Jennifer Brannigan ist die Antwort.“
      Antwort C leuchtete grün auf. Nach wenigen Sekunden ertönte die Fanfare. Richtige Antwort. Das Publikum applaudierte begeistert.
      Joe stürmte wutentbrannt zum Schrank und riß eine Schublade auf. Er kramte den Zettel mit der Nummer der Kandidaten-Hotline heraus. Niemand hatte das Recht, den Namen seiner Frau auf diese schmierige Art durch den Dreck zu ziehen. Wenn Chandler und sein Publikum schon zu feige waren, dann würde er jetzt Druck beim Sender machen. Die Tatsache, daß Natas ausgerechnet einen der größten Ladenhüter seiner Frau gelesen hatte, ging in Joes zorniger Aufgeregtheit völlig unter.
      Er hatte gerade die ersten Ziffern der Nummer gewählt, als die Frage der zweiten Runde auf dem Bildschirm erschien.
      Wo verbrachte Jennifer Brannigan das Osterwochenende 2002?
      a) Barcelona
      b) Venedig
      c) Lissabon
      d) New York
      Joe ließ den Hörer sinken. Das war doch ein schlechter Scherz. Sein Blick irrte zum Videorecorder. Er war ausgeschaltet, es lief kein Band.
      Auf dem Bildschirm legte Michael Natas seinen rechten Zeigefinger auf die Lippen und tat, als müsse er angestrengt überlegen. Dann verzog er den Mund zu einem schiefen Grinsen.
      „Guter Versuch, Phil, aber ich falle nicht darauf rein. New York und Lissabon können es nicht sein, da war sie noch nie in ihrem Leben. Bleiben Barcelona und Venedig.“
      „Wenn Sie meinen...“ Phil Chandler lächelte den Kandidaten mit seinem unergründlichen Pokergesicht an.
      „Ich könnte jetzt natürlich Antwort A nehmen. Einen Moment war ich mir wirklich unsicher. Barcelona klingt so verführerisch richtig. Aber das wäre zu einfach. Jenny-Maus war in Venedig. Antwort B bitte.“
      „Wollen Sie nicht noch mal überlegen?“
      „Nein“, lachte Natas vergnügt. „Die Dinge sind häufig anders, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Venedig war´s – kein Zweifel.“
      Joe legte den Hörer auf und ließ sich in den Sessel fallen. Das Geschehen auf dem Bildschirm zog ihn geradezu magisch an. Antwort B leuchtete grün auf – Venedig.
      „Du bist raus, Natas“, hauchte Joe vor sich hin. „Raus, raus, raus!“
      Jennifer war an dem verlängerten Osterwochenende mit ihrem Kegelclub in Barcelona gewesen. Er mochte diese getrennten Urlaube nicht, aber in einer glücklichen Beziehung...
      Die Fanfare erklang. Richtige Antwort. Kameraschwenk auf das applaudierende Publikum.
      Joe schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wollt ihr mich verscheißern? Jennifer war in Barcelona. Was um alles in der Welt läuft hier?“
      Während Phil Chandler den Kandidaten beglückwünschte, suchte Joe das Wohnzimmer nach fremden Kabeln und Objektiven ab. Vielleicht hockte in der Nachbarwohnung das Team von Versteckte Kamera und lachte sich halb tot. Sie würden mit einer kichernden Jennifer auftauchen und dem absurden Spuk ein Ende bereiten. Er und Jennifer würden bei der Ausstrahlung der Sendung auf dem Sofa kuscheln und sich köstlich amüsieren.
      „31.250 Pfund gehören bereits Ihnen, Michael.“ Chandlers Stimme riß Joe aus seinen Gedanken. „In der nächsten Runde geht es um 62.500 Pfund. Eine ganze Menge Geld. Spielen Sie weiter?“
      „Na klar doch, Phil. Jetzt fängt es doch erst an, Spaß zu machen.“
      Joe schüttelte erbost den Kopf. Das hier machte keinen Spaß. Es war nicht im geringsten witzig. Das Osterwochenende im letzten Jahr hatte er vergessen geglaubt. Der häßliche Streit wegen...
