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     1436  3 Kommentare Die Beobachtungen der toten Frau

    Es ist eine wichtige Frage: Gibt es eigentlich objektive Erkenntnisse? Ja, ich denke schon, die Frage ist nur, wie man ihnen auf die Spur kommt. Denn es ist ja gerade die Krux, dass alles, was wir für objektiv halten, immer die Erkenntnis eines Menschen ist und damit zwangsweise subjektiv.

     

    Selbst Zahlen machen das keine Ausnahme. Denn auch Zahlen können niemals objektiv sein, weil in ihnen immer das steckt, was ein Menschen, also ein Subjekt, in sie hineingepackt hat.

     

    Beinahe ist es sogar gut, dass es keine reine Objektivität gibt, denn wenn alle Menschen die Wirklichkeit gleich sehen würden, gäbe es ja so etwas wie die Börsen und Finanzmärkte nicht, die ja in Gänze von den unterschiedlichen Sichtweisen leben.

     

    Ich erinnere mich noch gut an die letzte Fed-Sitzung Ende Juli. Da hat die US-Notenbank die Zinsen nicht verändert und auch sonst alles unverändert gelassen, was von vielen Marktteilnehmern als sehr positiv und Politik der ruhigen Hand gewertet wurde, von anderen hingegen als Indiz, den Dollar fallen zu lassen.

     

    Also was nun? Beides geht ja wohl nicht. So ist das eben mit der vermeintlichen Objektivität. Jeder sieht immer nur das, was er sehen will. Und ob der berühmte Sack Reis in China umfällt oder nicht, darüber lässt sich nur dann streiten, wenn jemand behauptet, das eine oder andere beobachtet zu haben. Ist hingegen niemand dabei oder auch nur in der Nähe gewesen, bleibt diese Frage gänzlich unbeantwortbar.

     

    Sehr gut hat mir das in den Tagen der Fed-Sitzung das Wetter illustriert. Ich habe ja schon vieles erlebt unterwegs auf Reisen, doch so ein gigantisches Wetterphänomen wie neulich in Berlin, das habe ich noch nie gesehen.

     

    Da schien wunderbar die Sonne, doch es kamen plötzlich in großer Geschwindigkeit dunkle Wolken an, die in ihrer Struktur schlicht einmalig waren. Mit großer Geschwindigkeit und in allen Farben, die man sich vorstellen kann, verursacht durch die Sonneneinstrahlung.

     

    Wie ein Besessener bin ich auf meinem Balkon herumgesprungen und habe ohne Pause gefilmt und fotografiert. Etwas Gigantischeres habe ich vielleicht niemals zuvor erlebt. Die Frau auf dem Balkon im Nachbarhaus saß hingegen regungslos auf ihrem Liegestuhl und schaute in die andere Richtung, und zwar in diejenige, in der das Spektakuläre nicht zu sehen war. Denn es lief hinter ihrem Rücken ab.

     

    Ich kenne diese Frau nicht und habe noch niemals mit ihr geredet, mir ist nur ihre durchgehende Starrheit aufgefallen. Selbst wenn sie Gäste hat und redet, bleibt ihr Gesicht regungslos und stets unverändert.

     

    Ich überlege mir, wie ein Gespräch zwischen uns wohl abgelaufen wäre, wenn ich ihr von meinen Beobachtungen erzählt hätte. Sie würde mich wahrscheinlich anschauen und dabei aussehen, wie sie immer aussieht, und natürlich nicht wissen, wovon ich rede. Und ich würde wohl ein bisschen an Platons Höhlengleichnis denken.

     

    Doch wir sind ja heute weiter. Rein wissenschaftlich könnte ich jetzt sagen, wir beide hätten uns, wenn wir einmal die gesamte Welt als Maßstab nehmen, an der selben Raum-Zeit-Position befunden und trotzdem hätten unsere Wahrnehmungen nicht unterschiedlicher sein können.

     

    Wir beide haben jeweils eine komplett andere Welt gesehen, doch da es zweifellos nur eine einzige Welt gibt, wird die Situation hier richtig fisselig. Vielleicht kommt auch aus dieser Richtung die große Anziehungskraft, die die Börsen auf die Menschen ausüben.

     

    Weil die Börse eben die fundamentalen Prinzipien des menschlichen Daseins genau widerspiegelt, das jedoch nicht näher erklärt und somit ein ewiges Rätsel bleibt.

     

    berndniquet@t-online.de

     


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
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