Beruht der Kapitalismus historisch auf dem Kolonialismus?
Der deutsch-britische Ökonom Kristian Niemietz widerlegt die populäre These, dass der Kapitalismus historisch auf dem Kolonialismus beruhe.
- Kapitalismus beruht nicht auf Kolonialismus.
- Postkolonialismus als politische Religion.
- Kolonialismus brachte den Ländern oft Verluste.
Das Thema Kolonialismus ist Mode. Der Hass gegen Israel an Universitäten in den USA und Europa beruht ideologisch auf der „postkolonialistischen“ Theorie, die besonders bei „woken“ Antikapitalisten so etwas wie eine politische Religion ist.
Doch was ist wirklich dran an der These, Kapitalismus beruhe auf dem Kolonialismus? Der deutsch-britische Ökonom Kristian Niemietz von dem angesehenen Londoner Institut of Economic Affairs ist dieser Frage jetzt in einer erfreulich kurzen (70 Seiten), aber ebenso erfreulich faktengesättigten Untersuchung nachgegangen: „Imperial Measurement. A cost-benefit analysis of Western colonialism.“
Das ausgezeichnete Büchlein sollte Pflichtlektüre für alle „postkolonialen“ Studenten sein, doch ist zu befürchten, dass sie lieber Bücher lesen, die sie in ihrer Ideologie bestätigen, denn die Fakten könnten sie ja verunsichern: Niemietz vergleicht für Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und andere Länder ökonomisch die Kosten und den wirtschaftlichen Ertrag des Kolonialismus. Exakte historische Zahlen zu eruieren, ist nicht einfach, aber alle seriösen Schätzungen deuten darauf hin, dass der Kolonialismus wirtschaftlich Länder wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland mehr gekostet als eingebracht hat. Das sahen schon so unterschiedliche Wissenschaftler und Politiker wie Adam Smith und Otto von Bismarck so.
Wenn es ökonomisch für die Länder wenig brachte – möglicherweise sogar Verluste – warum haben sie dann diese Politik betrieben? Das hatte Gründe wie nationales Prestige und auch der Einfluss von einigen Menschen, die sich extrem bereichert haben (für sie war der Kolonialismus wirtschaftlich ein Gewinn) spielte eine Rolle. Für Großbritannien weist Niemietz nach, dass das Land damals vorwiegend mit anderen westlichen Ländern Handel trieb, nicht mit den Kolonien. Man kann nicht genau sagen, ob der Kolonialismus unter dem Strich für die Briten ökonomisch ein Verlustbringer war oder sie unter dem Strich einen bescheidenen Gewinn machten, aber wenn, dann war er ziemlich unbedeutend, und die These, Großbritanniens Reichtum habe primär aus Profiten aus Kolonien resultiert, lässt sich nicht aufrecht erhalten.
Genauere Zahlen gibt es für Deutschland, das erst sehr spät zur Kolonialmacht wurde. Hier ist ganz eindeutig, dass die meisten Kolonien für das Land ein Minusgeschäft waren. Nur Belgien stellt eine Ausnahme dar: Die Herrschaft über den Kongo erbrachte massive Gewinne, aber dies lag an einer besonderen Konstellation: In Belgien wurde die Kolonie Kongo wie ein Privatunternehmen von König Leopold II geführt. (Weiter auf Seite 2)
Das Argument, Kapitalismus beruhe auf Kolonialismus wird schon dadurch entkräftet, dass sich führende Kolonialmächte wirtschaftlich schlechter entwickelten als etwa Schweden, Dänemark und Österreich, die kaum kolonialen Besitz hatten. Die ursprünglich führenden Nationen Großbritannien, Niederlande und Frankreich fielen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts relativ gesehen zurück. Portugal und Spanien, die ersten imperialistischen Mächte mit Kolonien von Mexiko bis Macau, waren zum Zeitpunkt der Entstehung des Kapitalismus die ärmsten in Westeuropa.
