Handelssysteme: Nichts für Nervöse
Regelbasierte Anlagestrategien: Chancen für ausgekochte Trader mit Nerven wie Drahtseile
„Regelbasiertes Handelsystem" klingt nach ruhigem Schlaf für Börsianer. Das dem nicht so ist, hat Ralf Malisch von unserer Partnerredaktion Smart Investor herausgefunden. Je mehr psychologischer Druck sich aufbaue, desto größer
sei die Gefahr, ein an sich erfolgreiches Börsenhandelssystem genau im ungünstigsten Moment aufzugeben - also kurz bevor es wieder an seine Erfolge anknüpft, schreibt Malisch. Nur wenigen sei es
gegeben, solche Phasen ruhig auszusitzen, ist ein Ergebnis der Analyse des erfahrenen Smart Investor-Redakteurs. Die ganze Story:
Warum Handelssysteme?
Warum beschäftigen wir uns überhaupt mit dem Thema des regelbasierten Anlegens? Schließlich ist es gängige Auffassung unter Aktienanalysten, dass jedes Unternehmen eine Art Solitär sei, dessen Potenzial sich erst nach intensiver Beschäftigung mit den Zahlenwerken und Zukunftsaussichten offenbart. Das ist zwar grundsätzlich richtig, vernachlässigt aber zweierlei: Zum einen führen Aktienkurse ein gewisses Eigenleben, das nicht alleine durch Unternehmensnachrichten bzw. -zahlen zu erklären ist. Zum anderen weisen auch höchst unterschiedliche Aktien Gemeinsamkeiten in ihrem Kursverhalten auf, die nutzbar sind. Das bekannteste Phänomen in dieser Hinsicht ist der Trend, und es ist nicht verwunderlich, dass dieser historisch den Ausgangspunkt für die Entwicklung von Handelssystematiken bildete.
Klassischer Trade-off
Zwar wird man der Einzigartigkeit von Unternehmen auf diese Weise nicht mehr gerecht, doch im Gegenzug ergibt sich ein ganz anderer Zugriff auf mögliche Kurspotenziale. Dabei geht es im Ergebnis weniger um eine vollautomatische Gelddruckmaschine als um ein Verfahren, das auf statistisch signifikanten und nutzbaren Anomalien beruht und unabhängig von konkreten Überlegungen und Stimmungen des Anwenders mechanisch umgesetzt wird. Dies bedingt sowohl auf der Seite des Handelssystems als auch auf jener des späteren Anwenders einige Voraussetzungen.
Zuverlässige Datenbasis
Beginnen wir auf der Systemseite: Die meisten Handelssysteme basieren traditionell auf Kurs- und Umsatzdaten der Börsen. Inzwischen wird allerdings auch verstärkt mit Fundamentaldaten oder der automatischen Auswertung von Unternehmensmeldungen und Wirtschaftsdaten gearbeitet. Unabhängig davon stehen am Anfang jeder Analyse zuverlässige und aussagekräftige Daten. Ist diese Basis nicht gegeben, kann man sich alle weiteren Schritte sparen. Bei Handelssystemen auf der Basis von Kursen und Umsätzen ist eine Aussagekraft der Daten zudem nur dann gegeben, wenn die betreffenden Titel hinreichend liquide sind.
Formation, Test, Anwendung
Bei den eigentlichen Handelssignalen geht es dann darum, dass Einzeltitel und/oder Trendphasen aus dem gewählten Anlageuniversum herausgeschnitten werden, die eine risikoadjustierte Überrendite
erwarten lassen. Als Zielgröße gilt regelmäßig die Rendite, während das maximal tolerierbare Risiko eine Nebenbedingung darstellt. Üblicherweise werden die Filter bzw. Signale zunächst an Daten aus
der Vergangenheit getestet („Backtesting“).
Handwerkliche Fehler
Tatsächlich werden in diesem Bereich wohl die meisten handwerklichen Fehler begangen, etwa durch einen Zugriff auf Informationen, die zum Zeitpunkt des Handelssignals noch gar nicht vorgelegen
haben können. Allentscheidend ist jedoch, dass die gefundenen Regeln und Parameter robust sind, sich also auch in der unbekannten Zukunft bewähren.
Zu einem Problem kann in dieser Hinsicht die verführerische Leistungsfähigkeit moderner Softwarepakete und Rechnerarchitekturen werden, denn wenn Handelssysteme auf die spezifischen Gegebenheiten des historischen Datensatzes optimiert werden, kann man gerade nicht davon ausgehen, dass die so gefundenen Einstellungen auch künftig ähnlich ansprechende Ergebnisse liefern. Standardmäßig unterscheidet man daher beim Backtesting zwischen einer Formationsperiode, in der die eigentliche Systementwicklung stattfindet, und einem Testzeitraum, in dem sich das so entwickelte Handelssystem bewähren muss. Je geringer die Ergebnisabweichungen zwischen beiden Zeiträumen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man robuste Gesetzmäßigkeiten gefunden hat, die auch in der Zukunft fortbestehen werden.
