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    Interview  8710  6 Kommentare Dr. Dr. Rainer Zitelmann über Reiche als Minderheit: "Es gibt positive wie negative Vorurteile"

    Dr. Dr. Rainer Zitelmann, Historiker, Soziologe und Investor hat sein neues Buch: "Die Gesellschaft und ihre Reichen" veröffentlicht. Im Untertitel wird deutlich, wohin die Reise geht: "Vorurteile über eine beneidete Minderheit". Die wallstreet:online-Redaktion nahm das neue Buch zum Anlass, um mit Dr. Dr. Zitelmann über unsere Gesellschaft zu sprechen.

    Sehr geehrter Herr Dr. Dr. Zitelmann, vorab herzlichen Glückwunsch zum neuen Buch! Auf 426 Seiten widmen Sie sich einem sehr sensiblen Thema: Neid und Vorurteile gegenüber den Reichen. Ist das ein deutsches Phänomen?

    Neid gibt es, seit es Menschen gibt. Aber in hierarchischen Gesellschaften, wo jeder von Geburt an seinen Platz hatte, war er schwächer ausgeprägt. In Gesellschaften, die Gleichheit versprechen, aber notwendigerweise doch Ungleichheit produzieren, ist der Sozialneid erst zu einem wirklich bedeutenden Phänomen geworden – und auch zu einer Antriebskraft großer politischer Bewegungen. Sozialneid gibt es überall auf der Welt, aber er ist nicht überall gleich stark ausgeprägt. Und Sozialneid maskiert sich. Keiner will vor sich und anderen zugeben, neidisch zu sein. Man hat dafür andere Worte gefunden, beispielsweise "soziale Gerechtigkeit".

    Woher kommen Vorurteile?

    Vorurteile sind an sich nichts Schlechtes. Sie sind sogar überlebensnotwendig. Stellen Sie sich vor, in der Urzeit hätte einer unserer Vorfahren gesagt: "Oh, ich darf keine Vorurteile gegenüber diesem Säbelzahntiger haben. Vielleicht ist er gutmütig. Erstmal abwarten". Wer so dachte, hat nicht überlebt. Ich zeige im ersten Kapitel meines Buches, dass Vorurteile keineswegs immer falsch sein müssen. Zudem gibt es positive wie negative Vorurteile. 
     
    Bei Ihnen geht es um Vorurteile über Reiche. Woher kommen die?

    Das Thema der Vorurteile über Reiche haben Vorurteilsforscher bislang kaum untersucht. Es gibt viele Studien zu Vorurteilen über Schwarze, über Homosexuelle, über Juden oder über Frauen. Es gibt auch einige Studien zu Vorurteilen über Arme, aber kaum etwas über Reiche. Das ist die erste große wissenschaftliche Studie zu diesem Thema. Ich habe die Methoden und Erkenntnisse der Vorurteilsforschung auf eine Gruppe angewandt, mit der man sich bislang kaum befasste. Meine These, die ich "Kompensationstheorie" nenne: Negative Vorurteile gegenüber Reichen haben die psychologische Funktion, das Selbstwertgefühl eines Menschen zu schützen: Man gibt anderen Menschen, die einem auf irgendeinem Gebiet überlegen sind, auf anderen Gebieten dicke Minuspunkte, damit man sich mit ihnen wieder gleich fühlen oder sich sogar über sie stellen kann. 

    Besonders vermögende Menschen sehen sich oft einer gewissen "Neidkultur" ausgesetzt. Gibt es einen Ausweg für die Reichen? 