Ich möchte ergänzen: Nordamerika bzw. die Vereinigten Staaten waren, um es in der Sprache der antikapitalistischen Kolonialismuskritiker zu sagen, nicht „Täter“, sondern sie gehörten zunächst selbst zu den Opfern des Kolonialismus. Ihre eigenen kolonialen Aktivitäten spielten für die USA und ihre wirtschaftliche Entwicklung eine völlig untergeordnete Rolle. Und auch wenn heute viel über die koloniale Vergangenheit Deutschlands geredet wird, spricht die Tatsache, dass Deutschlands koloniale Unternehmungen seit den 1880er Jahren von geringer wirtschaftlicher Bedeutung waren, gegen die Betonung des Kolonialismus als Wurzel des Kapitalismus.
Niemietz sagt jedoch auch, dass der Kolonialismus die Entwicklung vieler Länder behindert habe und manche heute noch unter den Folgen litten. Ich möchte hier hinzufügen: Oft schaden sich die Länder noch mehr, indem sie ihre Probleme monokausal auf Ereignisse der fernen Vergangenheit wie Kolonialismus und Sklaverei zurückführen, statt darauf, dass sie wirtschaftlich unfrei sind.
Zur Ergänzung hier noch ein Beispiel der Geschichte einer ehemaligen britischen und einer ehemaligen französischen Kolonie, mit denen ich mit beschäftigt habe – Uganda und Vietnam: Uganda wurde 1894 britisches Protektorat, die Kolonialherrschaft dauerte fast sieben Jahrzehnte, 1962 wurde das Land unabhängig. 1965, kurz nach Erlangung der Unabhängigkeit, war Uganda „wohlhabender als Südkorea“, wie Ugandas Präsident Yoweri Museveni bemerkte. Heute ist das Bruttosozialprodukt pro Einwohner von Südkorea 33-mal höher als von Uganda. (Weiter auf Seite 3)
Dass Uganda kurz nach Erlangung der Unabhängigkeit so viel besser dastand als beispielsweise Korea, bedeutet, „es waren nicht die afrikanischen Regierungen die ihren Ländern im Vergleich zu ihren südostasiatischen Pendants wohlhabend gemacht haben. Das waren vielmehr die britischen Kolonialregierungen“, so meint der Afrika-Experte Godfrey Mwakikagile aus Tansania. So wie in vielen afrikanischen Ländern macht die politische Führung in Uganda aber pauschal den Kolonialismus für alle Probleme der Vergangenheit verantwortlich. In seiner Analyse „A History of Modern Uganda“ schreibt Richard J. Reid: „Museveni würde es sich sicherlich zum Hobby machen, der britischen Herrschaft alle Schuld für die heutigen Probleme Ugandas in die Schuhe zu schieben.“
Ein Gegenbeispiel ist Vietnam: Das Land stand 1858 bis 1954 unter französischer Kolonialherrschaft und wurde im 20. Jahrhundert u.a. von Frankreich, Japan, China und den USA mit Kriegen überzogen. Das Land, das 1990 das ärmste Land der Welt war, hätte mit gutem Grund den Kolonialismus und andere Länder für seine Situation verantwortlich machen können. Anders als afrikanische Länder taten und tun das die Vietnamesen nicht: Sie erkannten richtig, dass ihre Probleme an zu wenig wirtschaftlicher Freiheit lagen und begannen elf Jahre nach Ende des Krieges mit marktwirtschaftlichen Reformen: Heute pflegt das Land freundschaftliche Beziehungen zu den USA, heißt Investoren aus der ganzen Welt willkommen und die Quote der Menschen, die in Armut leben hat sich seit Beginn der Reformen von 80 auf unter fünf Prozent reduziert. Das war nur möglich, weil die Vietnamesen die Schuld nicht beim Kolonialismus und anderen Ländern suchten, sondern bei sich selbst.
Rainer Zitelmann ist Autor des soeben erschienen Buches „Weltreise eines Kapitalisten. Auf der Suche nach den Ursachen von Armut und Reichtum.“