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    Short-Selling  7493  3 Kommentare Leerverkäufer - Retter oder Totengräber der Börse?

    „Short-Flaute heizt die Panik an der Börse an“, titelte das Wall Street Journal am 16. Oktober 2014. Andererseits wurden vor knapp zwei Jahren gerade die Short-Seller für Finanzkrise und Absturz der Bankaktien verantwortlich gemacht. Ingo Hillen, Vorstand und Gründer der sino AG | High End Brokerage, spricht im Interview auf wallstreet:online über den vermeintlichen Widerspruch.

     

    Herr Hillen, können Ihre Kunden immer noch short gehen, also Aktien verkaufen, die sie gar nicht in ihrem Depot führen?

    Ingo Hillen: Selbstverständlich – und auch weiterhin mit nur einem Click. Die sino AG war 1998 der erste Broker in Deutschland, über den Privatanleger shorten konnten. Wir werden auch weiterhin alles tun, um unseren Heavy Tradern auch in diesem Bereich bestmögliche Handelsbedingungen zu bieten – natürlich im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften.

    Die EU hat ja vor ziemlich genau zwei Jahren, am 1. November 2012, verschärfte Leerverkaufsbedingungen erlassen und damit das Shorten weiter eingeschränkt. Was halten Sie davon?

    Hillen: Gewisse Beschränkungen im Hinblick auf die Größe von Leerverkaufspositionen und Meldepflichten ähnlich denen bei Unternehmensbeteiligungen halte ich für sinnvoll. Die derzeitigen Restriktionen, die jeden einzelnen Leerverkauf betreffen, sind aber deutlich übertrieben und entziehen dem Markt unnötig Liquidität. Das sehen wir regelmäßig, wenn die Kurse wenig gehandelter Aktien plötzlich stark ansteigen – dann fehlt das Korrektiv der Leerverkäufer. Durch diese strikte Regelung wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Außerdem ist nicht zu vergessen, dass jeder Leerverkäufer sich irgendwann auch wieder eindecken muss. Durch Leerverkäufe entsteht zusätzliche Liquidität – und je mehr Liquidität desto besser.

    Sie sehen Short-Seller also als eine Art ‚Spekulationspolizei’ an der Börse, die aufpasst, dass schwache Werte nicht zu stark hochgetrieben werden?

    Hillen (lacht): Wenn Sie so wollen. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass es falsch ist, jeden einzelnen Leerverkauf unabhängig von seiner Größenordnung und Haltedauer zu regulieren. Das führt schnell zu verstärkter Volatilität und Unruhe im Markt – eigentlich das Gegenteil von dem, was die Politik erreichen will.

    Mir ist übrigens keine einzige wissenschaftliche Untersuchung bekannt, die die angeblich negativen Auswirkungen von Leerverkäufen belegen würde, wohl aber einige Untersuchungen, die Leerverkäufe eher positiv sehen, da sie zusätzliche Liquidität schaffen. Im Bericht einer amerikanischen Untersuchungskommission zu Leerverkäufen heißt es bereits 1909 (!) „We do not think that it is wrong to agree to sell something that one does not now possess but expects to obtain later (…) Short sellers endeavor to select times when prices seem high in order to sell, and times when prices seem low in order to buy, their action in both cases serving to lessen advances and diminish declines of price.” Und das hat sich bis heute nicht geändert.

    Die sino AG hat ein Softwaretool entwickelt, um die Leihe angesichts der gesetzlichen Auflagen zu vereinfachen. Wie kommen die Kunden damit zurecht?

    Hillen: Sehr gut. Schon seit der ersten Reglementierungs-Runde vom Oktober 2010 bieten wir über unsere Handelsplattform sino MX-PRO eine automatisierte Wertpapierleihe für Overnight-Shorts an. 
Für Intraday-Leerverkäufe stellen wir über unsere Kooperationspartner sicher, dass zahlreiche Aktien auch ohne Wertpapierleihe per Click leerverkauft werden können - die notwendigen Prozesse laufen innerhalb von Millisekunden im Hintergrund.

