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     9067  14 Kommentare Joachim Gauck: «Wohin der Multikulturalismus geführt hat, hat mich erschreckt»

    Joachim Gauck, der frühere deutsche Bundespräsident, hält an der Universität Düsseldorf eine Rede unter dem Titel «Nachdenken über das Eigene und das Fremde». Die NZZ publiziert Auszüge davon.

    Zunächst: Heine! Er hat mich begleitet, seit ich in literarischen Texten Inspiration und Orientierung suchte. Getröstet hat er mich nur selten. Aber eine eigene Haltung zu finden, dabei hat er mich bestärkt. Und oft habe ich Konstellationen oder Menschen besser verstanden durch das, was Heine dachte und schrieb.

    Ganz besonders gilt das für «die Deutschen», über die Heine schrieb – zum Beispiel über ihr besonderes Verhältnis zu dem, wonach ich mich immer sehnte: Freiheit. «Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmässiges Weib. Er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiss er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er wirft sich zu ihren Füssen mit den überspanntesten Beteuerungen. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben. Er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine Grossmutter.»

    Das Fremdeln der Ostdeutschen

    Es war nicht negativ gemeint, als ich bei einer Rede im Bundestag 1999 über uns Ostdeutsche sagte, dass wir nach der Einheit Gefühle von Fremdheit hatten: «Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.» Mein Gedanke dabei war positiver als das, was Ihr Schmunzeln jetzt vermuten lässt. Nordrhein-Westfalen, das war für mich immer der Ort des gestalteten Lebens. Nicht der Ort, an dem ein Paradies errichtet werden soll. Sondern der Ort, an dem aus der Wirklichkeit heraus versucht wird, Gutes zu erreichen. Selten pathetisch, meistens realistisch, und wenn wir an den Wandel denken, den dieses Land gestaltet hat, kann man sagen: trotz allem erfolgreich. Es ist ein guter Ort zum Leben und Arbeiten. Ein Ort, dem ich mich nahe fühlen kann, auch wenn ich geografisch von weither komme.

    Der Fremde hat so lange existiert, wie es den Menschen gibt. Aber mit der Entstehung von Nationalstaaten hat das Eigene noch an Bedeutung und die Abgrenzung vom Fremden noch an Schärfe gewonnen. Das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden scheint mir daher eines der schwierigsten politischen Probleme der Gegenwart. Lassen Sie uns also einen Blick auf die Rolle werfen, die dem Fremden im Kontext der Nationalstaaten zugewiesen worden ist.

    Die Gefahr des Nationalstaats

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    Der Nationalstaat brachte in den letzten 200 Jahren einen erheblichen Demokratisierungsschub, indem er mit den alten Imperien die ständische Privilegienherrschaft abschaffte und das Volk als Souverän inthronisierte. Gleichzeitig aber tauchte mit dem Nationalstaat die Gefahr einer Überhöhung der eigenen Ethnie auf, verbunden mit einer scharfen Abgrenzung gegenüber anderen Staaten und einer teilweise aggressiven Abwertung von Minderheiten. Letztlich kulminierte der ethnisch reine Staat, wie es uns das 20. Jahrhundert gezeigt hat, in einer völkermörderischen Vorstellung.

    Angesichts des destruktiven Potenzials im Umgang mit Fremdheit sollten wir die Zivilität umso höher schätzen, um die sich die Menschheit immer wieder bemüht hat. Wir wissen, dass es ohne Affektkontrolle keine Zivilität geben kann. Affektkontrolle aber, die durch reine Repression erreicht wird, löst den zugrunde liegenden Konflikt genauso wenig wie ein Krieg. Repression leugnet den Feind, und Krieg vernichtet ihn. Gewaltfreie Veränderungen hingegen setzen voraus, dass wir die Fremden «entfeinden» und das Eigene entidealisieren. Und dass wir stattdessen lernen, mit Ambivalenzen umzugehen. Mit Gefühlen, die die Eindeutigkeit von Gut und Böse aufheben und Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit zulassen. Das mag schwer sein, aber es ist auch entlastend. Und es vergrössert die Chance, im Fremden auch das «Bereichernde» zu entdecken: das noch nicht Gekannte, das noch nicht Gedachte, das noch nicht Praktizierte, das unsere bisherige Welt erweitert.

