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     1403  0 Kommentare Groteske Zeitreise

    Aus Zukunft wird Lächerlichkeit

    An diesem Wochenende war bei mir zu Hause E.L.O.-Wochenende. Endlich hatte ich Zeit und Muße, große Teile meines Lebens gleichsam noch einmal nachzuleben, noch einmal zu durchleben, seit diesem schicksalhaften Sommer 1973 in England, als ich das „Electric Light Orchestra“ mit diesem wohl auch nach dreiunddreißig Jahren immer noch rätselhaftesten und faszinierendsten Popsong aller Zeiten „10538 Overture“ im Fernsehen gesehen habe, einem wirklich einzigartigen Ereignis, bei dem in einer Zeit der wimmernden Gitarren und Tenniebands plötzlich klassische Instrumente auf die Bühne gerückt und auf ihnen gerockt wurde.

    Und so habe ich alle elf Alben dieser Band noch einmal in chronologischer Reihenfolge, in voller Länge und mit voller Lautstärke durchgehört und dazu die bestehende Literatur gelesen. Wer einmal nachspüren will, wie sich Entwicklung ereignet, der sollte auch einmal so ein Experiment machen. Denn nirgendwo sieht man besser, wie Ziele aufgestellt werden und Pläne gefasst werden, wie die Realisierung dieser Pläne den Zielen nahe kommen, wie es dann zu Auseinandersetzungen der handelnden Personen kommt, zu Trennungen und zu Neuausrichtungen und wie es dann weiter geht und irgendwann ein natürliches Ende findet, aus dem dann allerdings sofort wieder Neues wächst.

    Und vor allem: Wie unsinnig es ist, allzu weit in die Zukunft zu sehen, und dann auch noch – im übertragenen Sinne und wenn man Börsianer ist – sein Geld darauf zu setzen. Ich erinnere mich beispielsweise noch gut, wie Frank Zappa Ende der Siebziger Jahre gesagt hat, er hätte bereits jetzt die Musik der nächsten fünfzig Jahre im Kopf. Er war leider ein Dummkopf – zumindest in dieser Hinsicht.

    Doch zurück zum E.L.O. Hängen geblieben bin ich am Album „Time“ von 1981. Ein Konzeptalbum über die Zukunft. Es beginnt mit einer elektronisch verzerrten Stimme, die aus der Zukunft zu uns sprechen soll und aus heutiger Sicht nur wie lächerliche Vergangenheit klingt. So hat man sich eine Zukunft vorgestellt, die wir lange überholt haben. Und in „Yours truly, 2095“ heißt es dann: „I met someone who looks a lot like you, she does the things you do, but she is an IBM.“ Auch das ist köstlich. Computermenschen. 1981 war IBM die Computerzukunft. Heute ist IBM die Computervergangenheit.

    Und nicht anders wird es allen anderen Langzeitvorstellungen ergehen, denke ich. Als 1971 das erste E.L.O.-Album herauskam, habe ich in der Schule gelernt, dass sich zur Jahrtausendwende die Menschheit vollständig von Dingen ernähren wird können, die aus dem Meer kommen. Ist das nicht ebenfalls lustig? Ich denke, das ist genauso lustig wie die gegenwärtige Vorstellung später einmal lustig sein wird, dass jetzt, in der Periode der größten Stabilität der Menschheitsgeschichte, unsere Nationalstaaten zusammenbrechen, unser Geldwesen erodieren und die Finanzwelt zusammenbrechen wird. Vielleicht sollten wir lieber eine Band gründen, ein paar MP3s aufnehmen und unsere Enkel dann im Jahr 2095 auf eine Vergangenheitsreise dorthin schicken, das ist in jedem Fall besser als unser Geld auf später einmal lachhafte Dinge zu setzen.





    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Groteske Zeitreise Aus Zukunft wird Lächerlichkeit An diesem Wochenende war bei mir zu Hause E.L.O.-Wochenende. Endlich hatte ich Zeit und Muße, große Teile meines Lebens gleichsam noch einmal nachzuleben, noch einmal zu durchleben, seit diesem schicksalhaften …