Bewährte Konzepte
Als thematische Bausteine empfehlen sich bei der Handelssystementwicklung praxisbewährte Konzepte – beispielsweise solche, mit deren Hilfe bereits reale Vermögen aufgebaut wurden. Auch empirische Studien, die unter Verwendung einer wissenschaftlichen Methodik entsprechende Anomalien über längere Zeiträume nachweisen konnten, sind gute Ideengeber. Idealerweise gibt es sogar eine überzeugende Erklärung für die gefundenen Auffälligkeiten und deren Stabilität im Zeitablauf. Weniger aussichtsreich sind dagegen Methoden, die sich entweder nicht operationalisieren lassen oder keinen herausragend erfolgreichen Praktiker hervorgebracht haben. Neben der Value-Methodik, also dem Kauf unterbewerteter Aktien, sind vor allem Momentum und Saisonalität aussichtsreiche Grundbausteine, die auch gerne variiert und miteinander kombiniert werden: „Kaufe relativ starke Aktien im November, falls der DAX steigt.“
Während die Saisonalität bislang überwiegend als Timinginstrument für den Gesamtmarkt eingesetzt wurde („Sell in May and go away!“), hat Dimitri Speck mit seasonax® das Thema für Einzelaktien weiterentwickelt. Die Saisonfiguren einzelner Titel erscheinen uns so spannend, dass wir uns diesen in einer der kommenden Smart Investor-Ausgaben noch ausführlicher widmen werden.
Mit einfachen Regeln den Zufall schlagen
Kleine Variation, großer Effekt
Welchen Effekt bereits ein sehr einfaches Trendkriterium auf die Performance hat, ist in unserer Abbildung anhand einer Zufallsreihe (Index, blaue Linie) illustriert. Die einzige Regel des Handelssystems (grüne Linie) lautet: Investiere voll, wenn der Index am Vortag oberhalb seiner 200-Tage-Linie lag. Ansonsten wird nicht investiert. Man sieht, wie sich die grüne Kapitalkurve durch diese simple Filterregel deutlich vom Index abhebt. Dass zu einem vollständigen Handelssystem auch Regeln zur Positionsgrößensteuerung oder zur Risikobegrenzung gehören, illustriert die rote Kapitallinie. Hier wurde anstelle von 100% des Kapitals stets nur der immer gleiche Betrag X investiert. Der Gesamtertrag ist zwar deutlich geringer, allerdings muss der Anleger hier nicht annähernd die Kursrückgänge aushalten wie jener mit der grünen Kapitalkurve – bei einem sonst identischen Regelwerk, wohlgemerkt!
Die Sache mit dem Bauch
Die Sache könnte also recht einfach sein, wenn da nicht auch noch der Anwender wäre. Systementwickler äußern des Öfteren, dass ein System und dessen Anwender „kompatibel“ sein sollten. Damit ist
gemeint, dass der Anwender die Charakteristik eines Handelssystems nicht nur intellektuell verstanden, sondern weit genug verinnerlicht haben muss, um dessen Signalen in der Praxis auch folgen zu
können. Für wen sich die Signale eines Handelssystems intuitiv falsch anfühlen, etwa, weil „zu teuer“ gekauft werden soll, der wird es kaum schaffen, diese Signale konsequent umzusetzen. Vielmehr
werden die einzelnen Signale dann einer zusätzlichen subjektiven Prüfung durch den Anwender unterzogen („second guessing“) und letztlich nur fallweise und damit unsystematisch umgesetzt.
Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei auch Signale aussortiert werden, die sich in der Rückschau tatsächlich als Fehlsignale erweisen, was dann auch noch als Beleg für die Fehlerhaftigkeit des Handelssystems angesehen wird. Damit ist ein Weg vorgezeichnet, der tatsächlich gar nichts mehr mit regelbasiertem Anlegen zu tun hat. Das Handelssystem muss dann allenfalls noch als Sündenbock herhalten, wenn das Depot schließlich – und mutmaßlich aufgrund der subjektiven Entscheidungen – gänzlich in den Graben gefahren ist.
Reine Nervensache
Wer schon in normalen Börsenphasen kein Zutrauen zu den Handelsregeln hat, der wird eine allfällige Durststrecke, wie sie auch bei den besten Handelssystemen immer wieder einmal vorkommt, erst recht nicht durchhalten. Nervenzehrend ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Verlusthöhe („Drawdown“), sondern auch die Dauer einer Verlustphase. Besonders zermürbend ist dies dann, wann an anderen Märkten oder mit anderen Strategien derweil gutes Geld zu verdienen gewesen wäre. Je mehr psychologischer Druck sich auf diese Weise aufbaut, desto größer ist die Gefahr, ein an sich erfolgreiches System genau im ungünstigsten Moment aufzugeben, also kurz bevor es wieder an seine Erfolge anknüpft. Nur wenigen ist es gegeben, solche Phasen ruhig auszusitzen. Allerdings kann es auch vorkommen, dass ein Handelssystem tatsächlich dauerhaft aufgehört hat zu funktionieren, meist, weil es von Anfang an nicht robust war. Diese Möglichkeit sollte man dann, aber auch wirklich erst dann in Betracht ziehen, wenn die real produzierten Ergebnisse signifikant negativ von den historischen Daten abweichen.
Fazit
Regelbasiertes Anlegen stellt einen hochinteressanten Ansatz für diszipliniertes Verhalten in einem tendenziell chaotischen Umfeld dar. Voraussetzung dafür sind eine robuste Strategie, die zum jeweiligen Anwender passt, sowie dessen Bereitschaft, sich von dieser durch das tägliche Börsenchaos führen zu lassen.
Autor: Ralph Malisch / Smart Investor
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