    Die Notwendigkeit von Heimat

    Wir kennen die Folgen von Entwurzelung aus den Geschichten vieler Emigranten. «Ich war ein Mensch, der nicht mehr ‹wir› sagen konnte», hat Jean Améry geschrieben, nachdem das NS-Regime ihn wegen seiner jüdischen Herkunft außer Landes getrieben hatte. Und nur noch gewohnheitsmässig, aber nicht mehr im Gefühl vollen Selbstbesitzes konnte er darum «ich» sagen. Er hatte Heimweh, «ein übles, zehrendes Weh» zu dem Land, das ihn doch verjagt hatte. Abgeschnitten von dem «Wir» wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie sehr der Mensch Heimat braucht, «um sie nicht nötig zu haben».

    Ein Nationalstaat darf sich auch nicht überfordern. Wer sich vorstellt, quasi als imaginierter Vertreter eines Weltbürgertums alle Grenzen des Nationalstaates hinwegzunehmen, überfordert nicht nur die materiellen, territorialen und sozialen Möglichkeiten eines jeden Staates, sondern auch die psychischen Möglichkeiten seiner Bürger. Sogar der weltoffene Mensch gerät emotional und intellektuell an seine Grenzen, wenn sich Entwicklungen vor allem kultureller Art zu schnell und zu umfassend vollziehen. Wie oft habe ich gerade in letzter Zeit im Bekanntenkreis den Stossseufzer gehört: Ich komme nicht mehr mit!

    Grosse Veränderungen für Europa

    Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob wir uns schon wirklich klargemacht haben, wie schwerwiegend Migranten und Flüchtlinge die Gesellschaften in Europa verändern werden – in ihrer Bevölkerungsstruktur, in der Art ihres Zusammenlebens und auch in ihrer Kultur. Die Integrationspolitik, die der Zuwanderung folgt, wird einen langen Atem brauchen und viel Schwieriges zu gestalten haben. So ist zum Beispiel bekannt, dass Reibungen umso stärker auftreten, je fremder die Fremden sind. Und viele Fremde kommen heute aus autoritären Staaten, teilweise mit Clan-Strukturen zu uns, und viele sind als Muslime religiös ganz anders geprägt als Westeuropäer des 21. Jahrhunderts.

    Selbst Migranten aus Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken tragen häufig eine regelrechte Distanz zur Moderne in sich – ein mangelndes Verständnis für Minderheiten- und Frauenrechte, für Toleranz und sexuelle Selbstbestimmung. Die Gefolgschaft gegenüber einer starken Führerpersönlichkeit erscheint ihnen «natürlicher» als die Loyalität gegenüber einem Rechtsstaat und seinen Institutionen. Andererseits ist das Bild nicht einheitlich. Bildungsstand, kulturelle Prägung oder soziale Position haben Migranten auch immer wieder geholfen, die Vorzüge der offenen Gesellschaft schnell schätzen zu lernen.

    Verschiedene Reaktionsmuster haben sich bei Zuwanderung entwickelt: Die einen haben die Fremden aus Hilflosigkeit oder Gleichgültigkeit und so gut und so lange es ging einfach ignoriert. Andere, die umso lauter wurden, je mehr Migranten kamen, haben sie dämonisiert und pauschal zur Bedrohung erklärt. Noch andere haben sie umarmt und pauschal zur Bereicherung erklärt oder gar idealisiert – ausgerechnet Deutsche wollten sich keine Fremdenfeindlichkeit vorwerfen lassen. Wenn Probleme dieses positive Bild des Fremden störten, wurden sie minimiert oder gar wegdefiniert.

    Vielfalt galt als Wert an sich

    Einen grossen Einfluss in der Integrationspolitik hat lange Zeit die Konzeption des Multikulturalismus gehabt: Was sich auch immer hinter den einzelnen Kulturen verborgen hat – Vielfalt galt als Wert an sich. Die Kulturen der Verschiedenen sollten gleichberechtigt nebeneinander existieren, für alle verbindliche westlich-liberale Wertvorstellungen wurden abgelehnt. Ich verstehe, dass es auf den ersten Blick tolerant und weltoffen anmuten mag, wenn Vielfalt derart akzeptiert und honoriert wird. Wohin ein solcher Multikulturalismus aber tatsächlich geführt hat, das hat mich doch erschreckt.

    So finde ich es beschämend, wenn einige immer noch die Augen verschliessen vor der Unterdrückung von Frauen bei uns und in vielen islamischen Ländern, vor Zwangsheiraten, Frühheiraten, vor Schwimmverboten für Mädchen in den Schulen. Wenn Antisemitismus unter Menschen aus arabischen Staaten ignoriert oder mit Verweis auf israelische Politik für verständlich erklärt wird. Oder wenn Kritik am Islam sofort unter den Verdacht gerät, aus Rassismus und einem Hass auf Muslime zu erwachsen. Sehe ich es richtig, dass in diesen und anderen Fällen die Rücksichtnahme auf die andere Kultur als wichtiger erachtet wird als die Wahrung von Grund- und Menschenrechten?

