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    Buchtipp  2113  0 Kommentare Eine Geschichte des Kapitalismus - Seite 2

    Im Gegensatz zur Kritik der Antikapitalisten waren nicht die industriellen Arbeitsbedingungen des Frühkapitalismus die primäre Ursache des Elends, sondern genau umgekehrt das Fehlen derartiger Beschäftigungsmöglichkeiten. „Strukturelle Unterbeschäftigung war bereits die Geißel des 18. Jahrhunderts gewesen; sie verschärfte sich im Zuge der Bevölkerungsvermehrung und trug… wesentlich dazu bei, dass sich im 19. Jahrhundert ein Menschenstrom zunächst von Europa nach Nordamerika, später aus den ländlichen in die sich industrialisierenden Regionen des europäischen Kontinents ergoss. Die Menschen folgten den Beschäftigungschancen, und die lagen in großer Anzahl allein in den aufblühenden Zentren des Industriekapitalismus.“ (S. 236 f).

    Der Kapitalismus bedeutete für die Menschen, die in diese neuen Zentren strömten, nicht Verarmung, sondern „ein Stück Freiheit und Verbesserung, das durchweg bewusst, ja fast gierig aufgegriffen wurde. Der Kapitalismus, wenn man so will, traf auf eine arme Bevölkerung, die im Wortsinne nichts zu verlieren hatte, aber viel gewinnen konnte. Das machte die neue Art des Wirtschaftens gerade für diese Menschen so attraktiv.“ (S. 150)

    Dieser Schilderung kann man nur zustimmen – und ich möchte Plumpes These noch anschaulich untermauern. Der französische Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel hat herausgefunden, dass vor dem 18. Jahrhundert die Eigentumsverzeichnisse normaler Europäer nach ihrem Tod darauf hinwiesen, dass es „beinahe überall nur Armut gab“. So würde zum Beispiel der gesamte Besitz einer älteren Person, die ihr Arbeitsleben hinter sich hat, ungefähr so aussehen: „Ein paar alte Kleidungsstücke, ein Stuhl, ein Tisch, eine Bank, die Bretter des Betts, ein Sack gefüllt mit Stroh. Offizielle Berichte aus dem Burgund des 16. bis 18. Jahrhunderts sind voll von Hinweisen auf Menschen, die auf Stroh schlafen, ohne Bett oder andere Möbelstücke, die von den Schweinen nur durch etwas Leinen getrennt wurden.“ Im frühen 19. Jahrhundert waren die Armutsraten selbst in den damals reichsten Ländern höher, als sie es heute in den armen Ländern sind. In den USA, Großbritannien und Frankreich lebten 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung in Zuständen, die wir heute als extreme Armut bezeichnen. Heute sind solche Zahlen nur noch in der Subsahara-Afrika vorzufinden. In Skandinavien, Österreich-Ungarn, Deutschland und Spanien lebten ungefähr 60 bis 70 Prozent in extremer Armut. Und zwischen 10 und 20 Prozent der europäischen und amerikanischen Bevölkerung wurden offiziell als Bettler und Vagabunden bezeichnet. Man schätzt, dass vor 200 Jahren ungefähr 20 Prozent der Einwohner von England und Frankreich überhaupt nicht arbeitsfähig waren. Sie hatten höchstens genug Kraft, um jeden Tag ein paar Stunden langsam zu gehen, wodurch sie Zeit ihres Lebens zum Betteln verurteilt waren. Karl Marx sah die Verelendung des Proletariats voraus, doch als er im Jahr 1883 starb, war der durchschnittliche Engländer dreimal reicher als im Jahr 1818, in dem er geboren wurde.


    Rainer Zitelmann
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    Dr. Dr. Rainer Zitelmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologe - und zugleich ein erfolgreicher Investor. Er hat zahlreiche Bücher auch zu den Themen Wirtschaft und Finanzen* geschrieben und herausgegeben, viele davon sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. * Werbelink
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    Verfasst von Rainer Zitelmann
    Buchtipp Eine Geschichte des Kapitalismus - Seite 2 Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution, Rowohlt Verlag Berlin 2019, 800 Seiten.

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