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     1494  0 Kommentare Auf der Höhe


    Ein neuer Wirtschaftsstil?

    Es gab einmal eine Zeit, in der man sogar in der Wissenschaft noch von „Wirtschaftsstilen“ sprechen durfte. Das war in einer seligen Vergangenheit, als noch nicht nur das als wissenschaftlich galt, was man in mathematische Gesetzmäßigkeiten packen konnte – und als die Wirtschaftstheorie noch keinen sinnfreien Raum darstellte wie heute.

    Unsere Unternehmen sind heute voll auf der Höhe. Den Unternehmen geht es so gut wie nie, sie verdienen reichlich, und die Beachtung, die ihnen in der Öffentlichkeit geschenkt wird, war wohl niemals größer. Zumindest in Hinsicht auf die großen Unternehmen. Bei der Mitte weiß ich nicht – und darunter gibt es anscheinend eine ganz neue Schicht von „Prekariats-Unternehmen“.

    Mir sind ein paar Dinge aufgefallen: In den 50 Jahren, die ich vor dem heurigen Jahr gelebt habe, habe ich nicht ein einziges Mal etwas mit einem Inkassounternehmen zu tun gehabt. In diesem Jahr jedoch bereits drei Mal. Da bestellt man etwas, das nicht geliefert wird, lässt die Lastschrift zurückgehen, und sofort wird die Sache an das Inkasso-Unternehmen weiter gegeben.

    Woran liegt das? Ich denke, es sind mehrere Gründe. Erstens scheinen die Unternehmen personell so eng besetzt, dass sich niemand mehr noch um etwas kümmern kann. Zweitens haben mittlerweile wohl große Teile der Wirtschaft das Kofler-Modell für sich adaptiert – und das bedeutet, dass der einzelne Kunde gar nicht mehr interessiert. Man macht, was das eigene Quartalsergebnis stärkt, und geht davon aus, dass die Sintflut sowieso nicht kommt. Und drittens geht in den Unternehmen wohl sowieso alles drunter und drüber. Wie das mit den guten Ergebnissen in Vereinbarung zu bringen ist, werden wir später sehen. Ich denke, im Moment segeln alle noch auf den Effekten der Kostensenkungen. Wenn man allerdings bemerkt, dass der Kunde dabei ebenfalls outgescourced worden ist, werden wir neu denken müssen.

    Auf der anderen Seite der Scala dann genau das Entgegengesetzte: Ich bestelle bei Amazon im Sekundärmarkt eine rare Videocassette, die allerdings nicht abspielbar ist. Nachdem ich den Käufer über diesen Missstand informiert habe, kommt dieser unaufgefordert persönlich bei mir vorbei, gibt mir in bar das Geld zurück – wobei er jedoch einen Teil unterschlägt und dann erst mit einem „Ach ja“ herausrückt – allerdings nur, um mir anschließend seine sonstigen Waren anzupreisen. Und von den Rechenkünsten der fliegenden Spargelhändler möchte ich lieber gar nicht erst berichten.

    Es ist eben ein schweres Leben. Und jeder macht das Beste daraus. Was in der Gesamtheit dann aber nicht unbedingt das bleiben muss, sondern sich durchaus verwandeln kann.




    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
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