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    Perspektiven im globalen Süden Startup „Camsol“ und seine Vision einer gerechteren Arbeitswelt

    Für die meisten jungen Menschen in Europa stehen nach der schulischen und beruflichen Ausbildung Arbeitsplätze zur Verfügung, in denen sie Erfahrungen sammeln können.

    Startup „Camsol“ und seine Vision einer gerechteren Arbeitswelt

    Wer sich zum IT-Spezialisten entwickeln möchte kann dieses Ziel unabhängig von seiner Herkunft erreichen. In den Staaten des globalen Südens wie etwa Kamerun ist die Situation komplexer. Selina Scherer-Braun, Gründerin des Startups „Camsol“, unterstützt von Tobias Braun, erläutert im Gespräch die Vision, die sie dazu bewogen hat, ein eigenes Unternehmen zu gründen.

    Soziale Gerechtigkeit im Globalen Süden durch schulische Bildung. Wie würden Sie die Situation aktuell beschreiben?
    Grundsätzlich kann man sagen, dass Bildung im zentralafrikanischen Staat Kamerun, auf den wir unsere Arbeit konzentrieren, historisch eine große Rolle spielt, weil das Bildungssystem dort aufgrund der Beschlüsse des Versailler Vertrages sehr stark durch das französische und englische Schul- und Ausbildungssystem geprägt wurde. Diese beiden Bildungssysteme sind stark und führen zu gut ausgebildeten jungen Menschen. Allerdings entsteht dadurch keine soziale Gerechtigkeit. Es gibt eine sehr schwache Wirtschaftsstruktur, weit verbreitete Korruption und keine tragfähigen, staatlichen Sozialsysteme. Man kann sich zwar arbeitslos melden, erhält aber keine Hilfe. Bildung ist notwendig für die Entwicklung sozialer Gerechtigkeit, allerdings „verhungert“ sie, wenn sie nicht mit einer Perspektive und entsprechenden Gestaltungsspielräumen verbunden ist.

    Die Einschulungsquote liegt zwar bei 80 Prozent, Kinder aus sozial schwachen Familien können aber jederzeit auch wieder aus dem Schulsystem herausfallen. Die demografische Pyramide ist umgekehrt zu der in Deutschland. Mit Blick auf die Quote der Absolventen kann man für den Bereich der IT, wo es Erhebungen gibt, sagen, dass jedes Jahr etwa 5.000 Absolventen nach erfolgreichem Studium die Universität verlassen.

    Die Jugendarbeitslosigkeit in Kamerun ist trotz des europäischen Bildungssystems und einer hohen Affinität zur IT sehr hoch. Woran liegt das?
    Das liegt hauptsächlich daran, dass die instabile Wirtschaftslage und unterentwickelte Industrie keine Möglichkeiten in Form von Arbeitsplätzen bietet. Das führt zu einer Abwärtsspirale und immer weniger Arbeitsplätzen. Junge Leute in Kamerun haben keinen Zugang zu dem Wissen und der Expertise, um beispielsweise ein Unternehmen zu gründen, und fehlende Perspektiven, um beruflich erfolgreich zu sein. Das drückt sich auch im Jahresdurchschnittseinkommen aus, das die Weltbank für Kamerun auf ca. 1.500 US-Dollar pro Jahr(!) schätzt. Die Absolventen können also keine ersten Erfahrungen in einem neuen Job ihres Fachs machen und sich dadurch weiter qualifizieren. Viele der jungen Menschen müssen daher nach ihrer Schul- bzw. Hochschulausbildung fachfremde Arbeiten ausüben. So sind sie nicht in der Lage, die akademische Bildung ins Land zu bringen. Dennoch ist das Interesse an IT und Technik vorhanden und Technologie bedeutet in Kamerun Perspektive.

    Ein weiterer Faktor ist die Familie, die in Kamerun und anderen Staaten des Globalen Südens einen hohen Stellenwert hinsichtlich des eigenen beruflichen Werdegangs hat. Die Familie denkt hier stark perspektivisch und die Beschäftigung mit IT verspricht eine gute Zukunftsperspektive. Aus diesem Grund raten viele Eltern den Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Kamerun dazu, etwas mit IT zu machen.

