Natürlich sind die jüngsten Entwicklungen sowohl bei PCB als auch gestern Glyphosat nicht gut und nachteilig für Bayer, keine Frage. Aber vielleicht helfen bei der Bewertung die folgenden Gesichtspunkte:
Eigentlich keine wirkliche Überraschung ist bei Erickson/PCB gegeben. Es war schon während des Erickson-Verfahrens vor dem Appeals-Court naheliegend, dass der Washington Supreme Court die Sache an sich ziehen wird. Denn noch während des laufenden Erickson-Verfahrens hatte nämlich der Washington Supreme Court zu einer ähnlichen Fragestellung in der Sache Bennett eine Verfassungswidrigkeit erkannt. Es geht vereinfachend gesagt um eine Verjährungsart („statue of repose“). Im Bennett-Verfahren beträgt diese Frist 8 Jahre für ärztliche Behandlungsfehler. Im Erickson-Verfahren würde diese Frist 12 Jahre betragen. Im Bennett-Verfahren hat der Washington Supreme Court entschieden, dass die 8-jährige Frist dort verfassungswidrig ist, denn es fehlten die erforderlichen „reasonable grounds“, damit die grundsätzliche zulässige Ausschlußfrist verfassungsrechtlich anerkannt werden konnte. Diese Entscheidung hat natürlich sofort Beachtung gefunden im seinerzeit noch laufenden Erickson-Verfahren, das haben auch die Appeals-Richter kurz vor ihrer Erickson-Entscheidung erkannt. Deshalb durften beide Parteien nochmal kurz vor dem Urteil argumentieren, welche Auswirkungen die damals brandneue Bennett-Entscheidung verfassungsrechtlich haben wird. Sodann haben alle drei Berufsrichter im Erickson-Appeal (insoweit einstimmig) entschieden und recht ausführlich begründet, dass die Bennett-Gründe für die Verfassungswidrigkeit bei Erickson NICHT greifen würden und die 12-Jährige Verjährung bei PCB im Bundesstaat Washington gilt. Denn aus der Richtersicht seien bei der statute of repose, die bei PCB greifen würde, nämlich die notwendigen reasonable grounds gegeben. Nun sind diese drei Berufsrichter nicht am Washington Supreme Court und die Frage, ob reasonable grounds tatsächlich anzunehmen sind, kann heute nicht ohne Zweifel beantwortet werden. Aber immerhin gibt es bereits diese einstimmige Einschätzung der drei Berufsrichter, das ist deutlich mehr als die Kläger diesbezüglich aufzuweisen haben. Nach allem war aufgrund dieser aktuellen Bennett-Vorgeschichte nicht unwahrscheinlich, daß der Washington SC noch etwas dazu sagen möchte.
Natürlich verbleibt jetzt aber mindestens ein Jahr, wenn nicht sogar mehr, Unsicherheit, das verdrängt alle feinsinnigen rechtlichen Bewertungen und ist wie immer schlecht für den Aktienkurs.
Dazu: Die Annahme des Washington Supreme Courts gilt nun auch für eine Rechtsfrage, die für Bayer günstig ist, namentlich für die Frage, ob überhaupt nach Washington state law ein Strafschadensersatz rechtlich verhängt werden darf. Sollte Bayer allein in dieser Rechtsfrage obsiegen (und bei statute of repose verlieren), dann wäre die Bedeutung des Sachverhaltskomplexes Sky Valley bereits deutlich herabgesetzt. Denn wenn man mit 3 – 5 Millionen Schadensersatz pro Kläger rechnen würde und das bei aktuell 200 Klägern würde das "nur" 600 bis 1000 Millionen Euro bedeuten.
Interessant wäre zu erfahren, ob auch die Beurteilung in der Erickson-Entscheidung hinsichtlich der wissenschaftlichen Herangehensweise eines Experten beabsichtigter Gegenstand des anstehenden Supreme Court Verfahrens sein wird (ich gehe eher davon aus, daß das nicht der Fall sein dürfte). Wenn nicht, könnte das wohl positiv für weitere Verfahren von Bayer genutzt werden. Denn in der Erickson-Entscheidung wurde eine Aussage eines klägerischen Experten wegen wissenschaftlicher Mängel nicht anerkannt, die eine Zurückrechnung der PCB-Belastung auf frühere Jahre betraf. Das war deshalb so wichtig, weil alle Kläger keinerlei PCB-Auffälligkeiten im Blut aufgewiesen haben sollen, die PCB-Belastung war wohl stinknormal. Das soll übrigens auch für die PCB-Belastung in der Luft in den allermeisten Schulräumen gegolten haben. Daher mußte aus der Sicht der Kläger eine für frühere Zeiträume deutlich höhere PCB-Belastung nachgewiesen werden. Und diese Zurückrechnungsmethode wurde im Erickson-Appeal nicht zugelassen. Dies sollte jedenfalls nach meiner Einschätzung unabhängig von der anstehenden Washington Supreme Court Entscheidung Bestand haben, so daß die Kläger auch dadurch schon deutlich geschwächt sein sollten, selbst wenn die Streitereien weitergehen sollten.