      „Kommen wir zu dritten Frage“, meldete sich Chandler. „Meine Damen und Herren, kommen wir zu 62.500 Pfund. Bereit, Mr. Natas?“
      „Bereit, wenn Sie es sind, Mr. Chandler.“
      Phil Chandler lachte auf.
      „Das ist aus Das Schweigen der Lämmer, nicht wahr, Michael?“
      „Und ob es das ist“, grinste Natas in die Kamera.
      Joe empfand eine tiefe Abneigung gegen dieses Gesicht. Die wie Kohle wirkenden Augen Natas´ schienen ihn höhnisch zu fixieren. Woher nur kannte er dieses Gesicht? Es war nicht hier gewesen, nicht in England – irgendwo weit weg, vor vielen Jahren. In seiner Erinnerung war das Gesicht flacher, weniger lebendig – und dennoch, dieses Antlitz...
      Beinahe drohend begleitete die Musik die Einblendung der dritten Frage. Wenn Joe je etwas – irgend etwas – hatte unternehmen wollen, so klebte er jetzt vor dem Fernsehgerät. Sein Magen zog sich in Erwartung eines Fortgangs des bizarren Geschehens krampfend zusammen.
      Welche Besonderheit weist Jennifer Brannigan im Intimbereich auf?
      a) Piercing
      b) Narbe
      c) Tätowierung
      d) Muttermal
      „Ihr Schweine!“ schrie Joe. „Ihr miesen Schweine!“
      Die richtige Antwort war dabei. Woher wußte der Sender davon? Sie konnten es einfach nicht wissen. Aber offensichtlich wußten sie es doch. In welchen Alptraum war er hier geraten?
      Für einen kurzen Moment wurde Joe bewußt, daß niemand anrief. Millionen Menschen sahen diese Sendung allabendlich, aber niemand rief ihn wegen der televisionären Ungeheuerlichkeit an. Viele seiner Bekannten mochten das Quiz, und Jennifers Mutter liebte es. Jemand außer ihm mußte es doch auch noch sehen.
      Joe fühlte sich wie das Kaninchen vor der Schlange. Wenn der Sender ein Drehbuch für diese Quiz-Folge besaß, dann war es dramaturgisch perfekt auf Joe zugeschnitten. Er war jetzt genau das, was sich ein Sender nur wünschen konnte: der hochkonzentrierte Rezipient, der es vor Spannung nicht wagte, die Augen auch nur für einen Moment von der Mattscheibe zu wenden.
      „Ach Phil, kommen Sie“, sagte Natas. „Das ist ja heute leicht verdientes Geld. Die Antwort kennt doch jedes Kind.“
      Joe spürte nicht, daß er mit weit aufgerissenem Mund dasaß und ein dünner Speichelfaden über seine Unterlippe glitt.
      „Antwort D. Sie hat ein Muttermal da unten.“
      Natas´ Stimme schien aus einem anderen Universum zu kommen.
      „Wollen Sie es nicht noch einmal überdenken?“ zweifelte Chandler die Antwort lächelnd an. Viele Kandidaten ließen sich davon beeindrucken und wurden unsicher, wechselten die Antworten. Natas war anders.
      „Ich bleibe dabei – Antwort D, das Muttermal. Und ganz unter uns, Phil...“
      Natas sah sich nach allen Seiten um und beugte sich dann vor. Mit einer Handbewegung bedeutete er dem Moderator, es ihm gleichzutun.
      „Es sind ja noch so viele Kinder wach um diese Zeit“, sagte Natas in verschwörerischem Ton, „aber wenn Sie es ganz genau wissen wollen – das Muttermal befindet sich auf ihrer linken Schamlippe. Es sieht wahnsinnig süß dort aus.“
      Natas leckte sich über die Lippen, lehnte sich zurück und lachte dröhnend. Chandler wirkte für einen Moment irritiert, aber dann mußte auch er lachen, bis ihm Tränen über die Wangen liefen. Er drückte eine Taste auf seinem Monitor.