    Die Verbündeten der Islamisten

    Ja, es gibt Hass und Diskriminierung von Muslimen in unserem Land. Um sich diesem Ressentiment und dieser Generalisierung entgegenzustellen, sind nicht nur Schulen und Politik gefordert, sondern jeder Einzelne. Beschwichtiger aber, die kritikwürdige Verhaltensweisen von einzelnen Migranten unter den Teppich kehren, um Rassismus keinen Vorschub zu leisten, bestätigen Rassisten nur in ihrem Verdacht, die Meinungsfreiheit in unserem Land sei eingeschränkt. Und sie machen sich zum Verbündeten von Islamisten, die jegliche, auch berechtigte Kritik an Muslimen abblocken, indem sie sie als rassistisch verunglimpfen.

    Es ist, als scheuten viele davor zurück, die Werte der liberalen Demokratie zu verteidigen, obwohl sie so vielen Menschen ein würdiges Leben ermöglicht haben wie keine Gesellschaftsform zuvor.

    Die Chancen der Verunsicherung

    Wenn die Verunsicherung durch Zuwanderung nun dazu führen sollte, dass sich Einheimische wieder neu und selbstkritisch auf ihre ethischen und politischen Ideale besinnen und für sie werben, dann hat diese Verunsicherung etwas Gutes gehabt. Ein blosses Nebeneinander ist keine gute Voraussetzung für ein Zusammenleben, Konfliktvermeidung kein guter Weg zum Kennenlernen. Gemeinschaft bildet sich nur aufgrund einer gemeinsamen Vergangenheit und gemeinsam erlebter Gegenwart.

    Zu viele Zugezogene leben augenblicklich noch zu abgesondert mit Werten und Narrativen, die den Gesetzen und Regeln und Denkweisen der Mehrheitsbevölkerung widersprechen, zu viele leben hier seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten, ohne die Geschichte dieses Landes zu kennen. Um das zu ändern und uns gemeinsam auf eine Zukunft in diesem Land zu verständigen, brauchen wir – wie einst zwischen einheimischen und vertriebenen Deutschen – vor allem eines: mehr Wissen übereinander. Mehr Dialog. Mehr Streit. Mehr Bereitschaft, im jeweils anderen unseren eigenen Ängsten, aber auch neuen Chancen zu begegnen.

    Dies ist das gekürzte Manuskript einer Rede, die Joachim Gauck am 31. Januar an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf gehalten hat. Joachim Gauck war von 2012 bis 2017 Bundespräsident von Deutschland. Ende Januar hat er eine Gastprofessur in Düsseldorf angetreten.

    Der Beitrag erschien in der NZZ, am 2.2.2018, siehe hier.





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    Verfasst von wO Gastbeitrag
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    Kommentare

    Avatar
    08.02.18 17:06:07
    Das traurige hierzulande: Der Bundespräsident schreibt seine Reden ja nicht selbst.
    Im Kasperletheater schreibt der Kasper auch nicht das Drehbuch!
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    08.02.18 16:17:53
    Die Rede von drewermann , soll sich der Gauck mal anhören
    Avatar
    08.02.18 15:58:24
    Herr Gauck das ist der allergrößte blödsinn den Sie da von sich geben , in der Zeit als Bundespräsident haben Sie nicht vernünftiges von sich gegeben , also lassen Sie es als Pensionär und genießen einfach den Ruhestand
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    05.02.18 21:34:27
    Ich bin immer dafür, meine eigene Meinung frei zu äußern, wiederum im Sinne Orbans, der gegen Brüssel (und Merkel gerichtet) sagte
    "A szabadsag az igazsag kimondasaval kezdödik!" = "Die Freiheit beginnt mit dem Aussprechen der Wahrheit" ...
    ...was ja länger bei uns zensiert wurde, u.a. mit Beschimpfungen und Beleidigungen durch Gauck.
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    05.02.18 16:58:38
    Ich rate jedem, neben dem Islam-Risiko die Nazis nicht zu unterschätzen. Höcke und Maier in 2019 MPs? Ich halts für möglich und dann solte man seine "freie" Meinungsäußerung möglichst stark einschränken - man möchte ja nicht als Volksverräter bestraft werden.

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