Türkei: Wirtschaftskrise medial aufgebauscht oder real existent?
Deutsche Medien sehen bei den Kommunalwahlen in der Türkei Erdogan geschwächt und die Wirtschaft einbrechen. Egal wie man zu diesem Politiker stehen mag, das Warten auf die „Pleite“ des Landes ist realitätsfremd. Die Türkei ist nicht mehr der „kranke Mann Europas“, weist heute zwar die üblichen konjunkturellen Schwächen aus (Wachstum, Währung, Inflation), ist aber ein ökonomisch starkes Schwellenland. So liebäugelt Ankara heute mit es dem BRICS-Beitritt. China, Russland und die Golf-Staaten werden ihr im Notfall Kredite gewähren.
Schwache Wirtschaftsdaten werden exponiert, starke Daten verschwiegen
Im Falle der Türkei hört der Leser ständig vom Lira-Crash, Massenarbeitslosigkeit, Hyperinflation steigender Auslandsverschuldung, Wachstumsschwäche oder sogar von einer drohenden Insolvenz https://www.wallstreet-online.de/nachricht/10692380-inflation-tuerkei- .... Für 2019 werden „nur noch“ +2,5% BIP-Wachstum (Deutschland +0,8%!) erwartet. Über die geringe Inlandsverschuldung, neuen Touristikboom, stabiles Interesse der Auslandsinvestoren und hohe Devisenreserven erfährt der Leser so gut wie nichts. Die Arbeitslosigkeit in der Türkei ist mit 11% niedriger als in vielen EU-Staaten. Einige Experten sehen in der umstrittenen Krise sogar eine neue Chance. https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/tuerkei-wie-die- ....
Abschwung oder Rezession – ein feiner semantischer Unterschied
Die Aussenhandelszentrale gtai spricht dagegen von einer Depression. 2018 brachen besonders die Investitionen ein (hier: Bau). Die Bundesagentur erklärt aber nicht, ob der Einbruch Folge einer konjunkturellen „Überhitzung“ ist - dann ist es eine normale Zyklizität - oder ein Dauerabschwung. https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=die-tuerk ....
Auch die Konjunkturlokomotive China soll mit wirtschaftlicher „Überhitzung“ massiv zu kämpfen haben - wissen unsere Experten Bescheid. Gerne verschweigen sie, dass die Türkei mit einem 2017er BIP von 2,2 Bill. USD (Kaufkraftparitätsmethode) von der Wirtschaftskraft mit Italien vergleichbar ist.
Lira-Verfall Folge des permanenten Handelsbilanzdefizite
Inflation, schwache Lira und Handelsdefizite sind dennoch die akuten Problemfelder der Wirtschaft. Diese ist zwar nur halb so auslandsaffin, wie die deutsche (Anteile der Handelsvolumina am BIP mit
45% bzw. 71%). Dennoch schwächt das permanente Handelsdefizit von 77 Mrd. USD 2017 die Landeswährung massiv und überträgt sich negativ über die „importierte“ Inflation. https://www.gtai.de/GTAI/Content/DE/Trade/Fachdaten/MKT/2016/11/mkt201 .... Diese und das Handelsdefizit treiben wiederum die Zinsen und die Inlandspreise an. Vorläufig ein
Teufelskreis.
Die Zentralbank versucht mit restriktiver Geldpolitik gegenzuhalten und kämpft mit von 20%. Inflation. Andererseits löst die billige Währung erneut einen Touristik-Boom aus. Auch versucht Erdogan
die Landeswährung zu stützen und bekommt Ärger mit der Zentralbank. https://www.n-tv.de/wirtschaft/Zentralbank-geht-auf-Konfrontationskurs ....
Druck der USA - Auslandsverschuldung im Vergleich zu Italien jedoch ungefährlich
Im Westen hat die Türkei heute wenig politische Freunde. Die USA versuchten mit Zöllen, Kreditrestriktionen (Druck auf IWF!) und Rating-Herabstufungen Ankara in die Knie zu zwingen. Ob das gelingt ist fraglich. Die Hälfte der Gesamtverschuldung der Türkei von 450 Mrd. USD (Italien, Frankreich und Deutschland weisen z.B. 2 Bill. € aus) entfällt auf das Ausland. Der Anleihenmarkt sieht aber keine „Pleite“, sonst würden die Zinsen der Auslandsanleihen massiv steigen. Das ist nicht der Fall. Für eine fünfjährige Euro-Staatsanleihe (WKN: A1ZGRG) wird 4,5% laufende Rendite gezahlt, für eine italienische aber 6%.
Das Land könnte jederzeit umschulden, weil China, Russland, einige Golf-Staaten und die BRICS-Bank ihm Geld leihen würden. Auch europäische Großbanken sitzen in der „Türkei-Kreditfalle“, wie vormals in anderen „Fallen“. Im Notfall werden für die Europäer Rettungsschirme aktiviert.
Die türkische Börse und die Auslandsinvestoren dramatisieren nicht
Während unsere Medien auch über Panik, Kapitalflucht, Crash-Gefahr für die Börsen oder der drohenden Armut berichten, bleiben türkischen Aktien per Saldo (noch?) im Aufwärtstrend. Der Aktienindex ISE 100 ist in den letzten 10 Jahren +255% gestiegen und im letzten Jahr um 17% gefallen – wovon wiederum primär massiv berichtet wird. https://www.onvista.de/index/ISTANBUL-ISE-NATIONAL-100-Index-8313320. Hiernach bekämen einheimische Anleger immer noch mehr als den Inflationsausgleich – nicht der ausländische Investor, der hohe Währungsverluste hinnehmen müsste. Der türkische Investor wird aber primär hochprozentige Anlagen seines Landes kaufen.
Auch das Wirtschaftsklima ist nicht eingebrochen. Beim Ease of Doing Business 2019 liegt die Türkei mit Platz 43 noch vor Belgien (45), bei den sonstigen Stimmungsindikatoren im ersten Drittel (Global Competitiveness Index 4.0 Rang 61, Corruption Perceptions Index 2017 Rang 81). Das sind anständige Werte im Universum der Schwellenländer.
Nicht nur der befürchtete NATO-Austritt macht dem Westen Sorgen
Im Falle der Türkei sind Wirtschaft und Geopolitik immer eng verzahnt. Die Gefahr des NATO-Austritts ist genauso ein Thema, wie der drohende US-Militärkonflikt mit dem Iran (Ausfall der Türkei als US-Aufmarschgebiet) oder der Druck auf die Flüchtlingspolitik bei Öffnung der Balkan-Route. Die Gaslieferung über Turkisch Stream würde andererseits gesichert sein, wenn Deutschland vor den USA bei Nordstream2 doch noch einknicken sollte. Warum auch dieses rein wirtschaftliches Projekt „europaschädlich“ sein soll, wird der Normalbürger kaum verstehen. Was Putin und Erdogan zu Wege bringen muss nicht per se nicht ökonomisch falsch sein. https://www.focus.de/immobilien/energiesparen/gas-allianz-mit-erdogan- ...
Fazit:
Die Türkei sollte mit den Kriterien für ein Schwellenland beurteilt werden. Ihre wirtschaftliche Entwicklung bleibt dynamisch aber volatil. Die Abhängigkeit vom Westen schwindet in dem Maße, wie sich Ankara den starken Schwellenländern (China, Russland) zuwendet. Die aktuelle Krise könnte primär durch den massiven Abbau der Importe oder eine starke Exportoffensive (woher soll diese kommen?) gelöst werden.
Dr. Viktor Heese www.finanzer.eu