      „Na komm schon, du scheiß Fanfare“, flüsterte Joe beim Blick auf die markierte Antwort, „komm schon – zeig´s mir. Na los...“
      Das erwartete Signal ertönte. Joe wippte unkontrolliert mit den Beinen. Seine Hände zitterten. Einem fiebrigen Taumel gleich spürte er das kochende Blut in seinem Kopf.
      Jennifer und er waren seit Jugendjahren ein Paar. Sie hatten vorher keinerlei Erfahrungen gemacht, und sie waren sich in all den Jahren treu geblieben.
      Du warst mir doch treu, Jenny, oder? Joe dachte an das letztjährige Osterwochenende zurück. Der blaue Fleck an ihrer Hüfte, den er kurz nach ihrer Rückkehr entdeckt hatte – natürlich, Jenny war so unachtsam gewesen, sich an einer Tischkante zu stoßen. Das konnte doch jedem mal passieren. Ja, genau, mein Herz, deswegen warst du damals auch so verlegen, nicht wahr? Sie hatten sich furchtbar gestritten, bis ihm schließlich die Lächerlichkeit seines Mißtrauens bewußt geworden war. Jenny würde so etwas nie tun. Wie schon so oft hatte er sich damals mit Blumen bei ihr entschuldigt.
      Wieso aber kannte jemand außer ihm diesen kleinen dunklen Hautfleck an ihrer intimsten Stelle? Natas wußte von dem Muttermal. Er wußte genau, wo es zu finden war. Dabei hatte er noch nicht einmal überlegen müssen. War er Dr. „spreiz schon mal die Beine“ Natas, ihr beschissener Gynäkologe? Wenn er schon davon wußte, dann war es doch auch im Bereich des Möglichen, daß er Jennys damaligen Aufenthaltsort kannte. Barcelona – Venedig – Barcelona – Venedig...
      Wo warst du damals, Jennifer? Joe krallte seine Hände in die Haare. Wo warst du? Mit wem warst du?
      Auf dem Bildschirm zog Chandler die Nase schniefend hoch und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht.
      „Michael, Sie sind der beste Kandidat seit langer Zeit. 62.500 Pfund gehören Ihnen. Behalten Sie das Geld oder setzen Sie es in der nächsten Runde?“ Chandler machte eine joviale Geste. „Es geht dann um 125.000 Pfund.“
      „Selbstverständlich mache ich weiter. Ich spiele gern. Ich bin ein Gewinner.“
      Das Publikum klatschte frenetisch. Natas genoß diese Stimmung sichtlich.
      „Dann wollen wir mal sehen, ob Ihre Glückssträhne weiter anhält.“
      Natas schüttelte den Kopf. „Das ist kein Glück, Phil.“
      Die vierte Frage erschien.
      Wieviele Liebhaber hatte Jennifer Brannigan während ihrer zwölfjährigen Ehe?
      a) Keinen
      b) Einen
      c) Sieben
      d) Zwölf
      Joe Brannigan hielt den Atem an. Liebhaber! Eines der angsteinflößendsten Worte, die er kannte. Die Vorstellung, daß Jenny und ein anderer Mann...
      Augenscheinlich grübelnd lehnte sich Natas in seinem Sitz zur Seite. Seine Haltung deutete Unkenntnis an, sein mokantes Grinsen das Gegenteil.
      Ohne daß es ihm bewußt wurde, nahm Joe die bizarre Szenerie als Realität an. Ein bleierner Nebel hatte die Vernetzungen in seinem Gehirn lahmgelegt. Wie ein Schwamm würde er die kommende Information unreflektiert aufsaugen.
      Chandler hatte seine unverbindliche „Dafür bekomme ich vier Millionen Pfund im Jahr“-Maske aufgesetzt. „Nun, Michael, welche Antwort ist die Richtige?“
      „Darf ich eine Gegenfrage stellen?“
      „Natürlich dürfen Sie – ich muß ja nicht antworten.“ Chandler lachte, als hätte er einen guten Witz erzählt.
      Michael Natas beugte sich nach vorn und stützte die Hände auf den Knien ab.