    Negative Vorurteile und Stereotype gegenüber Reichen gibt es überall und wird es wohl immer geben. Warum sollten sich Reiche hier von anderen Minderheiten unterscheiden, die mit Vorurteilen konfrontiert sind? Aber andererseits zeigt die Erfahrung, dass Aufklärung manches verändern kann. Wir sind heute in mancher Hinsicht aufgeklärter als die Menschen in der frühen Neuzeit und glauben beispielsweise nicht mehr, dass Hexen für Naturkatastrophen verantwortlich sind. In den vergangenen Jahrzehnten haben viele Minderheiten gelernt, dass sie sich aktiv gegen Vorurteile zur Wehr setzen müssen. In der Folge haben sich Einstellungen zu manchen Minderheiten – beispielsweise zu Homosexuellen – stark verändert. Voraussetzung dafür war jedoch, dass diese Minderheiten den Kampf gegen diese Vorurteile aufgenommen haben. Hier unterscheiden sich Reiche von anderen Minderheiten. Sie mischen sich nicht aktiv in die gesellschaftliche Diskussion ein, sind oft sehr ängstlich und defensiv. Insofern tragen sie selbst eine Mitschuld an den negativen Vorurteilen. 

    In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich mit dem Thema "Was die Bevölkerung über Reiche denkt". Wie schneidet Deutschland im Vergleich mit den USA, Großbritannien und Frankreich ab?

    Zwei der weltweit renommiertesten Institute – Allensbach und Ipsos MORI – haben in diesen vier Ländern repräsentative Bevölkerungsbefragungen vorgenommen. Dabei wurde ermittelt, wie stark der Sozialneid in den vier Ländern ausgeprägt ist. Da Sozialneid nicht mit direkten Fragen ("Wie neidisch sind Sie?") gemessen werden kann, wurden den Teilnehmern drei Aussagen vorgelegt, die ein Indikator für Sozialneid sein können. Als "Nicht-Neider" werden jene bezeichnet, die keine dieser drei Fragen bejaht haben. Als "Sozialneider" werden jene bezeichnet, die zwei oder drei Aussagen unterstützen. Auf dieser Basis wurde ein Sozialneidkoeffizient entwickelt. Er gibt das Verhältnis von Neidern zu Nicht-Neidern in einem Land an. Ein Wert von 1 würde bedeuten, dass die Zahl der Neider und der Nicht-Neider gleich groß ist. Bei einem Wert unter 1 überwiegt die Zahl der Menschen, die keinen ausgeprägten Sozialneid empfinden, bei einem Wert von über 1 überwiegt die Zahl der Menschen mit ausgeprägtem Sozialneid. Danach ist der Sozialneid in Frankreich mit 1,26 am größten, gefolgt von Deutschland mit 0,97. In den USA (0,42) und Großbritannien (0,37) ist er deutlich geringer. 

    Sie haben sich auch mit der Darstellung von Reichen in den Medien beschäftigt. Wie sind Sie da vorgegangen? 

    Es wurde eine sogenannte Medieninhaltsanalyse durchgeführt. Führende überregionale und regionale Zeitungen wurden daraufhin untersucht, wie dort Reiche dargestellt werden. Zudem wurde die Yellow-Press untersucht, auch Kommentare im Internet waren ein Thema. Schließlich hat ein Team sehr aufwendig Hollywoodfilme untersucht. In einer Besprechung über mein Buch empfahl der Rezensent, das Buch von hinten nach vorne zu lesen. Das fand ich eine gute Idee. Denn das Kapitel über die Hollywoodfilme, an dem ein ganzes Team mitgewirkt hat, liest sich am leichtesten. Viele Leser werden Filme kennen, die hier dargestellt und analysiert werden. 

    Was war das Ergebnis dieser Filmanalyse?

    Zu Beginn der analysierten Filme wurden 31 von 43 Reichen mit einem negativen Charakter, aber zugleich als kompetent dargestellt. Diese Reichen wurden als überheblich, unsympathisch, kaltschnäuzig, unmoralisch und egoistisch gezeigt, aber zugleich als kompetent, einfallsreich, wagemutig und visionär. Diese Darstellung entspricht dem in der Vorurteilsforschung entwickelten "Stereotype Content Model", wonach Reiche überwiegend als kalt, aber kompetent wahrgenommen werden. Nur neun Reiche wurden zu Beginn der Filme mit einem positiven Charakter dargestellt. Am Ende des Filmes hatte sich das Bild etwas verschoben, weil acht Reiche während des Filmes eine Läuterung erfuhren. Daher war die Zahl der Reichen mit einem guten Charakter beim Abspann höher als zu Beginn des Filmes – aber immer noch deutlich niedriger als die Zahl der Reichen mit einem negativen Charakter und auch deutlich niedriger als die Zahl der nichtreichen Kontrastpersonen mit positivem Charakter. Von 40 nichtreichen Kontrastpersonen haben zu Beginn des Filmes 24 einen positiven Charakter (am Ende des Filmes sind es sogar 30), und sie sind zugleich kompetent. Nur sechs Nicht-Reiche werden zu Beginn mit einem negativen Charakter dargestellt, am Ende ist es sogar nur noch ein einziger. Wir haben auch belegt, wie stark negative Frames über Reiche in Hollywoodfilmen sind. 

