Schatten über Deutschlands Sozialismus
Stellen Sie sich einmal vor, wir befänden uns in unserem Land in der Zeit vor 1989. Und da würden wir eines Morgens in der Zeitung lesen, Erich Honecker wäre nicht mit den üblichen 99 Prozent,
sondern nur mit 93 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden. Das wäre in der Tat ein unglaubliches Erlebnis gewesen. Und man hätte je nach Gusto entweder Morgen- oder aber Abendluft gewittert. Denn
irgendetwas wäre faul gewesen im deutschen Sozialismus.
Das, was Erich Honecker erspart geblieben ist, ist Henning Schulte-Noelle, dem scheidenden Allianz-Chef, vor einigen Wochen bei seiner Wahl zum Aufsichtsratsvorsitzenden passiert. Er hat anstelle der ansonsten üblichen 99 Prozent nur 93 Prozent der Stimmen bekommen. Das ist in der Tat ein unglaubliches Ergebnis, denn es zeigt: Irgend etwas ist faul am deutschen Unternehmens-Sozialismus.
Dabei haben die bewährten mitteldeutschen Prinzipien in unserer Unternehmenskultur doch so lange so wunderbar funktioniert, dass man sich in der Tat fragen muss, warum hier plötzlich Risse eingezogen sind. Nur weil Schulte-Noelle die Allianz beinahe ruiniert hat? Nein, das reicht keinesfalls als Grund aus, ihn dermaßen abzustrafen. Schließlich hat bisher noch jeder, der es nur beinahe geschafft hat, ein Unternehmen zu ruinieren, hinterher den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden zugewiesen bekommen. Eine feierliche Ernennung war das stets, die anschließend in der großen Halle des Volkes mit 99 Prozent aller Stimmen beschlossen wurde.
Und wer es doch geschafft hat mit dem Ruinieren, der hat immer noch eine Abfindung in zweistelliger Millionenhöhe von den Werktätigen zugesprochen bekommen. Ganz so eben, wie es die sozialistischen Prinzipien einfordern. Im Gegenzug haben dann die Arbeitnehmer zwar nicht auf ihre Reisefreiheit, dafür jedoch auf ihren Job verzichten müssen. Und anschließend war wieder alles gut. Auch aus dieser Perspektive bleibt es also unerfindlich, warum in der deutschen Unternehmenskultur zur Zeit anscheinend ein derartiges (siebenprozentiges!) Unwohlsein an den jahrzehntelang bewährten Erfolgsprinzipien aufkommt. Mit einem Prozent Abweichlern konnte ja selbst ein Honecker leben. Aber mit sieben Prozent Querulanten ist die Zukunft des deutschen Unternehmenswesens nicht mehr gesichert.
Doch auch an anderer Stelle beginnt unser Sozialismus zu bröckeln. Wer zum Beispiel heute einen Kindergartenplatz für sein Kind haben möchte, bekommt diesen vom Staat garantiert. Das ist zwar wunderbar, hat jedoch den Nachteil, dass der Staat dabei etwas garantiert, was gar nicht in seinem Einflussbereich liegt, da die meisten Träger von Kindergärten nicht staatlich sind. Für die Eltern bedeutet das: Sie müssen entweder in die Partei eintreten, was allerdings der Schwächung der sozialistischen Kräfte erfolgreich entgegenwirken würde, da es ja besten sozialistischen Prinzipien entspricht, vor der Kirche zu Kreuze kriechen, oder eben auch Rudolf Steiner lesen, während sie ihren bitter-süßen Waldorfsalat verzehren.
Natürlich können Berliner Eltern ihre Kinder auch in Bautzen in den Kindergarten geben, denn im betriebseigenen Kindergarten der dortigen Senffabrik sollen noch Plätze frei sein. Und hätte der Kanzler den Streit mit den USA nicht vom Zaun gebrochen, dann gäbe es vielleicht auch noch Kindergarten-Green-Cards für die Vereinigten Staaten. Doch welcher aufrechte Deutsche möchte sein Kind schon gerne zum Militaristen ausbilden lassen, schließlich ist unser Volk doch eher den Gartenzwergen verbunden.
Bei all dem kann man sich jedoch glücklich schätzen, dass es uns nicht so geht wie in Südamerika, wo derzeit beinahe die ganze Mittelschicht tatsächlich ins Nichts fällt. Das ist erschütternd und relativiert jegliches Klagen in unserem Land. Doch warum sind die Südamerikaner so abgerutscht? Etwa weil sie sich auf neoliberale Prinzipien eingelassen haben und sich – ganz im Unterschied zu uns – deutlich vom Sozialismus abgewandt haben?
