Wird Russland Deutschland schon 2024 wirtschaftlich überholen?
Nach dem Fall der UdSSR drohte Russland ein Dritte Welt-Staat zu werden. Auf letzter Pressekonferenz gab Putin bekannt, Russland werde bald fünfstärkste Volkswirtschaft der Welt. Die Aussage ist realistisch. Das 2017er BIP betrug 4,01 Bill. USD, das von Deutschland 4,17 Bill. USD. Die Überholung sieht PricewaterhouseCoopers im Jahr 2030 https://ostexperte.de/pwc-russland-2030-groesste-wirtschaft/ . Wahrscheinlich geht es auch früher.
Kapitalismus „von oben“ (Russland) funktioniert nicht so gut wie der „von unten“ (China)
Die russischen Staatseliten sind wenig am betriebswirtschaftlich und renditeorientierten „Kapitalismus von unten“ interessiert. Sie fürchten Machtverlust, eine fremde ökonomische Denkweise und sind nur für eine langsame Demokratisierung der Wirtschaft. Mittelstand und Existenzgründungen werden kaum gefördert, Korruption und Rechtsunsicherheit bleiben präsent, die Konsumgesellschaft ist noch stark unterentwickelt. Ungeachtet dieser Mängel feiert der „Kapitalismus von oben“ Erfolge, so auf dem Weltmarkt nicht nur im Rüstungsexport, sondern auch in der Raumfahrt oder beim Kernkraftbau. Ohne die Sojuz-Raketen würde der Astro-Alex nicht zur ISS fliegen. Umgekehrt wird im Forbes-Ranking kein globaler Konsumgüter- und Dienstleistungskonzern aus Russland zu finden sein.
Der Staatskapitalismus ist nur bedingt vergleichbar mit den erfolgreichen Emerging Market von China oder Vietnam, die mehr „Kapitalismus von unten“ wagen. Er ist aber auch kein Rentierstaat (OPEC, Golfländer), der allein von Rohstoffexporten „lebt“. Russland verfügt über eine breite Produktionsbasis und konnte trotz Ölpreisverfall und Westsanktionen die Krise von 2015/2016 wirtschaftlich besser überstehen als Saudi-Arabien. Russische Großkonzerne (Gazprom, Lukoil, Rosneft, Sberbank) in den Schlüsselsektoren Öl/Gas, Banken und Bergbau befinden sich mehrheitlich im Staatsbesitz. An Gazprom, dessen Aktie im Westen notiert sind, besitzt der Staat 50,1%. Der Energiemulti spielt in der russischen Wirtschaft eine hyperaktive Rolle und redet in ordnungspolitischen Fragen mit (Subventionen, Regulierungen, Staatsaufträge).
Auch hat der junge Staatskapitalismus wenig Berührung mit dem Turbokapitalismus der osteuropäischen EU-Neulinge, die gerade kleine Wirtschaftswunder feiern. Viel Gemeinsamkeit mit Westeuropa gibt es bei der Unternehmensfinanzierung aus Gewinnen und Krediten. Die im Vergleich zur Realwirtschaft unterentwickelten Kapitalmärkte bringen Vorteile: Sie schützten die Russen - Bankkrisen kennt das Land - vor den Extremen der Börsen, des Investmentbankings, der Hedgefonds und vor Bankenrettungen.
Betriebswirtschaftlich bringt der Staatkapitalismus viele Nachteile. Das Denken in Produktions- statt in Gewinnkategorien, die „Tonnenideologie“ in Sowjetzeiten, ist noch verbreitet. Großkonzerne der Rohstoff- und Energiewirtschaft arbeiten bei fehlendem Wettbewerb ineffizient und erwirtschaften nur dünne Margen. Die Folge sind Misswirtschaft, extreme Kosten, (Energie-)Vergeudung, Innovationsmangel und fehlendes Leistungsprinzip. Ob der oft zitierte überteuerte russische Straßenbau hierfür ein Musterbeispiel sei, bleibt offen. https://www.dw.com/de /goldene-autobahnen-in-russland/a-5940472. Dennoch scheint die These, die westlichen Sanktionen hätten den Russen geholfen mehr betriebswirtschaftlich zu denken (Stichwort Importsubstitution) nicht falsch zu sein. https://finanzer.eu/kulissen-der-fussball-weltmeisterschaften-schon-vo ...
Beim BIP Deutschland 2017 fast eingeholt – Überholung in fünf Jahren wahrscheinlich
Wird ein Land mit so vielen Defiziten das „moderne Deutschland“ bald wirtschaftlich ein- und überholen? Wenn vielen Deutschland wesentlich reicher als Russland vorkommt, so hat das zwei Gründe. Zum
einen muss ein BIP pro Kopf bei geringerer Bevölkerungszahl in Deutschland höher ausfallen. Die Deutschen besitzen daneben etwa 12 mehr Vermögen, dass sie in Zeiten des Wirtschaftswunders in der
Nachkriegszeit akkumuliert haben und das den Russen während der sowjetischen Misswirtschaft zu bilden versagt blieb.