Eine Fernwirkung des anstehenden Supreme Court Verfahrens auf andere Bundesstaaten sehe ich nicht. Es geht allein um Rechtsfragen des Bundesstaates Washington. Aus meiner Sicht ist durch den Ausgang des Verfahrens weder eine Verbesserung noch eine Verschlechterung der Rechtslage in anderen Bundesstaaten zu erwarten. Die Gefahr, daß auch in anderen Bundesstaaten Gesundheitsschäden geltend gemacht werden, ist leider latent immer vorhanden, wird durch die jetzige Entwicklung aus meiner Sicht aber in keine Richtung beeinflußt. Die aktuell laufenden PCB-Umweltverfahren haben damit erstmal nicht direkt etwas zu tun.
Und Glyphosat
In der gestrigen Glyphosat-Entscheidung Melissen ist auf einen 25-fachen Strafschadensersatz entschieden worden. Das ist nach allen gängigen Ansichten verfassungswidrig. Ich vermute eine Herabsetzung auf das 5 bis 10-fache, also auf 15 bis 30 Millionen. Wenn das so eintritt, ist es für die Kläger bereits eine Grenzfrage, ob sich der Rechtsstreit risikobetrachtet wirklich gelohnt hat. Denn die Kosten für die Kläger sind enorm für die Durchführung eines solchen Verfahrens. Andererseits soll damit zweifellos die Einigungsbereitschaft von Bayer erzwungen werden.
Nicht nur die verfassungswidrige Strafschadensersatzhöhe, sondern auch die interessante Besonderheit, daß vorliegend der Pennsylvania Federal Court vom Pennsylvania State Court in der Preemption-Frage abweicht, macht das anstehende Appeals-Verfahren interessant.
Zur Kritik am Management: Aus meiner Sicht bieten beide negativen Entscheidungen ausnahmsweise keine Veranlassung, von der Strategie des aktuellen Managements abzuweichen. Denn wenn ein viele Milliarden schwerer Vergleich mit den Klägern nicht gewollt ist, dann bleibt nur die Möglichkeit, einzelne Verfahren gerichtlich auszufechten und dann eben auch mal zu verlieren. Wer das nicht akzeptiert, müsste eine sofortige viele Milliarden schwere Vergleichszahlung befürworten, sehr wahrscheinlich verbunden mit einer schmerzhaften Kapitalerhöhung. Davon zu trennen ist natürlich und ohne Frage die Fehlleistung des vorherigen Managements. Und auch die Leistungen des aktuellen Aufsichtsratsvorsitzenden Prof. Winkeljohann bewerte ich als ungenügend. Immerhin hat der Aufsichtsrat vor über 2 Jahren den Sonderausschuss Rechtsstreitigkeiten aufgelöst. Für mich war damit eine Fehleinschätzung hinsichtlich der Bedeutung der Rechtsstreitigkeiten und deren Gefahren und Risiken verbunden.
Eine schnelle Lösung ist mE nicht in Sicht. Die frühestmögliche Lösung wäre ein US-gesetzgeberisches Handeln, Stichwort aktuell Farm Bill, das könnte kurzfristig laufen, aber das ist politisch wohl nicht durchsetzbar, wohl auch unter Trump nicht (wer weiß). Dann besteht die nächste Möglichkeit in einer etwaigen SCOTUS-Entscheidung (wenn denn angenommen wird). Bis dahin muß es den Klägern weiterhin schwer gemacht werden. Das geschieht auch, wichtige Experten (es sind ja im Wesentlichen immer die gleichen) wurden zuletzt nicht mehr zugelassen, z.B. Zhang. Auch die sehr ausführliche Entscheidung in Australien zu Gunsten von Bayer hat gezeigt, daß rein wissenschaftlich Bayer die eindeutig besseren Karten hat (bei einer US-Laienjury sicherlich nicht das beste Argument).
Wer das alles nicht mitgehen will (was angesichts der geltenden Börsengesetze sehr nachvollziehbar ist), der muß eben aussteigen. Aber die beiden letzten Gerichtsentscheidungen, die beide für Bayer gewiß negativ waren, sollten nicht überbewertet werden.
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