Bernd Niquet
berndniquet@t-online.de
Das, was Erich Honecker erspart geblieben ist, ist Henning Schulte-Noelle, dem scheidenden Allianz-Chef, vor einigen Wochen bei seiner Wahl zum Aufsichtsratsvorsitzenden passiert. Er hat anstelle der ansonsten üblichen 99 Prozent nur 93 Prozent der Stimmen bekommen. Das ist in der Tat ein unglaubliches Ergebnis, denn es zeigt: Irgend etwas ist faul am deutschen Unternehmens-Sozialismus.
Dabei haben die bewährten mitteldeutschen Prinzipien in unserer Unternehmenskultur doch so lange so wunderbar funktioniert, dass man sich in der Tat fragen muss, warum hier plötzlich Risse eingezogen sind. Nur weil Schulte-Noelle die Allianz beinahe ruiniert hat? Nein, das reicht keinesfalls als Grund aus, ihn dermaßen abzustrafen. Schließlich hat bisher noch jeder, der es nur beinahe geschafft hat, ein Unternehmen zu ruinieren, hinterher den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden zugewiesen bekommen. Eine feierliche Ernennung war das stets, die anschließend in der großen Halle des Volkes mit 99 Prozent aller Stimmen beschlossen wurde.
Und wer es doch geschafft hat mit dem Ruinieren, der hat immer noch eine Abfindung in zweistelliger Millionenhöhe von den Werktätigen zugesprochen bekommen. Ganz so eben, wie es die sozialistischen Prinzipien einfordern. Im Gegenzug haben dann die Arbeitnehmer zwar nicht auf ihre Reisefreiheit, dafür jedoch auf ihren Job verzichten müssen. Und anschließend war wieder alles gut. Auch aus dieser Perspektive bleibt es also unerfindlich, warum in der deutschen Unternehmenskultur zur Zeit anscheinend ein derartiges (siebenprozentiges!) Unwohlsein an den jahrzehntelang bewährten Erfolgsprinzipien aufkommt. Mit einem Prozent Abweichlern konnte ja selbst ein Honecker leben. Aber mit sieben Prozent Querulanten ist die Zukunft des deutschen Unternehmenswesens nicht mehr gesichert.
Doch auch an anderer Stelle beginnt unser Sozialismus zu bröckeln. Wer zum Beispiel heute einen Kindergartenplatz für sein Kind haben möchte, bekommt diesen vom Staat garantiert. Das ist zwar wunderbar, hat jedoch den Nachteil, dass der Staat dabei etwas garantiert, was gar nicht in seinem Einflussbereich liegt, da die meisten Träger von Kindergärten nicht staatlich sind. Für die Eltern bedeutet das: Sie müssen entweder in die Partei eintreten, was allerdings der Schwächung der sozialistischen Kräfte erfolgreich entgegenwirken würde, da es ja besten sozialistischen Prinzipien entspricht, vor der Kirche zu Kreuze kriechen, oder eben auch Rudolf Steiner lesen, während sie ihren bitter-süßen Waldorfsalat verzehren.
Natürlich können Berliner Eltern ihre Kinder auch in Bautzen in den Kindergarten geben, denn im betriebseigenen Kindergarten der dortigen Senffabrik sollen noch Plätze frei sein. Und hätte der Kanzler den Streit mit den USA nicht vom Zaun gebrochen, dann gäbe es vielleicht auch noch Kindergarten-Green-Cards für die Vereinigten Staaten. Doch welcher aufrechte Deutsche möchte sein Kind schon gerne zum Militaristen ausbilden lassen, schließlich ist unser Volk doch eher den Gartenzwergen verbunden.
Bei all dem kann man sich jedoch glücklich schätzen, dass es uns nicht so geht wie in Südamerika, wo derzeit beinahe die ganze Mittelschicht tatsächlich ins Nichts fällt. Das ist erschütternd und relativiert jegliches Klagen in unserem Land. Doch warum sind die Südamerikaner so abgerutscht? Etwa weil sie sich auf neoliberale Prinzipien eingelassen haben und sich – ganz im Unterschied zu uns – deutlich vom Sozialismus abgewandt haben?
Bernd Niquet
berndniquet@t-online.de