      „Diese Frage, Phil – bezieht sie sich ausschließlich auf männliche Liebhaber?“
      Chandler war offensichtlich irritiert. Er hob die Schultern und warf einen Blick in den hinteren Bereich der Kulissen. Eine lautsprecherverzerrte Stimme hallte durch das Studio.
      „Gefragt wird nach männlichen und weiblichen Liebhabern.“
      Chandler nickte dankend und wandte sich wieder seinem Kandidaten zu.
      „Sie haben es gehört, Michael. Beide Geschlechter. Nun...?“
      „Nun was?“
      „Die Antwort... Welche Antwort, Michael?“
      „Ich nehme den Publikumsjoker.“
      „Sie wissen es nicht?“
      „Doch, ich weiß es“, lächelte Natas. „Die zutreffende Anzahl männlicher Liebhaber ist nicht bei den Antwortmöglichkeiten. Das hat mich verunsichert. Aber sie hat es mit Männern und Frauen getrieben, und diese Zahl ist unter den Antworten.“
      Chandler runzelte die Stirn. „Warum verschwenden Sie dann den Joker? Sie können ihn vielleicht noch gebrauchen.“
      „Ich möchte gerne erfahren, ob das Publikum so gut wie ich über diese Schlampe Bescheid weiß. Und außerdem – ich bin ein Spieler.“
      „Es ist Ihre Entscheidung, Michael.“
      Die Studiogäste bückten sich und griffen nach den Abstimmungsgeräten mit den Antworttasten A bis D unter ihrem Sitz. Die Kamera fing sporadisch Hände ein, die auf eine dieser Tasten drückten.
      Eine halbe Minute später wurde das Ende der Abstimmung durch einen hallenden Gong verkündet. Auf dem Bildschirm erschien ein Diagramm mit vier Säulen. Die Säule für Antwort D überragte mit 93% die anderen deutlich.
      „Das Publikum scheint sich sehr sicher zu sein“, sagte Chandler.
      „Allerdings“, entgegnete Natas. „Mich wundert nur, daß sieben Prozent die Antwort nicht kennen.“
      „Sie entscheiden sich also wie das Publikum?“
      „Selbstverständlich. Antwort D ist richtig. Rein rechnerisch ist Jenny-Maus in jedem Jahr ihrer Ehe einmal untreu gewesen. Allerdings hat sie erst vor sieben Jahren damit angefangen.“
      Antwort D wurde grün markiert. Fanfare. Tosender Applaus.
      Joe saß zusammengesunken in seinem Sessel und unterdrückte seinen Brechreiz. Es war so aberwitzig, und dennoch...
      Mach endlich die Augen auf, Junge! hämmerte es durch seinen Kopf. Du hast es doch schon lange geahnt. Der Bluterguß an der Hüfte... es war der Tisch. Natürlich! Die Anrufe vor drei Jahren... immer falsch verbunden. Was sonst?! Das goldene Armband... von ihren Arbeitskolleginnen. Na klar. Jennifer hatte immer eine Erklärung gehabt. Das war alles harmlos, mein Herz, nicht wahr? Mein Mißtrauen hat dich ja stets so tief gekränkt.
      Joe sah auf das eingerahmte Photo an der Wand, auf dem er und Jennifer vor dem Eiffelturm in das Objektiv lachten. Tränen verschleierten seinen Blick.
      Fünfte Runde. Die Gewinnsumme betrug jetzt bereits 250.000 Pfund. Natas tat, als ginge es um einen bescheidenen Almosen. Er spielte weiter.
      Bei welchem Mann praktizierte Jennifer Brannigan Fellatio während einer Autofahrt im August 1998?
      a) David Finley
      b) Papst Johannes Paul II.