Andererseits ist der absolute deutsche BIP-Vorsprung auf der Kaufkraftparitätsbasis (PPP) mit 4,17 Bill. USD (5. Platz in der Welt) gegenüber 4,01 Bill. USD (6. Platz) in 2017 denkbar gering. Diese
vom IWF entwickelte Berechnungsmethode liefert ein objektives Leistungsbild. Würde nach der USD-Methode (Basis: US-Preise) gerechnet, ergäbe sich für die Schwellen- und Entwicklungsländer ein
falsches Bild. Russland fällt dann sechs Plätze zurück und liegt mit 1,53 Bill. USD hinter Kanada und Südkorea (!).
Wachstumspotentiale sind vorhanden, eine Autokratie kann sie leichter umsetzen
Mit den bescheidenen Wachstumsraten von 2% p.a. bleibt Russland weit hinter China mit 6% zurück. https://ostexperte.de/wachstum-in-russland-bis-2020/. Ein- und Überholung Deutschlands in fünf Jahren könnte dennoch gelingen, weil wir eine Wachstumsdelle erwarten (Brexit, Handelskrieg, Konjunkturflaute). Es kommt darauf an, ob es Russland gelingt, seine riesigen Potentiale zu aktivieren. Die Zeichen stehen gut. https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/ .... Ein kurzer Lagebericht liefert aber ein gemischtes Bild.
Das Land diversifiziert und modernisiert seine Wirtschaft nur langsam. Der BIP-Anteil der Dienstleistungen stagniert bei 65%. Die Regierung konzentriert sich auf den Abbau langfristiger Wachstumsbremsen und weniger auf die Förderung der Konsumwirtschaft. Im Fokus stehen Großinvestitionen in der Infrastruktur, zu denen, heute zu Sowjetzeiten, westliche Konzerne eingeladen werden.
Günstiger gestalten sich die Finanzen. Zu den trotz Sanktionen und Ölpreisflauten auf 462 Mrd. USD aufgestockten Devisen- und Goldreserven https://de.statista.com/statistik/daten/studie/487403/umfrage/gold-und-devisenreserve -von-russland/ kommen jährlich gut 100 Mrd. USD Handelsbilanzüberschüsse (2017 weltweit Platz 3) zu. Auch die sanktionsbedingte Zuwendung zu China, der Türkei und dem Iran begünstigt die außenwirtschaftliche Position Russlands. Das Wirtschaftsklima ist gut. Nach dem IWF 2018 verbesserte sich das Land beim Indikator Doing Business um fünf Stellen und liegt mit Platz 31 und liegt vor Belgien und Italien. https:// ostexperte.de/doing-business-2018-russland/.
Die Risiken sind überschaubar
Die größte ordnungspolitische Schwachstelle bleibt der „Kapitalismus von oben“. Das Land besitzt kaum kapitalistische Traditionen (kurze Industrialisierungszeit, keine Unternehmenskultur) und das Arbeitsethos ist nicht das Beste. Vielleicht machen es die Russen wie die Chinesen und öffnen die Börse für Kleinanleger und Existenzgründe. Kapitalismus macht bekanntlich erfinderisch und stärkt den Unternehmensgeist.
Dem Regime ist aufgefallen, dass auch die Russen langsam „aussterben“ und es versucht mit materiellen Incentives (Wohnungsbau, soziale Absicherung) „soziales Herz“ zu zeigen. Mit zwei Stabilisierungsfonds, die aus einem Teil der Exporteinnahmen aus Öl und Gas gespeist werden, sorgt der Staat für die Zukunft vor. Die zu Jelzins Zeiten stark rückläufige Einwohnerzahl konnte sich bei 145 Millionen stabilisieren.
In jüngster Zeit taucht die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs auf, den sich Russland angeblich nicht leisten kann. Dies ist fraglich. In Sowjetzeit gab es bei einer Armeestärke von 3 Millionen
Soldaten die teure Doktrin des „Revolutionsexports“ und einen gewaltigem Ressourcenentzug. Heute würden viele den Wettlauf bei einer Million Soldaten und hoher Waffentechnologie eher als ein
Konjunkturprogramm sehen.
Russland wird den Weg des extensiven Wachstums fortsetzen. Das Land weiter als wirtschaftlichen Zwerg und militärischen Riesen (Helmut Schmidt „Obervolta mit Atomraketen“) zu sehen, ist
fern jeder Realität.
Dr. Viktor Heese – Finanzanalyst und Fachbuchautor; www.finanzer.eu