    Man könnte einwenden: Reichen geht es doch trotz aller Vorurteile gut – das ist Jammern auf hohem Niveau. 

    Wenn Sie selbst reich sind, finden Sie es trotzdem nicht lustig, dass Sie sich jeden Abend im Fernsehen anhören dürfen, sie würden keinen ausreichenden Beitrag für die Gesellschaft leisten, Steuern hinterziehen usw. Bei anderen Minderheiten sind Medien mit solchen Pauschalurteilen sehr zurückhaltend: Seit Jahren kommt es immer wieder in diesen und anderen Ländern zu Terroranschlägen mit islamistischem Hintergrund. Nach solchen Anschlägen wurde von Politikern und Journalisten regelmäßig und eindringlich davor gewarnt, Muslime unter "Generalverdacht" zu stellen. "Nicht jeder Moslem ist ein Terrorist", betonten die Medien. Die Mehrheit der Muslime seien gesetzestreue und friedliche Menschen. Wenn es dagegen Skandale gab, weil Manager versagten und dennoch hohe Abfindungen kassierten, weil Banker mit hohen Boni belohnt wurden, obwohl sie riskante Geschäfte machten, oder wenn aufgedeckt wurde, dass manche Reiche sich legal oder illegal vor Steuerzahlungen drücken, fanden sich in den Medien fast nie warnende Hinweise, dass man nicht verallgemeinern und Reiche, Manager oder Banker "nicht unter Generalverdacht" stellen dürfe. Im Gegenteil: Die Medieninhaltsanalyse zeigt, dass solche negativen Pauschalurteile an der Tagesordnung sind. Trotzdem: Ich gebe zu, in stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen können Reiche damit leben. In Krisensituationen sind sie jedoch sehr gefährdet.

    Können Sie das erläutern bitte?

    Das Thema bewegt mich als Historiker und Soziologe auch deshalb, weil wir aus der Geschichte wissen, dass negative Vorurteile und Stereotype die Basis dafür sind, dass in gesellschaftlichen Krisensituationen Minderheiten als Sündenböcke ausgegrenzt, vertrieben, verfolgt und ermordet werden. Das 20. Jahrhundert ist voll von Beispielen, in denen reiche Menschen ("Kapitalisten", "Kulaken" und andere Gruppen) Opfer von Verfolgungen wurden. In der russischen Oktoberrevolution lautete eine der ersten Anweisungen des Chefs der Tscheka (der sowjetischen politischen Polizei): "Wir führen nicht Krieg gegen bestimmte Personen. Wir löschen die Bourgeoisie als Klasse aus. Suchen Sie bei den Ermittlungen nicht nach Dokumenten oder Beweisen für das, was der Angeklagte in Worten oder Taten gegen die Sowjetmacht getan hat. Die erste Frage, die Sie ihm stellen müssen, lautet, welcher Klasse er angehört, was seine Herkunft, sein Bildungsstand, seine Schulbildung, sein Beruf ist". Reiche als Opfer von Demütigungen, Enteignung und Verfolgung – das ist ein in der Zusammenschau noch nicht geschriebenes düsteres Kapitel in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – von der russischen Oktoberrevolution bis zu den Roten Khmer in Kambodscha. 

    Hinweis:

    Inhalt, Leseproben und Pressestimmen zu dem neuen Buch von Dr. Dr. Zitelmann finden Sie hier.





    wallstreetONLINE Redaktion
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