      c) John F. Kennedy
      d) James Backham
      Natas lachte röhrend. „Phil, sie sollten den Autor für die Fragen wechseln. Ich mag diese bemühten Versuche, witzig zu sein, gar nicht.“
      „Was meinen Sie?“
      „Der Papst und der Präsident – vielleicht hat sich derjenige, der sich diese Antworten ausgedacht hat, vor Lachen auf die Schenkel geklopft. Mir erscheint es eher wie das Zeugnis eines Menschen auf dem geistigen Niveau eines Vorschulkindes. Zwei der Antworten kann doch wirklich jeder Idiot ausschließen.“
      „Wie soll ich das verstehen?“
      „Kennedy war 1998 schon lange tot. Jennifer mag ja ein hemmungsloses Luder sein, aber sie hat nie den Schwanz eines Toten gelutscht. Der Papst und die ihn umgebenden Heiligen haben fleischlichen Gelüsten abgeschworen. Die lassen niemanden an sich ran, jedenfalls nicht die kleine Blasmaus.“ Er zwinkerte Chandler mit dem linken Auge zu.
      „Oh – äh, ja, da haben Sie wohl recht, Michael. Wir werden das überdenken. Heute ist es wirklich zu einfach.“
      „Nicht wahr?“ grinste Natas. „James Backham hat sie gevögelt, aber der war analfixiert. Wenn er die kleine Jenny nicht von hinten nehmen durfte, dann war´s vorbei, bevor es überhaupt begonnen hatte. Der hat dann nicht mal einen richtigen Ständer bekommen. Das war ihr zu einseitig, deswegen haben sie sich auch nur zwei Monate lang getroffen.“
      Chandler war jetzt ehrlich erstaunt. „Ihr Wissen ist sehr beeindruckend.“
      „Unterschätzen Sie mich niemals, Phil“, flüsterte Natas.
      Chandler nickte geistesabwesend.
      „Sie brauchen den Telefonjoker in dieser Runde dann wohl nicht, oder?“
      „Nein, den hebe ich mir noch auf. Ich wähle Antwort A. David Finley. Die beiden waren damals unterwegs zu einer Lesung. Auf der Fahrt dorthin hat sich Jenny mit seinem Eiweiß aufgeputscht.“ Wieder ließ Natas sein häßliches Lachen hören.
      Joe erhob sich wie in Trance aus seinem Sessel, schlurfte auf das Wandphoto zu und spuckte Jennifer ins Gesicht.
      „Du verdammtes Miststück!“
      Ausgerechnet David Finley, dieser schleimige Bastard von Verleger. Joe ekelte sich bei dem Gedanken, daß er den Mund geküßt hatte, der den Verlegerschwanz verwöhnt hatte. Der Mund, der wohl so viele fremde Körper berührt hatte.
      Die Fanfare bestätigte, daß Natas eine Runde weiter war. Noch zwei. Nur noch zwei Runden. Joe schlich zum Sessel zurück und ließ sich hineinfallen.
      „Ok, Michael“, sagte Chandler, „bislang haben Sie sich bewunderswert gut gehalten. Jetzt geht es um sage und schreibe 500.000 Pfund, wahrlich kein Pappenstiel. Die nächste Runde wird sicher extrem schwierig werden.“
      „Ich bin Kummer gewohnt“, lachte Natas. „Immer her mit der Frage.“
      „Das mag ich so an Ihnen, Michael. Sie sind Optimist.“
      „So könnte man es nennen.“
      Michael Natas senkte den Kopf leicht und blickte für einen Moment in die Kamera. Im entferntesten Winkel seines Gehirns dämmerte Joe Brannigan die Erkenntnis. Er hatte dieses Gesicht als Zeichnung in einem Buch gesehen. Es war in einer christlich-historischen Gedenkstätte gewesen, in Italien, vor acht Jahren. Die bildreiche Erläuterung des Neuen Testaments. Die Offenbarung...
      Sechste Frage.
      Wo befindet sich Jennifer Brannigan in diesem Moment?
      a) Im Kino
      b) Auf der Kegelbahn
      c) Im Bett
      d) In der Sauna
      Michael Natas lehnte sich zurück und sah Chandler an.
      „Kennen Sie die Antwort, Michael?“ fragte Chandler lauernd.
