PORTRÄT
Parlamentspräsident Bercow - immer für eine Brexit-Überraschung gut
LONDON (dpa-AFX) - "Oooooorder" - schallt es bei Sitzungen des britischen Unterhauses regelmäßig durch den Saal. Der Mann mit der kräftigen Stimme, Parlamentspräsident John Bercow, ist Herr über die Debatten und Abstimmungen des Unterhauses und nicht nur für seine lauten Ordnungsrufe bekannt. Am Montag machte er Regierungschefin Theresa May einen Strich durch die Rechnung. Unter Berufung auf eine 415 Jahre alte Regel ließ er eine dritte Parlamentsabstimmung über ihren Brexit-Deal ohne Änderungen an der Vorlage nicht zu.
Bercow gilt als ein Charakterkopf, vielleicht besser: Dickschädel. Ursprünglich ein Konservativer, hat sich der 56-Jährige von den regierenden Tories zunehmend entfremdet. Grund ist neben seiner linksliberalen Ausrichtung vor allem eine angebliche Benachteiligung der Brexit-Befürworter, die ihm immer wieder vorgeworfen wird. Bercow selbst, das ist kein Geheimnis, hätte Großbritannien lieber in der EU gesehen, wie er einst bei einem Gespräch mit Studenten erzählte.
Bercow sieht sich als Verteidiger des Parlaments gegen eine Regierung, die zunehmend autoritäre Züge trägt und gegen die Boulevardpresse. Die hatte nach wichtigen Abstimmungen EU-freundliche Abgeordnete mit deren Fotos auf der Titelseite als Meuterer angeprangert. Bercows Antwort war ein leidenschaftliches Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie: "Bei der Abgabe Ihrer Stimme, so wie Sie es für richtig halten, sind Sie als Mitglied des Parlaments niemals Meuterer, niemals Verräter, niemals Querulanten, niemals Volksfeinde", rief Bercow den Abgeordneten zu.
Viel Beifall, aber auch Kritik bekam Bercow für die Ankündigung, US-Präsident Donald Trump bei einem Staatsbesuch nicht im Parlament zu empfangen. "Ich habe das starke Gefühl, dass unser Widerstand gegen Rassismus und Sexismus und unsere Unterstützung für die Gleichheit vor dem Gesetz und eine unabhängige Gerichtsbarkeit enorm wichtige Überlegungen sind", begründete er die Entscheidung.
Aber es gab auch immer wieder massive Vorwürfe von Ex-Mitarbeitern und Kollegen. Sein Ex-Privatsekretär Angus Sinclair etwa behauptete, Bercow habe ihn vor anderen Mitarbeitern angeschrien. Auch mehrere Parlamentarierinnen soll er beleidigt haben. Für Aufsehen sorgte auch sein Familienleben: Ehefrau Sally fiel wiederholt mit erotischen Fotos und frivolen Äußerungen auf. Ihr Einzug ins Big-Brother-Haus löste bei ihrem Mann keine Begeisterung aus; er reiste nach Indien.
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Als May im Dezember die Abstimmung über den Brexit-Deal verschob, ohne das Parlament zu fragen, klagte Bercow über einen "zutiefst unhöflichen" Akt. Möglicherweise deshalb erlaubte er den Abgeordneten entgegen den Gepflogenheiten, die Parlamentstagesordnung zu ändern. May war gezwungen, kurz nach der Niederlage ihres Brexit-Deals einen Plan B vorzulegen. Einen Änderungsantrag, der May vor der krachenden Niederlage möglicherweise eine Gesichtswahrung erlaubt hätte, ließ Bercow einfach links liegen. Nun hat Bercow dafür gesorgt, dass die Regierungschefin wohl am Donnerstag mit leeren Händen zum Gipfel nach Brüssel fahren muss, bei dem sie die Staats- und Regierungschefs der 27 anderen EU-Staaten um einen Brexit-Aufschub bitten will./si/DP/nas