Bald 1,75 Prozent?
EZB könnte Zinsen deutlich stärker senken – Spannungen mit den USA
Die EZB betont, dass sie vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen ihre "Handlungsfreiheit" für Zinsschritte ausnutzen könnte. Das Missfallen der US-Regierung ist vorprogrammiert.
- EZB könnte Zinsschritte anpassen, um Euro zu schwächen.
- US-Regierung kritisiert EZB, Spannungen nehmen zu.
- Divergente Geldpolitik zwischen EZB und Fed verstärkt Konflikt.
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Die Europäische Zentralbank (EZB) steht vor einer potenziell aggressiveren Zinssenkungspolitik, um den wirtschaftlichen Herausforderungen durch US-Zölle und eine starke Euro-Aufwertung zu begegnen. Diese Maßnahmen könnten zu Spannungen mit der US-Regierung führen, die in der Vergangenheit eine Schwächung des Euro kritisiert hat.
Infolge der von US-Präsident Donald Trump eingeführten Zölle auf europäische Importe sieht sich die EZB gezwungen, ihre Geldpolitik anzupassen. Und es ist gut möglich, dass diese Anpassung stärker ausfällt als die Märkte derzeit erwarten. Entsprechende Andeutungen aus dem Umfeld der EZB haben in letzter Zeit zugenommen.
So erklärte EZB-Ratsmitglied Olli Rehn jüngst in einem Interview mit Bloomberg, es sei vor dem Hintergrund der "allgegenwärtigen Unsicherheit" äußerst wichtig, dass die Zentralbank ihre "volle Handlungsfreiheit" bewahre. Dies könne auch bedeuten, dass die Leitzinsen unter den angenommenen neutralen Zinssatz gesenkt werden könnten. Mit anderen Worten: Unter 2 Prozent.
Bei den mittlerweile sieben Zinssenkungen der Währungshüter seit Juni 2024 wurde der Einlagensatz auf aktuell 2,25 Prozent gesenkt. Sollte es bei dem Juni-Treffen zu einem großen Zinsschritt kommen, würde das zu einem Niveau von 1,75 Prozent führen. Das wäre das niedrigste Niveau seit Oktober 2022.









Und auch EZB-Chefin Christine Lagarde betont, dass die Inflation gut im Griff sei, während die "Störungen des Welthandels" gleichzeitig zunähmen. "Ungünstige Reaktionen der Finanzmärkte auf Handelsspannungen könnten die Binnennachfrage belasten", warnte sie beim Frühlingstreffen des Internationalen Währungsfonds am Freitag. Dies würde gleichzeitig auch die Inflation senken, fürgt sie hinzu. Der Weg für stärkere Zinssenkungen scheint also frei.
Ein stärkerer Euro, der seit Jahresbeginn um mehr als 10 Prozent zum US-Dollar aufgewertet hat, belastet die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Exporteure. Unternehmen wie Unilever, SAP und L’Oréal berichten von negativen Auswirkungen auf ihre Gewinne. Europas wertvollstes Unternehmen SAP warnt, dass sein Jahresumsatz bei einem Anstieg des Euro um 1 Cent um rund 30 Millionen Euro sinken könnte. Analysten schätzen, dass die Euro-Aufwertung allein die Gewinne der im STOXX 600 gelisteten Unternehmen um 2–3 Prozent reduzieren könnte.
Die US-Regierung hat in der Vergangenheit allerdings eine Schwächung des Euro scharf kritisiert, da sie befürchtet, dass dadurch die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Exporteure auf Kosten der US-Wirtschaft verbessert wird. Präsident Trump hat die EZB wiederholt beschuldigt, durch ihre Geldpolitik den Euro künstlich zu schwächen, um Handelsvorteile zu erlangen. Diese Spannungen könnten sich verschärfen, wenn die EZB ihre Zinssenkungen fortsetzt.
Die Gegensätze zwischen der monetären Politik der EZB und der US-Notenbank (Fed) trägt zu den Spannungen bei. Während die EZB die Zinsen senkt, hält die Fed ihre Zinssätze stabil, um der Inflation entgegenzuwirken. Trump hat Fed-Chef Jerome Powell öffentlich kritisiert und ihn aufgefordert, die Zinsen ebenfalls zu senken, um die US-Wirtschaft zu stimulieren. Sollte die EZB nun sogar einen großen Zinsschritt durchführen, während die Fed gezwungen ist, die Zinsen stabil zu halten, könnte dies den Zorn des US-Präsidenten weiter schüren.
Die EZB betont die Notwendigkeit, ihre Geldpolitik an die wirtschaftlichen Bedingungen der Eurozone anzupassen. Vom nächsten Zinsschritt der EZB hängt also viel ab. Und für US-Notenbank-Chef Powell wird die Lage auch nicht einfacher.
Eine anhaltende Divergenz in der Geldpolitik könnte die Spannungen zwischen der Eurozone und den USA weiter verschärfen. Wagt es die EZB, die Zinsen stärker zu senken, auch auf die Gefahr hin, dadurch noch stärker den Zorn der US-Regierung auf sich zu ziehen? Und selbst wenn, ist es möglich, dass die Währungshüter zum Jahresende bereits wieder zurückrudern müssen.
Autor: Ingo Kolf, wallstreetONLINE Redaktion

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