      „Schwer zu sagen. Die Vergangenheit ist die eine Sache, die Gegenwart eine völlig andere. Aber ich habe da so ein Gefühl...“
      „So ein Gefühl?“
      „Ja, Phil. Sie können es auch Instinkt nennen. Da fällt mir ein: ich habe doch noch den Telefonjoker.“
      „Ja. Wollen Sie ihn setzen?“
      „Das werde ich wohl müssen. Ich denke zwar nicht, daß ich mich irre, aber ich will sichergehen. Eine halbe Million setzt man nicht leichtfertig auf´s Spiel – nicht einmal ich. Davon könnte ich mir eine lange Reise gönnen, an einen Ort, an dem es nicht so heiß ist.“
      „Heiß?“
      „Vergessen Sie es, Phil“, winkte Natas ab, „war nur so eine Metapher.“
      „Gut, dann nehmen wir jetzt den Telefonjoker. Wen möchten Sie anrufen?“
      „Ben Atkinson.“
      Chandler sah einen Moment auf seinen kleinen Monitor.
      „Den haben Sie vorher aber nicht benannt, Michael. Ein Ben Atkinson steht hier nicht.“
      „Ist das ein Problem? Es wäre wirklich wichtig, ihn anzurufen. Glauben Sie mir.“ Natas verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen.
      Zum zweitenmal an diesem Abend warf Chandler einen ratlosen Blick in die hinteren Studiokulissen.
      „Regie? Können wir diesen Ben Atkinson zulassen?“
      Zwei Sekunden später die Antwort. „Ja, geht in Ordnung, wenn der Kandidat die Telefonnummer kennt.“
      Chandler sah Natas fragend an. Dieser nickte leise, kramte in seinem Jackett nach einem Zettel und einem Stift, kritzelte die Nummer darauf und reichte sie dem Moderator.
      Joe saß unterdessen wie versteinert vor dem Fernsehgerät. Seine rechte Hand war so fest zur Faust geballt, daß sich auf dem Handrücken dicke Adern abzeichneten. Er sah Jennifer auf allen vieren vor einem Mann knien. Er sah Jennifer, wie sie sich während der Autofahrt über den Schoß ihres Verlegers beugte.
      „Warum?“ flüsterte er. Es war mehr ein undefinierbarer kehliger Laut denn ein verständliches Wort.
      Seine Aufmerksamkeit wurde erst wieder auf das Geschehen vor ihm gezogen, als die Wähltöne über die Studiolautsprecher zu hören waren. Dann das Freizeichen. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Er krümmte die Finger der rechten Hand noch fester zusammen; die Nägel gruben sich in seinen Handballen. Joe spürte weder das Blut noch den Schmerz. Seine körperlichen Schmerzen waren erträglich.
      Das Freizeichen ertönte erneut. Dann wurde abgenommen.
      „Ben Atkinson hier...“ Das heftige Keuchen in der Stimme wurde durch den Lautsprecherhall im Studio noch verstärkt.
      „Guten Abend, Mr. Atkinson“, begrüßte Chandler den Mann an der Leitung. „Hier ist Phil Chandler von Quizzer. Sie wurden mir von...“
      Ein heftiges Stöhnen unterbrach Chandler.
      „Alles in Ordnung, Mr. Atkinson?“ fragte der Moderator besorgt.
      Wieder ein Stöhnen, dann ein abgehacktes Lachen.
      „Ja, ja, alles in Ordnung. Jaaaa...“
      „Michael Natas sitzt hier bei mir. Er hat Sie als seinen Telefonjoker benannt.“
      Ein trockenes Husten. Keuchen.
      „Michael Natas? Nie gehört.“
      Chandler sah Natas erstaunt an. Dieser zuckte nur mit den Schultern.
      „Es ist nicht wichtig, ob er mich kennt, Phil. Ich weiß, daß er die Frage beantworten kann. Das ist alles, was zählt.“
      „Dann bitte, Michael... Sie haben dreißig Sekunden.“
      „Hören Sie, Ben, hier ist Michael Natas. Ich möchte Sie bitten, mir bei der Beantwortung einer Frage zu helfen.“
      „Wenn ich es kann“, stöhnte es durch das Studio. „Aber beeilen Sie sich... ich... ich... beeilen Sie sich einfach.“
      Michael Natas las die Fragen und die Antworten vor. Noch fünfzehn Sekunden.
