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Brexit: Eindeutig uneindeutig - drei Experten, drei Meinungen
Die jüngsten Fortschritte für die Erlangung eines Brexit-Deals dominieren die Titelseiten britischer Tageszeitungen. The Times titelt sehr optimistisch: "Letzte Hürde in Sicht". Einige Zeitungen warnen die Abgeordneten davor, für den Deal zu stimmen. Zu den lautesten gehört The Daily Mail. Die Wallstreet:Online-Redaktion hat die Stimmen von drei Experten zusammengebracht, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Otmar Lang, Chefvolkswirt der Targobank, ordnet die Situation so ein: "Optimistische Aussichten, dass es doch nicht zu einem No-Deal Brexit-Szenario kommt und Fortschritte in den Zollverhandlungen zwischen den USA und China." Lang konstatiert: "Das sind Nachrichten, die sich die meisten Analysten vor einer Woche nicht haben vorstellen können. Sie waren verfangen in einem Ansatz, der bei den aktuellen politischen Krisen keinen Raum für günstige Entwicklungen ließ."
"Aber was ist wenn die zwei großen Stolpersteine der Weltwirtschaft zwar nicht weg, aber von ihrer Bedeutung sehr viel kleiner wären? Das Glas wäre auf einmal halbvoll – die Konjunkturaussichten nicht mehr so trübe", so der Chefvolkswirt der Targobank. Er führt weiter aus: "Auf niedrigen Zinsen und auch vergleichsweise günstigen Rohstoffpreisen ließe sich ein neues positives Konjunkturszenario aufbauen, in dem Rezessionsängste kein Platz mehr hätten." Lang meint: "Die Finanzmärkten diskontieren bereits eine Konjunkturwende, die Rendite für deutsche Staatsanleihen mit Restlaufzeit von zehn Jahren ist von -0,71 Prozent (Jahresstief) auf aktuell -0,37 Prozent gesunken und der DAX hat im Oktober über sechs Prozent zulegen können."
Ulrich Stephan, Chef-Anlagestratege für Privat- und Firmenkunden der Deutschen Bank, schreibt in seinen "Perspektiven am Morgen" unter dem Titel: "Brexit-Deal zum Greifen nahe" folgendes: "Fast dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum ist es so weit: Die britische Regierung und die Europäische Union haben sich auf einen Austrittsvertrag geeinigt – gerade noch rechtzeitig für den laufenden EU-Gipfel."
Stephan meint: "Die gute Laune hielt gestern jedoch nur kurz an, da sich die nordirische DUP gegen den Deal aussprach. Da sich auch die Labour-Partei skeptisch äußerte, fragen sich Devisenhändler, ob Premier Boris Johnson am Samstag genügend Unterstützung im britischen Parlament finden wird." Sein Fazit für den Augenblick lautet: "Die gute Nachricht: Ein Austritt ohne Übergangslösung ist unwahrscheinlicher geworden. Das sollte das Pfund Sterling mittelfristig stützen", so Stephan.
Folker Hellmeyer, Chefanalyst bei Solvecon Invest, konstatiert: "Es kam eine Verständigung zwischen Johnsons Regierung und der EU zustande. Die EU-Staats- und Regierungschefs haben die Vereinbarung angenommen. Damit wurden zwei Hürden auf dem Weg zu einem Ausstiegsvertrag genommen."
Für Hellmeyer geht es jetzt darum, dass weitere Hürden genommen werden müssen. Er führt aus: "Das Europäische Parlament muss noch zustimmen. Da wird es voraussichtlich keine nennenswerten Probleme geben. Der Fokus liegt auf dem britischen Parlament. Boris Johnsons Regierung hat keine Mehrheit. Er ist in der Annahme des Deals auf politische Kräfte von außen angewiesen." Und weiter: "Eine klare Mehrheit ist aktuell nicht erkennbar."
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Daher steht für Hellmeyer fest: "Es ist viel zu früh, das Thema Brexit abzuschließen. Es sind immer noch alle Optionen von "No-Deal", "Deal", Verschiebung wegen Neuwahlen, Verschiebung wegen Referendum auf dem Tisch."