    Dabei agieren wir nicht nur getreu dem Buchstaben, sondern auch getreu dem Geist des Leerverkaufsverbots. Mehrere Ausgaben unseres Newsletters haben die Kunden über juristische Detailfragen informiert. Trader sollten bei Leerverkäufen auch vorsichtig sein, da nicht jedes Modell, welches im Markt angeboten wird, nach unserer Auffassung zulässig ist. Der Kunde könnte dann Probleme bekommen.

    Wo liegt denn der Knackpunkt bei der Reglementierung?

    Hillen: Bei weniger liquiden Werten ist die Wertpapierleihe für Overnight-Leerverkäufe oft so aufwendig und teuer, dass sich das für Privatanleger schlicht nicht mehr lohnt. Früher konnte ein Trader ein paar Tage warten, sich die Entwicklung der Position anschauen und sich dann gegebenenfalls eindecken. Heute müssen vor einem Leerverkauf entsprechende Deckungsmaßnahmen ergriffen werden, also zum Beispiel durch Wertpapierleihe. Das macht Overnight-Leerverkäufe deutlich weniger attraktiv.

    Welche Konsequenzen hat das für den Markt?

    Hillen: Bei stark fallenden Kursen zeigt sich oft, dass Leerverkäufer als potentielle Nachfrager (zur Schließung ihrer Short-Position) weggefallen sind und somit den Kursverfall nicht mehr dämpfen können. Bei einer größeren Anzahl von Leerverkäufern in steigenden Märkten gäbe es bei fallenden Kursen einfach mehr Käufer - so einfach ist das.

    Können Sie Beispiele für fehlende Leerverkäufer geben?

    Hillen: Schauen Sie sich zum Beispiel mal das Chart von Rocket Internet an. Seitdem das Papier auf dem Markt ist, macht dieser milliardenschwere Wert Hüpfer wie ein junges Fohlen: innerhalb von Tagen gibt es Sprünge von 20 oder fast 30 Prozent. Mehr Leerverkäufer würden diese Volatilität erheblich dämpfen. Ich plädiere dafür, Leerverkäufe zwar transparenter zu gestalten – Stichwort: Meldegrenzen – aber ansonsten wieder uneingeschränkt zuzulassen.

    Stattdessen werden von der Politik weitere Maßnahmen diskutiert, die die Marktliquidität verringern.

    Hillen: Sie meinen die Finanztransaktionssteuer? Dafür müssen sich erst einmal mindestens neun EU-Länder auf ein genaues Prozedere einigen: Wer wird wo, für was, wann und wie hoch besteuert?

    Sie halten die Einigung für unwahrscheinlich?

    Hillen: Jeder weiß, dass es bei der »Gruppe der Willigen« durchaus erheblich widerstreitende Interessen gibt. Die Steuer sollte ursprünglich die Banken an den Kosten der Krise beteiligen und den unregulierten, nicht börslichen Eigenhandel begrenzen, jetzt könnte es so ausgehen, dass es hauptsächlich Privatanleger trifft, die in Aktien investieren. Herzlichen Glückwunsch!

    Bleibt die klassische Frage: Was tun?

    Hillen: Die sino AG hat schon im August 2011 in der Sache an den damaligen Wirtschaftsminister Philipp Rösler geschrieben. Ich zitiere: „Eine Finanztransaktionssteuer ist wirtschaftlich unvernünftig. Sie träfe die Falschen, da man davon ausgehen kann, dass die Banken sie an die Anleger durchreichen werden.“ Die schriftliche Antwort hieß damals: Das Bundesministerium „teilt ... Ihre Bedenken“. Nun haben wir ja inzwischen einen anderen Wirtschaftsminister, und bei Finanzminister Schäuble sehe ich wenig Motivation, Argumente wichtiger als die Koalitionsdisziplin zu nehmen. Schön wäre es deshalb, wenn sich möglichst viele Marktteilnehmer in Zukunft noch klarer positionieren würden.

    Zum Schluss noch eine Frage: Was sind Ihre persönlichen Erwartungen für das neue Jahr?

    Hillen: Es bleibt spannend – wahrscheinlich in vielerlei Beziehung.

    Vielen Dank für das Gespräch.

    Fotos: Sino AG




    wallstreetONLINE Redaktion
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