      „He, das ist gut“, lachte es aus den Lautsprechern. „Sie wollen wissen, wo Jennifer Brannigan ist? Mann, das ist witzig, wirklich!“
      „Würden Sie mir bitte die richtige Antwort nennen?“ drängte Natas. Noch acht Sekunden.
      „Klar doch, Mr. Natas. Jenny ist hier. Hier bei mir. Sie ist auf mir. Und wissen Sie was? Sie fickt wie der Teufel!“
      Michael Natas warf sich in seinem Sitz zurück und lachte brüllend auf. Eine besorgte weibliche Stimme war in der Leitung zu hören. Dann war die Zeit um. Die Verbindung wurde unterbrochen. Natas entschied sich für Antwort C.
      Joe sprang mit einem animalischen Schrei aus seinem Sessel auf. Er packte die geöffnete Bierflasche und warf sie auf das Bild an der Wand. Scherben regneten auf den Teppich darunter, Bier vermischte sich mit den Resten des Speichels auf dem Bild und tränkte die Tapete. Völlig enthemmt stapfte er auf das Bild zu, riß es von der Wand und warf es quer durch den Raum.
      „Du also auch. Wie all die anderen. Ich hasse dich!“ Er schrie so laut, daß seine Lungen schmerzten.
      In seinem Irrsinn verpaßte Joe das denkwürdige Finale der Quiz-Show. Unter dem johlenden Beifall des Publikums wurde die letzte Frage gestellt.
      Was verliert Jennifer Brannigan in zwei Stunden?
      a) ihren Ehering
      b) ihre Handtasche
      c) ihre Unschuld
      d) ihr Leben
      Während Joe im Schlafzimmer die Schubladen aufriß und Jennifers Unterwäsche überall verstreute, entschied sich Natas auf dem Bildschirm für die Antwort D. Ein ohrenbetäubender Lärm tobte durch das Studio. Die Million war geknackt. Das Publikum trommelte mit den Füßen, Konfetti regnete auf den Moderator und seinen Kandidaten nieder.
      Im Schlafzimmer zerriß Joe einen letzten Seidenslip seiner Frau. Dann sprang er auf das Bett, griff sich ein Kopfkissen und zerfetzte es mit bloßen Händen.
      In der Quiz-Show umarmte ein begeisterter Phil Chandler seinen Kandidaten. Die Kamera fing das lachende Gesicht des Moderators in Großaufnahme ein. Chandler lachte noch immer, als Natas‘ Kopf überdimensional anschwoll. Haut platzte auf, blutige Muskeln, Sehnen und Adern quollen hervor. Die rote Masse verwandelte sich in eine häßliche Fratze mit einem riesigen Maul voll gewaltiger Reißzähne. Chandlers Lachen endete erst, als das Ding sein gewaltiges Maul über den Kopf des Moderators stülpte und ihm den Schädel zu Brei zerbiß.
      Unterdessen schlich Joe in die Küche. Er zog eine Schublade auf und griff in den Besteckkasten. Angenehm kühl ruhte der Holzgriff in seiner Hand. Dann wandte er sich um und löschte alle Lichter in der Wohnung. Er setzte sich in seinen Sessel und griff nach der Fernbedienung. Die Show war vorbei. Er hockte in der Dunkelheit und wartete.

      Von Somebody
      Avatar
      schrieb am 03.10.04 20:13:48
      Beitrag Nr. 3 ()
      Und haben Euch die Geschichten gefallen? Sind meine größten Konkurenten bei www. Kurzgeschichten.de
      Avatar
      schrieb am 03.10.04 20:43:24
      Beitrag Nr. 4 ()
      Konkurenten ist nicht das Richtige Wort, diese Kurzgeschichtenschreiber sind auch gut. Dagegen bin ich vielleicht noch Mittelklasse?? Aber solange es mir keiner sagt weiss ich es selber nicht. Vielleicht sollte ich nochmals das eine oder andere von mir hier reinstellen??



      Ich brauche Kritik, ich weiss nicht wo ich stehe!

      Was meint Ihr??

      MfG jojo


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