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     1988  0 Kommentare Kick-and-Rush-Wirtschaft

    Es war schon interessant, was ich alles als Feedback auf meine Kolumne vom Freitag bekommen habe, als ich anhand eines kleinen Beispiels die Praktiken der Internetunternehmen beim Generieren von Forderungen geschildert habe. Aufgrund vieler Mails ist diese Verallgemeinerung sicherlich möglich. Viele Internetfirmen kümmern sich nicht um die Werthaltigkeit ihrer Forderungen – sprich um die Berechtigung ihres Forderungsvermögens. Hier wird alles eingebucht, was sich nicht wehren kann. Möglicherweise gibt es sogar gezielt konstruierte "Geschäftsvorfälle" mit Strohmännern. Denn eingebucht ist erst einmal eingebucht. Ausgebucht werden kann immer noch. Und wer weiß, was die Zukunft an weiteren Strohmännern bringt.

    Dass Streitigkeiten über die Berechtigung von Forderungen aufgrund von schlecht oder gar nicht erbrachten Leistungen heute nicht mehr von den Unternehmen und ihren Kunden selbst ausgetragen wird, scheint mittlerweile zum Common Sense geworden zu sein. "Ist doch scheißegal", schreiben mir diejenigen, die anscheinend viel besser in der New Economy verwurzelt sind als ich, "sollen sie doch Forderungen geltend machen. Lastschrift zurückgeben und einen Rechtsanwalt einschalten." Damit tritt das Amtsgericht an die Stelle der Verbindung zwischen Kunde und Unternehmen.

    Unsere Volkswirtschaft entwickelt sich damit immer mehr zu einem Muster dessen, wie in Schottland, dem Land des großen Adam Smith, Fußball gespielt wird. Mittlerweile haben wir hierzulande in weiten Teilen eine Kick-and-Rush-Wirtschaft. Ziel ist es dabei, den Ball so schnell und so weit wie möglich nach vorne kicken – und dann auf den lieben Gott vertrauen, dass eine glückliche Fügung des Schicksals (oder ein Torwartfehler des Gegners) ein Tor für eigene Mannschaft daraus machen. Das ist teilweise durchaus interessant anzusehen. So ein Fußballspiel und so eine Wirtschaft sind extrem temporeich und dynamisch. Doch leider ist der Erfolg ausschließlich zufallsbedingt und kaum von langer Dauer.

    Eine gute Fußballmanschaft und eine gut funktionierende Wirtschaft kann es hingegen nur dann geben, wenn wir es mit einem eingespielten Team miteinander partnerschaftlich verbundener Einheiten zu tun haben, die sich überdies gegenseitig respektieren. Wildwestmanieren wie von Firstgate und vielen anderen Anbietern von Diensten im Internet- und Telekommunikationsbereich gehören jedoch nicht dazu. Eine vernünftige Kundenbindung kann es sowieso nur über Menschen geben. Internetplattformen und Call-Center sind dazu nicht in der Lage.

    Internetplattformen und Call-Center führen zu einem immer größeren Preiswettbewerb und damit zu einer weiteren Verschärfung der Deflation. Gute Preise kann es jedoch nur dort geben, wo auch der persönliche Kontakt zum Kunden existiert. Die Kick-and-Rush-Ökonomie schaufelt sich damit ihr Grab selbst. Sie ist für den Preisverfall, der ihr das Leben auf Dauer unmöglich macht, letztlich selbst verantwortlich. Sie macht die Deflation selbst, die augenblicklich bereits so wirkungsvoll den Strick um ihren Hals legt.

    berndniquet@t-online.de


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Kick-and-Rush-Wirtschaft Es war schon interessant, was ich alles als Feedback auf meine Kolumne vom Freitag bekommen habe, als ich anhand eines kleinen Beispiels die Praktiken der Internetunternehmen beim Generieren von Forderungen geschildert habe. Aufgrund vieler Mails …