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     2811  0 Kommentare Milchkaffee-Börse

    Gestern Abend im Biergarten: „Einen Milchkaffee bitte!“ Ich falle fast vom Glauben ab. Jetzt haben die Weichtussen auch noch die letzte Bastion erklommen. Da sitzt man nun und bemüht sich nach Leibeskräften, den Kopf endlich frei zu spülen, um das Leben wieder genießen zu können – und dann das. Da, wo es früher noch harten Sex hinter den Büschen gab, wo auf den Toiletten noch zünftig gekotzt wurde, da bestellt man jetzt also Milchkaffee. Die Welt von heute ist in Watte gefasst.

    Und natürlich muss ich sofort an die Börse denken. Ich muss sowieso immer an die Börse denken. Früher habe ich bei jeder Gelegenheit an Sex gedacht – und heute muss ich immer an die Börse denken. Ist das nicht grauenvoll? Da hilft nicht einmal das viele Geld, das man hier verdient, darüber hinweg.

    Milchkaffee-Börse. Wir haben eine richtige Milchkaffee-Börse heute. Früher war das Börsenleben einmal hart und gefährlich. Doch heute ist es milchgesichtig und weichgespült. Gefahrlos könnte man sogar den ganzen Kopf in der Schüssel versenken. Alles ist so schön süß, so gut aufeinander abgestimmt. Nicht zu hell, nicht zu dunkel, nicht zu warm, dass man sich den Mund verbrennen, und auch nicht so kalt, dass es auf den Magen schlagen könnte. Nicht so fad wie Milch alleine, aber auch keinesfalls so scharf und gefährlich wie ein richtiger Café.

    Davon bekommt man weder Durchfall noch einen Rausch oder irgendein anderes Lustgefühl. Es ist eher so, als gleite man ganz langsam in eine Badewanne mit lauwarmem Wasser. Wer hätte gedacht, dass das Leben so langweilig sein könnte. Jetzt müsste sich eigentlich jemand die Pulsadern aufschneiden.


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Milchkaffee-Börse Gestern Abend im Biergarten: „Einen Milchkaffee bitte!“ Ich falle fast vom Glauben ab. Jetzt haben die Weichtussen auch noch die letzte Bastion erklommen. Da sitzt man nun und bemüht sich nach Leibeskräften, den Kopf endlich frei zu spülen, …