    Die Vision des Startups „Camsol“ lautet, dass Perspektive keine Frage der Herkunft sein soll. Was genau ist damit gemeint und sehen Führungskräfte das genauso?
    Wir bei Camsol glauben ganz grundsätzlich daran, dass Talent keine Frage der Herkunft ist, Perspektive dagegen schon. Man kann das gut mit der Definition von Entwicklungszusammenarbeit beschreiben. Diese hat ja die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen die Möglichkeit bekommen, selbstbestimmt, frei und ohne materielle Not und eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten und den eigenen Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen. Das schafft Perspektive. Allerdings ist diese Fähigkeit ungerecht verteilt, weil nicht jeder diese Möglichkeit hat, frei zu entscheiden, wohin das eigene Leben führen und wie es gestaltet sein soll.

    Bei Führungskräften gibt es berechtigte und unberechtigte Ängste. Es gibt Hürden in den Köpfen und auch in der Realität, und diese verhindern wiederum Perspektive. Arbeitsverhältnisse mit Menschen aus dem Globalen Süden sind nun mal neu und noch unbekannt.

    Gehen wir davon aus, dass Ihr Projekt die nötige Anerkennung erhält. Was würde das Ergebnis bei erfolgreicher Umsetzung für den europäischen IT-Sektor bedeuten? Etwa Arbeit aus „Billiglohnländer“?
    Die Frage ist wirklich wichtig, denn ich sehe die Gefahr von neuer Ausbeutung: Es gibt die sogenannten „talent gap“, die Unternehmen dazu zwingt, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Gerade große Tech-Unternehmen können rechtliche und bürokratische Hürden leichter überwinden und treffen dann auf Arbeitnehmer:innen mit niedrigen finanziellen und rechtlichen Ansprüchen.

    Das birgt ein sehr hohes Risiko von geringen Arbeitsrechten und Löhnen für qualifizierte Arbeitskräfte. Talent und Potenzial sind vorhanden, das dann gewonnen wird. Das würde allerdings zu schmerzhaften, sozialen Entwicklungen wie in Indien führen, was für die Transformationsphase in Ländern wie Kamerun prekär wäre. So würde auch die Arbeit der IT-Unternehmen in Europa herabgesetzt.

    Wir denken, dass unsere Arbeit als Camsol erfolgreich ist, wenn es uns gelingt, die Experten in Kamerun, mit denen wir zusammenarbeiten, zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen und sie zu motivieren, auf Augenhöhe in Projekten zu arbeiten. So können wir vom europäischen IT-Sektor aus den globalen Fortschritt fördern und tragen gleichzeitig zu mehr sozialer Gerechtigkeit bei. Auf diese Weise verhindern wir die unweigerlich kommende Ausbeutung.

    Welche 3 Ziele habt ihr euch für dieses Jahr gesetzt?
    Die Camsol Technologies wurde im Mai gegründet und ab Juni konnten wir geschäftlich tätig werden. Unser erstes Ziel werden wir im August erreichen, nämlich ein wirtschaftlich gegenfinanziertes Unternehmen mit schwarzen Zahlen zu sein. Als zweites Ziel möchten wir die Stabilität unseres Portfolios steigern und unternehmerisch nachhaltig sein.

    Ein drittes Ziel besteht für uns darin, einen öffentlichen Diskurs anzuregen und das Bewusstsein zu fördern, dass die Welt zusammengehört und dass wir vor der Wahl stehen, die Welt bewusst auf Augenhöhe zu gestalten oder uns von der nächsten humanitären Krise überraschen zu lassen. Wir sollten praktikable Lösungen finden und Ängste abbauen, um Herausforderungen wie den Fachkräftemangel oder die wachsende Not im globalen Süden zu bewältigen und soziale Nachhaltigkeit zu schaffen.

     



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    Gastautor: Seyit Binbir
     |  1910   |   |   

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