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     751  0 Kommentare Die kleinen wichtigen Geschichten

    Heute reden sie alle im Fernsehen und in der Politik immer davon, das Gute zu tun.

    Wir müssen beim Klima die Erde schützen, das machen die Grünen, und bei Corona müssen wir die Menschen schützen, das machen wir alle.

     

    Prima, denke ich, doch dann passieren mir immer plötzlich so komische Erlebnisse, die sich gar nicht in dieses Weltbild einfügen.

     

    Mitten in der letzten (oder vorletzten?) großen Coronawelle, als die Kanzlerin in einem Fernsehaufruf die Menschen gebeten hatte, alle Kontakte zu meiden, die nicht unbedingt notwendig ist, hatte sich unsere Hausverwaltung entschieden, die Wasserzähler wechseln zu lassen.

     

    Ich hatte dagegen opponiert und gesagt, man könne doch nicht gerade jetzt für so einen unwichtigen Mist, der sich ebenso gut im Sommer erledigen ließe, vor allem in die Wohnungen von über 80-Jährigen oder sogar 90-Jährigen fremde Leute hineinschicken. Und damals gab es ja noch keine richtigen Testverfahren.

     

    Erstaunlicherweise war ich der Einzige, der sich geweigert hat. Und jetzt sollte das mit dem Zählerwechsel nachgeholt werden. Mit Extrakosten vielleicht, vielleicht aber auch nicht, es ist noch nicht klar.

     

    Zur vereinbarten Zeit steht dann ein echter Freak vor meiner Tür. Rastalocken, bestimmt linksalternativ, bestimmt grün, aber irgendwie tausend Mal sympathischer als die sonstigen Installateure.

     

    Ja, ja, sagt er, er könne sich erinnern, dass sie hier vor einiger Zeit schon einmal durchgezogen seien, die Zähler zu wechseln. Ich frage ihn: Soll ich Ihnen sagen, warum ich mich damals dagegen geweigert habe?

     

    Dann erzähle ich ihm die Geschichte von Merkels Rede, dass ich Merkel zwar nicht ausstehen kann, dass ich diese Aktion aber gut fand und dass ich denke, man solle so einem Aufruf auch folgen. Und dass ich unsere Hausverwaltung für im besten Falle fahrlässig, eigentlich aber für richtig miese, gefährliche und rein profitorientierte Leute halte.

     

    Ich schaue ihn an und erwarte jetzt eigentlich Zustimmung. Die Alten gehen aus Kadavergehorsam freiwillig zur Schlachtbank, doch ich habe mich wenigstens aufgelehnt. Ich habe zwar nichts erreicht, aber trotzdem. Das müsste doch so einem Mann imponieren.

     

    Okay, vielleicht nicht imponieren, aber gut finden müsste er es eigentlich doch. Und da ich vorher hier allein gegen alle stand, lechze ich in diesem Moment durchaus nach Zustimmung.

     

    Doch was sagt er dann? „Na ja, die Firmen wollen aber natürlich Geld verdienen ….“ Und schon legt er los, an den Zählern herumzuschrauben.

     

    Ich muss zugeben, in diesem Moment ziemlich geschockt zu sein. Doch ich verstehe es natürlich, der Mann wird sicherlich freiberuflich bei der Installateurfirma arbeiten oder für seine Einsätze jeweils separat bezahlt werden, ich weiß es nicht. Nach viel Geld auf der hohen Kante sieht er jedenfalls nicht aus.

     

    Er muss also arbeiten. Ich muss das heute hingegen nicht mehr.

     

    In diesem Moment begreife ich klarer als je zuvor: Moral geht anscheinend nur, wenn man sie sich leisten kann.

     

    Und das erklärt natürlich letztlich auch alles. Vielleicht es sogar die ganze Welt. Greta Thunberg muss nicht arbeiten und Annalena Baerbock ist auch für ihr gesamtes Leben abgesichert. Da tut man sich natürlich leicht, die Moralistin zu spielen.

     

    Für mich gilt da ja auch. Ich bin zwar anders, aber ich bin auch eine Moralistin.

     

    Die Chinesen hingegen haben da ganz andere Probleme mit ihren 1,4 Milliarden Einwohnern. Und die Afrikaner auch. Sogar ein Großteil der Deutschen hat andere Probleme, als zur Moralistin zu werden. Selbst wenn man grün wählt und bio isst.

     

    So reich, sich Moral leisten zu können, sind sie dann aber doch nicht.

     

     

    Bernd Niquet

     

    berndniquet@t-online.de

     

     


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
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